Beiträge von Serak der Lügner

    Kaltes Eisen

    Der Morgen war grau und frostig, als ich mich zur Schreibstube des Kommandanten begab. Ich klopfte an die schwere Holztür, und nach einem Moment ertönte von innen seine tiefe, befehlsgewohnte Stimme.

    «Herein!»

    Die Schreibstube von Garlyn Meqdarhan war schlicht, aber funktional eingerichtet. Ein großer Holztisch dominierte den Raum, bedeckt mit Landkarten, Pergamentrollen und Federkielen. Ein tragbarer Eisenofen spendete genug Wärme, um die Kälte in Schach zu halten. An den Wänden hingen dreckige Banner, Kriegsbeute vergangener Schlachten, die sich in der aufsteigenden Wärme langsam bewegten.

    Der Kommandant saß hinter seinem Tisch, auf einem Stuhl, der mit einem Schaffell gepolstert war. Seine schmalen grünen Fuchsaugen sahen mich durchdringend an. «Ich hoffe, du weißt, warum du hier bist.»

    Ich nickte. «Ja, Kommandant. Es war ein Fehler, betrunken ins Lager zurückzukehren.»

    Meqdarhan neigte den Kopf leicht zur Seite. «Ein Fehler? Ich nenne das Disziplinlosigkeit! Fehler passieren jedem, aber Disziplinlosigkeit passiert nicht einfach. Man entscheidet sich bewusst dafür. Deine Trunkenheit gefährdet uns alle. Wir befinden uns im Niemandsland, wir können jederzeit überfallen werden. Wie soll ich mich auf meine Männer verlassen, wenn sie sich nicht einmal selbst kontrollieren können?»

    «Es wird nicht wieder vorkommen, Kommandant», versprach ich, obwohl ich mir bewusst war, dass meine Worte so hohl klangen wie ein Troll-Ehrenwort.

    «Das wird es verdammt nochmal nicht!» Er schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Tintenfässer klirrten. «Du bist hier nicht mehr bei deinen Räubern! Nach zehn Jahren müsste man annehmen, dass du solche grundlegenden Dinge weißt. Fürs Erste bist du vom Einsatzgeschehen suspendiert. Deine Strafe wird sein, in der Werkstatt zu helfen. Dort kannst du dich für alle nützlich machen, ohne andere zu gefährden. Vielleicht erinnerst du dich dort daran, wie man sich in einer militärischen Einheit zu benehmen hat.»

    Ich straffte meine Haltung noch weiter, um nicht vor Enttäuschung zusammenzusinken. «Ja, Kommandant. Darf ich eine Frage stellen?»

    «Spuck`s aus.»

    «Wann werde ich wieder Teil von Trupp zwei sein dürfen?»

    «Wenn Jurland mit dir zufrieden bist, prüfe ich - vielleicht - deine Reaktivierung. Bis dahin kann viel Zeit ins Land ziehen. Stell dich auf eine lange Zeit in der Werkstatt ein.»

    Diese Worte waren wie der Axthieb eines Henkers. Nun war ich kein Schwertkämpfer mehr, sondern degradiert zum Gehilfen! «Verstanden, Kommandant.»

    «Und Serak,» fügte er hinzu, «wenn ich dich noch einmal betrunken erwische, werden die Konsequenzen noch weitaus ernster sein. Ist dir das klar?»

    «Klar wie Schnaps, Kommandant», antwortete ich.

    Meqdarhan musterte mich mit zusammengekniffenen Augen, bevor er sagte: «Du kannst wegtreten.»

    Ich drehte mich um und verließ die Schreibstube. Mein Kiefer war angespannt, und ich konnte das leise Knirschen meiner Zähne hören. So eine harte Strafe für ein bisschen Trunkenheit? Es war lächerlich! Ich hatte all die Jahre meine Pflicht getan, gekämpft wie ein Vieh, und dann gönnte ich mir einmal ein paar Bier. Aber nein, Meqdarhan musste ja unbedingt ein Exempel an mir statuieren. Wahrscheinlich hatte Rex bei seinem Bericht maßlos übertrieben!

    Meine Hände waren zu Fäusten geballt, die kalte Luft biss in meine Knöchel, als ich die Werkstatt schließlich erreichte. Das Holzgebäude war alt und trug die Narben von zahllosen Reparaturen. Ein robustes Schild über der Tür verkündete «Werkstatt». Für jene, die nicht lesen konnten, was fast alle waren, waren auch noch ein Schraubenzieher und ein Hammer dazu gemalt.

    Ich schnaubte. Dass er mich zum Dienst in der Werkstatt verdonnert hatte, fühlte sich wie eine persönliche Beleidigung an. «Von wegen Garlyn der Fuchs», grummelte ich leise. «Garlyn der räudige Hund müsste er heißen!»

    Meine Wut konnte ich kaum zurückhalten, doch ich wusste, dass ich keinen weiteren Ärger riskieren durfte, wenn ich Teil der Eisenfalken bleiben wollte. Beherzt öffnete ich die Tür und trat in die warme, nach Öl und Metall riechende Luft.

    Jurland, der Waffenmeister, war ein narbiger Veteran aus Almanien, der seit einem Treffer auf den Schädel nicht mehr in der Lage war, noch in den Kampf zu ziehen. Er humpelte und hielt den Kopf schief. «Na, der Held des Tages», begrüßte er mich.

    Ich ignorierte den Spott. «Was soll ich tun?»

    Er wies auf einen Tisch, der voller Rüstungsteile war. «Bei all diesen Teilen müssen die Lederriemen ersetzt werden. Bei der Gelegenheit kannst du auch die Ösen kontrollieren.»

    Knurrend machte ich mich an die langweilige Arbeit, die mit eiskalten Fingern besonders wenig Spaß machte. Sie dauerte den gesamten Vormittag. Als ich fertig war, musste ich gebrauchte Nägel geradeklopfen, den Rost abschleifen und die restaurierten Nägel ölen. Am nächsten Tag ging es mit dem Schleifen von Waffen weiter. Das regelmäßige Schaben des Steins über das Metall war hypnotisch, beinahe einschläfernd. Jeder Strich des Wetzsteins erinnerte mich qualvoll daran, dass ich hier in der Werkstatt war, weil ich die Regeln gebrochen hatte. Jurland hatte in all der Zeit nichts zu erzählen. Wie denn auch? Er erlebte ja nichts mehr als diesen langweiligen Alltag. Er verbrachte die meiste Zeit mit Schmiedearbeiten.

    Die Tage in der Werkstatt schlichen dahin wie eine Schnecke auf einem Salzfeld. Manchmal stellte ich mir Blut und Schreie vor, und Feinde, die nicht mehr aufstanden. Sie blickten zu mir hinauf und ich auf sie hinab. Ich erinnerte mich an meine Siege, an das großartige Gefühl, besser gewesen zu sein als der Gegner.

    Und wo saß ich jetzt? Wem hatte ich das zu verdanken?

    Die stumpfe Klinge spiegelte mein gelangweiltes Gesicht wider. Der Wetzstein schliff über das Metall.

    Jurland drosch rhythmisch den Hammer auf ein Werkstück, dass die Funken stoben. «Beweg dich ein bisschen schneller, Serak», rief er zwischen zwei Schlägen. «Du kommst viel zu langsam voran! Bist du überhaupt bei der Sache?» Der Rauch des Schmiedefeuers erinnerte mich an einen Grillabend und mein Magen knurrte.

    Ich biss mir auf die Zunge und versuchte, mich besser auf die ermüdende Arbeit zu konzentrieren. Mein Zorn auf Rex und den Kommandanten wuchs mit jeder Minute, die ich hier litt, doch eigentlich müsste ich nur auf mich selbst wütend sein. Ich kannte die Regeln und hatte sie bewusst übertreten.

    Als ich zu den Bolzen überging, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass diese Strafe ein Ende nehmen würde. Die Werkstatt war für mich zu einem Kerker geworden, in dem ich mithilfe von Langeweile langsam zu Tode gefoltert wurde.

    Ich brütete in trostlosen Gedanken, als die Tür aufschwang und kalte Luft hereinströmte. Ich hob den Kopf, als Rex eintrat, seine blauen Augen funkelten vor Vergnügen. Das raspelkurze, dunkelbraune Haar wurde an den Schläfen schon etwas grau und die ersten Falten zeigten sich. Auch sein Bauch war nicht mehr so flach, wie er das vielleicht in jungen Jahren gewesen war.

    Er schlenderte langsam durch den Raum. «Na, Serak», begann er mit einem süffisanten Grinsen, «wie läuft’s so in der Werkstatt?»

    Ich knurrte leise und konzentrierte mich auf die Klinge vor mir, den Wetzstein fest in der Hand. «Was willst du, Rex?» Die Frage war unnötig. Wir wussten beide, dass er nur hier war, um mich leiden zu sehen.

    Er zuckte mit den Schultern und tat, als würde er die verschiedenen Gerätschaften in den Regalen begutachten. «Ach, nichts Besonderes. Wollte nur mal sehen, wie unser großer Krieger sich so schlägt.»

    Ich versuchte, meine Wut zu unterdrücken. «Ich mache meine Arbeit, und ich mache sie gewissenhaft. Das kannst du Garlyn so ausrichten, falls er dich geschickt hat.»

    Rex lehnte sich mit dem Hintern gegen meine Werkbank und verschränkte die Arme vor der Brust. «Jeder bekommt, was er verdient. Ich musste deinen Suff melden, sonst hätte ich mir selbst Ärger eingebrockt. Kapierst du das?»

    «Genieß es, solange du kannst, Rex. Irgendwann wirst auch du mal dran sein. Niemand ist ohne Fehler.»

    Er lachte und schüttelte den Kopf. «Vielleicht. Aber bis dahin werde ich jede Minute davon genießen, dich hier schuften zu sehen.»

    Das Hämmern verstummte. Jurland kam hinter seinem Amboss hervor. «Jetzt hör mal zu, Rexar», brummte er. «Garlyn war so freundlich, mir den Gehilfen an die Seite zu stellen, um den ich ihn gebeten hatte. Ich bin mit Seraks Arbeit sehr zufrieden, ich habe ihm Arbeiten anvertraut, die ich allein nicht mehr schaffe. Dass deine Rüstung so gut sitzt und dir der Schwertgurt nicht mehr über deinen dicken Hintern rutscht, verdankst du ihm. Er hat das in Ordnung gebracht. Deine Ausrüstung war wieder mal in einem unmöglichen Pflegezustand eingetroffen. Falls du nur hier bist, um dich über Serak lustig zu machen, kannst du verschwinden!»

    Ich sah Jurland überrascht an. Fast tat es mir nun leid, dass ich die Arbeit so sehr hasste.

    Rex errötete vor Zorn, doch seine Stimme blieb ruhig. «Ich bin aus einem anderen Grund hier. Eigentlich wollte ich mit dir sprechen, Jurland, und nicht mit deinem Gehilfen.»

    «Schön, hier bin ich. Worum geht es?»

    «Du hast einige interessante Gerätschaften dort im Regal. So was habe ich noch in keiner Werkstatt gesehen.» Rex näherte sich einem Regal und griff nach einer Flasche, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Darin schwammen verschiedene kleine Fläschchen, gefüllt mit farbenfrohen Substanzen. Jede Miniflasche trieb auf einer anderen Höhe. «Das hier zum Beispiel. Was ist das?»

    «Das ist ein Gasanalysator, um die Zusammensetzung der Atemluft zu messen. Ich benutze ihn, da ich hier mit offenem Feuer arbeite. Manchmal drückt der Wind den Rauch zurück in die Esse. Bevor wir ersticken, sehe ich das Problem an diesem Gerät.»

    «Und woher hast du das Gerät?», fragte Rex scharf.

    Jurland lächelte. «Ich habe meine Quellen. Und du bist ziemlich neugierig, finde ich.»

    «Aus gutem Grund!» Rex gestikulierte aufgebracht. «Normalerweise nutzen nämlich Reliktjäger so was, wenn sie in versunkenen Tempeln und Katakomben nach Beute suchen. Bekanntlich sind Reliktjäger keine netten Leute! Es sind Grabräuber, Hehler, Schmuggler und meistens sogar Mörder.»

    Jurland hob die Brauen. «Gut geraten. Ich habe den Gasanalysator tatsächlich von einem Reliktjäger erworben. Einem, der verletzt war und Geld für einen Heiler benötigte. Darum habe ich einige seiner Ausrüstungsgegenstände für einen Spottpreis erhalten.»

    Rex ballte die Fäuste. «Damit hast du wahrscheinlich seine Heilung finanziert, und jetzt treibt der Kerl weiter sein Unwesen.» Er regte sich richtig auf! «Wann hast du das gekauft? Und wo, hier in Unwrain? Und wie hieß der Kerl? Beschreibe ihn, damit wir ihn töten können, wenn er uns auf einem Kontrollmarsch begegnet.»

    «Jetzt reicht es aber», brummte Jurland. «Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig, und ich unterstütze auch keine Selbstjustiz. Mir hat der Reliktjäger nichts getan. Er brauchte Geld und ich brauchte das Gerät. Raus jetzt, du hältst uns von der Arbeit ab.» Er wies mit dem Schmiedehammer zur Tür.

    Rex sah aus, als wolle er noch etwas sagen, verkniff es sich dann aber und verschwand.

    Gerade wollte ich in meiner Arbeit fortfahren, da erklang draußen das Signalhorn.

    Unwrain

    Auf dem Rückweg war ich nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Bevor wir in Sichtweite der Torwache kamen, zog ich meinen Arm von Maulis Schultern. Man könnte meinen, dass die frische Luft mir gutgetan hätte, aber ich war immer noch so betrunken wie zu dem Zeitpunkt, als wir den Heulenden Hund verlassen hatten.

    «Den Rest laufisch alllleine», verkündete ich.

    «Fall nicht hin, der Weg ist voller Pfützen», sagte Mauli besorgt.

    «Isch bin Meister der Ballllance», lallte ich und breitete die Arme aus. Zielstrebig torkelte ich um die Pfützen herum, meine Stiefel wurden nicht nasser, als sie ohnehin schon waren, aber aus irgendeinem Grund wurden wir trotzdem von der Torwache aufgehalten.

    «Ihr sollt doch nicht so viel saufen, dass ihr besoffen seid», meckerte jemand, dessen Stimme mir unangenehm bekannt vorkam. Das war Rex! Anstatt sich ausruhen zu dürfen, hatte Garlyn ihm eine Nachtschicht aufgebrummt. Vielleicht, um seiner Meinung bezüglich unkameradschaftlichen Verhaltens Nachdruck zu verleihen.

    «Wo binnich besoffn?», fragte ich.

    Er wies von meinem Kopf bis hinab zu den Stiefeln. «Überall, von oben bis unten! Schau dich an! Du weißt, dass ich das melden muss.»

    «Ach, komm, Re ... Rexi.»

    «Mag sein, dass andere ein Auge zudrücken, wenn du ihnen dämliche Kosenamen gibst, aber ich mach das nicht. Jetzt rein mit dir und auf direktem Weg ins Bett, bevor noch ein Unglück geschieht.»

    «Das sachst du nur, weillu nich eingeladen warst! Du bissein elener Sauhund!»

    «Und die Beleidigungen melde ich gleich mit. Rein jetzt», knurrte Rex und schob mich durchs Tor.

    Zu schnell für mich. Ich stolperte über meine Füße, stürzte und schlitterte auf Händen und Knien durch den kalten Schlamm, bis ich auf dem Bauch landete.

    Mauli erbarmte sich, mir auf die Beine zu helfen. Unter Protest ließ sich mich von ihr in meine Barracke führen. Es war noch niemand in meiner Stube, so kam sie mit herein. Sie setzte mich auf mein Bett und zog mir die nasse Jacke, den feuchten Wollpullover und die Stiefel aus, so dass ich nur noch im Unterhemd und Hose war. Danach ergriff sie meine Finger. «Deine Hände sind eiskalt.»

    «Bedank dich bei Rex, der mich innen Schlllamm geschickt hat.»

    Sie zog mir mein Nachthemd über. Vielleicht hätte es mir peinlich sein müssen, bemuttert zu werden, aber ich mochte Mauli, also gönnte ich ihr die Freude. Aus der dreckigen Hose schälte ich mich selbst, dann ließ ich mich ins Bett sinken und wickelte mich in die Wolldecke. Mauli verschwand für einen Augenblick nach draußen, um mit einer gusseisernen Wärmflasche zurückzukehren, die sie mir an die Füße legte. Angenehme Hitze machte sich an meinem Fußende breit. «Gute Nacht», sagte sie.

    «Nacht!»

    Dass Cherax und die anderen eintrudelten, bekam ich schon nicht mehr mit. Ich schlief wie ein Stein.

    Nach dem Weckruf fanden wir uns, wie immer, zum Appell ein, um die Tagesbefehle entgegenzunehmen. Der Drillplatz war ein trostloser Anblick an diesem späten Wintermorgen. Der Boden war aufgeweicht und matschig, jeder Schritt verursachte ein widerliches Schmatzen. Ein kalter Wind wehte über das Lager, schneidend und unerbittlich, und trug den Geruch von feuchter Erde und altem Holz mit sich. Die Zeltplanen flatterten unruhig, als würden sie gegen den nahenden Appell zu so früher Stunde protestieren. Rauch stieg träge in die Luft, er verströmte den würzigen Geruch von verbranntem Holz und dem Eintopf, den es abends gab. Was wir zum Frühstück oder Mittag aßen, war unsere Sache.

    Die Rüstungen und Waffen glänzten im trüben Morgenlicht. Die Söldner standen in lockeren Haufen zusammen, die meisten von ihnen fröstelnd und missmutig. Manche schlugen sich die Hände gegen die Oberarme, um die Kälte zu vertreiben.

    Garlyn Meqdarhan schien eine schlechte Nacht gehabt zu haben. Er sah bleich und aufgedunsen aus, aber ansonsten hielt er sich frisch, wenn ich seinen Alterungsprozess mit dem von Mauli verglich, die genau so alt war wie er.

    «Guten Morgen», sagte er. Blick und Tonfall sagten, dass er für einige von uns gar nicht gut werden würde.

    «Guten Morgen, Kommandant», antworteten wir pflichtschuldig.

    «Wie viele von euch wissen, hatte ich vor einigen Tagen ein Gespräch mit unserem Auftraggeber. Ich darf euch gute Neuigkeiten verkünden: Uns wird in Zukunft der Schutz eines Abschnitts der Salzstraße anvertraut werden. In letzter Zeit werden auch Karawanen mit beträchtlichem Geleitschutz überfallen und ausgeraubt. Deswegen werden wir uns um dieses Problem kümmern. Fragen?»

    Rex meldete sich. «Ist bekannt, wer die Händler überfällt?»

    Garlyn nickte. «Ja, diesmal sind es nicht die Raubritter. Sondern Orks.»

    Rex spuckte aus. «War ja klar.»

    Ich meldete mich und konnte nur mit Mühe warten, bis ich aufgerufen wurde. «Das muss irgendeine Drecksrotte sein. Nur wenige Rotten überfallen Menschen! Was Orks brauchen, organisieren sie sich selbst, und was sie sich nicht organisieren können, das brauchen sie auch nicht!»

    «Offenbar tun sie es doch», warf Rex ein. «Wie sieht es aus mit Gold? Geschmeide? Bei dem ganzen Schmuck, den ihr ständig tragt, macht ihr den almanischen Prinzessinnen Konkurrenz.»

    «Schmuck hat für einen Ork nichts mit Eitelkeit zu tun», polterte ich. «Jedes Schmuckstück hat rituelle Bedeutung und ist entweder ein Fluchbrecher oder eine Trophäe. Irgendeine fremde Kette mit bunten Edelsteinen würde keinen Zweck erfüllen!»

    «Außer als Andenken an den erfolgreichen Überfall», konterte Rex schnippisch.

    Womit er Recht hatte, aber das wollte ich nicht zugeben. Ich öffnete den Mund, um ihn mit einer Ausrede niederzuwalzen, doch Garlyn kam mir zuvor.

    «Ruhe.» Er deutete auf Rex. «Hier sind wir alle Eisenfalken! Du bist mir gestern schon negativ aufgefallen. Solchen Mist, das ein Volk besser wäre als das andere, will ich kein weiteres Mal hören. Alle Völker sind gleich verdorben, das kannst du mir glauben. Aber hier ist das egal!»

    «Du bist doch auch Narider», murrte Rex. «Du musst doch wissen, dass der Norden des Landes schon immer mit plündernden Orkbanden zu tun hatte, Kommandant.»

    Ich mischte mich erneut ein. «Es mag ja sein, dass es in den Grenzregionen hin und wieder Ärger gibt. Aber das sind bloß junge Krieger, die ein bisschen Kampferfahrung und ihre ersten Trophäen sammeln wollen.»

    «Da bin ich ja beruhigt», ätzte Rex. «Unter diesen Umständen überlasse ich ihnen liebend gern meinen Skalp!»

    «Ich sagte Ruhe», donnerte Garlyn. «Rexar Falachny und Serak der Lügner, ihr habt heute großen Putzdienst fürs unaufgeforderte Sprechen und dafür, dass ihr meinen Befehl, zu schweigen, ignoriert habt. Was Serak betrifft, so darf er sich morgen früh in meiner Schreibstube außerdem noch die Strafe für seine Trunkenheit abholen kommen.» Er sah streng zwischen Rex und mir hin und her, dann widmete er sich wieder dem Rest der Kompanie. «Trupp eins macht sich jetzt fertig zum Garnisonsdienst laut Plan, Trupp zwei rüstet sich aus für einen Kontrollmarsch. Fragen? Nein? Dann Ausführung!»

    Während meine Kameraden sich für den Kontrollmarsch versammelten, trottete ich mit Grabesstimmung zurück in die Baracke, legte meine Rüstung und Bewaffnung ab, mit Ausnahme des Kampfmessers, das immer am Gürtel blieb, und holte mir das Putzzeug.

    Der kalte Wind biss uns ins Gesicht, als Rex und ich uns widerwillig durch den Matsch schleppten, beide mit Schaufeln, Eimern und Besen bewaffnet statt mit Schwertern und mit einer Menge ungesagter Worte.

    Wir begannen, den Schlamm beiseite zu schaben, damit die Pfützen abflossen, während Rex unaufhörlich vor sich hin fluchte. «Diese verdammte Kälte frisst einem die Knochen auf», murrte er, während er energisch mit seiner Schaufel über den Boden fuhr.

    Ich konnte ein fieses Grinsen nicht unterdrücken. Sein Ärger tat mir gut. «Vielleicht ist es das Beste, wenn du dich bewegst, Rex. Dann wird dir warm.» Er warf mir einen giftigen Blick zu, der mein Herz erfreute.

    Die Arbeit war zäh und undankbar. Unsere Stiefel schmatzten bei jedem Schritt, und der Schlamm klebte an manchen Stellen so hartnäckig, dass es eine Ewigkeit dauerte, ihn loszuwerden. Doch immerhin hörten wir auf zu streiten. Wir konnten unsere Wut auf die Arbeit richten, statt aufeinander.

    Die Latrinen waren unser nächstes Ziel. Es war nicht so kalt, dass die Sickergrube gefroren wäre. Selbst durch die kalte Winterluft krochen die fauligen Dämpfe in unsere Nasen. Mit zusammengebissenen Zähnen machten wir uns an die Arbeit, säuberten die Sitzflächen der Plumpsklos und schütteten Kalk hinein, um die schlimmsten Gerüche abzutöten.

    Mittags ging es zu den Ställen, wo die wenigen Pferde lebten, die unsere Söldnerkompanie besaß. Pferde waren Luxustiere, die sich kaum jemand leisten konnte. Der gemeine Mann musste sich mit Eseln und Ochsen begnügen. Ein Pferd gehörte dem Kommandanten, die anderen dienten unseren Kundschaftern und Meldereitern. Die Tiere hatten den Boden in eine schmierige, stinkende Masse aus Mist und Matsch verwandelt. Mit schweren Gabeln und Schaufeln bewaffnet, räumten wir den Dreck beiseite.

    Wir verteilten frisches Stroh, um den Stallboden einigermaßen trocken zu halten, und füllten die Tränken auf.

    Am Ende des Tages, als Alvashek im Westen langsam hinter den schiefen Giebeln von Unwain versank und das Lager in ein düsteres Zwielicht tauchte, ertönte das Horn. Unsere Kameraden kehrten heim.

    Rex und ich räumten die Werkzeuge auf und schleppten uns müde und dreckverkrustet zurück zum Drillplatz. Der kalte Wind hatte nicht nachgelassen. Die Stiefel der Kameraden schmatzten im Schlamm, doch im Gegensatz zu uns waren sie guter Dinge. Ihre Gesichter waren gerötet von der Anstrengung und der Kälte, doch sie lächelten, weil es bald wieder einen großen Auftrag gab und damit Sold. Der Wirt des Heulenden Hundes würde heute Abend einige Humpen mehr ausschenken müssen.

    «Wahrscheinlich schrecken wir die Orks durch unsere bloße Gegenwart schon ab», meinte Cherax. «Ist doch so, oder, Serak? So weit ich weiß, belassen Orks es meist bei Plünderungen und vermeiden große Gefechte. Bei der Aussicht auf ernste Gegenwehr hauen sie ab.»

    «Stimmt wohl», murrte ich. «Eisenrüstungen sind ein ernstes Argument, weil sie selbst keine haben. Sofern nicht Darazgord anrückt, was unwahrscheinlich ist. Aber Garlyns roter Schopf wäre eine großartige Trophäe.»

    Cherax brach in schallendes Gelächter aus, die anderen stimmten ein. Anscheinend hielten sie das für einen Witz.

    Die Männer, die Garnisonsdienst gehabt hatten, trudelten aus den nun nicht mehr ganz so schlammigen Straßen des Söldnerlagers ein. Wenig später erschien unser Kommandant und die Gespräche verstummten. Wir formierten uns ordentlich. Er ließ den Blick über die glücklichen Söldner schweifen. Im krassen Gegensatz dazu standen Rex und ich am Rand des Trupps. Unsere Hände waren aufgesprungen von der Kälte und dem unnachgiebigen Schrubben, unsere Gesichter versteinert.

    «Seht euch die Helden des Tages an», rief er. «Damit ist die Schuld von Rex abgegolten. Du beteiligst dich morgen regulär beim Garnisonsdienst von Trupp zwei, während Trupp eins auf Kontrollmarsch geht.»

    «Jawohl, Kommandant», maulte er.

