Beiträge von Sodo Mio

    Die Botschaft der Toten


    Kalte Winde heulten durch die östliche Einöde, als unser Trupp sich auf den Weg machte, um die Toten zu bestatten. Die Landschaft schien endlos zu sein. Der Himmel war bleigrau, eine Decke aus schweren Wolken.


    Ich war Teil dieser Kompanie. Dass ich Garlyns Wunsch abgewiesen hatte, machte mir zu schaffen. Meine Weigerung trug nicht dazu bei, das Misstrauen, das gegen mich in der Luft hing, zu verringern. Während des schier endlosen Marsches dachte ich zu viel nach. In mir wuchs das dringende Bedürfnis, mich als Eisenfalke zu beweisen. Im Moment erfüllte ich jedes Klischee, das auf einen Halbork zutraf, war unzuverlässig und feige. Doch der Gedanke an die Orks, die ich ausspionieren sollte – die Gesichter meiner Vergangenheit – erstickte jeden Mut. Ich ballte die Fäuste, als ich mich fragte, wie war Garlyn überhaupt auf diesen Gedanken gekommen war. Wollte er mich bloßstellen oder wollte er mich quälen? Ich konnte ihm nicht helfen! Die Erinnerung an meine Zeit bei den Skunks war wie Gift. Ich war damals aus gutem Grund geflohen, wie er sehr gut wusste. Und während ich marschierte, zitterten meine Finger nicht von der Kälte.


    Für die Sicherheit unserer Kolonne waren einige Kundschafter zuständig, die ausgeschwärmt waren und das Ödland durchstreiften. Während ich neben Mauli herging, beschloss ich, das Schweigen zu beenden, das mir nicht guttat. Seit unserem kurzen Disput hatten wir beide kein Wort mehr miteinander gesprochen. Es war Zeit, etwas daran zu ändern. «Bist du noch sauer?», fragte ich mit einem vorsichtigen Grinsen.


    Sie grinste breit zurück und zeigte mir die Pracht ihrer gelben Zähne. «Unsinn!»


    «Gut», sagte ich erleichtert. Nicht, dass ich etwas anderes erwartet hatte. Mauli war weder zickig noch nachtragend. «Dann kannst du mir ja helfen, etwas gegen die Langeweile zu unternehmen und dich mit mir unterhalten. Was denkst du eigentlich über Orks?», wollte ich wissen.


    Sie sah mich an, ihre Augen waren klar und durchdringend. «Was soll ich schon denken? Sie sind wie Tiere, genau wie wir, wenn wir uns im Kampf verbeißen. Sie haben unsere Leute getötet und waren harte Gegner. Ansonsten habe ich nichts Gutes über sie zu sagen. Warum fragst du?»


    Ich überlegte, ob ich ihr wirklich antworten wollte, denn ich war der Meinung, dass ihr das klar sein müsste. Aber ich wollte nicht streiten, sondern mit ihr reden, also entschied ich mich für eine Antwort. «Sie sind Teil von mir, Mauli. Nicht nur Teil meiner Geschichte, sondern ein Teil von mir selbst, den ich nicht loswerden kann.»


    «Und jetzt machst du dir Sorgen, dass ich dich mit ihnen in einen Topf werfe?»


    «Rex ist dieser Meinung. Du hast viel Zeit mit ihm verbracht.»


    Ihre Stirn runzelte sich unter dem Helm, während sie neben mir marschierte. «Du und ich, wir sind vom ersten Tag an Freunde gewesen. Du bist nicht wie diese Orks, denn du bist hier bei uns und keiner von ihnen. Das ist deine Wahl! Abgesehen davon ist es sowieso ein anderer Stamm. Du hast uns ja erklärt, dass die Skunks nicht plündern, sondern von der Jagd und vom Handel leben.»


    Der Gedanke kreiste in meinem Kopf, es klang verlockend, als Halbork bequem wählen zu können, ob man als Mensch leben wollte oder ein Ork, doch so einfach war es leider nicht. «Ich bin fortgelaufen, aber ich fühle trotzdem eine Zerrissenheit in mir, Mauli. Es gibt immer wieder Momente, in denen ich mich fehl am Platz fühle. Genau wie damals bei den Orks. »


    Maulis Miene blieb ernst. «Das ist doch ganz einfach, es sind deine Gedanken, die es kompliziert machen. Du gehörst weder zu den Orks noch zu den Menschen, sondern zu den Eisenfalken! So wie Cherax, so wie ich. So wie jeder hier! Unsere Herkunft ist egal. Du hast dich für dieses Leben entschieden. Garlyn zweifelt nicht an dir und ich werde auch nicht damit anfangen, bloß weil Rex es tut.»


    «Trotzdem meint Garlyn, ich könnte einfach so zu diesen Orks spazieren und sie fragen, wer sie sind.»


    «Ach, deshalb hast du gefragt. Das ist es, was dir zu schaffen macht!»


    Ich nickte. "Er verlangt zu viel von mir. Wenn ich diese Orks sehe, dann… dann kommen all die Dinge zurück, vor denen ich davongelaufen bin, all das Unrecht, das sie mir angetan haben.»


    Sie lächelte gütig. «So geht es vielen von uns. Wir alle hatten ein Leben vor den Eisenfalken, das wir in der Ferne zurückgelassen haben. Wir alle tragen unsere Vergangeheit im Gepäck und sie kann schwerer Ballast sein. Hat Cherax dir mal erzählt, weshalb er hier ist?»


    «Er hat angedeutet, dass er von seinem Stamm verbannt wurde. Trotzdem nennt er sich immer noch Cherax von den Sandvipern.»


    «Weil er die Hoffnung nicht aufgegeben hat, eines Tages zurückzukehren. Auch er ist zerrissen und ich bin es auch manchmal. Du bist nicht allein.» Mauli legte mir eine Hand auf die Schulter. «Und wir stehen zusammen. Rex kann gern seine eigene Meinung zu dir haben, aber ich habe meine eigene.»


    Ein Lächeln huschte über mein Gesicht.


    «Und jetzt pack deine Sorgen und schau nach vorn», sagte sie. «Siehst du? Dort geht Alvashek auf.» Und tatsächlich: Das Grau der Wolken öffnete sich und gab den Blick auf das Morgenrot frei. Es war das erste Mal seit Langem, dass ich wieder ein Stück Himmel sah. Der Winter näherte sich dem Ende und bald würde das Eis tauen. Mauli gab mir einen freundschaftlichen Knuff und löste sich von mir. Wir marschierten nebeneinander weiter. Ich hörte das knirschende Geräusch unter meinen Stiefeln, als ich durch den vereisten Schlamm stapfte. Die Wolken zogen fort und der beginnende Tag leckte den Raureif vom Gras. Ich konnte die ersten zarten Versprechungen des Frühjahrs riechen – frische Erde, die aus dem Winterschlaf erwachte.


    Der Wind blies immer noch schneidend, aber er hatte die Schärfe verloren, die er in den vergangenen Tagen hatte. Ich konnte es fast fühlen – das Leben, das sich von irgendwo tief unten, aus den Wurzeln, seinen Weg nach oben suchte. Am Rand des verfallenen Feldes, das wir durchquerten, konnte ich die ersten Frühlingsblumen sehen – Blausterne, die sich aus der Erde schoben und störrisch dem Winter trotzten.


    Mauli entdeckte sie ebenfalls. «Seht ihr das?», fragte sie. «Frühling. Hätten wir bei dem letzten Gefecht gedacht, dass wir das noch erleben?»


    «Hier gibt es keinen Frühling», warf Cherax ein. «Nur eine Pause zwischen den Wintern.» Als Troll war er das heiße Klima des Südens gewöhnt, das keinen Winter kannte, nur Regenzeiten.


    «He, Doriq», rief Mauli. «Es wird Frühling!»