    «Wir werden künftig jeden Tag wechseln. Erst geht der eine Trupp auf Kontrollgang und der andere macht Garnisonsdienst, danach umgekehrt. Was Serak betrifft, so habe ich für ihn eine weitere Spezialaufgabe, um ihm den übermäßigen Durst für jetzt und alle Ewigkeit auszutreiben.»

    «Jawohl, Kommandant», murrte ich.

    «Morgen früh kommst du nach dem Appell zu mir, dann besprechen wir deine neuen Pflichten. Wegtreten!»

    Damit zerstreute sich der nasse, durchgefrorene Haufen. Sehnsüchtig erinnerte ich mich an die heiße Badegrotte im Herzen der Bruthöhlen, wo man sich von der Kälte des Winters erholen konnte. Hier gab es so etwas nicht. Hier gab es nur Kälte, Wind und Matsch.

    «Was machst du heute Abend?», fragte Mauli. «Kommst du mit in den Heulenden Hund?»

    «Ich bin erledigt», murrte ich. «Ich will einfach nur schlafen.»

    «Aber Rex kommt auch mit, obwohl er die gleiche Arbeit hatte.»

    «Ein Grund mehr, sich ins Bett zu verkriechen. Gute Nacht.»

    Während ich mit bettfertig machte, hörte ich, wie die Kameraden plaudernd und lachend aufbrachen. Es war kein gutes Gefühl, zurück zu bleiben, während die anderen feiern gingen, aber ich wusste nicht, welche Schikanen Garlyn sich für den morgigen Tag für mich überlegt hatte. Er konnte kreativ sein, und ich wollte danach noch aufrecht gehen können. So legte ich mich hin, zog die Wolldecke bis zum Hals und presste meine Füße gegen Maulis heiße Wärmflasche, während die Stimmen meiner Kameraden sich entfernten. Ich schloss die Augen und wünschte mir Schnaps.

    Heimkehr der Eisenfalken

    Als das Lager in der Ferne auftauchte, jene improvisierte Festung aus Eis und Holz, konnte ich den Rauch der Feuerstellen riechen, einen beißenden, harztigen Dunst, der sich mit dem schneidend kalten Wind vermischte. Das Lager hockte auf einem Hügel, umringt von einem Schneewall, aus dem noch die schwarzen Spitzen geteerter Palisaden ragten. Die windschiefen Hütten glitzerten, vom Frost überzogen.

    Bei jedem Schritt knirschte der Schnee unter unseren Stiefeln. Die Wachen riefen etwas und das Tor wurde aufgeschoben. Schnee rieselte, Schritte stampften. Die Eisenfalken kehrten heim.

    Als wir das Tor durchschritten, kamen uns die ersten Söldner entgegen, jene Kameraden, die zurückgeblieben waren, um das Lager zu hüten, und sie begrüßten uns mit derben Rufen, die in der kalten Luft widerhallten. Wir antworteten, die Worte waren grob und doch von einer seltsamen Zärtlichkeit durchwirkt, die nur jene kannten, die gemeinsam den Tod umarmt hatten. Wir marschierten dennoch diszipliniert, niemand verließ den Tross, um noch einmal anzutreten. Es ist ein Mythos, dass es in den Söldnerkompanien der Grünen Kader keine Disziplin geben würde, wenngleich nicht jedes Detail so präzise durchgeplant werden konnte wie in den Armeen der großen Menschenreiche.

    «Meine tapferen Eisenfalken», rief der Kommandant. Sein kupferrotes Haar schien im Graubraun unserer Ausrüstung zu leuchten wie Feuer. Er war ein skrupelloser Fuchs mit dem Charisma eines strengen, aber gütigen Vaters. Man war geneigt, ihm jeden Fehler zu vergeben, und Fehler besaß er zahllose. «Nach langer Mission sind wir endlich vereint wieder hier. Ihr seid Krieger, die sich dem Unbekannten stellen und niemals zurückweichen, Helden in einer Welt, die von Asche und Verrat regiert wird. Unsere Opfer werden nicht vergebens gewesen sein, denn jeder Gefallene lebt im Geist aller Eisenfalken weiter. Eure Familien haben euch vergessen, eure Regierungen und eure Götter, aber die Eisenfalken vergessen niemanden.»

    Die Söldner senkten die Köpfe und verharrten in absoluter Stille, einer jender Momente, in denen die Zeit sich dehnte. Jeder hing seinen eigenen Gedanken und Gefühlen nach. Ich sah die Gesichter jener vor mir, die fortan meinen Weg nicht mehr begleiten würden. Nach zehn Jahren schmerzten Verluste nicht mehr so sehr wie früher, die scharfe Klinge des Schmerzes war stumpf geworden. Gleichgültig waren die Toten mir trotzdem nicht. Sie lauerten in den Winkeln meines Verstandes wie Schatten, die sich immer dann regten, wenn ich gerade nicht hinsah.

    Nach einiger Zeit hob der Kommandant den Kopf und seine Stimme holte uns zurück in die Wirklichkeit.

    «Unsere Kameraden werden uns für immer begleiten, die Zukunft gehört den Eisenfalken. Lasst die Nacht unserer Heimkehr ein Fest des Lebens sein. Wir haben gesiegt! Hebt die Becher und lasst den Sieg in euren Herzen lodern! Vergesst niemals die Pflichten, die wir als Söldner tragen - seid Wächter, seid Gefährten und seid bereit, jederzeit wieder in den Kampf zu ziehen, wenn das Horn euch ruft. Genießt euren Feierabend und erinnert euch daran, dass ihr Teil einer starken Gemeinschaft seid, die nichts aufhalten kann. Morgen geht der Dienst pünktlich weiter. Wegtreten!»

    Im Gehen rempelte Cherax mich mit der Schulter an. Der Troll war größer als ein ausgewachsener Ork, aber schlanker, mit einer Haut so grau Fels und Hauern wie ein Wildschwein. Als er den Helm abnahm, quoll sein schwarzer Haarkamm hervor, der als Streifen über seinen Rücken verlief und sich sofort aufrichtete, kaum dass er ins Freie kam. «Du schuldest uns noch was», stellte er fest. «Deine Schuld ist auf den Tag genau heute fällig, Serak.»

    Ich tat, als wüsste ich nicht, wovon er sprach. «Der Einzige, der dir was schuldet, ist Garlyn – für all die leeren Versprechungen, die er uns macht, seit wir in seinen Klauen sind.»

    «Nö», beharrte der Troll. Seine großen silbrigen Augen glitzerten listig. «Du weißt genau, was ich meine.»

    Ich schnaufte gequält, eine Dampfwolke entwich aus meiner Nase. «Na schön, du hast gewonnen.» Mein schöner Sold, jenes flüchtige Glitzern, das durch die Finger rann wie Sand. «Heute Abend Treff im Heulenden Hund. Aber lass mich vorher noch was Sauberes anziehen. Und sag nicht so vielen Bescheid, sonst bin ich gleich wieder pleite.»

    Das Grinsen von Cherax wurde breit und dreckig. «Das würde ich nie tun. Troll-Ehrenwort.»

    «Bei meinen Ahnen», stöhnte ich und schaute theatralisch in den Himmel, wo Alvashek, gehüllt in einen Wolkenschleier, versank. Leider half das nichts und Cherax löste sein Troll-Ehrenwort ein, eine geläufige Bezeichnung für ein falsches Versprechen. Als wir abends auf dem Weg ins Dorf waren, begleitete uns eine lange Kolonne von durstigen Kameraden.

    Unwrain war ein Kaff im Nirgendwo, ein vergessenes Nest, das keinen eigenen Ortsnamen verdiente. Schneeregen peitschte in unsere Gesichter und bedeckte unsere Kapuzen und Wolljacken mit kaltem Matsch. Wenig später trat ich gemeinsam mit zwei Dutzend meiner Kameraden in die dunkle Holzhütte des Heulenden Hundes, ein Name, der so irreführend war wie die Verheißung von Wärme und köstlichen Speisen, denn ier heulte nichts außer der Wind durch die Ritzen. Der Hund, der hier mal gewohnt haben mochte, war wahrscheinlich längst zu Suppe verarbeitet worden. Unter unseren Schritten knarrten die Dielen und in den farbigen Bleiglasfenstern brach sich das Licht der flackernden Öllampen in verzerrte Fragmente, die wie bunte Geister über die Wände tanzten.

    Die Gäste, eine handvoll verhutzelter Gestalten, wandten die Köpfe. Ihre Blicke verrieten eine Mischung aus Neugier und der resignierten Erkenntnis, dass eine Söldnerhorde, die frisch von der Front kam, selten angenehme Gesellschaft war.

    Wir quetschten uns um die wenigen Tische, Stühle schabten über Sägespäne und die verkokelten Reste von Pfeifenkraut.

    «Mahlzeit», murmelte ich den Fremden zu, während ich mich zum Tresen vorkämpfte, einem monströsen Gebilde aus verwittertem Holz, das von unzähligen Rußflecken gezeichnet war.

    Die Bestellung war einfach, Bier und Kohlsuppe, nichts weiter, denn Vielfalt war ein Luxus, den Unwrain sich nicht leisten konnte. Die Schankmädchen – zwei erschöpfte Kreaturen – huschten hin und her, der Wirt brummte gereizt.

    Schließlich standen die Krüge und Schüsseln da, schaumig und trüb, aber einladend, und mein Magen knurrte.

    Alle Blicke richteten sich erwartungsvoll auf mich.

    Ich erhob mich, den Krug in der Hand, und ließ meinen Blick über die Runde schweifen, über Narben von vergangenen Kämpfen, über Augen, in denen ein dunkles Feuer glomm.

    Zehn Jahre bedeuteten mir persönlich so viel wie der Staub, zu dem am Ende alles zerrann. Unter Orks galt ein Jubiläum nichts, denn was war es anderes als das Absitzen von Zeit?

    Doch der Ruf eines Geizhalses haftete an mir wie ein Fluch, weil ich schon das fünfjährige Jubiläum ohne Feier hatte verstreichen lassen, und so versuchte ich, die Sache wiedergutzumachen, wenngleich der letzte Sold ausgeblieben war.

    «Auf zehn weitere Jahre mit euch, ihr elenden Drecksäcke. Mögen uns die Ahnen nicht so schnell zu sich rufen.»

    «Auf zehn weitere Jahre!», brüllten die Söldner und die Krüge krachten aneinander.

    Ich nahm einen beherzten Schluck und setzte mich. Der Ruß der Öllampen stank wie menschliches Fleisch, das von einer alchemistischen Sprengfalle in Fetzen gerissen wurde. Ein Geruch, der sich in die Lungen brannte und nie mehr wich, um in stillen Momenten wieder hervorzukriechen.

    Cherax lachte dröhnend, unangemessen an einem Tag wie diesem, und doch war es verständlich. Man musste lachen, um nicht zu verzweifeln. Wem hätte Trauer genutzt? Sie rief niemanden zurück vom Alldunkel zwischen den Sternen.

    Ich stellte fest, dass das Bier heute krümelig schmeckte, Sedimente, die am Gaumen hafteten wie die Erde auf einem Schlachtfeld.

    Mauli und Cherax grinsten mich an, ich grinste zurück, wenngleich das Lächeln in meinen Augen nicht ganz ankam. Logen auch sie, oder war ich der einzige Lügner? Der einzige Schwächling? Über solche Dinge sprach man nicht. Mauli war sichtlich älter geworden, seit wir uns vor zehn Jahren das erste Mal begegnet waren. Sie besaß nur noch die Hälfte ihrer Zähne, doch an Cherax, vor dem eine halbe Ewigkeit lag, war die Zeit nahezu spurlos vorübergezogen. Er hatte lediglich ein paar Narben mehr als früher. Was mich betraf, musste mein Alter irgendwo zwischen fünfundzwanzig und dreißig liegen.

    «Zehn Jahre, Serak», sagte Cherax bedeutungsschwer. «Ich habe gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit verstrichen ist.»

    «Was dich betrifft, versoffen und verhurt», antwortete Mauli trocken. « Den Luxus, die Zeit zu vergessen, hat bloß ein Troll. Andere Leute haben derweil hart gearbeitet, haben Schlachten geschlagen und Wunden geleckt. Ich weiß sehr gut, wo all Jahre geblieben sind. Ich merke sie in jedem Knochen.»

    «Niemand kann was dafür, dass du schon alt wirst», grollte Cherax.

    «Kein Streit heute, ich verbiete das», stellte ich klar.

    Cherax winkte ab, sein Grinsen blieb unerschüttert. «Mauli kann nicht anders. Wenn die eines Tages unter der Erde liegt, muss man ihr Mundwerk extra totschlagen, damit es aufhört, sich über mich zu beschweren.»

    «Schnauze jetzt», sagte ich und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. «Heute wird gefeiert, das ist ein amtlicher Befehl unseres Kommandanten. Was ihr danach macht, ist eure Kanne Bier, aber jetzt wird gebechert. Auf weitere zehn Jahre!» Ich hob den Krug erneut.

    «Auf weitere zehn Jahre», stimmten Mauli und Cherax ein, wir tranken und damit herrschte vorerst wieder Tischfrieden, eine fragile Waffenruhe, die oft so schnell zerbrach wie ein Glas unter Stiefeln.

    Während Mauli und Cherax sich mit den anderen Söldnern am Tisch unterhielten, über unsere Missionen, die immer in Blut und Geld endeten, trank ich schweigend und versank im finsteren Labyrinth meiner Gedanken. Vielleicht lag es daran, dass ich, wie Mauli, nur mit einer kurzen Lebensspanne geschlagen war, ein kurzes Glimmen wie ein Funken in der Nacht, der sogleich wieder erlosch, während die Feuer der Trolle, Orks und Alben – all der spitzohrigen Urbevölkerung von Asamura – über Jahrhunderte brannten. Der Fluch des Menschenblutes in meinen Adern würde mich bald welken lassen, ich würde zahnlos, grauhaarig und faltig wie Mauli werden. Auch ich konnte die Zeit nicht einfach vergessen, jedes Jahr wog kostbar.

    Nichts währt ewig und nichts Gutes währt überhaupt. Ich dachte an Katax und an Dolwin und bestellte einen weiteren Krug.

    Garlyn Meqdarhan besaß nicht den Edelmut eines Dolwin von Niederau, er war ein skrupelloser, hinterlistiger Fuchs, und doch bot er mir eine neue Heimat. Vor zehn Jahren war ich ein junger Halbork auf Sinnsuche gewesen. Was ich gefunden hatte, waren Blut, Schmerz und Geld. In dieser verfluchten Welt aus Schlamm und Schnee, was könnte befriedigender sein, als den Göttern, die auf uns spuckten, jeden Tag den Mittelfinger zu zeigen, indem man trotz allem weiterkämpfte? Einen anderen Grund gab es nicht. Früher oder später würde es einen neuen Auftrag geben, einen besseren Auftrag und besseres Geld, bis dahin halfen Bier und Schnaps, die Flaute zu überstehen. Ja, auch Garlyn hatte mich vieles gelehrt.

    Die Krüge klimperten, Spielkarten raschelten, die Witze wurden derber. Cherax versuchte sein Glück bei einem Schankmädchen und Mauli steckte sich eine Pfeife an, deren rauch sich unter den Holzbalken der Decke verlor. Sie ging wieder leer aus, als die Pärchen sich für heute Nacht zusammenfanden und Arm in Arm in den Hinterzimmern oder nach draußen verschwanden. Für mich war das gut, denn so war sichergestellt, dass sie mir weiterhin Gesellschaft leisten würde, weil ich kein Bedürfnis verspürte, mit jemandem mein Bett zu teilen. Viel lieber blieb ich mit den Zechern sitzen, in dieser rauenGemeinschaft, die nach Schweiß, Leder und Alkohol roch. Ich erzählte Mauli einen Witz, bei dem Trolle äußerst schlecht wegkamen, sie lachte und wir stießen an.

    Alles in allem, so stellte ich fest, war ich mit meinem Leben zufrieden. Mit jedem Schwertstreich spürte ich die Genugtuung, dass jeder durch meine Hand fallen konnte, der mir dumm kam. Ich war nicht mehr der Jüngling, der herumgeschubst wurde, ich war ein Krieger, dem man besser Respekt zollte. Ich war der Mann, der ich als Jüngling immer sein wollte.

    War ich glücklich?

    Die ehrliche Antwort lautet: Nein.

    Ich trank noch mehr, und das Heimweh nach den rot blühenden Wiesen der Tundra, nach Katax‘ sensiblem Blick, kroch hoch wie Nebel aus den Tiefen meiner Erinnerung – ein Schmerz, der sich nicht weggrinsen ließ, wenngleich ich es versuchte, Krug um Krug.

    Die Falle

    Wir erreichten die Stelle, wo die Wagenspuren sich kreuzten. Der Boden war oberflächlich gefroren und darunter weich. Ich zeigte Rex, wie ich mit dem Spaten Schollen von der Oberfläche hob, damit wir sie später wieder an Ort und Stelle legen konnten. Darunter hub ich eine Fallgrube aus, knietief. Sie sollte den Gegner nicht töten, sondern dafür sorgen, dass er durch das Einbrechen an den vergrabenen Stricken zog. Dadurch würde er die Falle auslösen. So war sie beinahe unsichtbar, in jedem Fall besser getarnt als mit einem quer über den Weg gespannten Stolperdraht. In diesem Augenblick würden die drei Speere, die ich seitlich des Weges vergrub, aus ihren Erdschächten herausgeschleudert werden. Es war eine komplexe Falle, die lange Vorarbeit und Präzision erforderte, aber das war mein Spezialgebiet. Sie würde funktionieren.

    Rex beobachtete, wie ich die vorbereitete Falle scharfmachte. «Kriegst du so ein Gefummel mit deinen Orkpranken überhaupt hin?» Er war nicht jünger als ich, wahrscheinlich sogar älter, dem Zustand seiner Zähne nach zu urteilen. Das Bastardschwert an seiner Seite war gut gepflegt, aber wirkte gebraucht. Wahrscheinlich hatte er es schon so gekauft. Woher er kam und warum er hier war, wusste ich nicht. Weil er aus seiner Abneigung mir gegenüber keinen Hehl machte, sprachen wir nur über Dienstliches. Ich vermutete, er war ein Totalversager, der bisher nichts auf die Reihe bekommen hatte und nun glaubte, als Söldner gutes Geld zu verdienen. Nun, er kannte Garlyn Meqdarhan anscheinend nicht gut genug.

    «Es geht nicht bloß um die Hände», knurrte ich, «sondern um einen klaren Kopf. Weil in deinem bloß Münzen herumklimpern, würdest du das hier auch nicht besser können.» Eigentlich hatte ich nichts gegen Naridier oder gegen einen guten Geschäftssinn einzuwenden. Ich hatte genau so viele nette Naridier erlebt wie dämliche Naridier, genau so viele nette Almanen wie dämliche Almanen. Trotzdem musste ich mich ja irgendwie für seine dummen Kommentare revanchieren. Das einzige, was ich noch nie erlebt hatte, waren nette Orks.

    «Geht das nicht schneller?» Rex schaute besorgt in den Himmel. «In Shakorz gräbt man Löcher bloß für die Toten, was?»

    «Besser als eure naridischen Massengräber», knurrte ich. «Statt Gruben auszuheben, habt ihr nach dem Bürgerkrieg einfach karrenweise Steine auf die Toten gekippt.»

    «Das war bewusst so», ereiferte Rex sich. «Erdbestattung ist für jene, die vergessen werden sollen. Hügelgräber sind für Helden!»

    «Dann ist ja alles bestens, weil du dir über deinen künftigen Steinverbrauch keine Sorgen zu machen brauchst. Jetzt geh zur Seite, ich muss hier ran. Vergiss nicht, ab jetzt einen Bogen um die Karrenspuren zu machen.»

    Die Grube war fertig, die unterirdischen Schnüre gespannt. Rex trat beiseite. Vorsichtig legte ich die Erdschollen über mein Werk.

    Ein ausgestreckter Finger schoss an meinem Kopf vorbei und erschreckte mich fast zu Tode. «Dort sieht man, dass die Erde frisch ist.»

    «Meine Güte! Halt die Klappe, uns fehlt die Zeit. Wir müssen in Deckung!»

    «Man sieht aber, dass dort eine Falle ist!», beharrte Rex. «So hättest du dir die ganze Arbeit auch sparen können.»

    So sehr es mich ärgerte, aber er hatte Recht. Ich wischte ein paar Mal mit den Fingern über die kritisierte Stelle und krümelte noch eine Hand voll lose Erde und trockenes Gras darüber, damit wir endlich auf unseren Beobachtungsposten gehen konnten.

    Es handelte sich um einen Unterstand in der Nähe der Falle, viel kleiner als der, in dem die Karren verladen wurden, und ohne verräterische Wagenspuren davor. Dieses Versteck war dem Gegner, so weit ich wusste, noch unbekannt. Wir hockten eine Weile schweigend im Dunkeln und warteten auf unseren Trupp. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, sich miteinander zu unterhalten, aber ich verspürte keinen Bedarf. Blöd schien er nicht zu sein, er hatte einen guten Blick für die Falle bewiesen, aber sein Gemeinschaftssinn war eine Katastrophe. Ob er vorher bei einer anderen Söldnerkompanie gedient hatte, die ihn deswegen rausgeschmissen hatte?

    Ich wagte einen Blick nach draußen und gab ihm einen Wink, mir den Rücken zu decken. Der Eingang des Unterstands wurde von einem Hügel verdeckt. Durch das trockene Gras, das darauf wuchs, konnte man aus dem Verborgenen heraus die Kreuzung im Auge behalten, so lange man den Himmel nicht vergaß. Als wir in den nächsten Stunden nach draußen gingen, dann stets zu zweit: Einer beobachtete den Boden, einer den Himmel, dann gingen wir wieder in Deckung. Wenigstens die Zusammenarbeit funktionierte.

    «Deine Schwerter sehen hochwertig aus», stellte Rex irgendwann fest.

    «Das sind sie. Sie gehören mir persönlich, ich habe sie nicht von den Eisenfalken gestellt bekommen.»

    «Weißt du, was so ein Schwert kostet?», fragte Rex und ich glaubte, einen lauernden Unterton zu vernehmen.

    Ich grinste spöttisch. «Zu viel jemanden, der unter Garlyn Meqdarhan dient.»

    «Eben, das ist keine Söldnerware! Diese Waffen wären eines Ritters würdig. Und du hast gleich zwei davon.»

    «Und du nicht, was? Aber so ist es. Und ich habe nicht einmal etwas dafür bezahlt.»

    «Ah, verstehe», sagte Rex gedehnt. «Beutegut, was? Aber musst du so einen wertvollen Fund nicht bei unserem Kommandanten abrechnen? Ist er nicht derjenige, der alle Beute einkassiert und dann verteilt?»

    «So ist es. Zumindest, wenn er von der Beute weiß.» Ich zwinkerte Rex zu. «Aber du brauchst nicht zu petzen. Ich besaß die Schwerter schon, bevor es mich zu den Eisenfalken verschlagen hat. Sie waren mein Lohn für Jahre treuer Dienste unter einem naridischen Rittersmann.»

    «Wie bitte? Du bist ein Ork!»

    «Halbork. Und mein Ritter war wohl sehr zufrieden. Aber was ist mit dir? Das Bastardschwert an deinem Gürtel stammt doch auch nicht aus unserem Arsenal. Es würde vielleicht nicht so viel Geld einbringen wie meine beiden Schätzchen, aber ich habe gesehen, dass in die Klinge ein Name eingraviert ist. Nur wenigen Schwertern wird diese Ehre zuteil, und ganz sicher nicht irgendwelcher Massenware.»

    «Du siehst viel», sagte Rex langsam. Es klang mehr wie eine Anschuldigung als wie ein Lob. Nein, er mochte mich immer noch nicht, auch wenn wir uns gerade unterhielten. «Dieses Schwert ist ein Erbstück meines Großvaters, der im Bürgerkrieg gefallen ist. Ja, auch er ruht unter einem Hügelgrab. Ihm wurde der Orden ‚Held der Republik‘ verliehen. Dieses Schwert hat dazu beigetragen, den verdammten Adel aus den Palästen zu jagen.» Er blickte auf das Bastardschwert, das in der Scheide an seiner linken Hüfte ruhte. «Das Blut von Naridiern klebt an dieser Klinge. Doch das macht es nicht zu einer schlechten Waffe. Die Raubritter, gegen die wir entsandt wurden, haben seine Schärfe genau so verdient wie ihre verräterischen Vorfahren. Als mein Großvater damals in Erfüllung seiner Pflicht starb, wurde dieses Schwert von einem Priester zum Heldenschwert geweiht. Und seither trägt es seinen Namen.»

    Ich kam nicht mehr dazu, nach dem Namen des Schwertes zu fragen, weil Nubaru mit dem Rest unseres Trupps durch den Eingang quoll. Götter, war das eng! Es wurde schlagartig heiß und stickig in dem kleinen Unterstand und jeder musste mit jedem kuscheln.

    «Bericht», keuchte Nubaru.

    Ich berichtete und ließ dabei netterweise einen guten Kommentar über Rex fallen. Ein Friedensangebot. Ob er es annahm, würde sich zeigen.

    «Wartet», rief Korma und alle verstummten. «Da kommt die Verstärkung für die Raubritter», murmelte er und senkte den Kopf mit den verbundenen Augen, als würde er lauschen. Doch in Wahrheit versank er tief in die Wahrnehmung seines Falken.

    «Ha», grunzte Cherax. «Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen.»

    «Still!», zischte Nubaru. Er legte eine Hand auf die Schulter des Hexers und die andere an meinen Oberarm, so dass auch ich das Bild empfing. Ich legte meine Hand auf Cherax und so weiter, bis wir alle mit den Augen des Falken sahen. Kurzzeitig wurde mir schwindelig von der horrenden Tiefe unter mir. Das Bild war erstaunlich klar.

    Zwölf Mann marschierten in einer Reihe, zwei davon waren Unteroffiziere. Sie machten den Fehler, ganz vorn zu gehen. Ich hielt den Atem an, als sie sich der Kreuzung näherten. Die letzten Schritte, dann knallten die entfesselten Speere durch Knochen und Fleisch. Die beiden Unteroffiziere und der dritte Mann der Reihe gingen schreiend zu Boden.

    Schlagartig endete die Übertragung, als Nubaru den Magier losließ.

    «Angriff!», rief Nubaru.

    Unser Trupp stürmte brüllend nach draußen. Im Rennen rissen wir die Waffen heraus. Ohne Anführer gerieten die Männer durcheinander und bekamen keine koordinierte Verteidigung hin. Am Himmel kreischte ein feindlicher Falke, bevor Cherax ihn mit einem Speerwurf vom Himmel holte. Der Vogel fiel wie ein Stein und der Trupp, den er schützen sollte, wurde unter unseren Klingen zu Aas. Wir zeigten keine Gnade und machten keine Gefangenen. Nach unserem Sieg plünderten wir die Toten und stachen sicherheitshalber bei jedem noch einmal zu. Um die Bestattung sollten sich ihre Banditenfreunde kümmern, wir waren hier fertig. Niemand wollte länger als nötig unter offenem Himmel verweilen.

    Vom Kampf noch aufgedreht und ob des Sieges bester Stimmung kehrten wir in den großen Unterstand zurück, wo ein neuer Wagen mit Nahrung und Material eingetroffen war. Endlich wieder so etwas wie ein Gefühl von Zuhause. Der Eintopf hatte nie so gut gerochen. Außerdem war ein anderer Trupp der Eisenfalken gerade angekommen unter der Führung von Doriq, einem Naridier. Er und seine Leute waren die letzten Tage unterwegs gewesen. Sie wirkten schmutzig und abgekämpft, aber er grinste.

    «Wo kommt ihr denn plötzlich her?», fragte der kleine Nubaru irritiert.

    «Kawoi.» Doriqs Grinsen wurde breiter und dann erzählte er.

    Doriq und seine Männer hatten sich mit den Raubrittern angelegt, während wir die erhoffte Verstärkung ausgeschaltet hatten. Nun lagen sowohl die Raubritter als auch ihre Verstärkung in den Wilden Wiesen und würden nicht mehr aufstehen. So sehr wir immer auf unseren Kommandanten schimpften, weil er nie pünktlich Sold auszahlte, so beeindruckend waren seine Talente, was das Organisieren von Aufträgen sowie das Austüfteln und Umsetzen von Schlachtplänen betraf. Die beiden Trupps hatten einander perfekt ergänzt, ohne dass wir das mitbekommen hatten, und er hatte für jede Aufgabe den richtigen Unteroffizier gewählt.

    «Ist Kawoi jetzt sauber?», wollte Nubaru wissen.

    Dariq schüttelte den Kopf. «Wir haben viele von ihnen in den Abgrund befördert und eins ihrer Depots in Brand gesteckt, das wird sie eine Weile beschäftigen. Aber da sind immer noch einige von ihren Drecksäcken.»

    Wir durften nun endlich Pause machen, setzten uns hin, aßen Eintopf, tranken und wer wollte, hielt im Sitzen ein Nickerchen. Ich hörte lieber zu, was Doriq zu erzählen hatte. In der Ferne hörte man Kampfgeräusche, aber man gewöhnte sich an alles und irgendwann muss man Pause machen.

    «Die Banden kamen fünf- bis sechsmal täglich», erzählte er. «Das war Wahnsinn. Ganze Kolonnen aus Reitern und Karren, die an unseren Hinterhalten scheiterten. Die hier haben sich als gute Hilfsmittel erwiesen.» Er zeigte uns ein Knäuel aus spitzen Eisennägeln, die so aneinander geschmiedet worden waren, dass immer eine Spitze nach oben zeigte. Man nannte sie Krähenfüße. «Hufe sind weicher als Kampfstiefel. Wir haben das Zeug überall verstreut. Das hat die Pferde ordentlich aufgemischt. Sobald die Kavallerie absaß, schlugen erst unsere Schützen und dann unsere Stoßtrupps zu. Was uns fehlt, sind mehr Falken, einer ist wirklich zu wenig. Und noch mehr Schwertkämpfer.»

    Davon konnte es sowieso nie genug geben. Während er sprach, spitzte sich draußen die Lage zu.

    Der Feind beschoss den Zufahrtsweg der Karren mit Armbrüsten und ich hörte mindestens zwei Falken. Ein besonders lautes Klacken ertönte und hundert Schritt entfernt detonierte ein alchemistischer Bolzen, dessen Druckwelle den Unterstand erzittern ließ. Wir sahen besorgt unsere Unteroffiziere an.

    Doriq winkte ab. «Wir haben schon Schlimmeres erlebt.» Er deutete auf das neue Dach, dessen Balken mit Eisenringen verstärkt waren. «Vor ein paar Tagen ist so ein Bolzen eingeschlagen, das ganze Gebälk hat er gesprengt. Es gab ein paar Tote unter der Radhora und uns haben die Ohren geklingelt, aber das gehört dazu. Wir haben danach alles selbst repariert, Nubaru hat sich um alles gekümmert. Schaut es euch an, jetzt ist es wie neu. Das alles in nur wenigen Tagen!» Er tätschelte einen Stützpfeiler.

    Während es draußen immer wieder krachte, entluden wir den neu eingetroffenen Karren. So lange der Lärm nicht näher kam, war alles in Ordnung. Mittlerweile war es Dunkel geworden.

    Doriq und Nubaru legte sich wie die meisten anderen schlafen. Cherax koordinierte die Nachtwache. Ich meldete mich freiwillig für die erste Schicht.

    Mit der Dunkelheit wurde es auch draußen ruhig, weil weder die Kämpfer noch die Falken etwas sahen. Ein trügerischer Friede legte sich über uns. Doriq schnaufte im Schlaf bei jedem Atemzug. Er kämpfte schon seit Beginn der Überfälle für die Eisenfalken, fünf Jahre länger als ich. Bei Vellingrad war er in eine Fallgrube gestürzt. Seine Rüstung hatte ihn vor dem Tod bewahrt. Später traf ihn ein Bolzen in den Rücken. «Ich ließ ihn drin», erzählte er mir später. «Das Herausziehen hätte mich umbringen können. Die Wunde wurde versorgt, und ich kehrte zurück.»

    Auch heute noch steckte der Bolzen zwischen seinen Rippen und machte ihm das Atmen schwer. Er tat, als würde es ihn nicht stören und machte regelmäßig seine Witze darüber. Im Schlaf zeigte sich die bittere Wahrheit.

    Gegen Mitternacht erschien unser Kommandant im Unterschlupf, um nach dem Rechten zu sehen. Garlyn Meqdarhan, genannt Garlyn der Fuchs, gab sich persönlich die Ehre! Damit hatten wir nicht gerechnet. Wir salutierten und er salutierte zurück, einen zufriedenen Ausdruck im Gesicht. Anscheinend gefiel ihm, was hier im Unterschlupf vorfand. Cherax ließ Doriq und Nubaru schlafen und übernahm es an ihrer Stelle, dem rothaarigen Naridier Bericht zu erstatten.

    Garlyn lauschte mit schmalen grünen Augen. Dann nickte er gönnerhaft und verteilte an alle, die wach waren, ihren Sold. Wahnsinn! Wahrscheinlich sollte uns das motivieren und jeder bedankte sich brav, aber jeder wusste auch, dass es nur ein Bruchteil dessen war, was uns zustand. Er schuldete uns mehr als nur den Sold des letzten Mondes. Ein Trostpflästerchen, damit wir nicht die Hoffnung verloren, eines Tages doch noch bezahlt zu werden. Wer’s glaubte ...

    Cherax wagte, nach dem Rest des Geldes zu fragen. Der charismatische Troll schaffte es irgendwie, diese unangenehme Frage so zu stellen, dass unser Kommandant nicht gereizt reagierte.

    «Naridien zahlt immer zu spät, Männer», brummte Garlyn, «aber es zahlt zuverlässig. Wir halten die Grenze weiterhin.. Sie müssen erfahren, was sie an uns haben, dann werden die Zahlungen irgendwann pünktlich eintreffen.»

    Was hätte es genutzt, sich zu beschweren? Jeder wusste, dass das Geld sehr wohl pünktlich und vollständig geliefert wurde. Garlyn konnte einfach nicht damit umgehen und seine Buchführung war grauenhaft.

    Die Truppe nickte ergeben, wie immer. Man hätte die Einheit verlassen und zu einer anderen wechseln können, aber wollte man das? Bei den Eisenfalken kannte man seine Kameraden und seine Vorgesetzten, hier war man zuhause. Und konnte man dieses Gefühl gegen Geld aufwiegen?

    Rex nippte mürrisch am Gemüseeintopf. «Halborks bringen immer Pech, wenn’s um Geld geht», murrte er. «Sie sind ein Fluch auf zwei Beinen, darum würde kein Händler sich je einen Halbork als Sklaven kaufen. Hast du dazu mal unseren neuen Hexer konsultiert, Garlyn?»

    Garlyn runzelte missbilligend die Stirn.

    Cherax aber lachte, als hätte Rex nur Spaß gemacht, klopfte ihm die Schulter und verhinderte galant, dass ich erzürnt lospoltern konnte. Doch er nahm die Hand nicht wieder von seiner Schulter herunter. «Rex, lass Serak in Ruhe», sagte er, noch immer freundlich, doch seine Finger griffen fester zu. «Ohne ihn wär’n wir schon oft Banditenfutter gewesen. Er ist ein Halbork, aber er ist unser Halbork. Uns hat er bisher nichts als Glück gebracht. Er ist schon fast so was wie ein Glücksbringer auf Beinen.»

    Etwas gegen Cherax zu sagen, traute unser neuer Kamerad sich dann doch nicht. Cherax gehörte zu den dienstältesten Mitgliedern der Truppe und wenngleich er keinen Führungsrang besaß, trug er oft Verantwortung und unterstützte unsere Anführer. Der Blick von Rex blieb feindselig, doch er starrte nun in seine Tasse und verkniff sich weitere Stänkereien.

    Ich schwieg ebenfalls, blickte ins Feuer, während einige alte Narben juckten.

    An der Front

    Trupp zwei holte mich vom Treffpunkt ab, um mich zu unserem Posten zu führen. Das hier war Kriegsgebiet. Noch vor Sonnenaufgang brachen wir zu den feindlichen Stellungen auf. Gefrorene Erde knisterte unter unseren Stiefeln. Die Wagenspur, der wir folgten, zog sich als dunkles Band durch die vereisten Wiesen von Alkena. Immer wieder kreuzten andere Wagenspuren unseren Pfad. Die Wilden Wiesen, wie man die Region auch nannte, waren zerfurcht von den breiten Rädern der Karren, welche Eisen und Verpflegung durch die Wildnis zu den Truppen brachten. Der Wind pfiff in meinen Ohren. Es gab keine Bäume, die ihn aufhielten, nur gelbes Gras und dürres Gestrüpp.

    Auf dem Rücken trug ich über Kreuz meine beiden Kurzschwerter, ein zerlumpter Wollschal schützte Nase und Mund vor der beißenden Kälte.

    Wenn man Alkena nach Norden durchquerte, gelangte man in das Hochland von Shakorz, wo die Rotten der Orks lebten. Dort war ich aufgewachsen und sah keinen Grund, jemals wieder zurückzukehren. Im Süden von uns lag das Königreich Almanien mit seiner strengen Ständegesellschaft und uralten Traditionen. Dort war ich noch nie gewesen. Im Westen von uns herrschte die Freie Republik Naridien, ein Quell fließenden Geldes für jeden Händler und grausam für den einfachen Arbeiter. Ich selbst hatte in meiner Jugend vergeblich versucht, es in diesem Land zu etwas zu bringen. Im Osten aber gab es nur Wildnis, endlose Wiesen, an denen der Wind riss, Hügel mit schroffen Felskronen, und nach vielen Tagesreichen würde man das Meer erreichen. Alkena war eine Pufferzone zwischen rivalisierenden Menschenreichen und den Orks, in der sich Gesocks aus allen möglichen Kulturkreisen herumtrieb, unbehelligt vom Arm des Gesetzes. Um das wachsende Übel einzudämmen, waren die Eisenfalken hier.

    Ich drehte den Kopf, weil ich unter meinen Füßen etwas gespürt hatte, reckte den Hals, witterte und lauschte. «He, Cherax! Hier ist etwas Großes in der Nähe.»

    Der Troll schüttelte den Kopf: «Egal, lass dich nicht ablenken. Wir haben die Informationen unserer Späher und denen folgen wir jetzt. Gefahr lauert sowieso überall, wir sind nahe der Front.»

    Nubaru, der hinter mir ging, mischte sich ein. «Aber wenn du einen Greifvogel siehst – ab in die Büsche, greif einen Stein oder die nächste Armbrust und schieß ihn runter! Und achte immer auf deine Füße!» Er war der Anführer von Trupp zwei, ein kleiner stämmiger Naridier aus einer zivilen Familie, den die Armee ausgemustert hatte und der nun versuchte, als Söldner die Schulden seines Vaters abzuarbeiten. Ich mochte Nubaru, er war in Ordnung. Sein Kampfname auf Uncàri bedeutete Weide. Es war auch die Sprache, in der wir uns unterhielten, weil die meisten Söldner Menschen waren, Naridier oder Almanen, und sogar einen Rakshaner gab es in unserer Kompanie. Die jahrhundertealten Konflikte ihrer Länder besaßen für diese Männer keine Bedeutung. Heute und hier waren wir alle Eisenfalken.

    Weiter ging es durch die Kälte. Während Cherax unerschütterliche Gelassenheit ausstrahlte, wurde Nubaru nicht müde, uns an jede einzelne mögliche Gefahr während des Marsches zu erinnern. Ich hörte ihm gut zu. Nach zehn Jahren, die ich nun schon bei den Eisenfalken diente, waren Kriegshandlungen wie diese immer noch ein schwer berechenbarer Tanz mit dem Tod. Schwert, Technik und Magie ergaben eine schwierige Mischung. Falscher Stolz wäre hier fehl am Platz. Dieser Krieg spielte sich nicht nur auf dem Schlachtfeld ab, Mann gegen Mann, sondern verwandelte Alkena in eine riesige Falle – und den Himmel in ein Netz aus magischen Augen.

    Wir gingen zügig, aber setzten unsere Schritte mit Bedacht. Überall konnten Stolperseile lauern, im guten Fall eine Schlinge, die einen von den Beinen riss, wenn man es am wenigsten gebrauchen konnte, im schlechten Fall eine alchemistische Sprengfalle, die einen zerfetzte. Wenn man den braunen Spuren der Karren folgte, die viel schwerer waren als ein Söldner, standen die Chancen besser, dass man nichts auslöste.

    Ich blinzelte gegen das Licht, als ich den Horizont betrachtete. Mir gefielen die Erschütterungen im Erdreich nicht. Der Winterhimmel erstrahlte in klarem Blau, der Wind riss an den trockenen Halmen. Dort, wo das zähe Hochlandgras dichte Teppiche bildete, lagen Inseln von Schnee. Das offene Land bot gute Sicht, doch die drohende Ahnung von feindlichen Stellungen, deren Rauch in der Winterluft gut zu riechen war, zwang uns zur Eile. Auch wenn man niemanden sah, waren die Gegner in der Nähe.

    Unser Ziel war ein Unterschlupf bei Djalom, einem naridischen Grenzdorf, das unter die Kontrolle wilder Banden gefallen war. Das Vorgehen der Banditen war äußerst effektiv, denn sie wurden von Raubrittern angeführt, die im Naridischen Befreiungskrieg den Kürzeren gezogen hatten. Ritter, die seit ihrer Kindheit in der Kunst des Krieges geschult worden waren.

    Gegen Mittag erreichten wir einen Unterstand, halb in die Erde gegraben. Er war so groß, dass man Ochsenkarren hineinfahren lassen konnte, um sie ungestört zu entladen. Die Rampe war breit genug dafür und mit Holzplanken befestigt. Ein Mix von Gerüchen kroch in meine empfindliche Nase: Schweiß, ungewaschenes Haar, geöltes Eisen, aber auch Gemüseeintopf und Schlamm. Ich konnte nicht sagen, welches von beiden den fauligen Geruch absonderte, der meine Nase quälte.

    «Ihr könnt das Gepäck ablegen», meinte Nubaru und machte eine Handbewegung in eine halbwegs freie Ecke.

    Der begrenzte Platz des Unterstandes war weitestgehend verstopft. Einige Männer der Radhora machten hier Rast und einige von uns. Die der Radhora waren besser ausgerüstet und einheitlich gekleidet, mit rot-schwarzen Armbinden, den Farben der Republik. Das Hämmern von Werkzeugen hallte durch den höhlenartigen Raum. Jurland, unser Schmied, reparierte hier Karren, Rüstungen und Werkzeuge. In einer Ecke wurden neue Bogensehnen gedreht, Pfeilschäfte mit vergifteten Spitzen versehen, die bei einem Treffer ein ohrenbetäubendes Brüllen des Opfers verursachten. Und es wurden Pfeile für die Vogeljagd gefertigt, leicht und schlank.

    Dankbar legte ich meinen Rucksack in die angewiesene Ecke. «Machen wir Rast?», fragte ich und stemmte die Hände in die Hüfte. Nach dem langen Marsch mit dem schweren Gepäck schmerzten mir die Schultern und Füße.

    Nubaru schüttelte den Kopf. «Jetzt nicht. Wir bereiten uns auf den Einsatz vor.» Er zog die Gurte seiner Panzerung fest. «Macht es euch nicht zu bequem und haltet eure Ausrüstung bereit. Das Gepäck kann hierbleiben. Es muss dann schnell gehen, wenn der Befehl kommt. Was wir bisher erlebt haben, ist nichts dagegen. Das hier ist eine andere Art der Kriegsführung.»

    «Was ist daran so besonders?», wollte ich wissen.

    Der kleine Mann atmete gestresst durch. «Mehrere Raubritter haben sich mit ihrem Gefolge zu einer Streitmacht zusammengeschlossen, wir kennen ihre Zahl noch nicht. Aber es sind so viele, dass die Radhora an diesem Frontabschnitt nicht mehr allein mit ihnen fertig wird. Und sie haben mehr als einen Magier dabei.» Er grinste verschmitzt. «Geht besser noch einmal aufs Klo, damit ihr euch nicht in die Hosen machst.»

    «Aber Djalom ist doch nur ein dummes Dorf», wandte ich ein. «Weshalb soll das verteidigt werden? Weshalb greifen sie es überhaupt an?»

    Nubaru sah mich streng an. «Djalom ist nicht bloß ein dummes Dorf, sondern ein Teil des naridischen Staatsgebietes! Und in diesen Tagen ein Hornissennest.» Er klopfte mir auf die Schulter. «Sie sind gekommen, um zu plündern und danach zum nächsten Ort weiterzuziehen. In den letzten Monaten sind sie verdammt schnell nach Westen vorgedrungen, ein Grenzdorf nach dem anderen haben sie verwüstet. Das muss aufhören. Dafür sind wir nun hier.»

    Ich nickte und kümmerte mich um die Vorbereitung auf den Einsatz, während Nubaru sich zu den Offizieren der Rahdora gesellte. Vor der Kammer mit dem Donnerbalken standen Soldaten und Söldner Schlange, doch irgendwann war jeder an der Reihe. Nach vollbrachtem Werk bekam jeder eine Kelle dicken Gemüseeintopf in die Eisentasse, die immer jeder am Rucksack trug. Gemessen an den Umständen schmeckte die Mahlzeit gar nicht übel, es war doch der Schlamm gewesen, der so miefte. Der Eintopf war gut gesalzen und ich schmeckte allerlei Wiesenkräuter heraus, doch mir fehlte die Ruhe, um ihn zu genießen.

    Noch während wir löffelten, erklärte Cherax uns die Lage. «Wir wurden gerufen, um die Radhora an diesem Frontabschnitt zu unterstützen. Damit ihr alle im Bild seid, hier noch ein paar Worte für die Neuen unter uns.» Er nickte in Richtung von Rex. «Die Radhora ist die Republikanische Armee des Hohen Rates, die naridische Berufsarmee. Sie ist eigentlich für die Sicherheit der Grenzen zuständig.»

    «Weiß ich», brummte Rex. «Ich bin selber Naridier.» Rex wusste auch ansonsten immer alles, zumindest zeigte er bislang kein Interesse daran, sich von irgendwem etwas erklären oder beibringen zu lassen. Stattdessen neigte er dazu, seine Vorgesetzten zu korrigieren. Kurzum, er war ein wahrer Ausbilderschreck. Doch unser Kommandant hatte entschieden, dass dieser Bursche trotzdem Teil der Eisenfalken werden durfte, und damit hatten wir ihn an der Hacke.

    «Großartig, dann komme ich gleich zur Sache», fuhr Cherax fort. «Unsere Gegner verschanzen sich in den Häusern von Djalom. Vor ein paar Tagen noch sind ihre Reiter in Richtung Front vorbei gedonnert, gefolgt von Ochsenkarren. Jetzt sind es nur noch drei oder vier berittene Gruppen. Das ist das Werk der Eisenfalken. Wir sind an den Kampfhandlungen hier in mehreren Trupps beteiligt und ab heute gilt das auch für Trupp zwei. Das bequeme Leben im Hinterland ist ab sofort vorbei. Trupp eins hat die Reiter aufgehalten, bevor sie die anderen erreichen konnten, durch Nadelstiche und Aufklärungsarbeit, so dass die Radhora ihnen schließlich den Rest geben konnte. Aber ein paar sind immer noch übrig. Um die werden wir uns jetzt kümmern. Sie sind vorsichtig geworden und ihre Vögel kreisen unaufhörlich. Die Augen der Hexer. Also vergesst alle Tierliebe und schießt sie runter.»

    Ein langer Schrei unterbrach den Troll, wehmütig, klagend, der uns alle verstummen und lauschen ließ – der Warnruf eines Falken. Wahrscheinlich hatte er in diesem Moment unsere Stellung gefunden.

    «Na prima», motzte Rex.

    Nubaru jedoch zog entschlossen den Kinnriemen seines Helms fest. «So, Jungs. Es geht los.»

    Während wir uns kampfbereit machten, kam einer unserer Kundschafter und meldete, dass der feindliche Trupp, auf den wir warteten, nahe Kawoi gesichtet worden war – durch unseren eigenen Falken. Nicht mehr Djalom, sie waren während der Nacht noch weiter vorgedrungen!

    «Planänderung.» Nubaru eilte von Mann zu Mann, organisierte hier und da. Jundurg packte uns auf seine Anweisung hin eine Stolperfalle zusammen, eine Konstruktion aus Stricken und Speeren. «Sie löst auf fünfzehn Schritt aus und bringt drei Mann auf einmal zu Fall», erklärte Jundurg. «Kennst du dieses Modell, Serak?»

    Ich war der Fallenspezialist der Eisenfalken und nickte. «Klar. Aber warum jetzt plötzlich eine Falle? Wir sind doch für den Kampf gerufen worden. Dieses Modell hier ist sehr effektiv, aber braucht ziemlich lange, um es richtig zu platzieren und scharfzumachen. Haben wir dafür überhaupt Zeit?»

    «Wir werden sie uns verschaffen», sagte Cherax. «Es ist alles mit Garlyn abgesprochen. Nubaru weiß, was er tut.» Er wies auf den Kundschafter mit der Kapuze. «Das ist Korma, unser neuer Hexer. Er hilft uns, indem er die Landschaft da draußen durch die Augen seines Falken betrachtet, während er hier drin hockt – sicher vor feindlichen Vögeln. Wir schlagen den Feind mit seinen eigenen Waffen. Mit Kormas Hilfe werden wir die Falle an der besten Stelle platzieren. Das ist deine Aufgabe. Und nimm Rex mit!»

    Das Paket war ein Gewirr aus Speeren und Stricken, doch mit Fallen kannte ich mich gut aus und würde die Aufgabe erfüllen. Rex würde das nervtötende Steinchen in meinem Schuh sein, aber Befehl war Befehl.

    Komar, unser neuer Hexer, trug unter der Kapuze eine Binde über seinen Augen. «Wenn ihr nach draußen geht, folgt der Wagenspur nach Norden», erklärte er, ohne den Kopf in unsere Richtung zu drehen. «Folgt ihr, bis ihr zu einer Stelle kommt, wo wie mit anderen Wagenspuren kreuzt. Sie führen nach Westen, hin zum heißen Frontverlauf. Die meisten Krieger vertrauen den Wagenspuren, weil sie darauf hinweisen, dass dort zuvor keine Falle war. Die verbliebenen Gegner in Kawoi werden bald Verstärkung erhalten, es ist ein Trupp von Osten aus zu ihnen unterwegs. Dieser Trupp ist euer Ziel. Vergrabt die Falle so, dass die Wagenspuren nicht beschädigt werden, damit der Trupp keinen Verdacht schöpft.»

    Ich warf Nubaru einen Blick zu, der nickte und mit der Hand in Richtung Ausgang wies. «Wenn ihr die Falle scharfgemacht habt, Serak, geht in Deckung und wartet auf uns. Bis später.» Ich sah ihm an, dass es ihm schwerfiel, nicht noch mehr Ratschläge zu geben. Nun musste er zwei seiner Jungs allein nach da draußen ziehen lassen, ohne ständig auf sie aufpassen zu können.

    Armer sensibler Nubaru. Um es ihm leichter zu machen, grinste ich, während ich salutierte. «Verstanden. Bis später.»

    Dann ging ich zügig die Rampe hoch. Rex kam mir hinterher. Wir blickten uns nicht lange um, sondern warfen nur einen kurzen Blick hinauf in den Himmel, ehe wir in leichtem Trab der besagten Wagenspur folgten.

    Klappentext

    Mein Leben waren die Eisenfalken. Der Tod war mein ständiger Begleiter. Doch wer ein Krieger werden will, sucht keinen ruhigen Alltag. Die Söldner hatten mir Gemeinschaft geschenkt und eine Heimat. Zehn lange Jahre kämpften wir Schulter an Schulter, siegten und feierten, verloren und fraßen Dreck. Nichts hätte meinen Willen brechen können. Doch als ich gegen die Raubritter kämpfen soll, die einst meine Freunde gewesen waren, gerät meine neue Welt ins Wanken. War das der Traum des jungen Halborks, der in den Bruthöhlen vom Kriegerleben geträumt hatte? Da kommt ein Sonderauftrag gerade Recht, auch wenn er mich ins Stammesgebiet meiner alten Orkrotte führt. Ich soll die Lage eines vorzeitlichen Relikts kartieren, das den Krieg entscheiden könnte. Doch damit fangen die Probleme erst richtig an.

    Die Botschaft der Toten


    Kalte Winde heulten durch die östliche Einöde, als unser Trupp sich auf den Weg machte, um die Toten zu bestatten. Die Landschaft schien endlos zu sein. Der Himmel war bleigrau, eine Decke aus schweren Wolken.