    Der Unteroffzier zuckte mit den Schultern, in seinem Blick lag etwas, das ich nicht deuten konnte. Vielleicht war es eine Erinnerung an das, was er erlebt hatte. Als wir uns der Region näherten, in welcher der Überfall stattgefunden hatte, verstummte auch der Letzte. Jeder versank in seinen eigenen Gedanken. Vielleicht dachten sie an die Heimat, an Frauen und Kinder. Vielleicht dachten sie an das Gold, das wir verdienen würden. Oder vielleicht an gar nichts.


    Cherax zeigte nach vorn und sagte: «Dort.»


    Die jetzt hoch genug stand, tauchte alles in ein blasses, goldenes Licht, das den Schnee und den vereisten Boden zum Schimmern brachte. Doch für uns war dieser Ort kein friedlicher Anblick. Der Boden war aufgewühlt.Die Blutflecken waren immer noch zu sehen. Eine dünne schicht von Steinen bedeckten die Toten, nun würden sie vernünftig bestattet werden. Die letzten Schritte gingen wir langsam und andächtig.


    «Hier haben sie uns überfallen», sagte Doriq.


    «Und jetzt kommen wir zurück, um das zu holen, was uns gehört“, knurrte Garlyn. «Dort drüben errichten wir die Hügelgräber für unsere gefallenen Kameraden, den Kopf eines jeden in Richtung seiner Heimat ausgerichtet, ihre Füße zur Mitte hin, so dass sie einen Stern bilden.»


    Wir nahmen die Spaten zur Hand und verteilten uns, um Steine aus dem gefrorenen Boden auszugraben, denn ein naridisches Hügelgrab bestand nur aus Steinen und sonst nichts. Die Stille, die uns dabei umhüllte, war fast greifbar.


    «Serak, du kommst zu mir», sagte Doriq.


    Ich rammte meinen Spaten in die Erde und begab mich zu ihm. «Ja?»


    «Dort hinten liegen die gefallenen Orks. Ich möchte sie ebenfalls bestatten, um keinen zornigen Hauch auf uns zu ziehen.» Der Hauch war das, was einem Körper sein Leben verlieh. Wer lebte, der atmete. Wer nicht lebte, der atmete nicht. Wer starb, hauchte sein Leben aus. Der Lebenshauch flog mit dem Wind davon, konnte aber auch zurückkehren. «Wie sind die Bestattungsriten der Orks, Serak?»


    «Das ist bei jedem Stamm unterschiedlich, wie bei den Menschen. Naridier haben Hügelgräber, Almanen verbuddeln ihre Toten in der Erde und Rakshaner bauen ihnen Häuser. Bei den Orks ist es kaum weniger unterschiedlich.»


    «Kannst du herausfinden, welchem Stamm sie angehören, damit wir nicht heimgesucht werden?»


    Ich sah ihn scharf an, denn ich war sicher, dass diese Frage mit Garlyn abgesprochen war. «Du meinst, ich soll sie mir ansehen?»


    «Du würdest uns helfen.»


    Ich ballte die Fäuste und atmete tief durch. Alvashek stieg höher und malte Schatten über die verwüstete Landschaft, als wollte er die Gräuel, die hier geschehen waren, mit einem goldenen Schleier bedecken. Der Wind war angenehm mild. Ich freute mich über die Botschaft des Frühlings, doch sie konnte die Situation nicht erträglicher machen. Ich dachte daran, dass ich Garlyn schon einmal enttäuscht hatte und an die Vorwürfe von Rex. «Also gut», knurrte ich.


    «Soll dich jemand begleiten?»


    «Nein, ich mach das schon.»


    «In Ordnung. Dann Ausführung.»


    Ich stapfte mit grimmigem Gesicht über die Hügelkuppe, der Boden war schmierig unter meinen Füßen. Im kalten Schlamm lagen die gefallenen Orks. Ich zögerte nicht, das hätte es nur schlimmer gemacht, sondern ging rasch zu ihnen, um möglichst wenig Zeit zum Nachdenken zu finden. Sie trugen Fellkleidung und von ihren Gürteln hingen verschiedene Trophäen, Tierschwänze, Klauen, Zähne. Mir wurde schwindlig bei dem Anblick, denn die Art, wie sie die Trophäen um die Hüfte trugen, kam mir bekannt vor. Ich nahm meinen Mut zusammen und drehte einen von ihnen auf den Rücken, so dass sein Kopf zurückfiel und ich mir seinen Hals besehen konnte.


    «Das kann nicht sein», keuchte ich, während ich seinen nassen Fellkragen nach unten drückte. «Das ist unmöglich!»


    Rechts, unterhalb des Ohres, trug der Tote die gleichen beiden Schnittnarben, die auch mich zu einem Mitglied dieser Rotte machten.

    Valtiri


    Wir wären keine Söldner, würden wir uns nicht noch am selben Abend intensiv der Beute widmen. Das Blut an der Kleidung war noch nicht einmal getrocknet, als Trupp zwei seine Errungenschaften auf dem Esstisch ausbreitete.


    «Ziemlich mager», stellte ich fest, als ich den Blick über die drei Messer, ein paar nasse Ledergürtel und die beiden erbeuteten Krummschwerter schweifen ließ. Dazwischen lag eine Hand voll schlammverschmierter Kupferlinge, die vielleicht für eine Mahlzeit ausreichen würden. Die knarrenden Dielen unter unseren Füßen und das aus Gründen der Sparsamkeit kaum noch flackernde Licht der Öllampen schienen das trübe Gefühl der Enttäuschung nur noch zu verstärken.


    «Das meiste liegt ja auch noch draußen», murrte Cherax, auf dessen Hals schwarze Knutschflecken prangten. «Das ist alles, was wir mitnehmen konnten. Wir hatten keine Wahl. Die Verwundeten gingen vor. Eigentlich hätten wir überhaupt nicht plündern sollen, wenn es nach Doriq ginge aber wie es manchmal so läuft, fanden diese Dinge trotzdem ihren Weg hierher. Wir holen den Rest ab, wenn wir die Gefallenen bestatten.»


    «Wenn es dann noch da liegt», warf Mauli ein.


    Hinter ihr stand Rex und schaute über ihre Schulter.


    «Was macht der hier?», motzte ich. «Hau ab, Rex. Du gehörst nicht zu Trupp zwei.»


    «Seit wann entscheidest du, wo ich mich aufzuhalten habe?», schnauzte er zurück.


    «Da ist was dran», warf Cherax ein. «Solches Verhalten spaltet die Kompanie bloß. Wir alle sind Eisenfalken.»


    «Schau doch selbst, wie der hier herumschnüffelt! Wie ein Aasgeier!»


    «Hör endlich auf, Serak», sagte nun auch Mauli. «Du nervst.»


    «Gleichfalls», knurrte ich zurück, und damit widmeten wir uns wieder der Beute. Die Griffe der Schwerter und Dolche waren sehr gut gearbeitet. Die Verzierungen erinnerten mich schmerzlich an meine ehemalige Rotte. Jeder Gegenstand erzählte eine lange Geschichte, die mit dem Tod seines Besitzers endete. Es war gut, dass ich Garlyns Idee, mich als Kundschafter zu entsenden, gleich im Keim erstickt hatte. Von der Vergangenheit eingeholt zu werden, vor der ich weggelaufen war, war ein bisschen viel für mich.


    Kale, der das Lazarett schon wieder hatte verlassen können, fuhr mit dem Daumen über die Klinge eines Messers. «Besser als nichts!»


    «Na ja», murrte Rex. «Ich hoffe, auf dem Schlachtfeld liegt noch mehr.»


    «Aber nicht für dich», fuhr ich ihn an. «Du hast nicht mitgekämpft.»