    Ich war Teil dieser Kompanie. Dass ich Garlyns Wunsch abgewiesen hatte, machte mir zu schaffen. Meine Weigerung trug nicht dazu bei, das Misstrauen, das gegen mich in der Luft hing, zu verringern. Während des schier endlosen Marsches dachte ich zu viel nach. In mir wuchs das dringende Bedürfnis, mich als Eisenfalke zu beweisen. Im Moment erfüllte ich jedes Klischee, das auf einen Halbork zutraf, war unzuverlässig und feige. Doch der Gedanke an die Orks, die ich ausspionieren sollte – die Gesichter meiner Vergangenheit – erstickte jeden Mut. Ich ballte die Fäuste, als ich mich fragte, wie war Garlyn überhaupt auf diesen Gedanken gekommen war. Wollte er mich bloßstellen oder wollte er mich quälen? Ich konnte ihm nicht helfen! Die Erinnerung an meine Zeit bei den Skunks war wie Gift. Ich war damals aus gutem Grund geflohen, wie er sehr gut wusste. Und während ich marschierte, zitterten meine Finger nicht von der Kälte.


    Für die Sicherheit unserer Kolonne waren einige Kundschafter zuständig, die ausgeschwärmt waren und das Ödland durchstreiften. Während ich neben Mauli herging, beschloss ich, das Schweigen zu beenden, das mir nicht guttat. Seit unserem kurzen Disput hatten wir beide kein Wort mehr miteinander gesprochen. Es war Zeit, etwas daran zu ändern. «Bist du noch sauer?», fragte ich mit einem vorsichtigen Grinsen.


    Sie grinste breit zurück und zeigte mir die Pracht ihrer gelben Zähne. «Unsinn!»


    «Gut», sagte ich erleichtert. Nicht, dass ich etwas anderes erwartet hatte. Mauli war weder zickig noch nachtragend. «Dann kannst du mir ja helfen, etwas gegen die Langeweile zu unternehmen und dich mit mir unterhalten. Was denkst du eigentlich über Orks?», wollte ich wissen.


    Sie sah mich an, ihre Augen waren klar und durchdringend. «Was soll ich schon denken? Sie sind wie Tiere, genau wie wir, wenn wir uns im Kampf verbeißen. Sie haben unsere Leute getötet und waren harte Gegner. Ansonsten habe ich nichts Gutes über sie zu sagen. Warum fragst du?»


    Ich überlegte, ob ich ihr wirklich antworten wollte, denn ich war der Meinung, dass ihr das klar sein müsste. Aber ich wollte nicht streiten, sondern mit ihr reden, also entschied ich mich für eine Antwort. «Sie sind Teil von mir, Mauli. Nicht nur Teil meiner Geschichte, sondern ein Teil von mir selbst, den ich nicht loswerden kann.»


    «Und jetzt machst du dir Sorgen, dass ich dich mit ihnen in einen Topf werfe?»


    «Rex ist dieser Meinung. Du hast viel Zeit mit ihm verbracht.»


    Ihre Stirn runzelte sich unter dem Helm, während sie neben mir marschierte. «Du und ich, wir sind vom ersten Tag an Freunde gewesen. Du bist nicht wie diese Orks, denn du bist hier bei uns und keiner von ihnen. Das ist deine Wahl! Abgesehen davon ist es sowieso ein anderer Stamm. Du hast uns ja erklärt, dass die Skunks nicht plündern, sondern von der Jagd und vom Handel leben.»


    Der Gedanke kreiste in meinem Kopf, es klang verlockend, als Halbork bequem wählen zu können, ob man als Mensch leben wollte oder ein Ork, doch so einfach war es leider nicht. «Ich bin fortgelaufen, aber ich fühle trotzdem eine Zerrissenheit in mir, Mauli. Es gibt immer wieder Momente, in denen ich mich fehl am Platz fühle. Genau wie damals bei den Orks. »


    Maulis Miene blieb ernst. «Das ist doch ganz einfach, es sind deine Gedanken, die es kompliziert machen. Du gehörst weder zu den Orks noch zu den Menschen, sondern zu den Eisenfalken! So wie Cherax, so wie ich. So wie jeder hier! Unsere Herkunft ist egal. Du hast dich für dieses Leben entschieden. Garlyn zweifelt nicht an dir und ich werde auch nicht damit anfangen, bloß weil Rex es tut.»


    «Trotzdem meint Garlyn, ich könnte einfach so zu diesen Orks spazieren und sie fragen, wer sie sind.»


    «Ach, deshalb hast du gefragt. Das ist es, was dir zu schaffen macht!»


    Ich nickte. "Er verlangt zu viel von mir. Wenn ich diese Orks sehe, dann… dann kommen all die Dinge zurück, vor denen ich davongelaufen bin, all das Unrecht, das sie mir angetan haben.»


    Sie lächelte gütig. «So geht es vielen von uns. Wir alle hatten ein Leben vor den Eisenfalken, das wir in der Ferne zurückgelassen haben. Wir alle tragen unsere Vergangeheit im Gepäck und sie kann schwerer Ballast sein. Hat Cherax dir mal erzählt, weshalb er hier ist?»


    «Er hat angedeutet, dass er von seinem Stamm verbannt wurde. Trotzdem nennt er sich immer noch Cherax von den Sandvipern.»


    «Weil er die Hoffnung nicht aufgegeben hat, eines Tages zurückzukehren. Auch er ist zerrissen und ich bin es auch manchmal. Du bist nicht allein.» Mauli legte mir eine Hand auf die Schulter. «Und wir stehen zusammen. Rex kann gern seine eigene Meinung zu dir haben, aber ich habe meine eigene.»


    Ein Lächeln huschte über mein Gesicht.


    «Und jetzt pack deine Sorgen und schau nach vorn», sagte sie. «Siehst du? Dort geht Alvashek auf.» Und tatsächlich: Das Grau der Wolken öffnete sich und gab den Blick auf das Morgenrot frei. Es war das erste Mal seit Langem, dass ich wieder ein Stück Himmel sah. Der Winter näherte sich dem Ende und bald würde das Eis tauen. Mauli gab mir einen freundschaftlichen Knuff und löste sich von mir. Wir marschierten nebeneinander weiter. Ich hörte das knirschende Geräusch unter meinen Stiefeln, als ich durch den vereisten Schlamm stapfte. Die Wolken zogen fort und der beginnende Tag leckte den Raureif vom Gras. Ich konnte die ersten zarten Versprechungen des Frühjahrs riechen – frische Erde, die aus dem Winterschlaf erwachte.


    Der Wind blies immer noch schneidend, aber er hatte die Schärfe verloren, die er in den vergangenen Tagen hatte. Ich konnte es fast fühlen – das Leben, das sich von irgendwo tief unten, aus den Wurzeln, seinen Weg nach oben suchte. Am Rand des verfallenen Feldes, das wir durchquerten, konnte ich die ersten Frühlingsblumen sehen – Blausterne, die sich aus der Erde schoben und störrisch dem Winter trotzten.


    Mauli entdeckte sie ebenfalls. «Seht ihr das?», fragte sie. «Frühling. Hätten wir bei dem letzten Gefecht gedacht, dass wir das noch erleben?»


    «Hier gibt es keinen Frühling», warf Cherax ein. «Nur eine Pause zwischen den Wintern.» Als Troll war er das heiße Klima des Südens gewöhnt, das keinen Winter kannte, nur Regenzeiten.


    «He, Doriq», rief Mauli. «Es wird Frühling!»


    Der Unteroffzier zuckte mit den Schultern, in seinem Blick lag etwas, das ich nicht deuten konnte. Vielleicht war es eine Erinnerung an das, was er erlebt hatte. Als wir uns der Region näherten, in welcher der Überfall stattgefunden hatte, verstummte auch der Letzte. Jeder versank in seinen eigenen Gedanken. Vielleicht dachten sie an die Heimat, an Frauen und Kinder. Vielleicht dachten sie an das Gold, das wir verdienen würden. Oder vielleicht an gar nichts.


    Cherax zeigte nach vorn und sagte: «Dort.»


    Die jetzt hoch genug stand, tauchte alles in ein blasses, goldenes Licht, das den Schnee und den vereisten Boden zum Schimmern brachte. Doch für uns war dieser Ort kein friedlicher Anblick. Der Boden war aufgewühlt.Die Blutflecken waren immer noch zu sehen. Eine dünne schicht von Steinen bedeckten die Toten, nun würden sie vernünftig bestattet werden. Die letzten Schritte gingen wir langsam und andächtig.


    «Hier haben sie uns überfallen», sagte Doriq.


    «Und jetzt kommen wir zurück, um das zu holen, was uns gehört“, knurrte Garlyn. «Dort drüben errichten wir die Hügelgräber für unsere gefallenen Kameraden, den Kopf eines jeden in Richtung seiner Heimat ausgerichtet, ihre Füße zur Mitte hin, so dass sie einen Stern bilden.»


    Wir nahmen die Spaten zur Hand und verteilten uns, um Steine aus dem gefrorenen Boden auszugraben, denn ein naridisches Hügelgrab bestand nur aus Steinen und sonst nichts. Die Stille, die uns dabei umhüllte, war fast greifbar.


    «Serak, du kommst zu mir», sagte Doriq.


    Ich rammte meinen Spaten in die Erde und begab mich zu ihm. «Ja?»


    «Dort hinten liegen die gefallenen Orks. Ich möchte sie ebenfalls bestatten, um keinen zornigen Hauch auf uns zu ziehen.» Der Hauch war das, was einem Körper sein Leben verlieh. Wer lebte, der atmete. Wer nicht lebte, der atmete nicht. Wer starb, hauchte sein Leben aus. Der Lebenshauch flog mit dem Wind davon, konnte aber auch zurückkehren. «Wie sind die Bestattungsriten der Orks, Serak?»


    «Das ist bei jedem Stamm unterschiedlich, wie bei den Menschen. Naridier haben Hügelgräber, Almanen verbuddeln ihre Toten in der Erde und Rakshaner bauen ihnen Häuser. Bei den Orks ist es kaum weniger unterschiedlich.»


    «Kannst du herausfinden, welchem Stamm sie angehören, damit wir nicht heimgesucht werden?»


    Ich sah ihn scharf an, denn ich war sicher, dass diese Frage mit Garlyn abgesprochen war. «Du meinst, ich soll sie mir ansehen?»


    «Du würdest uns helfen.»


    Ich ballte die Fäuste und atmete tief durch. Alvashek stieg höher und malte Schatten über die verwüstete Landschaft, als wollte er die Gräuel, die hier geschehen waren, mit einem goldenen Schleier bedecken. Der Wind war angenehm mild. Ich freute mich über die Botschaft des Frühlings, doch sie konnte die Situation nicht erträglicher machen. Ich dachte daran, dass ich Garlyn schon einmal enttäuscht hatte und an die Vorwürfe von Rex. «Also gut», knurrte ich.


    «Soll dich jemand begleiten?»


    «Nein, ich mach das schon.»


    «In Ordnung. Dann Ausführung.»


    Ich stapfte mit grimmigem Gesicht über die Hügelkuppe, der Boden war schmierig unter meinen Füßen. Im kalten Schlamm lagen die gefallenen Orks. Ich zögerte nicht, das hätte es nur schlimmer gemacht, sondern ging rasch zu ihnen, um möglichst wenig Zeit zum Nachdenken zu finden. Sie trugen Fellkleidung und von ihren Gürteln hingen verschiedene Trophäen, Tierschwänze, Klauen, Zähne. Mir wurde schwindlig bei dem Anblick, denn die Art, wie sie die Trophäen um die Hüfte trugen, kam mir bekannt vor. Ich nahm meinen Mut zusammen und drehte einen von ihnen auf den Rücken, so dass sein Kopf zurückfiel und ich mir seinen Hals besehen konnte.


    «Das kann nicht sein», keuchte ich, während ich seinen nassen Fellkragen nach unten drückte. «Das ist unmöglich!»


    Rechts, unterhalb des Ohres, trug der Tote die gleichen beiden Schnittnarben, die auch mich zu einem Mitglied dieser Rotte machten.

    Valtiri


    Wir wären keine Söldner, würden wir uns nicht noch am selben Abend intensiv der Beute widmen. Das Blut an der Kleidung war noch nicht einmal getrocknet, als Trupp zwei seine Errungenschaften auf dem Esstisch ausbreitete.


    «Ziemlich mager», stellte ich fest, als ich den Blick über die drei Messer, ein paar nasse Ledergürtel und die beiden erbeuteten Krummschwerter schweifen ließ. Dazwischen lag eine Hand voll schlammverschmierter Kupferlinge, die vielleicht für eine Mahlzeit ausreichen würden. Die knarrenden Dielen unter unseren Füßen und das aus Gründen der Sparsamkeit kaum noch flackernde Licht der Öllampen schienen das trübe Gefühl der Enttäuschung nur noch zu verstärken.


    «Das meiste liegt ja auch noch draußen», murrte Cherax, auf dessen Hals schwarze Knutschflecken prangten. «Das ist alles, was wir mitnehmen konnten. Wir hatten keine Wahl. Die Verwundeten gingen vor. Eigentlich hätten wir überhaupt nicht plündern sollen, wenn es nach Doriq ginge aber wie es manchmal so läuft, fanden diese Dinge trotzdem ihren Weg hierher. Wir holen den Rest ab, wenn wir die Gefallenen bestatten.»


    «Wenn es dann noch da liegt», warf Mauli ein.


    Hinter ihr stand Rex und schaute über ihre Schulter.


    «Was macht der hier?», motzte ich. «Hau ab, Rex. Du gehörst nicht zu Trupp zwei.»


    «Seit wann entscheidest du, wo ich mich aufzuhalten habe?», schnauzte er zurück.


    «Da ist was dran», warf Cherax ein. «Solches Verhalten spaltet die Kompanie bloß. Wir alle sind Eisenfalken.»


    «Schau doch selbst, wie der hier herumschnüffelt! Wie ein Aasgeier!»


    «Hör endlich auf, Serak», sagte nun auch Mauli. «Du nervst.»


    «Gleichfalls», knurrte ich zurück, und damit widmeten wir uns wieder der Beute. Die Griffe der Schwerter und Dolche waren sehr gut gearbeitet. Die Verzierungen erinnerten mich schmerzlich an meine ehemalige Rotte. Jeder Gegenstand erzählte eine lange Geschichte, die mit dem Tod seines Besitzers endete. Es war gut, dass ich Garlyns Idee, mich als Kundschafter zu entsenden, gleich im Keim erstickt hatte. Von der Vergangenheit eingeholt zu werden, vor der ich weggelaufen war, war ein bisschen viel für mich.


    Kale, der das Lazarett schon wieder hatte verlassen können, fuhr mit dem Daumen über die Klinge eines Messers. «Besser als nichts!»


    «Na ja», murrte Rex. «Ich hoffe, auf dem Schlachtfeld liegt noch mehr.»


    «Aber nicht für dich», fuhr ich ihn an. «Du hast nicht mitgekämpft.»


    «Du auch nicht, wenn ich daran erinnern darf», konterte er. «Du hast gesoffen und dir einen Lenz in der warmen Werkstatt gemacht, während deine Kameraden dich dringend gebraucht hätten!»


    Bamm. Das saß. Ich öffnete den Mund zu einer empörten Erwiderung und schloss ihn wieder. Mir fiel nichts ein, was ich zu meiner Verteidigung hätte sagen können. Also ballte ich die Faust. «Lass uns das draußen klären», knurrte ich. «Wenn ich mit dir fertig bin, kannst du deine Zähne im Schlamm zusammenkratzen.»


    «Au ja», freute sich Cherax. «Ich setze zwanzig Kupferlinge auf Serak!»


    «Ich auch», sagte Kale. «Wer hält dagegen?»


    «Das ist doch nicht zu fassen», rief Mauli aufgebracht. «Könnt ihr das nicht vernünftig klären? Hört sofort auf, oder ich melde das Doriq!» Ihre Hand schloss sich um die von Rex. Der blickte drein, als wäre er auf mein Angebot nur zu gern eingegangen, aber er erwiderte stattdessen ihren Händedruck. Diese zur Schau gestellte Eintracht machte mich noch wütender. Mir warf Mauli vor, die Kompanie zu spalten, dabei war Rex die Natter, die ständig ihr Gift verspritzte!


    «Es ist besser, wenn ich gehe, sonst kann es sein, dass ich vor lauter Rührung kotzen muss.»


    Mit einem kräftigen Ruck knallte ich die Tür der Stube hinter mir zu und trat in den kalten Vorraum. Der Nachtfrost biss mir scharf ins Gesicht, als ich meine Kampfstiefel schnürte und mir das langärmlige Wams aus dickem Wollfilz überzog. Die Mütze zog ich tief über die Ohren, der Schal schlang sich eng um meinen Hals, während ich mir den Gürtel mit meinem treuen Jagdmesser um die Hüfte schnallte, um die voluminösen Schichten Stoff zu bändigen, die in dieser Jahreszeit unerlässlich waren. Der schwere, wollene Umhang mit der Kapuze folgte, seine groben Fasern nahmen die Feuchtigkeit auf, sodass die Kleidung darunter nicht so schnell durchnässt wurde. Ich trat hinaus in die frostige Dunkelheit. Eine dünne Haut aus Eis lag auf den Pfützen, so dass jeder Schritt knisterte.


    Das Tor war nachts geschlossen, so dass ich mich an die Wache wandte. «Mach auf, ich muss nochmal raus.»


    «Du weißt, dass du morgen wieder regulären Dienst hast?»


    «Ja.»


    «Du weißt auch, dass deine Anwesenheit pünktlich bei Sonnenaufgang am Drillplatz erwartet wird?»


    «Ja.»


    «In Ordnung. Auf deine Verantwortung.» Er pfiff nach seinen Kameraden und gemeinsam öffneten sie das Tor einen Spaltbreit, um mich in die Dunkelheit zu entlassen.


    Der Pfad vor mir war für Menschen ohne Laterne nicht auszumachen, doch meinen Augen genügte der Schein der beiden Monde, um alles Wichtige zu erkennen. Farben konnte ich Nachts nicht zwar auch nicht sehen, doch alle Formen und Umrisse boten sich mir gut sichtbar dar. Den Rest erledigte meine feine Nase.


    Das Ödland lag still, das Knacken, Schmatzen und Platschen unter meinen Stiefeln war das einzige Geräusch. Jeder Atemzug schuf eine Wolke, die sogleich vom Wind fortgerissen wurde. Auf halber Strecke begann das Gelände steiler zu werden, die Felsen unter dem Schneematsch waren tückisch glatt. Ich rutschte aus, doch konnte mich mit wildem Gefuchtel wieder fangen. Schließlich tauchten die Lichter von Unwrain in der Ferne auf. Als ich das Dorf betrat, umfing mich der Geruch des Rauches, der aus den Schornsteinen stieg. Der Heulende Hund zog mich regelrecht magisch an und ich konnte das Bier schon auf der Zunge schmecken.


    Vor dem Gebäude stand an einem der Fässer eine schlanke, aber schwer gepanzerte Gestalt, die meine Aufmerksamkeit weckte. Von dem Fremden war kein Fingerbreit Haut zu sehen und er trank sein Bier aufgrund der Eisenmaske durch ein eisernes Trinkrohr.


    Ich blieb bei ihm stehen. «Bist du Söldner? Suchst du Arbeit?»


    «Ah, nein», erwiderte der Fremde mit einem extremen Akzent. «Ich bin lieber mein eigener Herr. Aber du kannst mir noch ein heißes Bier holen.»


    Meine Augenbrauen wanderten fast durch den Haaransatz bei so viel Frechheit. Mit einem Schnauben wandte ich mich ab. Als ich beim Wirt meine Bestellung aufgab, überlegte ich es mir anders und orderte zwei Krüge heißes Bier. Jetzt allein an einem Tisch zu versauern, würde mich nur in dunklen Gedanken versinken lassen. Es war besser, jemanden zum Reden zu haben. So kehrte ich nach draußen zurück und stellte dem Burschen sein heißes Bier hin. War es überhaupt ein Bursche? Weder seine Statur noch seine Stimme verrieten ein eindeutiges Geschlecht. Ich weitete die Nüstern und witterte, doch zu meinem Erstaunen brachte auch der Geruch keine Antwort. Das war mir noch nie passiert. Da die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei einem Rüstungsträger um einen Mann handelte, höher war, beschloss ich, ihn vorerst als männlich zu betrachten.


    «Zum Wohl.» Einer Vermutung folgend sprach ich nun auf Asami. Das war die Sprache der alten Völker, die sich durch spitze Ohren auszeichneten und zu denen auch Orks gehörten. Ich hob meinen Krug.


    Er tat es mir gleich. «Zum Wohl!» Und tatsächlich – sein Asami klang weitaus flüssiger als sein Uncàri. Ich schlussfolgerte daraus, dass er kein Mensch war.


    Wir tranken, ich direkt aus dem Krug, er durch seinen Trinkhalm. «Ah, das tut gut», freute er sich. «Mit wem habe ich das Vergnügen?»


    «Mit Serak dem Lügner, stolzer Eisenfalke.»


    «Angenehm. Valtiri der Knabberer.»


    «Eh? Was knabberst du denn?»


    «Das ist mein Geheimnis», raunte er verschwörerisch. «Und du willst es nicht herausfinden.»


    «Ist mir auch recht. Zufällig stamme ich aus dem Norden. Die Art, wie du sprichst, klingt südländisch. Welchem Volk gehörst du an?»


    Arrogant hob er das Kinn.«Ich trage diese Maske nicht umsonst. Wenn du über nichts anderes reden willst als über meine Herkunft, kannst du gehen.»


    «Soll ich das? Schade, ich wollte dir gerade eine heiße Schüssel Kohlsuppe anbieten.» Ich hob die Hände in gespieltem Bedauern. Dabei war ich sicher, dass er einlenken würde. So schmal, wie Valtiri wirkte, konnte er die letzten Wochen nicht viel gegessen haben.


    Er senkte das erhobene Kinn wieder. Durch die Öffnungen seiner Maske sah ich dunkle, ja, schwarze Augen, die mich abschätzend musterten. «Gut, ich erlaube dir, mir eine Suppe zu bringen. Und keine weiteren Fragen!»


    Das war ja nicht zu fassen. Das Bürschlein war halb verhungert und stand in einer schlecht sitzenden Klapperrüstung in der Kälte, aber benahm sich so unverschämt als wäre er von Stand. «Komm doch mit rein in den Schankraum», sagte ich. «Du siehst nicht aus, als hättest du viel gegen die Kälte auf den Rippen.»


    Scheu blickte er zur Tür. «Besser nicht. Ich bin nicht gern in Räumen eingesperrt, aus denen ich nicht so einfach entwischen kann. Ich warte hier draußen auf dich.»


    Was für eine eigenartige Person. Ich kaufte Valtiri eine Schüssel Kohlsuppe und stellte sie vor ihm auf das Fass. Sofort fing er an zu schlürfen. Wenn der Kohl sein Trinkrohr verstopfte, pustete und blubberte er, bis es wieder flutschte. Wann immer etwas daneben tropfte, sog er es geräuschvoll mit dem Trinkrohr vom Tisch, auch verkleckertes Bier und Schneeflocken waren vor ihm nicht sicher. Die unappetitlichen Geräusche brachten mich dazu, das Gesicht zu verziehen.


    Und sie erinnerten mich an jemanden. «Sag mal, Valtiri der Knabberer, bist du ein Troll?»


    Das Schlürfen, Blubbern und Schmatzen verstummte. Für einen Moment hörte man nur das Pfeifen des Winds und das gedämpfte Gelächter aus dem Inneren der Kneipe. «Das geht dich nichts an», sagte er hochnäsig. «Ich hatte dir verboten, Fragen zu meiner Herkunft zu stellen.»


    «Klar bist du ein Troll! Niemand sonst frisst auf diese Weise, du sprichst Asami und dein südlicher Dialekt passt auch.»


    Er schnappte nach Luft. «Ich ... ich verbiete dir ...!»


    «Das ist doch kein Grund sich zu schämen. Ich mag Trolle. Ein guter Freund von mir ist einer.»


    «Ähm, ach so?» Er vergaß seine Arroganz, er vergaß sogar das Essen und Trinken, sondern trommelte mit den Fingern und schaute sich nervös um. «Wie heißt der Freund denn und was sucht er hier in den Mittellanden? Wohnt er in der Nähe?»


    «Er heißt Cherax von den Sandvipern und ist einer meiner Kameraden. Den Rest fragst du ihn am besten persönlich.»


    «Nein!» Valtiri schlug mit der gepanzerten Faust auf den Tisch. «Ich habe kein Interesse daran, irgendwelchen Trollen zu begegnen und sie irgendetwas zu fragen!» Im Zorn klang seine Stimme doch eher männlich. «Aber ich kann dir etwas verkaufen. Ich mache dir einen guten Preis.» Er kramte hektisch in seinen vielen Gürteltaschen. Augenscheinlich hatte er es eilig zu verschwinden, wollte aber zusätzlich zum Essen auch noch etwas von meinem Geld.


    «Ich will nichts kaufen», sagte ich kühl.


    «Wie kannst du so was sagen? Ich brauche Geld!», klagte Valtiri.


    «Es scheint nicht sonderlich dringend zu sein. Immerhin habe ich dir eine Arbeit in der Söldnerkompanie angeboten», erinnerte ich ihn. «Die hast du abgelehnt.»


    «Ich habe doch schon Arbeit! Das sieht ja ein Blinder an meiner Rüstung!» Er zeigte mit beiden Händen auf sich selbst. «Ich bin offensichtlich ein Reliktjäger! Aber mein ganzes Geld ist für einen Arztbesuch draufgegangen, nur wegen diesem beschissenen Wetter. Jetzt bin ich hungrig und neue Winterklamotten könnte ich auch gebrauchen.»


    «Im Söldnerlager wirst du gratis versorgt», lockte ich. «Da gibt es eine Kleiderkammer. Und unser Feldscher Lorenzo ist gut. Schon beim kleinsten Schnupfen überschüttet er dich mit Kräutertee und stopft dich mit einer Wärmflasche ins Bett.» Ganz so schlimm war es natürlich nicht, immerhin waren wir eine Söldnerkompanie, aber Lorenzo war tatsächlich ein äußerst fürsorgliches Exemplar eines Feldschers. Nur ein gesunder Söldner war ein guter Söldner, und eine Epidemie konnte die ganze Kompanie lahmlegen.