    «Du auch nicht, wenn ich daran erinnern darf», konterte er. «Du hast gesoffen und dir einen Lenz in der warmen Werkstatt gemacht, während deine Kameraden dich dringend gebraucht hätten!»


    Bamm. Das saß. Ich öffnete den Mund zu einer empörten Erwiderung und schloss ihn wieder. Mir fiel nichts ein, was ich zu meiner Verteidigung hätte sagen können. Also ballte ich die Faust. «Lass uns das draußen klären», knurrte ich. «Wenn ich mit dir fertig bin, kannst du deine Zähne im Schlamm zusammenkratzen.»


    «Au ja», freute sich Cherax. «Ich setze zwanzig Kupferlinge auf Serak!»


    «Ich auch», sagte Kale. «Wer hält dagegen?»


    «Das ist doch nicht zu fassen», rief Mauli aufgebracht. «Könnt ihr das nicht vernünftig klären? Hört sofort auf, oder ich melde das Doriq!» Ihre Hand schloss sich um die von Rex. Der blickte drein, als wäre er auf mein Angebot nur zu gern eingegangen, aber er erwiderte stattdessen ihren Händedruck. Diese zur Schau gestellte Eintracht machte mich noch wütender. Mir warf Mauli vor, die Kompanie zu spalten, dabei war Rex die Natter, die ständig ihr Gift verspritzte!


    «Es ist besser, wenn ich gehe, sonst kann es sein, dass ich vor lauter Rührung kotzen muss.»


    Mit einem kräftigen Ruck knallte ich die Tür der Stube hinter mir zu und trat in den kalten Vorraum. Der Nachtfrost biss mir scharf ins Gesicht, als ich meine Kampfstiefel schnürte und mir das langärmlige Wams aus dickem Wollfilz überzog. Die Mütze zog ich tief über die Ohren, der Schal schlang sich eng um meinen Hals, während ich mir den Gürtel mit meinem treuen Jagdmesser um die Hüfte schnallte, um die voluminösen Schichten Stoff zu bändigen, die in dieser Jahreszeit unerlässlich waren. Der schwere, wollene Umhang mit der Kapuze folgte, seine groben Fasern nahmen die Feuchtigkeit auf, sodass die Kleidung darunter nicht so schnell durchnässt wurde. Ich trat hinaus in die frostige Dunkelheit. Eine dünne Haut aus Eis lag auf den Pfützen, so dass jeder Schritt knisterte.


    Das Tor war nachts geschlossen, so dass ich mich an die Wache wandte. «Mach auf, ich muss nochmal raus.»


    «Du weißt, dass du morgen wieder regulären Dienst hast?»


    «Ja.»


    «Du weißt auch, dass deine Anwesenheit pünktlich bei Sonnenaufgang am Drillplatz erwartet wird?»


    «Ja.»


    «In Ordnung. Auf deine Verantwortung.» Er pfiff nach seinen Kameraden und gemeinsam öffneten sie das Tor einen Spaltbreit, um mich in die Dunkelheit zu entlassen.


    Der Pfad vor mir war für Menschen ohne Laterne nicht auszumachen, doch meinen Augen genügte der Schein der beiden Monde, um alles Wichtige zu erkennen. Farben konnte ich Nachts nicht zwar auch nicht sehen, doch alle Formen und Umrisse boten sich mir gut sichtbar dar. Den Rest erledigte meine feine Nase.


    Das Ödland lag still, das Knacken, Schmatzen und Platschen unter meinen Stiefeln war das einzige Geräusch. Jeder Atemzug schuf eine Wolke, die sogleich vom Wind fortgerissen wurde. Auf halber Strecke begann das Gelände steiler zu werden, die Felsen unter dem Schneematsch waren tückisch glatt. Ich rutschte aus, doch konnte mich mit wildem Gefuchtel wieder fangen. Schließlich tauchten die Lichter von Unwrain in der Ferne auf. Als ich das Dorf betrat, umfing mich der Geruch des Rauches, der aus den Schornsteinen stieg. Der Heulende Hund zog mich regelrecht magisch an und ich konnte das Bier schon auf der Zunge schmecken.


    Vor dem Gebäude stand an einem der Fässer eine schlanke, aber schwer gepanzerte Gestalt, die meine Aufmerksamkeit weckte. Von dem Fremden war kein Fingerbreit Haut zu sehen und er trank sein Bier aufgrund der Eisenmaske durch ein eisernes Trinkrohr.


    Ich blieb bei ihm stehen. «Bist du Söldner? Suchst du Arbeit?»


    «Ah, nein», erwiderte der Fremde mit einem extremen Akzent. «Ich bin lieber mein eigener Herr. Aber du kannst mir noch ein heißes Bier holen.»


    Meine Augenbrauen wanderten fast durch den Haaransatz bei so viel Frechheit. Mit einem Schnauben wandte ich mich ab. Als ich beim Wirt meine Bestellung aufgab, überlegte ich es mir anders und orderte zwei Krüge heißes Bier. Jetzt allein an einem Tisch zu versauern, würde mich nur in dunklen Gedanken versinken lassen. Es war besser, jemanden zum Reden zu haben. So kehrte ich nach draußen zurück und stellte dem Burschen sein heißes Bier hin. War es überhaupt ein Bursche? Weder seine Statur noch seine Stimme verrieten ein eindeutiges Geschlecht. Ich weitete die Nüstern und witterte, doch zu meinem Erstaunen brachte auch der Geruch keine Antwort. Das war mir noch nie passiert. Da die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei einem Rüstungsträger um einen Mann handelte, höher war, beschloss ich, ihn vorerst als männlich zu betrachten.


    «Zum Wohl.» Einer Vermutung folgend sprach ich nun auf Asami. Das war die Sprache der alten Völker, die sich durch spitze Ohren auszeichneten und zu denen auch Orks gehörten. Ich hob meinen Krug.


    Er tat es mir gleich. «Zum Wohl!» Und tatsächlich – sein Asami klang weitaus flüssiger als sein Uncàri. Ich schlussfolgerte daraus, dass er kein Mensch war.


    Wir tranken, ich direkt aus dem Krug, er durch seinen Trinkhalm. «Ah, das tut gut», freute er sich. «Mit wem habe ich das Vergnügen?»


    «Mit Serak dem Lügner, stolzer Eisenfalke.»


    «Angenehm. Valtiri der Knabberer.»


    «Eh? Was knabberst du denn?»


    «Das ist mein Geheimnis», raunte er verschwörerisch. «Und du willst es nicht herausfinden.»


    «Ist mir auch recht. Zufällig stamme ich aus dem Norden. Die Art, wie du sprichst, klingt südländisch. Welchem Volk gehörst du an?»


    Arrogant hob er das Kinn.«Ich trage diese Maske nicht umsonst. Wenn du über nichts anderes reden willst als über meine Herkunft, kannst du gehen.»


    «Soll ich das? Schade, ich wollte dir gerade eine heiße Schüssel Kohlsuppe anbieten.» Ich hob die Hände in gespieltem Bedauern. Dabei war ich sicher, dass er einlenken würde. So schmal, wie Valtiri wirkte, konnte er die letzten Wochen nicht viel gegessen haben.


    Er senkte das erhobene Kinn wieder. Durch die Öffnungen seiner Maske sah ich dunkle, ja, schwarze Augen, die mich abschätzend musterten. «Gut, ich erlaube dir, mir eine Suppe zu bringen. Und keine weiteren Fragen!»


    Das war ja nicht zu fassen. Das Bürschlein war halb verhungert und stand in einer schlecht sitzenden Klapperrüstung in der Kälte, aber benahm sich so unverschämt als wäre er von Stand. «Komm doch mit rein in den Schankraum», sagte ich. «Du siehst nicht aus, als hättest du viel gegen die Kälte auf den Rippen.»


    Scheu blickte er zur Tür. «Besser nicht. Ich bin nicht gern in Räumen eingesperrt, aus denen ich nicht so einfach entwischen kann. Ich warte hier draußen auf dich.»


    Was für eine eigenartige Person. Ich kaufte Valtiri eine Schüssel Kohlsuppe und stellte sie vor ihm auf das Fass. Sofort fing er an zu schlürfen. Wenn der Kohl sein Trinkrohr verstopfte, pustete und blubberte er, bis es wieder flutschte. Wann immer etwas daneben tropfte, sog er es geräuschvoll mit dem Trinkrohr vom Tisch, auch verkleckertes Bier und Schneeflocken waren vor ihm nicht sicher. Die unappetitlichen Geräusche brachten mich dazu, das Gesicht zu verziehen.


    Und sie erinnerten mich an jemanden. «Sag mal, Valtiri der Knabberer, bist du ein Troll?»


    Das Schlürfen, Blubbern und Schmatzen verstummte. Für einen Moment hörte man nur das Pfeifen des Winds und das gedämpfte Gelächter aus dem Inneren der Kneipe. «Das geht dich nichts an», sagte er hochnäsig. «Ich hatte dir verboten, Fragen zu meiner Herkunft zu stellen.»


    «Klar bist du ein Troll! Niemand sonst frisst auf diese Weise, du sprichst Asami und dein südlicher Dialekt passt auch.»


    Er schnappte nach Luft. «Ich ... ich verbiete dir ...!»


    «Das ist doch kein Grund sich zu schämen. Ich mag Trolle. Ein guter Freund von mir ist einer.»


    «Ähm, ach so?» Er vergaß seine Arroganz, er vergaß sogar das Essen und Trinken, sondern trommelte mit den Fingern und schaute sich nervös um. «Wie heißt der Freund denn und was sucht er hier in den Mittellanden? Wohnt er in der Nähe?»


    «Er heißt Cherax von den Sandvipern und ist einer meiner Kameraden. Den Rest fragst du ihn am besten persönlich.»


    «Nein!» Valtiri schlug mit der gepanzerten Faust auf den Tisch. «Ich habe kein Interesse daran, irgendwelchen Trollen zu begegnen und sie irgendetwas zu fragen!» Im Zorn klang seine Stimme doch eher männlich. «Aber ich kann dir etwas verkaufen. Ich mache dir einen guten Preis.» Er kramte hektisch in seinen vielen Gürteltaschen. Augenscheinlich hatte er es eilig zu verschwinden, wollte aber zusätzlich zum Essen auch noch etwas von meinem Geld.


    «Ich will nichts kaufen», sagte ich kühl.


    «Wie kannst du so was sagen? Ich brauche Geld!», klagte Valtiri.


    «Es scheint nicht sonderlich dringend zu sein. Immerhin habe ich dir eine Arbeit in der Söldnerkompanie angeboten», erinnerte ich ihn. «Die hast du abgelehnt.»


    «Ich habe doch schon Arbeit! Das sieht ja ein Blinder an meiner Rüstung!» Er zeigte mit beiden Händen auf sich selbst. «Ich bin offensichtlich ein Reliktjäger! Aber mein ganzes Geld ist für einen Arztbesuch draufgegangen, nur wegen diesem beschissenen Wetter. Jetzt bin ich hungrig und neue Winterklamotten könnte ich auch gebrauchen.»


    «Im Söldnerlager wirst du gratis versorgt», lockte ich. «Da gibt es eine Kleiderkammer. Und unser Feldscher Lorenzo ist gut. Schon beim kleinsten Schnupfen überschüttet er dich mit Kräutertee und stopft dich mit einer Wärmflasche ins Bett.» Ganz so schlimm war es natürlich nicht, immerhin waren wir eine Söldnerkompanie, aber Lorenzo war tatsächlich ein äußerst fürsorgliches Exemplar eines Feldschers. Nur ein gesunder Söldner war ein guter Söldner, und eine Epidemie konnte die ganze Kompanie lahmlegen.


    «Wenn ihr da Trolle habt, will ich dort nicht hin. Lieber verhungere ich!»


    «Wir haben einen einzigen Troll!»


    «Danke, aber ich verzichte. Wenn du nichts von meinen Waren kaufen willst, könntest du mir wenigstens noch eine Suppe bringen. Immerhin habe ich meine Zeit mit dir verbracht, das ist sozusagen eine Dienstleistung.»


    «Jetzt hör mir mal zu. Ich habe nicht endlos Geld und sehe nicht ein, warum ich dich beschenken sollte.»


    «Aber du hast mich schon beschenkt! Was spricht dagegen, mir noch etwas zu kaufen?»


    «Ich warte immer noch auf meinen ausstehenden Sold. Die ganze Gegend hier ist verarmt. Du siehst es ja an den Häusern und den matschigen Straßen. Warum versuchst du dein Glück nicht in Vellingrad? Betteln kannst du dort vergessen, aber gute Arbeit findet ihre Käufer. Warst du schon mal dort?»


    «Nein, wo liegt das denn?»


    «Nordöstlich von hier in Naridien, zwei Wochen Reisezeit, wenn du der Salzstraße folgst. Querfeldein dauert es länger und ist weniger sicher.»


    «Noch weiter nach Norden? Da hole ich mir ja den Tod.» Unter seiner Maske lief ihm die Nase und er schniefte. «Außerdem ist es nicht so leicht, als Reliktjäger in einem fremden Revier aufzukreuzen. Das endet meist für einen von beiden tödlich. Hier in der Nähe habe ich einen guten Zugang zum Taudis und wenigstens hin und wieder Kunden. Was ich woanders habe, weiß ich nicht.»


    «Mein Angebot steht . Ich bin abends öfter hier. Falls du es dir anders überlegst, sprich mich an. Dann lege ich bei unserem Kommandanten ein gutes Wort für dich ein.»


    Wir standen uns gegenüber, die Ellbogen auf das alte Fass gestützt, das als Tisch diente. Der kalte Wind strich um uns herum und trug das Gejohle und Gelächter aus dem Inneren der Kneipe mit sich.


    «Danke,» sagte Valtiri plötzlich. Es war das erste Mal, dass er sich für etwas bedankte. Bier und Suppe hatte er sich gekrallt, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass ich ihn auf meine Kosten bewirtete. «Du bist ein Guter, Serak.»


    Ich schnaubte und zuckte die Schultern. «Nein. Ich tu nur manchmal so, damit überhaupt noch jemand mit mir spricht.»


    «Ah, ich glaube, du erweist deinem Namen alle Ehre und schwindelst mich an. Du bist ein Halbork, nicht wahr? Hier in den Mittellanden trifft man Orks und Halborks selten. Was hat dich dazu gebracht, die Tundra zu verlassen?»


    Ich ließ den Blick über die schmutzigen Straßen von Unwrain schweifen, bevor ich antwortete. «Ein Mitglied der Rotte hat einen Fehler gemacht und ich habe dafür an seiner Stelle bezahlt. Darum bin ich hier.»


    Er legte eine Hand auf mein Schulter und sah mich an, seine schwarzen Augen voller Mitgefühl. «Oh, das tut mir leid. Das tut mir wirklich leid!»


    Im ersten Moment hielt ich es für Geschleime, um meinen Geldbeutel zu lockern, doch so, wie er mich ansah, war ich geneigt, ihm sein Mitleid zu glauben. Aber ich wollte es nicht haben. Ich tätschelte ihm den ausgestreckten Arm, bevor ich seine Hand von mir herunterzog. «Mir geht es gut.» Das war die größte Lüge von allen und ich verbreitete sie jeden Tag. Das sparte mir Erklärungen und alle waren zufrieden. Ich trank den letzten Schluck meines Biers. «Die Monde stehen hoch, ich muss wieder zurück», sagte ich.