    «Wenn ihr da Trolle habt, will ich dort nicht hin. Lieber verhungere ich!»


    «Wir haben einen einzigen Troll!»


    «Danke, aber ich verzichte. Wenn du nichts von meinen Waren kaufen willst, könntest du mir wenigstens noch eine Suppe bringen. Immerhin habe ich meine Zeit mit dir verbracht, das ist sozusagen eine Dienstleistung.»


    «Jetzt hör mir mal zu. Ich habe nicht endlos Geld und sehe nicht ein, warum ich dich beschenken sollte.»


    «Aber du hast mich schon beschenkt! Was spricht dagegen, mir noch etwas zu kaufen?»


    «Ich warte immer noch auf meinen ausstehenden Sold. Die ganze Gegend hier ist verarmt. Du siehst es ja an den Häusern und den matschigen Straßen. Warum versuchst du dein Glück nicht in Vellingrad? Betteln kannst du dort vergessen, aber gute Arbeit findet ihre Käufer. Warst du schon mal dort?»


    «Nein, wo liegt das denn?»


    «Nordöstlich von hier in Naridien, zwei Wochen Reisezeit, wenn du der Salzstraße folgst. Querfeldein dauert es länger und ist weniger sicher.»


    «Noch weiter nach Norden? Da hole ich mir ja den Tod.» Unter seiner Maske lief ihm die Nase und er schniefte. «Außerdem ist es nicht so leicht, als Reliktjäger in einem fremden Revier aufzukreuzen. Das endet meist für einen von beiden tödlich. Hier in der Nähe habe ich einen guten Zugang zum Taudis und wenigstens hin und wieder Kunden. Was ich woanders habe, weiß ich nicht.»


    «Mein Angebot steht . Ich bin abends öfter hier. Falls du es dir anders überlegst, sprich mich an. Dann lege ich bei unserem Kommandanten ein gutes Wort für dich ein.»


    Wir standen uns gegenüber, die Ellbogen auf das alte Fass gestützt, das als Tisch diente. Der kalte Wind strich um uns herum und trug das Gejohle und Gelächter aus dem Inneren der Kneipe mit sich.


    «Danke,» sagte Valtiri plötzlich. Es war das erste Mal, dass er sich für etwas bedankte. Bier und Suppe hatte er sich gekrallt, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass ich ihn auf meine Kosten bewirtete. «Du bist ein Guter, Serak.»


    Ich schnaubte und zuckte die Schultern. «Nein. Ich tu nur manchmal so, damit überhaupt noch jemand mit mir spricht.»


    «Ah, ich glaube, du erweist deinem Namen alle Ehre und schwindelst mich an. Du bist ein Halbork, nicht wahr? Hier in den Mittellanden trifft man Orks und Halborks selten. Was hat dich dazu gebracht, die Tundra zu verlassen?»


    Ich ließ den Blick über die schmutzigen Straßen von Unwrain schweifen, bevor ich antwortete. «Ein Mitglied der Rotte hat einen Fehler gemacht und ich habe dafür an seiner Stelle bezahlt. Darum bin ich hier.»


    Er legte eine Hand auf mein Schulter und sah mich an, seine schwarzen Augen voller Mitgefühl. «Oh, das tut mir leid. Das tut mir wirklich leid!»


    Im ersten Moment hielt ich es für Geschleime, um meinen Geldbeutel zu lockern, doch so, wie er mich ansah, war ich geneigt, ihm sein Mitleid zu glauben. Aber ich wollte es nicht haben. Ich tätschelte ihm den ausgestreckten Arm, bevor ich seine Hand von mir herunterzog. «Mir geht es gut.» Das war die größte Lüge von allen und ich verbreitete sie jeden Tag. Das sparte mir Erklärungen und alle waren zufrieden. Ich trank den letzten Schluck meines Biers. «Die Monde stehen hoch, ich muss wieder zurück», sagte ich.


    Valtiri der Knabberer nickte. Ich konnte den nachdenklichen Blick in seinen Augen sehen, doch er hakte nicht noch einmal nach, wofür ich ihm dankbar war. Manchmal war es besser, die Dinge unausgesprochen zu lassen. So wie ich ihm seine Privatsphäre ließ und nicht weiter nach seiner Vergangenheit gefragt hatte, so respektierte er nun meine.


    «Du gehst jetzt schon?», fragte er und sah mich mit großen Augen an. «Du hattest doch gerade erst ein Bier. Ich war gierig, ich habe dir alles weggefressen.»


    «Es war ein Geschenk. Und ich muss morgen wieder zeitig raus. Aber vielleicht trifft man sich mal wieder.»


    Er senkte betrübt den Kopf und nickte, seine Schultern sanken etwas herab. «He», sagte ich und beugte mich ein Stück nach vorn, «du bist aus Versehen nett gewesen.»


    Er hob den Kopf und funkelte mich an. «Du bist ein Arsch», trumpfte er auf. «Man sollte üble Dinge mit dir veranstalten.»


    Ich hob eine Augenbraue. «Mehr fällt dir nicht ein?»


    «Mann!», schrie er und hob frustriert die Hände. «Ich bin es nicht gewohnt, grob zu reden! Jetzt hör auf, dich über mich lustig zu machen, oder du darfst mir nie wieder Kohlsuppe servieren!»


    Ich lachte und reichte ihm die Hand. «Das würde ich mir nie verzeihen. Also dann.»


    Er nahm meine Hand und drückte sie fest. An seinen Augen sah ich, dass er lächelte. Er war ein merkwürdiges Kerlchen, aber wahrscheinlich hatte er einfach zu viel erlebt. Niemand wusste besser als ich, wie sehr das Leben jemanden verändern konnte. Ich kam mit ihm zurecht und fand ihn recht witzig.


    Nach dem Abschied drehte ich mich um und ging zurück ins Lager.


    «Halt, Losungswort?», rief es hinter dem Tor.


    «Saftsack,» antwortete ich. Es war der ewiger Spaß zwischen der Torwache und denen, die zurückkehrten, da wir kein echtes Losungswort brauchten. Unsere Kompanie war so klein, dass jeder jeden persönlich kannte.


    In der Baracke herrschte bereits abendliche Stille. Die meisten lagen schon in ihren Betten, einige standen an der Waschschüssel, andere zogen sich gerade das wollene Nachthemd über. Ich hätte gern noch einmal mit Mauli gesprochen, da ich den Streit nicht zwischen uns in der Luft hängen lassen wollte. Doch die wenigen Frauen unserer Kompanie hatten ihre eigene Baracke, wo die weiblichen Mitglieder beider Trupps gemeinsam wohnten.


    Cherax lag bereits in seinem Bett, als ich eintrat. Während ich mich für die Nacht fertig machte, überlegte ich, ob ich ihn auf Valtiri ansprechen sollte. Valtiri hatte jedoch so abweisend, ja, entsetzt reagiert, als er von dem Troll in unserer Kompanie erfuhr, dass ich mich dagegen entschied. Seine Identität war seine eigene Angelegenheit, und ich wollte nicht in der Welt herumposaunen, dass ich einen flüchtigen Blick hinter die Eisenmaske geworfen hatte. Vielleicht hatte er ähnliche Gründe, sich vor seinem Volk zu verstecken, wie ich. Abgesehen davon wusste ich gar nicht sicher, ob er wirklich ein Troll war, auch wenn es zu vermuten war.


    «Alles gut da drüben?» brummte Cherax, als ich mich in mein Bett eingekuschelt hatte. Er war der Einzige, der mich das fragte.


    «Alles bestens», raunte ich mit einem Grinsen zurück. Und für den Augenblick war das keine Lüge.


    Während ich in die Dunkelheit starrte, versuchte ich die Erlebnisse des Tages hinter mir zu lassen. Doch das war ein vergebliches Unterfangen. Die orkischen Waffen und die Gürtel hatten mich auf einer tiefen Ebene meines Seins berührt. Ich glaubte, den Duft von Erde, Holz und Teer zu riechen, von würzigem Schweiß und heißem Wasserdampf in der Badegrotte. Der Ork in mir ließ sich nicht verdrängen, selbst unter den Menschen. Ein Teil von mir redete sich die Erinnerungen schön, obgleich ich nicht vergessen konnte, was man mir alles angetan hatte. Das Erlebte blieb unauslöschlich, so wie das Gefühl von Ungerechtigkeit, selbst nach dem Maßstab der Orks.


    Und doch plagte mich entsetzliches Heimweh, so wie mich früher das Fernweh zur Jagd weit hinaus in die Wildnis getrieben hatte. Ja, ich verstand Rex’ Verdacht, ich könnte ein Verräter sein. Dennoch ärgerte mich dieser Vorwurf. Kämpfte ich nicht unermüdlich für die Eisenfalken? Hatte ich nicht längst meine Loyalität bewiesen? Rex war nicht der Einzige, derartige Vorwürfe hatten mich über die Jahre immer wieder eingeholt. Meine Herkunft stand mir ins Gesicht geschrieben. Viele Naridier hatten schlechte Erfahrungen mit Orks gemacht. Nicht jeder ging so entspannt damit um wie Garlyn. Das Misstrauen gegen mich konnte ich ihnen weder durch Worte noch durch Taten austreiben. Selbst der Hinweis darauf, dass die Rotte der Skunks nie Menschen überfallen hatte und andere Rotten für die Taten verantwortlich waren, konnte nichts ausrichten.

    Mit jedem Gedanken verflüchtigte sich meine zuvor gute Stimmung. Ich bereute zutiefst, nur ein Bier getrunken zu haben.


    Während meine Kameraden schliefen, rang ich vergebens mit meiner Müdigkeit. Erst, als der Morgen sich anbahnte, fielen mir für eine kurze Zeit die Augen zu.

    Zwischen Feuer und Schatten


    Ihre Gestalten wirkten gebrochen, die Rüstungen beschädigt und die Gesichter gezeichnet von Schmerz und Erschöpfung. Pukka, der sonst immer vorneweg marschierte, hinkte mühsam hinterher, auf die Schulter eines Kameraden gestützt, der Blick völlig leer. Neben ihm taumelte Raule, der eine abgebrochene Lanze als Krücke benutzte, um nicht umzufallen. Der Wind zerrte an ihren nassen Umhängen, die in der Kälte flatterten.


    «Was ist passiert?», fragte ich schockiert.


    Mauli und Cherax schienen nicht schwer verletzt zu sein, doch auch ihnen ging es offensichtlich nicht gut. Wie die meisten starrten sie ins Leere und gingen, wie die anderen, wortlos an mir vorbei. Diese traurigen Gestalten waren erfahrene Kämpfer, die meisten dienten schon viele Jahre unter dem Banner des Eisenfalken. Sie waren gut bewaffnet und zahlreich. So etwas hätte ihnen bei einem einfachen Kontrollmarsch nicht widerfahren dürfen. Und doch kamen sie nun in diesem Zustand zurück, zerschlagen und gedemütigt.


    Doreq, ein Unteroffizier, sah mich mit blutunterlaufenem Blick an. Mein entsetztes Gesicht schien ihn zu erreichen und er gab mir eine Antwort. «Sie haben uns aufgelauert und aus dem Hinterhalt angegriffen. Es ging verdammt schnell, und wir haben Glück, dass wir überhaupt noch hier sind.»


    Dann ging auch er an mir vorbei, der Rest der verletzten Kolonne zog an mir vorüber. Während sie an mir vorbeimarschierten, sank mein Herz immer tiefer. Wie hatte das passieren können? Ich folgte ihnen ins Lager, unfähig, meine Gedanken zu ordnen. Die Fragen wirbelten durch meinen Kopf wie die Schneeflocken, die um uns herumtanzten. Wer könnte eine solche List eingefädelt haben? Und wie sollte es mit den Eisenfalken weitergehen, wenn uns schon die erste Begegnung mit diesem Feind uns derart geschwächt hatte? Jede Antwort schien nur neue Ängste hervorzurufen. Aber eine Sache war klar – wir mussten die Wahrheit herausfinden, damit das kein zweites Mal passierte.


    Die Schwerverletzten wurden ins Lazarett gebracht, begleitet von Stoßgebeten für ihre Genesung. Die Übrigen stellten sich auf dem Drillplatz auf, bereit, Kommandant Meqdarhan Rede und Antwort zu stehen. Ein scharfer Wind pfiff um die geröteten und schmutzigen Gesichter meiner Kameraden. Ihre Mienen waren ausdruckslos, und das sagte alles.


    Kommandant Meqdarhan war eine eindrucksvolle Erscheinung mit mächtigen Schultern. Er überragte die meisten um einen halben oder ganzen Kopf. Er blickte zerknirscht über seine ruinierter Truppe. «Doreq, erstatte Bericht.»


    Unteroffizier Doreq, gezeichnet von Blut und Schlamm, trat nach vorne. Er hatte noch immer die Haltung eines Eisenfalken, aufrecht und entschlossen, auch wenn sein starrer Blick viel Leid verriet. Für die Katastrophe, die geschehen war, trug er als Befehlshaber die Verantwortung. «Kommandant», begann er, «wir wurden in eine Falle gelockt. Es war ein Hinterhalt und der Feind war zahlreich.» Ich konnte die Spannung in der Luft spüren, als Doreq fortfuhr und jeden Moment schilderte. «Wir folgten der Salzstraße nach Norden, als plötzlich ein Pfeilhagel auf uns niederging. Wir hatten keine Deckung. Unser Späher hatte keine feindliche Präsenz gemeldet – weil er bereits tot war. So war es, als wären sie aus dem Nichts erschienen.»


    Er machte eine kurze Pause, und ich sah, wie er tief durchatmete, bevor er weitersprach. «Ich gab den Befehl zum Sturmangriff. Wir rannten auf sie zu und konnten einige im Nahkampf erledigen, das hat sie vertrieben.» Er sah Meqdarhan fest in die Augen. «Orks.»


    Unweigerlich richteten sich mehrere Blicke auf mich, hier und da erklang Getuschel, doch der Kommandant achtete nicht darauf. «Wie viele sind gefallen? Was ist mit unseren Verwundeten?»


    «Wir haben vier Mann verloren, zwölf sind verletzt, sieben davon schwer. Wir haben alles getan, um sie hierher zu bringen. Die Gefallenen haben wir unter Steinen bestattet.»


    Garlyn Meqdarhan machte eine verärgerte Geste mit der Hand. «Sie sollten nicht im Nirgendwo liegen gelassen werden, wo Plünderer und Grabräuber ihr Unwesen treiben. Trupp eins wird ihnen morgen ein anständiges Begräbnis zukommen lassen. Ihr aber habt tapfer gekämpft. Ruht euch aus und erholt euch. Diese Schmach wird nicht unbeantwortet bleiben.»


    Mit diesen Worten entließ er sie. Doch die offenen Fragen blieben. Die Antworten lagen da draußen, im windigen Ödland des Ostens.


    Abends fanden wir uns im Heulenden Hund ein, weniger als sonst. Die meisten waren zu erschöpft. Cherax staunte nicht schlecht, als er meine ungewöhnliche Bestellung sah. Die Wärme breitete sich schnell in meinen Händen aus, als ich sie um die dampfende Schüssel mit Kohlsuppe schloss.


    Der Troll schüttelte fassungslos den Kopf, so dass die Schuppen aus seiner schwarzen Mähne flogen, die ihm wie ein borstiger Hahnenkamm von der Stirn bis über den halben Rücken wuchs. «Brühe statt Bier? Geht es mit dir zu Ende oder woher kommt der Sinneswandel?»


    Ich hob eine Augenbraue. «Lieber heiß und nahrhaft als kalt und nutzlos, Cherax. Zumindest spare ich mir den Kater morgen früh. Und die Diskussionen mit der Torwache.»


    Cherax grunzte verständnislos. «Du bist ein Halbork, kein Mensch! Du solltest Bier trinken, wenn es kein Fleisch gibt. Das Grünzeug tut dir nicht gut.» Er lehnte sich vor, seine Stimme wurde vertraulich. «Oder hast du etwa Angst, dass du zunehmen könntest? Kohlsuppe für die schlanke Linie, was?»


    Ich schnaubte und nahm einen Löffel Suppe. «Ich wette, dass du keinen Unterschied zwischen einer Schüssel Kohlsuppe und einem Krug Bier merkst, Cherax. Vielleicht solltest du es mal versuchen, dann reden wir weiter.»


    Er grinste, so dass es aussah, als würden sich seine Wildschweinhauer noch weiter aus seinem grauen Gesicht schieben. «Eine Herausforderung? Die nehme ich an.» Cherax winkte eines der Schankmädchen herbei, das sich nur wiederwillig unserem aufdringlichsten Söldnerkameraden näherte. «Für mich auch eine Schüssel von dieser Suppe», säuselte er. Kurz darauf wurde ihm die Kohlsuppe gebracht. Ich hätte meine Schwerter darauf verwettet, dass sie hineingespuckt hatte, aber das hätte den Troll wohl ohnehin nicht gestört. Er war gegen Ekel vollständig resistent.


    «Wenn ich am Ende dieser Schale nicht so zufrieden bin wie nach einem Krug Bier», dröhnte er, «dann bekomme ich die fünf Kupferlinge von dir zurückerstattet.»


    Ich grinste. «Abgemacht.» Das war mir der Spaß wert. Ich stieß mit meiner Schale gegen seine. «Zum Wohl!»


    Cherax nahm vorsichtig den ersten Löffel. Sein Gesichtsausdruck wechselte von Skepsis zu Überraschung, und schließlich zu einem zufriedenen Nicken. «Na gut,» murmelte er, «vielleicht hat diese Kohlsuppe doch etwas für sich.»


    Die Geschmacksverirrungen von Trollen waren legendär. Ich aß meine Suppe in Ruhe weiter, obwohl sie mir überhaupt nicht schmeckte, während Cherax vor lauter Wohlgefallen derart stöhnte und die Augen verdrehte, dass einige Kameraden an den umliegenden Tischen sich peinlich berührt abwandten, während andere einen Lachanfall erlitten.


    Auch ich musste grinsen. «Wo ist eigentlich Mauli?», wollte ich wissen. «Habt ihr euch diesmal schon vor dem Besäufnis zerstritten?»


    Cherax hielt inne, während ihm Brühe vom Kinn tropfte. «Bist du blind? Die sitzt doch da drüben.»


    Ich wandte mich um. An einem kleinen Tisch in der letzten Ecke des Heulenden Hundes saß Mauli. Und ihr gegenüber saß Rex. Die beiden unterhielten sich angeregt und waren ganz aufeinander konzentriert. Zwischen ihnen brannte eine Kerze. Mir rutschte der Kohl vom Löffel und klatschte auf den Tisch. «Und ich dachte, nur Trolle würden einen schlechten Geschmack haben», knurrte ich.


    «Offensichtlich nicht», feixte Cherax. «Rex ist vollkommen übergeschappt!»


    «Ich rede von Mauli», rief ich. «Was will sie mit so einem Vogel?»


    «Und was will Rex mit Mauli?» Cherax kratzte sich den Kopf, ein Regen von Schuppen rieselte in seine Suppe. Er verrührte sie und nahm einen großen Löffel. «Jedenfalls passt das nicht. Das wird ein böses Erwachen geben.»


    Ich versuchte, mir vorzustellen, was Mauli an Rex finden konnte, doch es wollte mir nicht gelingen. An ihm war alles abscheulich, aber vielleicht lag es auch daran, dass ich ihn so wenig leiden konnte. «Das ist auch deine Schuld», motzte ich. «Du weißt, wie sehr sie dich mag und hast vor ihren Augen ständig nach irgendwelchen Frauen geschaut.»


    «Soll ich vielleicht vor ihren Augen nach Männern schauen?» Cherax grunzte und stopfte sich beide Wangen mit Kohl voll. Es dauerte eine Weile, bis er ihn so weit durchgekaut hatte, dass er ihn schlucken konnte. «Ihr Problem, wenn sie so empfindlich ist!»


    «Unser Problem, weil sie jetzt mit Rex anbändelt, anstatt mit uns zusammen am Tisch zu sitzen», wandte ich ein. «Sie weiß, dass Rex und ich nicht miteinander können. Wenn die beiden sich tatsächlich aufeinander einlassen, wird sie in Zukunft bei ihm sitzen und nicht mit ihm gemeinsam bei uns.»


    «Und?»


    Cherax war augenscheinlich egal, dass wir Gefahr liefen, unsere liebe Freundin an diesen dahergelaufenen naridischen Tunichtgut zu verlieren. Während ihm Kohlfäden von den Hauern hingen, schaute er sich um, wer heute noch alles in der Kneipe war. Es war sinnlos, weiter mit ihm zu reden, er war ein Troll. Ich schlürfte meine ekelhafte Suppe und während Cherax sein Glück bei der Frau des Wirts auslotete, verließ ich die Kneipe, den Kopf diesmal nicht schwer vom Alkohol, sondern von Gedanken.


    Ich zündete mir draußen eine Rauchstange an einer Laterne an. Der Hinterhalt deutete darauf hin, dass die Orks gewusst hatten, dass Trupp zwei diesen Weg nehmen würde. Das konnte nur zwei Dinge bedeuten: Es gab entweder einen Spion oder einen Verräter in unseren eigenen Reihen.


    «Abend.»


    Ich fuhr herum. Vor dem Heulenden Hund standen mehrere leere Fässer, die als Stehtische benutzt werden konnten. Bei dieser Witterung blieben sie normalerweise leer. Doch an einem Fass in den Schatten lümmelte Garlyn mit einer Rauchstange.

    Ich gesellte mich zu ihm. «Abend. Warum stehst du allein hier draußen in der Kälte? Soll ich dir was auslegen?»


    Er winkte ab. «Es liegt nicht am Geld. Ich habe den ganzen Tag einen wilden Sauhaufen um mich. Manchmal brauche ich Ruhe, um nachzudenken.»


    «Dann gehe ich besser.» Ich machte Anstalten, die Straße in Richtung Lager einzuschlagen, doch er rief: «Hiergeblieben.»


    Gewohnheitsmäßig machte ich auf dem Absatz kehrt und stellte mich ihm gegenüber, die Rauchstange im Mundwinkel.


    «Ich bin zu einem Ergebnis gekommen», verkündete er und musterte mich durchdringend. «Wie ich sehe und rieche, bist du nüchtern.»


    «Ich habe meine Lektion gelernt.»


    «Gut. Dann bist du hiermit wieder Teil von Trupp zwei. Sie brauchen dich mehr denn je. Behalte das in Erinnerung.»


    «In Zukunft werde ich dich nicht mehr enttäuschen», sagte ich erleichtert. Ich nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch hinauf zu den beiden Monden. Oril war zunehmend und fast schon voll, Daibos bildete eine schmale rote Sichel. Mir war nicht bekannt, dass diese Konstellation Unheil verheißen würde. Und doch war es geschehen. Allerdings nicht für mich. Vielleicht galten die Mondphasen nur für Orks und Halborks? Gern würde ich einen Schamanen befragen, oder meinen Milchbruder Katax, der solche Dinge ebenfalls wusste. Doch hier war niemand, der eine Antwort gekannt hätte.


    «War es das, was du mir sagen wolltest, Garlyn?» Privat durften wir ihn beim Vornamen nennen. Unsere Söldnerkompanie war zu klein, um nicht zwangsweise ein sehr persönliches Verhältnis aller Mitglieder mit sich zu bringen.

    «Nein», murrte er. «Es geht um unsere Gegner.»


    «Die unbekannten Orks.»


    «Richtig. Du hast Recht mit dem, was du damals auf dem Drillplatz gesagt hast. Es ist egal, ob es Orks sind. Es kommt darauf an, wer sie sind und was sie wollen.»


    Die Nacht war still, und nur das Knacken des Feuers in der Laterne und das gelegentliche Heulen des Windes waren zu hören. Ich ahnte, worauf er hinauswollte, und ein ungutes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus.


    «Serak», begann Garlyn, seine Stimme ruhig und fest, «wir müssen herausfinden, welchem Stamm diese Orks angehören. Sie sind zu gut organisiert, um einfach nur Plünderer zu sein. Wir brauchen Informationen.»


    Ich schüttelte den Kopf. «Garlyn, ich bin ein Halbork! Die meisten Stämme bringen Bastarde um. Ich kann nicht einfach zu ihnen gehen und sie fragen, wer sie sind und weshalb sie Händler und Söldner überfallen.»


    «Dann denk dir ein anderes Vorgehen aus. Du hast den Vorteil, nicht beim Überfall dabei gewesen zu sein. Sie wissen nicht, dass du ein Eisenfalke bist, das ist dein Vorteil. Wir können nicht zulassen, dass sie uns noch einmal so überrumpeln. Wir müssen wissen, mit wem wir es zu tun haben.»


    «Es gibt andere Wege, Informationen zu bekommen. Wir könnten die überfallenen Händler fragen, welche Stammesmerkmale sie gesehen haben, oder...»


    «Du weißt, wie schwierig es sein würde, einen solchen Händler ausfindig zu machen! Und wer kann schon sagen, was sie in der Todesangst gesehen oder nicht gesehen haben? Du aber hast einen klaren Kopf. Du hast lange Zeit in der Wildnis überlebt, du kennst die Merkmale der Stämme und sprichst ihre Sprache. Du hast das Wissen und die Fähigkeiten, die uns helfen könnten. Das Risiko ist groß, ja, aber der Nutzen noch größer. Denk an deine Kameraden. An Doreq und die anderen, die fast ihr Leben verloren haben. Und denk an die, die wir auf dem Feld der Ehre zurücklassen mussten.»


    Seine Worte trafen mich hart. Ich sah die erschöpften Gesichter meiner Kameraden vor mir, hörte ihre schmerzverzerrten Stimmen. Sie zählten auf mich. «Und was, wenn ich gefangen werde?» fragte ich leise, der Zweifel nagend. «Du musst dir klar machen, dass das mein Tod wäre.»


    «Du bist nicht allein, ich zahle ein Lösegeld, das sie nicht ablehnen können. Wenn sie Geld wollen, bekommen sie das. Du bist unsere beste Chance, einen weiteren Überfall zu verhindern. Vielleicht unsere einzige Chance.»


    Ich schloss die Augen, ließ die Worte in mir nachhallen. Der Gedanke, meine Kameraden im Stich zu lassen, die schon einmal ohne mich in die Schlacht gezogen waren, tat weh. Doch ich schüttelte den Kopf. «Nein, Garlyn. Du bist mein Kommandant und ich befolge jeden Befehl außer diesen.»