    Valtiri der Knabberer nickte. Ich konnte den nachdenklichen Blick in seinen Augen sehen, doch er hakte nicht noch einmal nach, wofür ich ihm dankbar war. Manchmal war es besser, die Dinge unausgesprochen zu lassen. So wie ich ihm seine Privatsphäre ließ und nicht weiter nach seiner Vergangenheit gefragt hatte, so respektierte er nun meine.


    «Du gehst jetzt schon?», fragte er und sah mich mit großen Augen an. «Du hattest doch gerade erst ein Bier. Ich war gierig, ich habe dir alles weggefressen.»


    «Es war ein Geschenk. Und ich muss morgen wieder zeitig raus. Aber vielleicht trifft man sich mal wieder.»


    Er senkte betrübt den Kopf und nickte, seine Schultern sanken etwas herab. «He», sagte ich und beugte mich ein Stück nach vorn, «du bist aus Versehen nett gewesen.»


    Er hob den Kopf und funkelte mich an. «Du bist ein Arsch», trumpfte er auf. «Man sollte üble Dinge mit dir veranstalten.»


    Ich hob eine Augenbraue. «Mehr fällt dir nicht ein?»


    «Mann!», schrie er und hob frustriert die Hände. «Ich bin es nicht gewohnt, grob zu reden! Jetzt hör auf, dich über mich lustig zu machen, oder du darfst mir nie wieder Kohlsuppe servieren!»


    Ich lachte und reichte ihm die Hand. «Das würde ich mir nie verzeihen. Also dann.»


    Er nahm meine Hand und drückte sie fest. An seinen Augen sah ich, dass er lächelte. Er war ein merkwürdiges Kerlchen, aber wahrscheinlich hatte er einfach zu viel erlebt. Niemand wusste besser als ich, wie sehr das Leben jemanden verändern konnte. Ich kam mit ihm zurecht und fand ihn recht witzig.


    Nach dem Abschied drehte ich mich um und ging zurück ins Lager.


    «Halt, Losungswort?», rief es hinter dem Tor.


    «Saftsack,» antwortete ich. Es war der ewiger Spaß zwischen der Torwache und denen, die zurückkehrten, da wir kein echtes Losungswort brauchten. Unsere Kompanie war so klein, dass jeder jeden persönlich kannte.


    In der Baracke herrschte bereits abendliche Stille. Die meisten lagen schon in ihren Betten, einige standen an der Waschschüssel, andere zogen sich gerade das wollene Nachthemd über. Ich hätte gern noch einmal mit Mauli gesprochen, da ich den Streit nicht zwischen uns in der Luft hängen lassen wollte. Doch die wenigen Frauen unserer Kompanie hatten ihre eigene Baracke, wo die weiblichen Mitglieder beider Trupps gemeinsam wohnten.


    Cherax lag bereits in seinem Bett, als ich eintrat. Während ich mich für die Nacht fertig machte, überlegte ich, ob ich ihn auf Valtiri ansprechen sollte. Valtiri hatte jedoch so abweisend, ja, entsetzt reagiert, als er von dem Troll in unserer Kompanie erfuhr, dass ich mich dagegen entschied. Seine Identität war seine eigene Angelegenheit, und ich wollte nicht in der Welt herumposaunen, dass ich einen flüchtigen Blick hinter die Eisenmaske geworfen hatte. Vielleicht hatte er ähnliche Gründe, sich vor seinem Volk zu verstecken, wie ich. Abgesehen davon wusste ich gar nicht sicher, ob er wirklich ein Troll war, auch wenn es zu vermuten war.


    «Alles gut da drüben?» brummte Cherax, als ich mich in mein Bett eingekuschelt hatte. Er war der Einzige, der mich das fragte.


    «Alles bestens», raunte ich mit einem Grinsen zurück. Und für den Augenblick war das keine Lüge.


    Während ich in die Dunkelheit starrte, versuchte ich die Erlebnisse des Tages hinter mir zu lassen. Doch das war ein vergebliches Unterfangen. Die orkischen Waffen und die Gürtel hatten mich auf einer tiefen Ebene meines Seins berührt. Ich glaubte, den Duft von Erde, Holz und Teer zu riechen, von würzigem Schweiß und heißem Wasserdampf in der Badegrotte. Der Ork in mir ließ sich nicht verdrängen, selbst unter den Menschen. Ein Teil von mir redete sich die Erinnerungen schön, obgleich ich nicht vergessen konnte, was man mir alles angetan hatte. Das Erlebte blieb unauslöschlich, so wie das Gefühl von Ungerechtigkeit, selbst nach dem Maßstab der Orks.


    Und doch plagte mich entsetzliches Heimweh, so wie mich früher das Fernweh zur Jagd weit hinaus in die Wildnis getrieben hatte. Ja, ich verstand Rex’ Verdacht, ich könnte ein Verräter sein. Dennoch ärgerte mich dieser Vorwurf. Kämpfte ich nicht unermüdlich für die Eisenfalken? Hatte ich nicht längst meine Loyalität bewiesen? Rex war nicht der Einzige, derartige Vorwürfe hatten mich über die Jahre immer wieder eingeholt. Meine Herkunft stand mir ins Gesicht geschrieben. Viele Naridier hatten schlechte Erfahrungen mit Orks gemacht. Nicht jeder ging so entspannt damit um wie Garlyn. Das Misstrauen gegen mich konnte ich ihnen weder durch Worte noch durch Taten austreiben. Selbst der Hinweis darauf, dass die Rotte der Skunks nie Menschen überfallen hatte und andere Rotten für die Taten verantwortlich waren, konnte nichts ausrichten.

    Mit jedem Gedanken verflüchtigte sich meine zuvor gute Stimmung. Ich bereute zutiefst, nur ein Bier getrunken zu haben.


    Während meine Kameraden schliefen, rang ich vergebens mit meiner Müdigkeit. Erst, als der Morgen sich anbahnte, fielen mir für eine kurze Zeit die Augen zu.

    Zwischen Feuer und Schatten


    Ihre Gestalten wirkten gebrochen, die Rüstungen beschädigt und die Gesichter gezeichnet von Schmerz und Erschöpfung. Pukka, der sonst immer vorneweg marschierte, hinkte mühsam hinterher, auf die Schulter eines Kameraden gestützt, der Blick völlig leer. Neben ihm taumelte Raule, der eine abgebrochene Lanze als Krücke benutzte, um nicht umzufallen. Der Wind zerrte an ihren nassen Umhängen, die in der Kälte flatterten.


    «Was ist passiert?», fragte ich schockiert.


    Mauli und Cherax schienen nicht schwer verletzt zu sein, doch auch ihnen ging es offensichtlich nicht gut. Wie die meisten starrten sie ins Leere und gingen, wie die anderen, wortlos an mir vorbei. Diese traurigen Gestalten waren erfahrene Kämpfer, die meisten dienten schon viele Jahre unter dem Banner des Eisenfalken. Sie waren gut bewaffnet und zahlreich. So etwas hätte ihnen bei einem einfachen Kontrollmarsch nicht widerfahren dürfen. Und doch kamen sie nun in diesem Zustand zurück, zerschlagen und gedemütigt.


    Doreq, ein Unteroffizier, sah mich mit blutunterlaufenem Blick an. Mein entsetztes Gesicht schien ihn zu erreichen und er gab mir eine Antwort. «Sie haben uns aufgelauert und aus dem Hinterhalt angegriffen. Es ging verdammt schnell, und wir haben Glück, dass wir überhaupt noch hier sind.»