    Er malte mit dem Kiefer, ich wartete darauf, dass er mir dir Strafe für Ungehorsam darlegte. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich. «Ich werde mir eine andere Lösung überlegen», sagte er stattdessen.


    Er wandte den Blick ab und sah an mir vorbei. Ich hätte mich ihm gern erklärt, doch ich hatte das Gefühl, dass die Tür dafür verschlossen war. Und wollte ich ihm wirklich darlegen, was in mir tobte bei dem Gedanken, wieder Orks zu sehen? Zugeben, dass ich panische Angst davor hatte?


    Garlyn warf den Rest seiner Rauchstange weg und verschwand in der Nacht. Ich sah ihm nach und fühlte plötzlich mich dermaßen einsam, dass es kaum zu ertragen war. Ich hätte in den Heulenden Hund zurückkehren können, alles in mir schrie danach, mich mit Bier volllaufen zu lassen, damit diese Gefühle aufhörten. Doch es gelang mir, dem nicht nachzugeben. Ich war lange genug in der Werkstatt gewesen und es wurde Zeit, die ausgedünnten Reihen meiner Kameraden aufzufüllen.


    Ich rauchte zu Ende und kehrte, von Schneeregen gepeitscht, ins Lager zurück, begleitet von düsteren Gedanken und dem Pfeifen des eiskalten Windes.

    Kaltes Eisen


    Der Morgen war grau und frostig, als ich mich zur Schreibstube des Kommandanten begab. Ich klopfte an die schwere Holztür, und nach einem Moment ertönte von innen eine tiefe, befehlsgewohnte Stimme.


    «Herein!»


    Die Schreibstube von Garlyn Meqdarhan war schlicht, aber funktional eingerichtet. Ein großer Holztisch dominierte den Raum, bedeckt mit Landkarten, Pergamentrollen und Federkielen. Ein tragbarer Eisenofen spendete gerade genug Wärme, um die Kälte in Schach zu halten. An den Wänden hingen zerfetzte und dreckige Banner, Kriegsbeute vergangener Schlachten, die sich in der aufsteigenden Wärme langsam bewegten.


    Der Kommandant saß hinter seinem Tisch, auf einem Stuhl, der mit einem Schaffell gepolstert war. Seine grünen Augen sahen mich durchdringend an. «Ich hoffe, du weißt, warum du hier bist.»


    Ich nickte. «Ja, Kommandant. Es war ein Fehler, betrunken ins Lager zurückzukehren.»


    Meqdarhan neigte den Kopf leicht zur Seite. «Ein Fehler? Ich nenne das Disziplinlosigkeit! Fehler passieren jedem, auch mir, aber Disziplinlosigkeit passiert nicht einfach. Man entscheidet sich bewusst dafür. Deine Trunkenheit gefährdet uns alle. Wir befinden uns im Niemandsland, wir können jederzeit überfallen werden. Wie soll ich mich auf meine Männer verlassen, wenn sie sich nicht einmal selbst kontrollieren können?»


    «Es wird nicht wieder vorkommen, Kommandant», versprach ich, obwohl ich mir bewusst war, dass meine Worte hohl klangen.


    «Das wird es verdammt nochmal nicht!» Er schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Tintenfässer klirrten. «Deine Strafe wird es sein, in der Werkstatt zu helfen. Dort kannst du dich für alle nützlich machen, ohne andere zu gefährden. Du bist hier nicht mehr bei den Räubern! Fürs Erste bist du vom Einsatzgeschehen suspendiert. Vielleicht lernst du dadurch, wie man sich in einer militärischen Einheit zu benehmen hat.»


    Ich straffte meine Haltung noch weiter, um nicht vor Enttäuschung zusammenzusinken. «Ja, Kommandant. Darf ich eine Frage stellen?»


    «Spuck`s schon aus.»


    «Wann werde ich wieder Teil von Trupp zwei sein dürfen?»


    «Wenn Jurland mit dir zufrieden bist, prüfe ich - vielleicht - deine Reaktivierung. Bis dahin kann viel Zeit ins Land streichen. Stell dich auf eine sehr lange Zeit in der Werkstatt ein.»


    «Verstanden, Kommandant.»


    «Und Serak,» fügte er hinzu, «wenn ich dich noch einmal betrunken erwische, werden die Konsequenzen weitaus härter sein. Ist das klar?»


    «Klar wie Schnaps, Kommandant», antwortete ich.


    Meqdarhan musterte mich mit zusammengekniffenen Augen, bevor er sagte: «Du kannst wegtreten.»


    Ich drehte mich um und verließ die Schreibstube. Mit jedem Schritt, den ich in Richtung Werkstatt ging, wurde ich wütender. Mein Kiefer war angespannt, und ich konnte das leise Knirschen meiner Zähne hören. Diese verdammte Strafe für ein bisschen Trunkenheit? Es war lächerlich. Ich hatte meine Pflicht getan, gekämpft wie ein Vieh, und dann gönnte ich mir ein paar Bier – so wie es jeder andere auch getan hätte. Aber nein, Meqdarhan musste ja unbedingt ein Exempel an mir statuieren.


    Meine Hände waren zu Fäusten geballt, die kalte Luft biss in meine Knöchel, als ich die Werkstatt schließlich erreichte. Das Holzgebäude war alt und trug die Narben von zahllosen Reparaturen. Ein robustes Schild über der Tür verkündete «Werkstatt». Für jene, die nicht lesen konnten, was fast alle waren, waren auch noch ein Schraubenzieher und ein Hammer dazu gemalt.


    Ich schnaubte. Der Kommandant wusste genau, wie er mich ärgern konnte. Dass er mich zum Dienst in der Werkstatt verdonnert hatte, fühlte sich wie eine persönliche Beleidigung an. «Von wegen Garlyn der Fuchs», grummelte ich leise. «Garlyn der räudige Hund müsste er heißen!»


    Meine Wut konnte ich kaum zurückhalten, doch ich wusste, dass ich keinen weiteren Ärger riskieren durfte. Beherzt öffnete ich die Tür und trat in die warme, nach Öl und Metall riechende Luft.


    Jurland, der Waffenmeister, war ein narbiger Veteran, der seit einem Treffer auf den Schädel nicht mehr in der Lage war, noch in den Kampf zu ziehen. Er humpelte und hielt den Kopf schief. «Na, der Held des Tages,» sagte er spöttisch. «Mach dich nützlich. Die Waffen und die Ausrüstungsteile reparieren sich nicht von allein.»


    «Schon verstanden. Was soll ich tun?»


    Er wies auf einen Tisch, der voller Rüstungsteile war. «Bei all diesen Teilen müssen die Lederriemen ersetzt werden. Bei der Gelegenheit kannst du auch die Ösen kontrollieren.»


    Knurrend machte ich mich an diese langweilige Arbeit, die mit eiskalten Fingern besonders wenig Spaß machte. Sie dauerte den gesamten Vormittag. Als ich fertig war, musste ich mit enervierender Präzision gebrauchte Nägel geradeklopfen, den Rost abschleifen und die restaurierten Nägel ölen. Am nächsten Tag ging es mit dem Schleifen von Waffen weiter. Das regelmäßige Schaben des Steins über das Metall war hypnotisch, beinahe einschläfernd. Jeder Strich des Wetzsteins erinnerte mich qualvoll daran, dass ich hier in der Werkstatt war, weil ich die Regeln gebrochen hatte. Jurland hatte in all der Zeit nichts zu erzählen. Wie denn auch? Er erlebte ja nichts mehr als diesen langweiligen Alltag. Ihm schien das allerdings nichts auszumachen. Er verbrachte die meiste Zeit mit Schmiedearbeiten.


    Die Tage in der Werkstatt schlichen dahin wie eine Schnecke auf einem Salzfeld, und genau so fühlte ich mich auch. Manchmal, während ich diese banalen Aufgaben erledigte, schweiften meine Gedanken ab. Ich stellte mir vor, wie ich in einem heftigen Kampf auf Leben und Tod stand, Blut und Schreie um mich herum, während mir das Blut schier in den Adern kochte. Ich erinnerte mich an meine Siege, an das großartige Gefühl, besser gewesen zu sein als der Gegner.


    Und jetzt?


    Die stumpfe Klinge spiegelte mein gelangweiltes Gesicht wider. Wieder und wieder zog ich den Wetzstein über das Metall.


    «Beweg dich ein bisschen schneller, Serak», rief Jurland zwischen zwei Hieben mit dem Schmiedehammer. Um ihn her flogen Funken, der Rauch erinnerte mich an einen Grillabend und mein Magen knurrte.


    Ich biss mir auf die Zunge und versuchte, mich auf die ermüdende Arbeit zu konzentrieren. Diese simplen Tätigkeiten waren nicht geeignet, mein Gehirn bei Laune zu halten. Mein Zorn auf den Kommandanten wuchs mit jeder Minute, die ich hier verbrachte, gefesselt an diese sinnlosen Aufgaben, doch eigentlich müsste ich nur auf mich selbst wütend sein. Ich kannte die Regeln ja. Als ich schließlich zu den Bolzen überging, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass diese Strafe ein Ende nehmen würde. Die Werkstatt war für mich zu einem Kerker geworden, in dem ich mithilfe von Langeweile langsam zu Tode gefoltert wurde.


    Ich brütete in trostlosen Gedanken, als die Tür plötzlich aufschwang und kalte Luft hereinströmte. Ich hob den Kopf und sah Rex hereinkommen, seine blauen Augen funkelten vor unverhohlenem Vergnügen. Er war ein Naridier in seinen besten Jahren. Das raspelkurze, dunkelbraune Haar wurde an den Schläfen schon etwas grau und die ersten Falten zeigten sich, der Bauch war nicht mehr so flach wie vor zehn Jahren, doch das änderte nichts an seinem - wie ich zähneknirschend zugeben musste - attraktivem Erscheinungsbild.


    Er schlenderte langsam durch den Raum, als würde er sich umsehen. «Na, Serak,» begann er mit einem süffisanten Grinsen, «wie läuft’s so in der Werkstatt? Schon viele Schwerter geschärft?»


    Ich knurrte leise und konzentrierte mich wieder auf die Klinge vor mir, den Wetzstein fest in der Hand. «Was willst du, Rex?» Die Frage war unnötig. Wir wussten beide, dass er nur hier war, um mich leiden zu sehen.


    Er zuckte mit den Schultern und tat, als würde er die verschiedenen Gerätschaften in den Regalen begutachten. «Ach, nichts Besonderes. Wollte nur mal sehen, wie unser großer Krieger sich so schlägt.»


    Ich versuchte, meine Wut zu unterdrücken. «Ich mache meine Arbeit, und ich mache sie gewissenhaft.»


    Rex lehnte sich mit dem Hintern lässig gegen den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. «Jeder bekommt, was er verdient. Ich musste das melden, sonst hätte ich mir selbst Ärger eingebrockt. Das verstehst du doch, oder?»


    «Genieß es, solange du kannst, Rex. Irgendwann wirst du auch mal dran sein.»


    Er lachte und schüttelte den Kopf. «Vielleicht. Aber bis dahin werde ich jede Minute davon genießen, dich hier schuften zu sehen.»


    Nun mischte sich Jurland ein. «Garlyn war so freundlich, mir den Gehilfen an die Seite zu stellen, um den ich ihn gebeten hatte. Ich bin mit Seraks Arbeit sehr zufrieden, ich habe ihm Arbeiten anvertraut, die ich allein nicht mehr schaffe. Dass deine Rüstung so gut sitzt und dir nicht der Schwertgurt von deinem dicken Hintern fällt, verdankst du allein ihm, denn deine Ausrüstung ist wieder mal in einem unmöglichen Pflegezustand hier eingetroffen. Falls du nur hier bist, um dich über Serak lustig zu machen, kannst du gleich wieder verschwinden!»


    Ich sah ihn überrascht und voller Dankbarkeit an. So viel Kameradschaftsgeist hatte ich ihm nicht zugetraut. Fast tat es mir leid, dass ich die Arbeit so sehr hasste.


    Rex errötete vor Zorn, doch seine Stimme blieb ruhig. «Ich bin eigentlich aus einem anderen Grund hier. Eigentlich wollte ich mit dir sprechen und nicht mit deinem Gehilfen.»


    «Schön, hier bin ich. Worum geht es?»


    «Du hast einige interessante Gerätschaften dort im Regal, die in einer gewöhnlichen Werkstatt wie dieser nicht unbedingt üblich sind.»


    Rex näherte sich einem Regal und griff nach einer Flasche, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Darin schwammen verschiedene kleine Fläschchen, gefüllt mit farbenfrohen Substanzen. Jede trieb auf einer anderen Höhe. «Das hier zum Beispiel. Was ist das?»


    «Das ist ein Gasanalysator, ein Gerät, um die Zusammensetzung der Atemluft zu messen. Ich benutze ihn, da ich hier mit offenem Feuer arbeite. Der meiste Rauch entweicht durch die Esse, doch je nach Wetter kann die Luft schwer werden. Dann drückt der Wind den Rauch zurück in die Esse. Bevor das giftige Gas eine tödliche Konzentration erreicht, sehe ich es am Gasanalysator.»


    «So, du weißt also, was das ist. Woher hast du den Gasanalysator?»


    Jurland lächelte verschwörerisch. «Ich habe meine Quellen. Und du bist ziemlich neugierig, finde ich.»


    «Aus gutem Grund!» Rex gestikulierte aufgebracht. «Normalerweise nutzen Reliktjäger so was, wenn sie tief unten in versunkenen Tempeln und Katakomben nach Beute suchen. Bekanntlich sind Reliktjäger nicht eben nette Leute! Sie sind Grabräuber, Hehler, Schmuggler und meistens auch Mörder.»


    Jurland wirkte erstaunt. «Ich habe den Gasanalysator tatsächlich von einem Reliktjäger erworben. Einem erfolglosen Reliktjäger, der verletzt war und dringend Geld für einen Heiler benötigte. Darum habe ich einige seiner Ausrüstungsgegenstände für einen Spottpreis erhalten.»


    «Damit hast du wahrscheinlich seine Heilung finanziert, und jetzt treibt der weiter hier in der Gegend sein Unwesen», regte Rex sich auf. «Wann hast du das gekauft, wo und wie hieß der Kerl? Beschreibe ihn, damit wir ihn töten können, wenn er uns auf einem Kontrollmarsch begegnet.»


    «Jetzt reicht es aber», brummte Jurland. «Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig, und ich unterstütze auch keine Selbstjustiz. Raus jetzt, du hältst uns von der Arbeit ab.» Er wies mit dem Schmiedehammer zur Tür.


    Rex sah aus, als wolle er noch etwas sagen, verkniff es sich dann aber und verschwand.


    Gerade wollte ich in meiner Arbeit fortfahren, da erklang draußen das Signalhorn. «Trupp zwei ist zurück», brüllte jemand aus der Ferne. «Sie sind verletzt!»


    Mir fiel der Schleifstein aus der Hand und ich sprang auf. Mit der ledernen Arbeitsschürze um den Körper rannte ich durch das Lager in Richtung Tor. Kalter Schneematsch spritzte an mir hoch. Mir war egal, was Jurland oder Garlyn oder sonst wer davon hielt, ich musste sehen, wie es Mauli und Cherax und meinen anderen Kameraden ging!

    Ein ernstes Wörtchen, oder zwei


    Da es mein Jubiläum war, trank ich mehr, als erlaubt war. Auf dem Rückweg war ich nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Bevor wir in Sichtweite der Torwache kamen, zog ich meinen Arm von Maulis Schultern. Man könnte meinen, dass die frische Luft mir gutgetan hätte, aber ich war immer noch so betrunken wie zu dem Zeitpunkt, als wir den Heulenden Hund verlassen hatten.


    «Den Rest laufisch alllleine», verkündete ich.


    «Fall nicht hin, der Weg ist voller Pfützen», sagte Mauli besorgt.


    «Isch bin Meister der Ballllance», lallte ich und breitete die Arme aus. Zielstrebig torkelte ich um die Pfützen herum, meine Stiefel wurden nicht nasser, als sie ohnehin schon waren, aber aus irgendeinem Grund wurden wir trotzdem von der Torwache aufgehalten.


    «Ihr sollt doch nicht so viel saufen, dass ihr besoffen seid», meckerte einer der beiden, der Rexar hieß, aber alle nannten ihn Rex.


    «Wo binnich besoffn?», fragte ich.


    Er wies von meinem Kopf bis hinab zu den Stiefeln. «Überall, von oben bis unten! Schau dich an! Du weißt, dass ich das melden muss.»


    «Ach, komm, Re ... Rex.»


    «Mag sein, dass andere ein Auge zudrücken, aber ich mach das nicht. Jetzt rein mit dir und auf direktem Weg ins Bett, bevor noch ein Unglück geschieht.»


    «Das sachst du nur, weillu nich eingeladen warst! Du bissein elener Sauhund!»


    «Und die Beleidigungen melde ich gleich mit. Rein jetzt», knurrte Rex und schob mich grob durchs Tor.


    Ich stolperte über meine Füße, stürzte und schlitterte auf Händen und Knien durch den kalten Schlamm.


    Mauli erbarmte sich, mir auf die Beine zu helfen. Unter Protest ließ sich mich von ihr in meine Barracke führen. Es war noch niemand in meiner Stube, so kam sie mit herein. Sie setzte mich auf mein Bett und zog mir die nasse Jacke, den feuchten Wollpullover und die Stiefel aus, so dass ich nur noch im Unterhemd war. Danach ergriff sie meine Finger. «Deine Hände sind eiskalt.»


    «Bedank dich bei Rex, der mich innen Schlllamm geschickt hat.»


    Sie zog mir mein Nachthemd über. Aus der dreckigen Hose schälte ich mich selbst, dann ließ ich mich ins Bett sinken und wickelte mich in die Woldecke. Mauli verschwand für einen Augenblick, um mit einer gusseisernen Wärmflasche zurückzukehren, die sie mir an die Füße legte. «Gute Nacht», sagte sie.


    «Nacht.»


    Dass Cherax und die anderen eintrudelten, bekam ich nicht mehr mit. Ich schlief wie ein Stein.


    Nach dem Weckruf fanden wir uns, wie immer, zum Appell ein, um die Tagesbefehle entgegenzunehmen. Der Drillplatz war ein trostloser Anblick an diesem späten Wintermorgen. Der Boden war aufgeweicht und matschig, jeder Schritt verursachte ein widerliches Schmatzen. Ein kalter Wind wehte über das Lager, schneidend und unerbittlich, und trug den Geruch von feuchter Erde und altem Holz mit sich. Die Zeltplanen flatterten unruhig, als würden sie gegen den nahenden Appell zu so früher Stunde protestieren. Rauch stieg träge in die Luft, er verströmte den würzigen Geruch von verbranntem Holz und dem Eintopf, den es einmal täglich gab. Was wir zum Frühstück oder Mittag aßen, war unsere Sache.


    Die Rüstungen und Waffen glänzten im trüben Morgenlicht. Die Söldner standen in lockeren Haufen zusammen, die meisten von ihnen fröstelnd und missmutig. Manche schlugen sich die Hände gegen die Oberarme, um die Kälte zu vertreiben.


    Garlyn Meqdarhan schien eine schlechte Nacht gehabt zu haben. Er sah bleich und aufgedunsen aus, aber ansonsten hielt er sich frisch, wenn ich seinen Alterungsprozess mit dem von Mauli verglich, die genau so alt war wie er. «Guten Morgen», röhrte er. Blick und Tonfall sagten, dass er für einige von uns gar nicht gut werden würde.


    «Guten Morgen, Kommandant», antworteten wir pflichtschuldig.


    «Wie viele von euch wissen, hatte ich gestern ein vielversprechendes Gespräch mit einem Auftraggeber. Ich darf euch gute Neuigkeiten verkünden: Uns wird in Zukunft der Schutz eines Abschnitts der Salzstraße anvertraut werden. Damit ihr alle auf demselben Stand seid, hier eine kurze Einführung. Die Salzstraße ist keine einzelne Straße, sondern ein gut ausgebautes Straßennetzwerk, das die großen Städte des Nordens miteinander verbindet. So wurde früher das kostbare Steinsalz von hier nach da gebracht, woher sie ihren Namen hat. Heute handelt man alles Mögliche über sie, doch ihren Namen hat sie behalten. Damals wie heute sind Wegelagerer ein ernstes Problem. In letzter Zeit werden auch Karawanen mit beträchtlichem Geleitschutz überfallen und ausgeraubt. Deswegen werden wir uns um dieses Problem kümmern. Fragen?»


    Rex meldete sich. «Ist bekannt, wer die Händler überfällt?»


    Garlyn nickte. «Orks.»


    Rex spuckte aus. «War ja klar.»


    Ich meldete mich und konnte nur mit Mühe warten, bis ich aufgerufen wurde. «Das muss irgendeine Drecksrotte sein. Nur wenige Rotten überfallen Menschen! Was Orks brauchen, organisieren sie sich selbst, und was sie sich nicht organisieren können, das brauchen sie auch nicht.»


    «Wie sieht es aus mit Gold? Geschmeide?», warf Rex ein. «Bei dem ganzen Schmuck, den ihr ständig tragt, macht ihr den almanischen Prinzessinnen Konkurrenz. Und soweit ich weiß, kann nur eine einzige Rotte Metalle schmelzen und verarbeiten.»


    Das konnte so nicht stehen bleiben. «Das hat nichts mit Eitelkeit zu tun! Jedes Schmuckstück hat rituelle Bedeutung und ist entweder ein Fluchbrecher oder eine Trophäe. Irgendeine fremde Kette mit bunten Edelsteinen würde keinen Zweck erfüllen!»


    «Außer als Andenken an den erfolgreichen Überfall.»


    «Ruhe.» Garlyn deutete auf Rex. «Solchen Mist will ich kein weiteres Mal hören. Ob Orks ob Menschen, ob Trolle ob Alben, alle Völker sind gleich verdorben. Es gibt niemanden, der gut und reinen Herzens ist. Hier ist das egal! Hier sind wir alle Eisenfalken!»


    «Aber du musst zugeben, dass der Norden schon immer mit plündernden Orkbanden zu tun hat», murrte Rex.


    «Das sind meistens junge Krieger, die bloß ein bisschen Kampferfahrung und ihre ersten Trophäen sammeln wollen», warf ich ein.


    «Da bin ich ja beruhigt», ätzte Rex. «Unter diesen Umständen überlasse ich ihnen liebend gern meinen Skalp!»


    «Ich sagte Ruhe», donnerte Garlyn. «Rexar und Serak, ihr habt heute großen Putzdienst fürs unaufgeforderte Sprechen und für das Ignorieren des Befehls, zu schweigen. Was Serak betrifft, so darf er sich morgen früh außerdem noch die Strafe für seine Trunkenheit abholen kommen. Trupp eins macht sich jetzt fertig zum Garnisonsdienst laut Plan, Trupp zwei rüstet sich aus für einen Kontrollmarsch. Ausführung!»


    Während meine Kameraden sich für den Kontrollmarsch versammelten, trottete ich zurück in die Baracke, legte meine Rüstung und Bewaffnung ab, mit Ausnahme des Kampfmessers, das immer am Gürtel blieb, und holte mir das Putzzeug.

    Der kalte Wind biss uns ins Gesicht, als Rex und ich uns widerwillig durch den Matsch schleppten, beide mit Schaufeln, Eimern und Besen bewaffnet statt mit Schwertern und mit einer Menge ungesagter Worte.


    Wir begannen, den Schlamm beiseite zu schaben, damit die Pfützen abflossen, während Rex unaufhörlich vor sich hin fluchte. «Diese verdammte Kälte frisst einem die Knochen auf», murrte er, während er energisch mit seiner Schaufel über den Boden fuhr.


    Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Sein Ärger tat mir gut. «Vielleicht ist es das Beste, wenn du dich bewegst, Rex. Dann wird dir warm.» Er warf mir einen giftigen Blick zu, aber ich ignorierte ihn.


    Die Arbeit war zäh und undankbar. Unsere Stiefel schmatzten bei jedem Schritt, und der Schlamm klebte an manchen Stellen so hartnäckig, dass es eine Ewigkeit dauerte, ihn loszuwerden. Doch immerhin hörten wir auf zu steiten. Wir konnten unsere Wut auf die Arbeit richten, statt aufeinander.


    Die Latrinen waren unser nächstes Ziel. Der Gestank war überwältigend, und selbst durch die kalte Winterluft krochen die fauligen Dämpfe in unsere Nasen. Mit zusammengebissenen Zähnen machten wir uns an die Arbeit, säuberten die Sitzflächen der Plumpsklos und schütteten Kalk hinein, um die schlimmsten Gerüche abzutöten.


    Weiter ging es zu den Ställen, wo die wenigen Pferde lebten, die unsere Söldnergruppe besaß. Eins gehörte unserem Kommandanten, die anderen dienten den Kundschaftern und Meldereitern. Die Tiere hatten den Boden in eine schmierige, stinkende Masse aus Mist und Matsch verwandelt. Mit schweren Gabeln und Schaufeln bewaffnet, räumten wir den Dreck beiseite.


    Wir verteilten frisches Stroh, um den Stallboden einigermaßen trocken zu halten, und füllten die Tränken der Pferde auf.


    Am Ende des Tages, als Alvashek im Westen langsam hinter den schiefen Giebeln von Unwain versank und das Lager in ein düsteres Zwielicht tauchte, ertönte das Horn. Unsere Kameraden kehrten Heim. Wir schleppten wir uns müde und dreckverkrustet zurück zum Drillplatz. Der kalte Wind hatte nicht nachgelassen. Die Stiefel der heimkehrenden Kameraden schmatzten im Schlamm, doch im Gegensatz zu uns, die wir den Tag im Dreck und Gestank der Latrinen verbracht hatten, waren sie erschöpft, aber zufrieden. Ihre Gesichter waren gerötet von der Anstrengung und der Kälte, doch sie lächelten, weil es wieder Arbeit gab und damit Sold. Der Wirt des „Heulenden Hundes“ würde heute Abend einige Humpen mehr ausschenken müssen. Zudem schien die Arbeit nicht allzu schwer gewesen zu sein.


    «Wahrscheinlich schrecken wir sie durch unsere Gegenwart ab», meinte Cherax. «Orks belassen es meist bei Plünderungen, kleinen Scharmützeln und vermeiden große Gefechte. Da wird in Zukunft nicht viel passieren. Sie werden nach leichterer Beute Ausschau halten.»


    «Stimmt wohl», murrte ich. «Aber Garlyns roter Schopf wäre eine großartige Trophäe.»


    Cherax brach in schallendes Gelächter aus, die anderen stimmten ein. Anscheinend hielten sie das für einen Witz.


    Die Männer, die Garnisonsdienst gehabt hatten, trudelten aus den nun nicht mehr ganz so schlammigen Straßen des Söldnerlagers ein. Wenig später erschien unser Kommandant und die Gespräche verstummten. Er ließ den Blick über die glücklichen Söldner schweifen. Im krassen Gegensatz dazu standen Rex und ich am Rand des Trupps, schmutzig und mit dem widerlichen Gestank der Latrinen und des Stallmistes behaftet. Unsere Hände waren aufgesprungen von der Kälte und dem unnachgiebigen Schrubben, die Gesichter versteinert.


    «Seht euch die Helden des Tages an», rief er. «Damit ist die Schuld von Rex abgegolten. Du beteiligst dich morgen regulär beim Garnisonsdienst von Trupp zwei, während Trupp eins auf Kontrollmarsch geht.»


    «Jawohl, Kommandant», maulte er.


    «Wir werden künftig jeden Tag wechseln. Erst geht der eine Trupp auf Kontrollgang und der andere macht Garnisonsdienst, danach umgekehrt. Was Serak betrifft, so habe ich für ihn eine weitere Spezialaufgabe, um ihm den übermäßigen Durst für jetzt und alle Ewigkeit auszutreiben.»


    «Jawohl, Kommandant», sagte ich. Von der Kälte war meine Stimme rau.


    «Morgen früh kommst du nach dem Appell noch einmal zu mir, dann besprechen wir deine Pflichten. Wegtreten!»


    Damit zerstreute sich der nasse, durchgefrorene Haufen. Sehnsüchtig erinnerte ich mich an die heiße Badegrotte im Herzen der Bruthöhlen, wo man sich von der Kälte des Winters erholen konnte. Hier gab es so etwas nicht.


    «Was machst du heute Abend?», fragte Mauli. «Kommst du mit in den Heulenden Hund?»


    «Ich bin erledigt», murrte ich. «Ich will einfach nur schlafen.»


    «Rex kommt auch mit, obwohl er die gleiche Arbeit hatte.»


    «Ein Grund mehr, sich ins Bett zu verkriechen. Gute Nacht.»


    Während ich mit bettfertig machte, hörte ich, wie die Kameraden plaudernd und lachend aufbrachen. Das war kein gutes Gefühl, aber ich wusste nicht, welche Schikanen Garlyn sich für den morgigen Tag für mich überlegt hatte. Er konnte recht kreativ sein, und ich wollte danach noch aufrecht gehen können. Ich zog die Wolldecke bis zum Hals und presste meine Füße gegen den heißen Stein, den ich mit ins Bett genommen hatte, während die Stimmen meiner Kameraden sich entfernten. Ich schloss die Augen und wünschte mir Schnaps.


    Bitte melde dich an, um diesen Anhang zu sehen.


    Selbstgeschriebener Song zur Einstimmung:


    Heart of the Tundra

    ©Baxeda


    Lyrics:

    Prolog


    Unwrain, ein Kaff im Nirgendwo, war nicht für sein schönes Wetter bekannt. Schneeregen peitschte in unsere Gesichter und bedeckte unsere Kapuzen und Wolljacken mit kaltem Matsch, so dass wir uns beeilten. Wenig später trat ich gemeinsam mit zwei Dutzend meiner Kameraden in die dunkle Holzhütte. Anderswo hätte man eine Kneipe wie diese wegen der völligen Abwesenheit von Hygiene geschlossen, aber in dieser Gegend war der «Heulende Hund» eine gute Adresse. Die Brandflecken auf den Holzdielen, die dreckigen Bleiglasfenster und der Kohlgestank aus der Küche verrieten, dass die Kneipe nicht zur gehobenen Gastronomie gehörte.


    Die wenigen Gäste blickten sich nach uns um. Sie verfolgten jede unserer Bewegungen, sei es wegen unseres martialischen Auftretens, wegen unseres Körpergeruchs oder aufgrund unserer schieren Menge. So viele Gäste auf einmal kannte man in Unwrain nicht, einem Ort, der so klein war, dass er eigentlich keinen eigenen Namen verdiente. Doch heute genoss die schäbige kleine Kneipe am Arsch der Welt die fragwürdige Ehre, von zwei Dutzend Söldnern verstopft zu werden, die sich um die wenigen Tische quetschten.


    «Mahlzeit», grüßte ich die fremden Gäste, während ich nach hinten zum Tresen ging und für alle die Bestellung aufgab. Das ging schneller, als wenn jeder einzeln wählte, da am Ende sowieso alle dasselbe tranken. Etwas anderes als Bier und Kohlsuppe stand nicht zur Auswahl, und natürlich entschieden sich alle für das Bier.


    Die beiden Schankmädchen waren sichtlich überfordert, der Wirt gereizt, doch am Ende standen die bestellten Biere auf den Tischplatten. Jeder von uns griff nach seinem Krug und alle Blicke richteten sich erwartungsvoll auf mich.


    Ich stand auf und hob mein Trinkgefäß, ließ den Blick betont feierlich über die Runde schweifen. Da ich unter Orks aufgewachsen war, bedeutete mir ein Jubiläum nichts. Das bloße Verstreichenlassen von Zeit war wenig ruhmvoll. Doch nachdem es mir den Ruf eines Geizhalses beschert hatte, weil ich das fünfjährige Jubiläum ohne Feier hatte ins Land ziehen lassen, versuchte ich mich zum zehnjährigen daran, es wieder gut zu machen, obwohl mein letzter Sold ausgeblieben war.


    «Auf zehn weitere Jahre mit euch, ihr elenden Drecksäcke.»


    «Auf zehn weitere Jahre!», brüllten die Söldner und dann tranken sie gierig.


    Ich nahm ebenfalls einen beherzten Schluck und stellte fest, dass das Bier heute krümelig schmeckte. Das war mir egal, ein Besseres gab es nicht und es würde seinen Zweck erfüllen. Mit einem Rülps pflanzte ich mich wieder auf meinen Hocker.


    Mauli und Cherax grinsten mich an, ich grinste zurück. Mauli war sichtlich älter geworden, seit wir uns vor zehn Jahren das erste Mal begegnet waren. Sie besaß nur noch die Hälfte ihrer Zähne und klagte über etliche Zipperlein, doch Cherax als Troll hatte lediglich ein paar Narben mehr als früher. Was mich betraf, musste ich momentan irgendwo zwischen fünfundzwanzig und dreißig sein und hatte damit noch etwas Zeit, bis das Alter sich bemerkbar machen würde.


    «Zehn Jahre, Serak», sagte Cherax bedeutungsschwer. «Wo ist nur die Zeit geblieben?»


    «Was dich betrifft - versoffen und verhurt», antwortete Mauli trocken. «Andere Leute haben derweil hart gearbeitet. Ich weiß sehr gut, wo all die Zeit geblieben ist. Ich spüre die Jahre in jedem Knochen.»


    «Kein Streit heute, ich verbiete das», stellte ich klar.


    «Mauli kann nicht anders», maulte Cherax. «Wenn die eines Tages unter der Erde liegt, muss man ihr Mundwerk extra totschlagen, damit es aufhört, sich über mich zu beschweren.»


    «Schnauze jetzt», sagte ich und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. «Heute wird gesoffen. Was ihr danach macht, ist eure Kanne Bier, aber jetzt wird gefeiert. Auf mich!» Ich hob den Krug.


    «Auf dich», stimmten Mauli und Cherax ein, wir tranken und damit herrschte vorerst wieder Tischfrieden.


    Während Mauli und Cherax sich mit den anderen am Tisch unterhielten, trank ich schweigend und versank in meinen Gedanken. Vielleicht lag es daran, dass ich, wie Mauli, nur mit einer kurzen Lebensspanne geschlagen war. Auch ich konnte die Zeit nicht einfach vergessen, jedes Jahr wog kostbar. Umso wichtiger war, dass ich mein Leben in guter Gesellschaft verbrachte.


    Das war nicht immer so gewesen. In den Bruthöhlen von Shakorz hatte ich das Leben eines Sklaven geführt, obwohl ich mir die Narben der Rotte verdient hatte. Irgendwann war es zu viel geworden, ich war in die Fremde geflohen, um mein Glück unter Menschen zu versuchen. Doch auch dort fand ich keinen Anschluss, ich war mit den komplexen Gesetzen der Freien Naridischen Republik überfordert und endete als Bettler und Dieb. Erst unter der Obhut des Raubritters Dolwin von Niederau, der das Leben eines Gesetzlosen führte, fand ich in der Ruine seiner Burg einen Ort, den ich Zuhause nennen konnte. Er lehrte mich lesen, schreiben, rechnen, kämpfen und ich zog mit glühendem Herzen für ihn in den Kampf. Doch nichts währt ewig und nichts Gutes währt überhaupt. Dolwin und seine Räuber wurden gehenkt, ihre Familien flohen in den Norden. Ich aber schloss mich einer Söldnerbande an.


    Garlyn Meqdarhan besaß nicht den Edelmut von Dolwin, er war ein skrupelloser, hinterlistiger Fuchs, und doch bot er mir eine neue Heimat. Bei den Eisenfalken war ich nicht Serak der Halbork, das erbärmliche Zwischenwesen, weder Ork noch Mensch, sondern hier war ich ein Krieger unter Kriegern. Wir teilten Suppe und Schnaps, wir schliefen unter einem Dach, wir lachten und weinten gemeinsam. Jede Mission, die wir unternahmen, schweißte uns fester zusammen. Ich war vor zehn Jahren noch ein junger Halbork auf Sinnsuche gewesen. Was ich am Ende gefunden hatte, waren Blut, Schmerz und einen verdammt guten Grund, weiterzumachen. Denn in dieser verfluchten Welt aus Dreck und Verrat, was könnte befriedigender sein, als den Göttern, die auf uns spuckten, mit einem höhnischen Lachen den Mittelfinger zu zeigen?


    Die zehn Jahre führten uns von einem Schlachtfeld zum nächsten Mein erstes großes Gefecht unter dem Eisenfalken fand damals in Blutstein statt – eine befestigte Siedlung voller Vogelfreier, die ihrem Namen alle Ehre machte, nachdem wir durchgezogen waren. Wir verloren die Hälfte unserer Männer, was für die Überlebenden den doppelten Sold bedeutete, und plünderten hemmungslos. Alles hat seine Vorteile.


    Am meisten aber blieb mir der verfluchte Auftrag im Nebelmoor im Gedächtnis, eine Sumpflandschaft so dicht und heimtückisch, dass selbst professionelle Fährtensucher darin verirrten. Ausgerechnet an diesem unwirtklichen Ort versteckte sich ein Trupp abtrünniger Soldaten, die wir auf Befehl eines naridischen Feldherrn aufreiben sollten. Doch nicht nur diese Mistkerle machten uns das Leben schwer, sondern auch das Sumpffieber, das in dieser verfluchten Brühe lauerte. Es schwächte die Abtrünnigen, so dass wir am Ende einen äußerst kläglichen, aber heiß ersehnten Sieg errangen. Für jeden Abtrünnigen, ob lebend oder tot, winkte uns ein dickes Kopfgeld. Doch auch von uns erwischte das Sumpffieber einige, und als fauliges Sahnehäubchen des Ganzen wurden wir auch noch um den Sold geprellt. Für all die Mühen, all die Toten, standen wir am Ende doch mit leeren Händen da.


    Das war der Grund, warum ich heute bloß einen Teil meiner Kameraden einladen konnte, aber besser als gar keine. Es gab kein Problem, das ich für unlösbar hielt, ich war auch im Kopf ganz ein Kämpfer geworden. Früher oder später würde es einen neuen Auftrag geben und neues Geld, bis dahin halfen Bier und Schnaps, die Flaute zu überstehen. Ja, auch Garlyn hatte mich vieles gelehrt.


    Die Krüge klimperten, Karten raschelten. Cherax versuchte sein Glück bei einem Schankmädchen und Mauli steckte sich eine Pfeife an. Die Ärmste ging – wie immer – leer aus, als die Pärchen sich für die heutige Nacht formierten. Das war gut für mich, denn so war sichergestellt, dass sie mir beim Trinken bis zum Schluss Gesellschaft leisten würde. Ich erzählte ihr einen Witz, bei dem Trolle äußerst schlecht wegkamen, sie lachte und wir stießen an.


    Alles in allem war ich mit meinem Leben zufrieden. Mit jedem Schwertstreich kämpfte ich nicht nur für bare Münze, sondern auch für die Genugtuung, dass jeder durch meine Hand fallen konnte, der mir dumm kam. Ich war nicht mehr der Jüngling, der herumgeschubst wurde, ich war ein ausgewachsener Krieger, dem man Respekt zollte. Ich war der Mann, der ich immer sein wollte.


    War ich glücklich?


    Die ehrliche Antwort lautet: Nein.


    Auch wenn ich es nie zugegeben hätte, vermisste ich den orkischen Alltag in Shakorz, die allgegenwärtigen Glücksbringer, den unbeugsamen Stolz der Krieger, den Geruch feuchter Erde und vor allem meinen sensiblen Milchbruder Katax. Kein Bier, kein Wein, kein Schnaps konnte mich mein Heimweh vergessen lassen. Das war einer der Gründe, warum ich mehr trank, als gesund für mich war. Nicht jeder Schmerz konnte weggegrinst werden.

    Heart of the Tundra

    Trennungshelfer


    Ein wüstes Fluchen riss mich aus dem Schlaf. Rex durchwühlte seine Taschen und verteilte alles auf dem Boden, als er nach dem kleinen Silberrelikt suchte. Als er es nicht fand, zog er sich auch Nias Gepäck heran, um jedes Fach und jede Seitentasche zu kontrollieren. «Nia, du hast mir etwas zu erklären. Wo ist das Relikt, das ich in meiner Hosentasche hatte?»


    Kurzerhand schüttete er ihren Rucksack aus.


    Nia sah ihm verständnislos zu. «Wovon redest du, Rex? Ich weiß nichts von einem Relikt. Und ich habe auch nichts aus deiner Hosentasche genommen.»


    «Lüg mich nicht an», brüllte er. «Relikte lösen sich nicht einfach in Luft auf.»


    «Ist es möglich, dass du es schlichtweg verloren hast?», fragte sie.


    «Hältst du mich für blöd?», schnauzte er. «Meine Hosentaschen sind verschließbar. Ich transportiere ständig Kleinkram darin und nie ist etwas herausgefallen. Du hast mir das Relikt gestohlen!»


    Nia hob abwehrend die Hände. «Du leidest unter Verfolgungswahn, wie immer, wenn du nach einem Tavernenbesuch wieder nüchtern wirst. Ich habe dir nichts gestohlen. Ich liebe dich mehr, als du dir vorstellen kannst.»


    In dem Moment fand Rex das Relikt mitten in ihrem Werkzeug liegen. Na so was aber auch. Triumphierend hielt er die kleine Silberkugel in die Luft. «Das glaube ich dir nicht, Nia», sagte er mit erstickter Stimme. «Du hast mich nie geliebt. Du hast mich nur benutzt, weil du eine schlechte Reliktjägerin bist!»


    «Jetzt hört es aber auf», schrie Nia. Doch nun schien ihr die gefährlich angespannte Körperhaltung von Rex aufzufallen, denn sie wich ein Stück zurück. Einen Reliktjäger, der einen derart anstarrte, sollte man nicht weiter reizen. Leise fügte sie hinzu: «Das ist alles nicht wahr. Ich liebe dich. Ich liebe dich wirklich, Rex. Bitte glaube mir.»


    «Nein, Nia», grollte er und verpasste ihrem Rucksack einen Tritt. «Das glaube ich dir nicht länger. Du hast mich für schnelles Geld verraten, hast mein Vertrauen ausgenutzt. Dafür wirst du bezahlen.»


    Rex griff nach Nias Eisenarmbrust, die schussbereit neben ihrem Schlafplatz lag, zielte auf sie und drückte ab. Es knallte und der Bolzen zischte knapp über Nias Schulter, um gegen den Fels zu prallen. Steinchen spritzten und prallten klimpernd von den Eisenteilen der Rüstungen ab. Nia ließ alles stehen und liegen. Sie rannte, was ihre Beine hergaben, das steinerne Band entlang und dann eilte sie polternd die Eisentreppe hinauf. Rex folgte ihr ein Stück und verschwendete zwei weitere Bolzen, ehe er wutschnaubend zu seinem Lager rückkehrte.


    «Na, wenigstens ist das Relikt wieder aufgetaucht», sagte ich unschuldig.


    «Halt dein Maul», brüllte Rex mich an, «halt einfach dein Maul!» Dann sackte er in sich zusammen und vergrub heulend die Maske in seinem gesunden Arm.


    Die beiden Reliktjäger, die mit uns am Tisch gesessen hatten, lagerten auf meiner anderen Seite. Unweigerlich hatten sie den Streit mitbekommen. Sie packten guter Dinge ihre Sachen. Sie stiegen ebenfalls die Eisentreppe hinauf, ohne ihre gute Laune auch nur im Mindesten zu verschleiern. Es fehlte nur, dass sie ein Liedchen pfiffen. Die beiden erinnerten mich an zwei Aasfresser. Rex ließ sie ziehen, so wie er auch Nia hatte ziehen lassen. Er würdigte sie keines Blickes und sagte nichts. Noch immer wurde er von einem heftigen Gefühlsausbruch durchgeschüttelt. Ich ließ ihn in Ruhe und rauchte. Als er wieder vernünftig atmen konnte, reichte ich ihm auch eine Rauchstange.


    «Danke, Sodo», sagte er erstickt. «Du bist ein wahrer Freund.»


    «Keine Ursache, Rexi. Dafür sind Freunde da.» Er würde nie verstehen, wie ich diesen Satz meinte.


    Gemeinsam rauchten wir und starrten in den Abgrund vor unseren Füßen.


    Ende


    Zurück im Riss


    Immerhin fiel Rex nun auf, dass ich keinen Platz mehr am Tisch hatte, rückte etwas zur Seite und winkte mich dazu. Jetzt saßen wir zu fünft um das winzige Möbelstück.


    «Wieso nennt der Kerl dich eigentlich Rexi?», fragte Nia leise.


    Aber Rex lachte nur und griff nach seinem Schnaps. Nia starrte ihn noch eine Weile fordernd an, um eine Antwort zu erzwingen, doch weil er hartnäckig schwieg, widmete sie sich schließlich wieder den anderen beiden. Rex konnte stur sein, das hatte ich auch schon erlebt, doch meistens war er umgänglich. Für ihn hörte der Spaß erst dann auf, wenn er sich verraten und verlassen fühlte, doch ansonsten war er kaum außer Fassung zu bringen. Er beobachtete mit bemerkenswerter Ruhe, wie seine Freundin vor seinen Augen mit den beiden Reliktjägern scherzte. Den zwei Burschen war augenscheinlich schnurz, ob Nias Partner mit am Tisch saß, während sie mit unverhohlenem Interesse ihre Chancen ausloteten. Wie weh Nia dem armen Rex damit tat, bemerkte sie nicht. Vielleicht war es ihr auch schlichtweg egal oder sie quälte ihn mit Absicht, um ihm zu zeigen, dass sie auch einen anderen Reliktjäger haben konnte oder gleich ein Doppelpack. Auch wenn sie eine Frau war, durfte man nicht vergessen, dass sie vor allem eines war: eine Reliktjägerin.


    Nia bemerkte irgendwann, dass Rex sie unentwegt beobachtete, und legte ihre Hand auf seine. «Was ist denn los? Du siehst so nachdenklich aus. Ist etwas nicht in Ordnung?»


    «Ich bin nur ein bisschen müde. Es war ein langer Tag.» Seine starken Schmerzen verschwieg er. Seine Sorgen ebenfalls.


    «Wir haben viel geschafft», pflichtete Nia ihm bei. «Wir können stolz auf uns sein.»


    «Ja, wir ergänzen uns gut.»


    «Das finde ich auch, Rex. Wir sind ein gutes Team. Und so viel mehr als das.» Ihre Finger schlossen sich fester um seine Hand.


    «Ja, das sind wir», wiederholte er so sanft, dass ich unwillkürlich das Gesicht verzog.


    «Du liebst mich, nicht wahr, Rex?», säuselte Nia.


    «Natürlich liebe ich dich. Wie könnte ich dich nicht lieben? Du bist die schönste, die klügste, die mutigste Frau, die ich je getroffen habe. Du bist mein Leben, Nia. Mein Licht in der Dunkelheit und ich werde dich nie verlassen.»


    Mir faulten fast die Ohren weg bei dem Gesülze. Ich schlürfte noch einen Schluck pilzig schmeckendes Taudisbräu.


    «Das ist schön, Rex», sagte Nia erleichtert. «Ich liebe dich mehr, als du dir vorstellen kannst. Du bist mein Fels in der Brandung. Ich wünschte, du würdest deine Zweifel vergessen, mir einfach vertrauen und dich in meine Arme fallen lassen.»


    «Ich zweifle nicht, Nia. Ich glaube es dir doch. Ich glaube es dir wirklich.»


    So schnell konnte sich der Sinn eines Mannes wandeln. Rex legte den gesunden Arm um Nia und kuschelte seufzend den Helm in ihren Federkragen hinein. Die anderen beiden Reliktjäger musterten ihn ungerührt. Vielleicht überlegten sie, wie sie ihn loswerden konnten, aber da er seiner Freundin keine Grenzen aufzeigte und ihnen auch nicht in die Quere kam, würde das wahrscheinlich gar nicht notwendig sein.


    «Dann sei glücklich, Rex», sagte Nia. «Lass uns die Nacht genießen und die Welt vergessen. Lass uns heute nur an uns denken. Komm, Rex. Unser Schlafnest wartet.»


    Nia stand auf und zog Rex mit sich. Hand in Hand gingen sie aus der Taverne. Im Gehen schmusten sie. Augenscheinlich waren sie glücklich. Oder vielleicht auch nicht.


    Die zwei anderen Reliktjäger sahen ihnen nach und starrten dann missmutig auf ihre Getränke. Das war wohl nichts gewesen – zumindest nicht heute.


    «Für mich wird es auch Zeit.» Ich erhob mich, klopfte zum Abschied auf den Tisch und ließ die beiden allein zurück. Ich bezahlte und dann stieg auch ich durch den Spalt zurück nach draußen in die Dunkelheit. Im Restlicht, das nach draußen fiel, entzündete ich meine Sturmlaterne, hängte sie an den Rucksack und machte mich auf den Weg.


    Wenn man der Eisentreppe ein Stück hinauf folgte, kam irgendwann ein breites Band in der Felswand, ein Vorsprung, auf dem man bequem gehen konnte. Er führte zu mehreren Felsnischen, in denen die Reliktjäger schliefen, nachdem sie in der Taverne zu Gast gewesen waren. Auch ich hatte dort mein Nest eingerichtet, so dass ich hören konnte beziehungsweise musste, was Rex und Nia nun trieben. Sie gaben sich hemmungslos ihrer Leidenschaft hin und vergaßen für eine Weile alles andere. Fast wäre mich das schlechte Gewissen überkommen, als ich an das gestohlene Relikt dachte. Aber nur fast. Irgendwann kehrte Ruhe ein und auch mir fielen die Augen zu.

    Unter vier Augen


    Wir gingen ein paar Schritte über den Schotterweg am Grund der Schlucht. Ich reichte ihm eine Rauchstange und zündete sie ihm an. Auch ich selbst gönnte mir eine. Da man Gewicht sparen musste, das Rauchen hier unten ein seltener Luxus.


    «Woher kennst du Nia eigentlich?», wollte ich wissen.


    Er nahm einen langen und tiefen Zug, den er sichtlich genoss, bevor er ihn langsam aus seinen Lungen entweichen ließ. «Wir haben uns bei einer Reliktjagd kennengelernt. Es war eine ziemlich große und schwere Cavernia-Klasse. Sie hat sie nicht allein fortbekommen. So habe ich ihr geholfen und wir teilten den Gewinn halbe-halbe. Seither waren wir ein paarmal gemeinsam unterwegs. Es ist praktisch, nicht immer wochenlang allein zu sein. Und irgendwie auch schön, nach einem anstrengenden Tag nah beieinanderzuliegen.»


    Armer Rex. «Was meinst du, wie sie für dich fühlt?», fragte ich offen. «Glaubst du, dass sie dich liebt?»


    Es wippte ein wenig auf den Füßen und nahm noch einen Zug, ehe er antwortete. «Ich möchte es gern glauben. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr vertrauen kann. Ich habe Angst, dass sie mich eines Tages hintergeht oder einfach verlässt, wenn sich eine bessere Gelegenheit für sie ergibt. Ich habe Angst, dass sie mich nur benutzt. Und dass sie mich nicht wirklich liebt.»


    «Und was ist mit dir?», fragte ich. «Was fühlst du für sie?»


    «Ich liebe sie, aber ich bin vorsichtig. Ich versuche, ihr nahe zu sein, weil mir das guttut, aber ich halte trotzdem eine gewisse Distanz. Es ist schwer zu beschreiben und noch schwerer zu ertragen. Wir arbeiten zusammen, aber ich überprüfe manchmal, wohin sie geht und mit wem sie sich trifft. Ich versuche, ihr zu vertrauen, aber du hast ja gesehen, wie sie mit den anderen Reliktjägern umgeht. Es ist schwer zu sagen, ob sie nur Spaß macht.»


    «Und warum hast du ihr nicht gesagt, dass sie dir mit dem Verband den Arm abschnürt?»


    Er versuchte, seine Sorgen weg zu grinsen, ich sah sein lückenhaftes Gebiss aufblitzen. Dann lachte er leise und schüttelte den Kopf. Den verletzten Arm hielt er angewinkelt und fest an den Körper gepresst, ein Zeichen großer Schmerzen. Ich griff wortlos seinen Ärmel und zog ihn lang, bis er vorsichtig den verletzten Arm aus der Jacke gefädelt hatte. Dann löste ich den Verband noch einmal, der viel zu fest gewickelt war und ihm in die Wunde schnitt.


    «Ich weiß, du warst deine ganze Kindheit lang allein», sagte ich, während ich die grauenvoll behandelte Wunde mit einem vernünftigen Druckverband versorgte. «Und du magst es nicht, allein durch den Taudis zu wandern. Aber muss es ausgerechnet diese Frau sein?»