    Dann ging auch er an mir vorbei, der Rest der verletzten Kolonne zog an mir vorüber. Während sie an mir vorbeimarschierten, sank mein Herz immer tiefer. Wie hatte das passieren können? Ich folgte ihnen ins Lager, unfähig, meine Gedanken zu ordnen. Die Fragen wirbelten durch meinen Kopf wie die Schneeflocken, die um uns herumtanzten. Wer könnte eine solche List eingefädelt haben? Und wie sollte es mit den Eisenfalken weitergehen, wenn uns schon die erste Begegnung mit diesem Feind uns derart geschwächt hatte? Jede Antwort schien nur neue Ängste hervorzurufen. Aber eine Sache war klar – wir mussten die Wahrheit herausfinden, damit das kein zweites Mal passierte.


    Die Schwerverletzten wurden ins Lazarett gebracht, begleitet von Stoßgebeten für ihre Genesung. Die Übrigen stellten sich auf dem Drillplatz auf, bereit, Kommandant Meqdarhan Rede und Antwort zu stehen. Ein scharfer Wind pfiff um die geröteten und schmutzigen Gesichter meiner Kameraden. Ihre Mienen waren ausdruckslos, und das sagte alles.


    Kommandant Meqdarhan war eine eindrucksvolle Erscheinung mit mächtigen Schultern. Er überragte die meisten um einen halben oder ganzen Kopf. Er blickte zerknirscht über seine ruinierter Truppe. «Doreq, erstatte Bericht.»


    Unteroffizier Doreq, gezeichnet von Blut und Schlamm, trat nach vorne. Er hatte noch immer die Haltung eines Eisenfalken, aufrecht und entschlossen, auch wenn sein starrer Blick viel Leid verriet. Für die Katastrophe, die geschehen war, trug er als Befehlshaber die Verantwortung. «Kommandant», begann er, «wir wurden in eine Falle gelockt. Es war ein Hinterhalt und der Feind war zahlreich.» Ich konnte die Spannung in der Luft spüren, als Doreq fortfuhr und jeden Moment schilderte. «Wir folgten der Salzstraße nach Norden, als plötzlich ein Pfeilhagel auf uns niederging. Wir hatten keine Deckung. Unser Späher hatte keine feindliche Präsenz gemeldet – weil er bereits tot war. So war es, als wären sie aus dem Nichts erschienen.»


    Er machte eine kurze Pause, und ich sah, wie er tief durchatmete, bevor er weitersprach. «Ich gab den Befehl zum Sturmangriff. Wir rannten auf sie zu und konnten einige im Nahkampf erledigen, das hat sie vertrieben.» Er sah Meqdarhan fest in die Augen. «Orks.»


    Unweigerlich richteten sich mehrere Blicke auf mich, hier und da erklang Getuschel, doch der Kommandant achtete nicht darauf. «Wie viele sind gefallen? Was ist mit unseren Verwundeten?»


    «Wir haben vier Mann verloren, zwölf sind verletzt, sieben davon schwer. Wir haben alles getan, um sie hierher zu bringen. Die Gefallenen haben wir unter Steinen bestattet.»


    Garlyn Meqdarhan machte eine verärgerte Geste mit der Hand. «Sie sollten nicht im Nirgendwo liegen gelassen werden, wo Plünderer und Grabräuber ihr Unwesen treiben. Trupp eins wird ihnen morgen ein anständiges Begräbnis zukommen lassen. Ihr aber habt tapfer gekämpft. Ruht euch aus und erholt euch. Diese Schmach wird nicht unbeantwortet bleiben.»


    Mit diesen Worten entließ er sie. Doch die offenen Fragen blieben. Die Antworten lagen da draußen, im windigen Ödland des Ostens.


    Abends fanden wir uns im Heulenden Hund ein, weniger als sonst. Die meisten waren zu erschöpft. Cherax staunte nicht schlecht, als er meine ungewöhnliche Bestellung sah. Die Wärme breitete sich schnell in meinen Händen aus, als ich sie um die dampfende Schüssel mit Kohlsuppe schloss.


    Der Troll schüttelte fassungslos den Kopf, so dass die Schuppen aus seiner schwarzen Mähne flogen, die ihm wie ein borstiger Hahnenkamm von der Stirn bis über den halben Rücken wuchs. «Brühe statt Bier? Geht es mit dir zu Ende oder woher kommt der Sinneswandel?»


    Ich hob eine Augenbraue. «Lieber heiß und nahrhaft als kalt und nutzlos, Cherax. Zumindest spare ich mir den Kater morgen früh. Und die Diskussionen mit der Torwache.»


    Cherax grunzte verständnislos. «Du bist ein Halbork, kein Mensch! Du solltest Bier trinken, wenn es kein Fleisch gibt. Das Grünzeug tut dir nicht gut.» Er lehnte sich vor, seine Stimme wurde vertraulich. «Oder hast du etwa Angst, dass du zunehmen könntest? Kohlsuppe für die schlanke Linie, was?»


    Ich schnaubte und nahm einen Löffel Suppe. «Ich wette, dass du keinen Unterschied zwischen einer Schüssel Kohlsuppe und einem Krug Bier merkst, Cherax. Vielleicht solltest du es mal versuchen, dann reden wir weiter.»


    Er grinste, so dass es aussah, als würden sich seine Wildschweinhauer noch weiter aus seinem grauen Gesicht schieben. «Eine Herausforderung? Die nehme ich an.» Cherax winkte eines der Schankmädchen herbei, das sich nur wiederwillig unserem aufdringlichsten Söldnerkameraden näherte. «Für mich auch eine Schüssel von dieser Suppe», säuselte er. Kurz darauf wurde ihm die Kohlsuppe gebracht. Ich hätte meine Schwerter darauf verwettet, dass sie hineingespuckt hatte, aber das hätte den Troll wohl ohnehin nicht gestört. Er war gegen Ekel vollständig resistent.


    «Wenn ich am Ende dieser Schale nicht so zufrieden bin wie nach einem Krug Bier», dröhnte er, «dann bekomme ich die fünf Kupferlinge von dir zurückerstattet.»


    Ich grinste. «Abgemacht.» Das war mir der Spaß wert. Ich stieß mit meiner Schale gegen seine. «Zum Wohl!»


    Cherax nahm vorsichtig den ersten Löffel. Sein Gesichtsausdruck wechselte von Skepsis zu Überraschung, und schließlich zu einem zufriedenen Nicken. «Na gut,» murmelte er, «vielleicht hat diese Kohlsuppe doch etwas für sich.»


    Die Geschmacksverirrungen von Trollen waren legendär. Ich aß meine Suppe in Ruhe weiter, obwohl sie mir überhaupt nicht schmeckte, während Cherax vor lauter Wohlgefallen derart stöhnte und die Augen verdrehte, dass einige Kameraden an den umliegenden Tischen sich peinlich berührt abwandten, während andere einen Lachanfall erlitten.


    Auch ich musste grinsen. «Wo ist eigentlich Mauli?», wollte ich wissen. «Habt ihr euch diesmal schon vor dem Besäufnis zerstritten?»


    Cherax hielt inne, während ihm Brühe vom Kinn tropfte. «Bist du blind? Die sitzt doch da drüben.»


    Ich wandte mich um. An einem kleinen Tisch in der letzten Ecke des Heulenden Hundes saß Mauli. Und ihr gegenüber saß Rex. Die beiden unterhielten sich angeregt und waren ganz aufeinander konzentriert. Zwischen ihnen brannte eine Kerze. Mir rutschte der Kohl vom Löffel und klatschte auf den Tisch. «Und ich dachte, nur Trolle würden einen schlechten Geschmack haben», knurrte ich.


    «Offensichtlich nicht», feixte Cherax. «Rex ist vollkommen übergeschappt!»


    «Ich rede von Mauli», rief ich. «Was will sie mit so einem Vogel?»


    «Und was will Rex mit Mauli?» Cherax kratzte sich den Kopf, ein Regen von Schuppen rieselte in seine Suppe. Er verrührte sie und nahm einen großen Löffel. «Jedenfalls passt das nicht. Das wird ein böses Erwachen geben.»