    «Es gibt nicht viele Frauen, die wochenlang in irgendwelchen Höhlen herumkriechen würden. Nia begleitet mich fast jedes Mal und sie beschwert sich nie. Das will ich nicht einfach wegwerfen.»


    Rex hatte extreme Angst, erneut verlassen zu werden, so wie damals als Kind von seinen Eltern. Er neigte zum Klammern und darum verzieh er fast alles. Nia wusste das. Der Verband war fertig, Rex zog seine Jacke wieder richtig an. Wir rauchten noch zu Ende und warfen die Stummel zwischen das Geröll zu den zehntausend anderen Stummeln.


    «Hey, Rexi.»


    «Ja?»


    Ich umarmte ihn fest.


    Er guckte verdutzt, ertrug aber meinen Trost. Ich klopfte ihn sanft ab. Dass ich auch sein Gesäß bedachte, durfte er deuten, wie er wollte. Währenddeessen ließ ich unbemerkt das silberne Relikt aus seiner Hosentasche in meine Hand wandern. Dann gab ich Rex wieder frei und wir kehrten in den Riss zurück.

    Nia Nachtigall


    Der Gangart nach vermutete ich eine Frau, auch wenn man das bei jemandem in Rüstung nicht immer eindeutig feststellen konnte. Ihr Hals wurde von einem üppigen Kragen aus braunen Vogelfedern gewärmt. Zu meinem Missfallen marschierte sie schnurstracks an unseren Tisch, quetschte sich zwischen Rex und mich, obwohl da überhaupt kein Platz war, und pflückte mir das Tuch aus der Hand. «Danke, das übernehme ich.»


    «Was zum Taudis?!», rief ich in einer Mischung aus Empörung und Verstörtheit.


    Sie schnaubte nur und setzte, ohne aufzusehen, meine Arbeit fort.


    Rex grinste verschämt. «Darf ich vorstellen? Nia Nachtigall, meine, äh ... Partnerin. Nia, das ist Sodo, ein alter Bekannter.»


    So, jetzt war ich also plötzlich kein Freund mehr, sondern nur noch ein Bekannter.


    «Aha», sagte sie.


    Verärgert beobachtete ich ihr Treiben, während Rex stolz vor sich hin grinste.


    Das männliche Pärchen gegenüber fühlte sich durch die unerwartete Gegenwart einer Frau anscheinend genau so gestört wie ich. Sie zahlten und gingen. Nia brachte alles durcheinander.


    «Aber genug geplaudert», sagte Rex, und würgte damit seine Geschichte ab, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Zeig mir, was du gefunden hast.» Er beugte sich über den Tisch, um an Nia vorbeisehen zu können.


    «Na gut», murrte ich. «Schau dir das hier mal an.» Ich holte eine kleine Kugel aus Metall heraus, die mit seltsamen Symbolen bedeckt war. Sie glänzte im Licht und schien leicht zu vibrieren.


    Er nahm die Kugel in die freie Hand und drehte sie hin und her, während er versuchte, die Symbole zu entziffern.

    «Tamjidische Majuskeln», klärte ich ihn auf. «Aber in einer Sprache, die ich nicht kenne. Frag mich also nicht, was sie bedeuten. Kannst du damit etwas anfangen?»


    Er zuckte zusammen, als Nia kräftiger an seiner Wunde rieb. Eine Weile ertrug er stumm den Schmerz, dann hielt er die Kugel wieder ins Licht. «Keine Korrosion. Das könnte Silber sein.»


    «Das dachte ich auch, aber es ist wahrscheinlich zu leicht dafür. Man müsste es alchemistisch überprüfen.»


    «Was soll es denn sonst sein, so ganz ohne Korrosion?»


    «Keine Ahnung, vielleicht eine Legierung, oder es könnte auch nur mit Silber beschichtet sein. Es ist auf jeden Fall ein interessantes Objekt. Wenn es erst bestimmt und klassifiziert wurde, dürfte es einiges wert sein. Es braucht noch ein wenig Vorarbeit für einen lukrativen Verkauf, aber es hat Potenzial. Wie sieht es aus, hast du Interesse?»


    Wir wurden uns schnell handelseinig. Für einen fairen Preis wechselte mein Relikt seinen Besitzer. Ich sparte mir die mühsame Recherche und konnte gleich wieder hinabsteigen, um nach weiteren Objekten zu suchen. Rex, der selten lange unten bleiben wollte, konnte seinerseits an der Oberfläche einen guten Gewinn erzielen.


    Nach dem Handel ging ich kurz mal austreten und mir am Tresen ein neues Bier holen.


    Als ich wiederkam, war der Arm von Rex stümperhaft mit dem Tuch verbunden. Das hätte ich besser hinbekommen. Er und Nia hatten inzwischen eine großzügige Menge an leeren Bechern vor sich stehen.


    Nia war in einer ausgelassenen Stimmung. Sie schlürfte einen Becher Wein mit dem Trinkrohr und lachte und plauderte mit zwei weiteren Reliktjägern, von denen einer plötzlich auf meinem Platz saß. Der zweite blockierte den letzten freien Stuhl an diesem Tisch. Verärgert nahm ich an dem Tisch gegenüber platz. Abserviert von Nia Nachtigall. Von Rex herabgewürdigt zu einem Bekannten. Ich senkte den Blick. Auf die Tischplatte hatte jemand aus einem Bierfleck ein Herz gemalt.


    Nia erzählte den zwei Neuen gerade von ihren Abenteuern und Entdeckungen, von den Gefahren und Schätzen, die sie mit Rex in den Tiefen des Taudis gefunden hatte. Dabei neckte sie die beiden immer wieder mit anzüglichen Sprüchen.


    Rex hingegen brütete in einer nachdenklichen Stimmung vor sich hin. Er trank einen Becher Bier und beobachtete missmutig, wie Nia mit den zwei anderen Reliktjägern sprach und lachte.


    Auch mich brachte der Anblick zum Nachdenken. Ich fragte mich, was Nia wirklich dachte und fühlte – und was Rex wirklich wollte und brauchte.


    «Rexi, mein alter Freund», sagte ich, «auf ein Wort.» Ich wies mit dem Kopf in Richtung des Felsspalts. Er erhob sich und wir quetschten uns nach draußen.

    Ankunft im Riss


    Nachdem ich einige lange und anstrengende Tage im Taudis verbracht hatte, erreichte ich den Riss. Die Kneipe war heute ziemlich voll. An den Möbeln, die aussahen, als entstammten sie einem Schrottplatz, saßen dicht gedrängt die Reliktjäger. Ich sah einige alte Bekannte, aber auch Kollegen, die mir bisher noch nicht begegnet waren.


    Ich drängte mich zum Tresen und bestellte mir ein Bier. Dabei spürte ich ihre Blicke auf mir. Einige waren neugierig, andere misstrauisch, wieder andere feindselig. Ich ignorierte sie und quetschte mich an einen schiefen kleinen Tisch. Dort schlürfte ich mein Bier durch eines der eisernen Trinkröhrchen, wie sie in Reliktjägerkneipen zu den Getränken ausgegeben wurden, damit man seine Maske nicht abnehmen musste.


    Es war ein selbst gebrautes Bier, das Zorn aus verschiedenen Zutaten herstellte, die er im Höhlenlabyrinth fand. Er nannte es einfallsreich «Taudisbräu» und behauptete, dass es die beste Medizin für einen Reliktjäger sei. Er sagte, es würde Kraft und Mut verleihen, um die Gefahren der Tiefe zu überstehen. Er sagte auch, dass es den Reliktjäger helfen würde, ihre Schmerzen und Sorgen zu vergessen. Und jeder, der den einbeinigen und einarmigen Wirt sah, der seine letzten Jahre im selbstgewählten Exil der Tiefe verbrachte, erkannte, dass Zorn wusste, wovon er sprach. Er hatte viele Stammkunden, die sein Bier liebten und lobten. Natürlich gab es auch unzufriedene Kunden, die es widerwärtig fanden, was an den eigenwilligen Zutaten lag. Zorn kümmerte sich nicht um sie und schenkte ihnen kein Bier mehr aus. Er war stolz auf sein Bier, und er wollte es nicht ändern.


    Ich blickte mich suchend um. Der Jäger, mit dem ich mich treffen wollte, war noch nicht eingetroffen. So vertrieb ich mir die Zeit damit, die anderen zu beobachten und ihren Gesprächen zu lauschen. Die Kneipe mit ihren natürlichen Steinwänden sah aus wie eine gemütliche Höhle. Der Boden bestand aus Sand, der mit unglaublich staubigen Teppichen bedeckt war. Als Zimmerdecke diente ein Metallgerüst, an dem eine einzelne flackernde Sturmlampe hing, die zwischendurch immer mal wieder ausfiel. Darüber verlor sich die Felsspalte in ewiger Dunkelheit.


    Es war eng im Riss, man konnte kaum gehen, ohne jemandem mit dem Messergriff am Gürtel eine zu verpassen oder mit seinem Hintern einen Becher von einem Tisch zu reißen. Es blieb nicht viel Raum für Individualdistanz. Die meisten meiner Rivalen waren Einzelgänger und man nahm die erzwungene Nähe nur widerwillig hin. Doch mir gegenüber saßen zwei Reliktjäger in stummer, beinahe schon harmonischer Eintracht nebeneinander. Mit ihren behandschuhten Fingern schrieben sie sich geheime Botschaften in den Dreck auf den Tisch, die sie gleich wieder verwischten. Sie gehörten vermutlich zu jenen, die im Taudis für immer ihr Refugium gefunden hatten und überhaupt nicht mehr an die Oberfläche zurückkehrten.


    Ein Beben erschütterte das Gestein, der Eisenstuhl vibrierte unter mir. Die Gäste der Kneipe blieben ruhig und warteten ab. Jeder Reliktjäger kannte die unterirdischen Erschütterungen, die einer der zahllosen Gründe waren, einen Helm zu tragen. Die Sturmlaterne flackerte und fiel für einen Moment komplett aus. Für zwei Atemzüge saßen wir in vollständiger Finsternis.


    Als das Licht zurückkehrte, knirschte und ächzte es im Eingang. Ich wandte den Kopf. Ein weiterer Gast quetschte sich durch die Gesteinsspalte, welcher die Kneipe ihren Namen verdankte. Es war Rex, pünktlich und verlässlich, beides keine sonderlich häufigen Eigenschaften unter Reliktjägern. Ich hob die Hand, damit er mich bemerkte.


    Er hob ebenfalls die Hand. «Sodo! Du alter Hund!» Gut gelaunt kam er auf meinen Tisch zu. Er war groß und kräftig, trug eine Lederjacke, eine metallbesetzte Hose und einen Helm mit einem Visier. An seinem breiten Waffengurt hingen ein Dolch und ein Bastardschwert.


    Rex war ein ehemaliger Söldner, den ich im Taudis kennengelernt hatte, ein harter Brocken, der keine Angst vor Gefahren kannte. Er war stur und eigensinnig, ein Experte für den Nahkampf und die Überlebenskunst im Äußeren Taudis. Aber er war auch loyal, weshalb er zu den wenigen Reliktjägern gehörte, mit denen mich eine Freundschaft verband. Unter den Reliktjägern genoss er einen guten Ruf, hatte aber gleichzeitig viele Feinde, deren Abneigung über bloße Rivalität hinausging. Leider war er auch risikofreudiger, als gesund für ihn war. Ihn wiederzusehen war nicht selbstverständlich, und ich freute mich, dass er wohlauf war.


    Er erreichte meinen Tisch und umarmte mich. Er roch nach Schweiß, Rauch und nach Blut. Ich erwiderte seine Umarmung und klopfte ihm auf den Rücken. «Lange nicht gesehen, Rexi. Lass das nächste Mal früher wieder von dir hören.»


    «Besorgt gewesen?»


    «Quatsch. Ich wollte wissen, ob ich endlich deine Gebeine plündern kann. Aber nein, der Herr ist einfach mal wieder monatelang auf Expedition.»


    Er lachte und klopfte mich kräftig, damit ich es unter meiner Schutzkleidung spürte. Ich trug eine Lederrüstung, darüber ein Kettenhemd mit einem Waffengurt um die Hüfte sowie Eisenschienen an den Unterarmen und Schienbeinen. Über dem Kettenhemd trug ich einen kurzen Wappenrock mit seitlicher Schnürung, der jedoch kein Wappen zeigte, sondern einfarbig schwarz war, denn ich kämpfte in diesen Tagen für niemanden. Dazu gehörte natürlich stets der Helm. Auf meinem Rücken lagen über Kreuz meine beiden Kurzschwerter, am Gürtel trug ich mein Jagdmesser. Jeder Reliktjäger hatte seinen eigenen Stil, doch gänzlich unbewaffnet und ungerüstet stieg niemand in den Taudis.


    Er ließ mich los und setzte sich neben mich an meinen Tisch. Er bestellte sich einen Schnaps und grinste mich durch die Mundöffnung seines Helms an. Dabei zeigte er seine Zähne, von denen einige fehlten. Er war ein guter Freund, aber auch ein gefährlicher Gegner. «Hast du etwas Interessantes für mich dabei, Sodo?»


    Ich nickte. «Das will ich meinen. Ich habe ein paar Sachen gefunden, die dich vielleicht interessieren könnten. Aber zuerst erzähl mir, wie es dir geht. Wie war dein letzter Ausflug in den Taudis?» Ich lehnte mich zurück, auf eine gute Geschichte hoffend, denn die Wochen und Monate im Taudis konnten trotz aller Gefahren manchmal recht eintönig und langweilig werden.


    «Es war eine harte Reise, Sodo, das sag ich dir. Ich bin auf eine Höhle gestoßen, die voller Grubenasseln war, groß wie Ochsen. Ich hätte mich durchkämpfen müssen, um zu der Kammer zu kommen, in der ich das Relikt vermutete. Siehst du die Abdrücke?» Er fädelte seinen blutverschmierten Arm aus der Jacke. Seine Hautfarbe verriet, dass er ein Mensch war. Er zeigte mir eine nässende Bisswunde an der Schulter.


    Ich beugte mich herüber, um sie zu betrachten. «Das sieht übel aus.» Mehr als das! Er hatte Glück gehabt, dass er nicht verblutet war. «Halt mal still.» Ich zog meinen Rucksack heran, der auf dem Boden unter dem Tisch stand, und holte ein Tuch hervor, das ich in seinen Schnaps tauchte. Vorsichtig begann ich, die Krusten zu lösen und die Wunde zu reinigen. Trotz der Schmerzen, die ich im zweifellos zufügte, hielt er still und ließ mich die Behandlung durchführen.


    Derweil trat ein weiterer Reliktjäger durch den Riss.

    Straßenleben

    «Es ergibt keinen Sinn», hörte ich einen jungen Konstabler sagen. «Die Diebstähle häufen sich, und wir haben keine Spur. Es ist, als würde der Dieb aus dem Nichts auftauchen und wieder verschwinden.»


    Ein anderer mit einem Bart runzelte die Stirn. «Wahrscheinlich ist das kein einzelner Täter. Diesen Herbst wimmeln die Straßen von Landstreichern. Die Bürger werden unruhig, und die Händler beschweren sich über ihre Verluste. Wenn das so weitergeht, bin ich meinen Posten los.»


    Ich lehnte mich noch tiefer in den Schatten eines Hauseingangs, während die Staatskonstabler über mögliche Verdächtige und Strategien diskutierten. Der Wind schob raschelndes Laub über die Straße.


    Der junge Konstabler kratzte sich am Kopf. «Bei Dunkelheit ist es am schlimmsten, aber man kann doch keine Ausgangssperre verhängen. Die Tage werden kürzer, die Händler sind auf die abendlichen Verkäufe angewiesen. Die Umsätze würden einbrechen. Und irgendwann müssen die Bürger nach einem langen Arbeitstag schließlich noch einkaufen können.»


    Ich grinste in mich hinein. Dunkelheit war das richtige Stichwort, doch bis sie dahinter kamen, mochte noch viel Zeit vergehen. Würde die Sicherheitskommission die Märkte besser ausleuchten, wäre der Vorteil dahin, den ich zu nutzen gelernt hatte. Inzwischen konnte ich sehr gut einschätzen, wie viel – oder besser gesagt, wie wenig – die Menschen nachts sahen. Ohne künstliche Beleuchtung waren sie so gut wie blind, während mir das Licht der beiden Monde vollkommen ausreichte, um selbst Farben im Dunkeln unterscheiden zu können.


    Um es wie ein Naridier zu formulieren: Meine Sinne waren in diesen Tagen mein wertvollstes Kapital.


    «Wir müssen die Einsatztaktik anpassen und härter durchgreifen», sagte der ältere Konstabler. «Und den Bürgern zeigen, dass der Hohe Richter ihre Sorgen ernst nimmt. Wir rücken heute mit drei Gruppen aus. Du gehst mit Gruppe zwei die Strecke um den Markt. Ich werde mit Gruppe eins die Straßen zwischen den Ständen im Auge behalten. Gruppe drei wird außerhalb in den Gassen patrouillieren. Diese Diebe sollen sich nirgends sicher fühlen.»


    Ich lauschte aufmerksam, als sie sich aufteilten, um ihre Patrouillen fortzusetzen. Wie freundlich von ihnen, mir ihre Pläne zu offenbaren. Als die Schritte in der Ferne verhallten, trat ich aus meinem Versteck hervor. Mein Blick streifte die schmalen Gassen und die herabgefallenen Blätter, die den Boden bedeckten. Alles war in Ordnung, vom Knurren meines Magens abgesehen. Ich war nicht mehr so schwach wie noch vor einigen Wochen, doch die ständige Kälte sorgte dafür, dass ich dennoch immer Hunger verspürte. Es war zum einen das ständige Zittern, das viel Energie verbrauchte, aber auch die Notwendigkeit, sich ständig zu bewegen. Wurde es zu kalt, durfte ich nicht stehen bleiben oder mich gar niederlegen, das wäre mein Tod gewesen. Ich musste laufen, die ganze Nacht durch. Erst, wenn Alvashek aufging und die Temperaturen wieder stiegen, wagte ich, mich unter einer Brücke oder in einem verlotterten Hinterhof einzurollen, um zu schlafen.

    Jetzt aber war es abends und somit Zeit, mich um das Essen zu kümmern.


    Der Duft von Gewürzen und exotischen Kräutern hing in der Luft, mischte sich mit dem reichen Aroma frisch gebackenen Brotes. An den Ständen der Obst- und Gemüsehändler lag der süße Geruch reifer Südfrüchte, während der Wind die herabgefallenen Blätter aufwirbelte und den erdigen Geruch des Herbstes in die Nacht trug. Die Juweliere hatten ihre Schätze in funkelnden Vitrinen ausgestellt, die im schwachen Licht der Laternen schimmerten wie Sterne am Nachthimmel. Das Klappern von Metall auf Metall verriet, dass einige Schmiede ihre Stände noch nicht geschlossen hatten, und das Flackern von Schmiedefeuer erzeugte tanzende Schatten auf den Wegen.


    Der Markt war belebt, wenn auch anders als tagsüber. Landstreicher und Bürger, die unter den Laternen standen, um etwas zu essen oder sich zu unterhalten, teilten sich den Raum mit nächtlichen Händlern, die mit allerlei Waren handelten. Der Klang von feilschenden Stimmen und das Lachen von Nachtschwärmern vermischten sich zu einem konstanten Hintergrundgeräusch.


    Mein Magen knurrte vor Hunger, als ich an den Ständen mit gebratenem Fleisch vorbeiging. Der verlockende Duft von Gewürzen und gegrilltem Fleisch stach mir in die Nase, und ich konnte das Brutzeln auf den heißen Platten hören. Die Versuchung war groß, doch ich musste mich beherrschen, um den richtigen Augenblick abzuwarten, ohne mich vorher verdächtig zu machen. Als zerlumpter Landstreicher einen Stand zu betrachten, erweckte sofort Misstrauen. Ich durfte nicht stehenbleiben. Die Händler waren wachsam. Man konnte eine gute Gelegenheit nicht erzwingen, nur die Augen danach offenhalten. Erwischt zu werden konnte ich mir nicht leisten. Falls ich jemals in den Fokus der Händler oder gar der Staatskonstabler geriet, würde ich nie wieder unbehelligt über diesen Markt schlendern können, darum war Vorsicht das oberste Gebot.


    Doch das nahmen sich offenbar nicht alle Landstreicher zu herzen.


    Ein zierlicher Bursche mit kurzem braunen Haar widmete sich intensiv filigranem Schmuck, den er sich offensichtlich nicht leisten konnte. Viel zu lange betrachtete er eine Kollektion juwelenbesetzter Halsketten. Als ich näher kam, verriet mir meine Nase, dass es sich in Wahrheit um eine junge Frau handelte.


    Der Händler behielt sie ebenfalls im Auge. Doch der Winter kam ihr unvermittelt zur Hilfe: Der Schnee eines Hausdaches löste sich und rutschte polternd über die Dachkante. Der Keramikstand gegenüber wurde unter lautem Getöse verschüttet. Das Zelt brach ein, die Stangen brachen und hunderte Stücken Geschirr gingen zu Bruch.


    In dem Moment griff die junge Frau zu.


    Blitzschnell packte ich ihr Handgelenk und bog es nach oben. Die juwelenbesetzte Kette glitzerte zwischen ihren Fingern im Schein der Straßenlaternen. «Du willst doch nicht etwa stehlen?», sagte ich mit falscher Freundlichkeit. Dabei grinste ich breit, so dass sie meine scharfen Zähne sah.


    «Lass mich los, Froschgesicht!», schrie sie und trat mir gegen das Knie. Ich trat zurück, was ihr das Bein wegriss und sie stürzen ließ. Hätte ich sie nicht am Handgelenk gehalten, wäre sie gestürzt. Ich zog sie wieder auf die Füße. «Na, na», tadelte ich.


    «Meine Opalkette», rief der Schmuckhändler entsetzt, der endlich verstanden hatte, was hier gerade passierte. Ich entwand der Diebin das Schmuckstück und reichte es dem Händler zurück, der sich überschwänglich bedankte. Inzwischen hatte auch jemand nach den Stako gerufen, die sich mit grimmigen Gesichtern durch die Menge drängten, die langen Kampfstäbe in den Händen. Erst jetzt gab ich die zappelnde Diebin frei.


    «Dafür wirst du büßen», keifte sie und rannte davon. Die Staatskonstabler folgten ihr mit polternden Stiefeln. Ob sie die Diebin fassen konnten, weiß ich nicht, da ich mich ganz auf den Händler konzentrierte, der mir zum Dank für die Hilfe eine großzügige Menge Münzen in die Hand rieseln ließ. «Es sollte mehr ehrliche Leute wie sie geben», sagte er froh.


    «Jeden Tag eine gute Tat», sprach ich salbungsvoll. Würde nur jeder Abend so gut verlaufen!


    Ich begab mich auf direktem Weg zu dem Stand mit dem gebratenen Fleisch, wo ich mir ein Festessen schmecken ließ.

    Die beiden folgenden Kapitel spielen zwischen "Das Gasthaus" und "Flammen und Klingen".

    Betteltage

    Lichtstrahlen spiegelten sich in den Schaufenstern der Stadt. Die Scheiben trennten mich von all den Reichtümern und Köstlichkeiten. Mir blieb nur das, was das Leben auf den Straßen zu bieten hatte, aber ich war nicht der Einzige, der Hunger litt.


    Die Landstreicher suchten jetzt, da der Winter vor der Tür stand und es nichts mehr in der Natur zu holen gab, die Sicherheit der Stadt. Sie lungerten in Hauseingängen und Hinterhöfen, immer nur so lange, bis man sie vertrieb. Es gab nur wenige Plätze, an denen ich mich längere Zeit am Stück ausruhen konnte.


    «Bitte, meine Dame, ein kleines Kupferstück für einen hungernden Wanderer», murmelte ich, meine Stimme von der Kälte und Erschöpfung brüchig. Meine ausgestreckte Hand zitterte leicht.


    Die meisten Passanten taten, als wäre ich unsichtbar. Einige wandten ihren Blick ab, als ob meine Not sie nicht berührte. Andere eilten vorbei, als hätten sie ihre eigenen Ängste vor der Dunkelheit in ihren Taschen versteckt.


    Nur wenige wagten es, mich mit zusammengekniffenen Lippen anzusehen. Meine Hilferufe prallten gegen die Mauern ihrer Gleichgültigkeit.


    So lief es Tag um Tag. Die Straßen und Gassen, die anfangs einem Labyrinth glichen, offenbarten mir während der endlosen Streifzüge nach und nach ihre Geheimnisse und ihre Gesetze. Diese waren nicht mit den Gesetzen Naridiens identisch, sondern kamen dem nahe, was ich aus der Wildnis kannte, und das man in Shakorz ‹das Gesetz der Jäger› nannte.


    «Bitte, ein Stück Brot würde genügen, eine Kleinigkeit, um den Hunger zu stillen.»


    Manche hörten kurz auf, zögerten einen Moment, doch ihre Blicke verrieten Misstrauen und Ekel, und dann setzten sie ihren Weg fort. Andere sahen mich drohend an, während sie schnellen Schrittes vorbeigingen.


    Das erste Gesetz des Jägers besagte: Es gibt Jäger und es gibt Beute.


    Der Himmel verdunkelte sich, und ein Nachtwächter ging herum, um die Straßenlaternen zu entzünden. Eine Nacht war wie die andere, kalt und trostlos. Mit jedem verstrichenen Tag schwand meine Hoffnung auf Mitgefühl. Ich bettelte immer seltener und irgendwann nicht mehr. Ich wurde zu einem Schatten, der vom Strom der Passanten übersehen wurde, während er jeden Tag ein Stück mehr verblasste.


    Als ich spürte, dass mir wortwörtlich das Leben aus dem Körper wich, das ich tatsächlich begann, zu sterben, besann ich mich endlich, dass ich ein Jäger war. Meine Nase war so fein wie die eines Wolfs und meine Augen so scharf wie die einer Raubkatze. Ich besaß ein Gebiss, mit dem ich menschliche Finger hätte kauen können wie knackiges Wurzelgemüse. Ich hatte den Nachtmantel bezwungen, den König des Waldes. Was kümmerte mich ein Gesetz, dass mich verhungern ließ? Ich würde nicht länger darauf warten, dass sich jemand erbarmte, sondern von dem Recht Gebrauch machen, dass das Blut in meinen Adern mir gab: das Recht des Jägers.


    Und fortan wendete sich das Blatt.