    Ich versuchte, mir vorzustellen, was Mauli an Rex finden konnte, doch es wollte mir nicht gelingen. An ihm war alles abscheulich, aber vielleicht lag es auch daran, dass ich ihn so wenig leiden konnte. «Das ist auch deine Schuld», motzte ich. «Du weißt, wie sehr sie dich mag und hast vor ihren Augen ständig nach irgendwelchen Frauen geschaut.»


    «Soll ich vielleicht vor ihren Augen nach Männern schauen?» Cherax grunzte und stopfte sich beide Wangen mit Kohl voll. Es dauerte eine Weile, bis er ihn so weit durchgekaut hatte, dass er ihn schlucken konnte. «Ihr Problem, wenn sie so empfindlich ist!»


    «Unser Problem, weil sie jetzt mit Rex anbändelt, anstatt mit uns zusammen am Tisch zu sitzen», wandte ich ein. «Sie weiß, dass Rex und ich nicht miteinander können. Wenn die beiden sich tatsächlich aufeinander einlassen, wird sie in Zukunft bei ihm sitzen und nicht mit ihm gemeinsam bei uns.»


    «Und?»


    Cherax war augenscheinlich egal, dass wir Gefahr liefen, unsere liebe Freundin an diesen dahergelaufenen naridischen Tunichtgut zu verlieren. Während ihm Kohlfäden von den Hauern hingen, schaute er sich um, wer heute noch alles in der Kneipe war. Es war sinnlos, weiter mit ihm zu reden, er war ein Troll. Ich schlürfte meine ekelhafte Suppe und während Cherax sein Glück bei der Frau des Wirts auslotete, verließ ich die Kneipe, den Kopf diesmal nicht schwer vom Alkohol, sondern von Gedanken.


    Ich zündete mir draußen eine Rauchstange an einer Laterne an. Der Hinterhalt deutete darauf hin, dass die Orks gewusst hatten, dass Trupp zwei diesen Weg nehmen würde. Das konnte nur zwei Dinge bedeuten: Es gab entweder einen Spion oder einen Verräter in unseren eigenen Reihen.


    «Abend.»


    Ich fuhr herum. Vor dem Heulenden Hund standen mehrere leere Fässer, die als Stehtische benutzt werden konnten. Bei dieser Witterung blieben sie normalerweise leer. Doch an einem Fass in den Schatten lümmelte Garlyn mit einer Rauchstange.

    Ich gesellte mich zu ihm. «Abend. Warum stehst du allein hier draußen in der Kälte? Soll ich dir was auslegen?»


    Er winkte ab. «Es liegt nicht am Geld. Ich habe den ganzen Tag einen wilden Sauhaufen um mich. Manchmal brauche ich Ruhe, um nachzudenken.»


    «Dann gehe ich besser.» Ich machte Anstalten, die Straße in Richtung Lager einzuschlagen, doch er rief: «Hiergeblieben.»


    Gewohnheitsmäßig machte ich auf dem Absatz kehrt und stellte mich ihm gegenüber, die Rauchstange im Mundwinkel.


    «Ich bin zu einem Ergebnis gekommen», verkündete er und musterte mich durchdringend. «Wie ich sehe und rieche, bist du nüchtern.»


    «Ich habe meine Lektion gelernt.»


    «Gut. Dann bist du hiermit wieder Teil von Trupp zwei. Sie brauchen dich mehr denn je. Behalte das in Erinnerung.»


    «In Zukunft werde ich dich nicht mehr enttäuschen», sagte ich erleichtert. Ich nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch hinauf zu den beiden Monden. Oril war zunehmend und fast schon voll, Daibos bildete eine schmale rote Sichel. Mir war nicht bekannt, dass diese Konstellation Unheil verheißen würde. Und doch war es geschehen. Allerdings nicht für mich. Vielleicht galten die Mondphasen nur für Orks und Halborks? Gern würde ich einen Schamanen befragen, oder meinen Milchbruder Katax, der solche Dinge ebenfalls wusste. Doch hier war niemand, der eine Antwort gekannt hätte.


    «War es das, was du mir sagen wolltest, Garlyn?» Privat durften wir ihn beim Vornamen nennen. Unsere Söldnerkompanie war zu klein, um nicht zwangsweise ein sehr persönliches Verhältnis aller Mitglieder mit sich zu bringen.

    «Nein», murrte er. «Es geht um unsere Gegner.»


    «Die unbekannten Orks.»


    «Richtig. Du hast Recht mit dem, was du damals auf dem Drillplatz gesagt hast. Es ist egal, ob es Orks sind. Es kommt darauf an, wer sie sind und was sie wollen.»


    Die Nacht war still, und nur das Knacken des Feuers in der Laterne und das gelegentliche Heulen des Windes waren zu hören. Ich ahnte, worauf er hinauswollte, und ein ungutes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus.


    «Serak», begann Garlyn, seine Stimme ruhig und fest, «wir müssen herausfinden, welchem Stamm diese Orks angehören. Sie sind zu gut organisiert, um einfach nur Plünderer zu sein. Wir brauchen Informationen.»


    Ich schüttelte den Kopf. «Garlyn, ich bin ein Halbork! Die meisten Stämme bringen Bastarde um. Ich kann nicht einfach zu ihnen gehen und sie fragen, wer sie sind und weshalb sie Händler und Söldner überfallen.»


    «Dann denk dir ein anderes Vorgehen aus. Du hast den Vorteil, nicht beim Überfall dabei gewesen zu sein. Sie wissen nicht, dass du ein Eisenfalke bist, das ist dein Vorteil. Wir können nicht zulassen, dass sie uns noch einmal so überrumpeln. Wir müssen wissen, mit wem wir es zu tun haben.»


    «Es gibt andere Wege, Informationen zu bekommen. Wir könnten die überfallenen Händler fragen, welche Stammesmerkmale sie gesehen haben, oder...»


    «Du weißt, wie schwierig es sein würde, einen solchen Händler ausfindig zu machen! Und wer kann schon sagen, was sie in der Todesangst gesehen oder nicht gesehen haben? Du aber hast einen klaren Kopf. Du hast lange Zeit in der Wildnis überlebt, du kennst die Merkmale der Stämme und sprichst ihre Sprache. Du hast das Wissen und die Fähigkeiten, die uns helfen könnten. Das Risiko ist groß, ja, aber der Nutzen noch größer. Denk an deine Kameraden. An Doreq und die anderen, die fast ihr Leben verloren haben. Und denk an die, die wir auf dem Feld der Ehre zurücklassen mussten.»


    Seine Worte trafen mich hart. Ich sah die erschöpften Gesichter meiner Kameraden vor mir, hörte ihre schmerzverzerrten Stimmen. Sie zählten auf mich. «Und was, wenn ich gefangen werde?» fragte ich leise, der Zweifel nagend. «Du musst dir klar machen, dass das mein Tod wäre.»


    «Du bist nicht allein, ich zahle ein Lösegeld, das sie nicht ablehnen können. Wenn sie Geld wollen, bekommen sie das. Du bist unsere beste Chance, einen weiteren Überfall zu verhindern. Vielleicht unsere einzige Chance.»


    Ich schloss die Augen, ließ die Worte in mir nachhallen. Der Gedanke, meine Kameraden im Stich zu lassen, die schon einmal ohne mich in die Schlacht gezogen waren, tat weh. Doch ich schüttelte den Kopf. «Nein, Garlyn. Du bist mein Kommandant und ich befolge jeden Befehl außer diesen.»


    Er malte mit dem Kiefer, ich wartete darauf, dass er mir dir Strafe für Ungehorsam darlegte. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich. «Ich werde mir eine andere Lösung überlegen», sagte er stattdessen.


    Er wandte den Blick ab und sah an mir vorbei. Ich hätte mich ihm gern erklärt, doch ich hatte das Gefühl, dass die Tür dafür verschlossen war. Und wollte ich ihm wirklich darlegen, was in mir tobte bei dem Gedanken, wieder Orks zu sehen? Zugeben, dass ich panische Angst davor hatte?


    Garlyn warf den Rest seiner Rauchstange weg und verschwand in der Nacht. Ich sah ihm nach und fühlte plötzlich mich dermaßen einsam, dass es kaum zu ertragen war. Ich hätte in den Heulenden Hund zurückkehren können, alles in mir schrie danach, mich mit Bier volllaufen zu lassen, damit diese Gefühle aufhörten. Doch es gelang mir, dem nicht nachzugeben. Ich war lange genug in der Werkstatt gewesen und es wurde Zeit, die ausgedünnten Reihen meiner Kameraden aufzufüllen.


    Ich rauchte zu Ende und kehrte, von Schneeregen gepeitscht, ins Lager zurück, begleitet von düsteren Gedanken und dem Pfeifen des eiskalten Windes.

    Kaltes Eisen


    Der Morgen war grau und frostig, als ich mich zur Schreibstube des Kommandanten begab. Ich klopfte an die schwere Holztür, und nach einem Moment ertönte von innen eine tiefe, befehlsgewohnte Stimme.


    «Herein!»


    Die Schreibstube von Garlyn Meqdarhan war schlicht, aber funktional eingerichtet. Ein großer Holztisch dominierte den Raum, bedeckt mit Landkarten, Pergamentrollen und Federkielen. Ein tragbarer Eisenofen spendete gerade genug Wärme, um die Kälte in Schach zu halten. An den Wänden hingen zerfetzte und dreckige Banner, Kriegsbeute vergangener Schlachten, die sich in der aufsteigenden Wärme langsam bewegten.


    Der Kommandant saß hinter seinem Tisch, auf einem Stuhl, der mit einem Schaffell gepolstert war. Seine grünen Augen sahen mich durchdringend an. «Ich hoffe, du weißt, warum du hier bist.»


    Ich nickte. «Ja, Kommandant. Es war ein Fehler, betrunken ins Lager zurückzukehren.»


    Meqdarhan neigte den Kopf leicht zur Seite. «Ein Fehler? Ich nenne das Disziplinlosigkeit! Fehler passieren jedem, auch mir, aber Disziplinlosigkeit passiert nicht einfach. Man entscheidet sich bewusst dafür. Deine Trunkenheit gefährdet uns alle. Wir befinden uns im Niemandsland, wir können jederzeit überfallen werden. Wie soll ich mich auf meine Männer verlassen, wenn sie sich nicht einmal selbst kontrollieren können?»


    «Es wird nicht wieder vorkommen, Kommandant», versprach ich, obwohl ich mir bewusst war, dass meine Worte hohl klangen.


    «Das wird es verdammt nochmal nicht!» Er schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Tintenfässer klirrten. «Deine Strafe wird es sein, in der Werkstatt zu helfen. Dort kannst du dich für alle nützlich machen, ohne andere zu gefährden. Du bist hier nicht mehr bei den Räubern! Fürs Erste bist du vom Einsatzgeschehen suspendiert. Vielleicht lernst du dadurch, wie man sich in einer militärischen Einheit zu benehmen hat.»


    Ich straffte meine Haltung noch weiter, um nicht vor Enttäuschung zusammenzusinken. «Ja, Kommandant. Darf ich eine Frage stellen?»


    «Spuck`s schon aus.»


    «Wann werde ich wieder Teil von Trupp zwei sein dürfen?»


    «Wenn Jurland mit dir zufrieden bist, prüfe ich - vielleicht - deine Reaktivierung. Bis dahin kann viel Zeit ins Land streichen. Stell dich auf eine sehr lange Zeit in der Werkstatt ein.»


    «Verstanden, Kommandant.»


    «Und Serak,» fügte er hinzu, «wenn ich dich noch einmal betrunken erwische, werden die Konsequenzen weitaus härter sein. Ist das klar?»


    «Klar wie Schnaps, Kommandant», antwortete ich.


    Meqdarhan musterte mich mit zusammengekniffenen Augen, bevor er sagte: «Du kannst wegtreten.»


    Ich drehte mich um und verließ die Schreibstube. Mit jedem Schritt, den ich in Richtung Werkstatt ging, wurde ich wütender. Mein Kiefer war angespannt, und ich konnte das leise Knirschen meiner Zähne hören. Diese verdammte Strafe für ein bisschen Trunkenheit? Es war lächerlich. Ich hatte meine Pflicht getan, gekämpft wie ein Vieh, und dann gönnte ich mir ein paar Bier – so wie es jeder andere auch getan hätte. Aber nein, Meqdarhan musste ja unbedingt ein Exempel an mir statuieren.


    Meine Hände waren zu Fäusten geballt, die kalte Luft biss in meine Knöchel, als ich die Werkstatt schließlich erreichte. Das Holzgebäude war alt und trug die Narben von zahllosen Reparaturen. Ein robustes Schild über der Tür verkündete «Werkstatt». Für jene, die nicht lesen konnten, was fast alle waren, waren auch noch ein Schraubenzieher und ein Hammer dazu gemalt.


    Ich schnaubte. Der Kommandant wusste genau, wie er mich ärgern konnte. Dass er mich zum Dienst in der Werkstatt verdonnert hatte, fühlte sich wie eine persönliche Beleidigung an. «Von wegen Garlyn der Fuchs», grummelte ich leise. «Garlyn der räudige Hund müsste er heißen!»


    Meine Wut konnte ich kaum zurückhalten, doch ich wusste, dass ich keinen weiteren Ärger riskieren durfte. Beherzt öffnete ich die Tür und trat in die warme, nach Öl und Metall riechende Luft.


    Jurland, der Waffenmeister, war ein narbiger Veteran, der seit einem Treffer auf den Schädel nicht mehr in der Lage war, noch in den Kampf zu ziehen. Er humpelte und hielt den Kopf schief. «Na, der Held des Tages,» sagte er spöttisch. «Mach dich nützlich. Die Waffen und die Ausrüstungsteile reparieren sich nicht von allein.»


    «Schon verstanden. Was soll ich tun?»


    Er wies auf einen Tisch, der voller Rüstungsteile war. «Bei all diesen Teilen müssen die Lederriemen ersetzt werden. Bei der Gelegenheit kannst du auch die Ösen kontrollieren.»


    Knurrend machte ich mich an diese langweilige Arbeit, die mit eiskalten Fingern besonders wenig Spaß machte. Sie dauerte den gesamten Vormittag. Als ich fertig war, musste ich mit enervierender Präzision gebrauchte Nägel geradeklopfen, den Rost abschleifen und die restaurierten Nägel ölen. Am nächsten Tag ging es mit dem Schleifen von Waffen weiter. Das regelmäßige Schaben des Steins über das Metall war hypnotisch, beinahe einschläfernd. Jeder Strich des Wetzsteins erinnerte mich qualvoll daran, dass ich hier in der Werkstatt war, weil ich die Regeln gebrochen hatte. Jurland hatte in all der Zeit nichts zu erzählen. Wie denn auch? Er erlebte ja nichts mehr als diesen langweiligen Alltag. Ihm schien das allerdings nichts auszumachen. Er verbrachte die meiste Zeit mit Schmiedearbeiten.


    Die Tage in der Werkstatt schlichen dahin wie eine Schnecke auf einem Salzfeld, und genau so fühlte ich mich auch. Manchmal, während ich diese banalen Aufgaben erledigte, schweiften meine Gedanken ab. Ich stellte mir vor, wie ich in einem heftigen Kampf auf Leben und Tod stand, Blut und Schreie um mich herum, während mir das Blut schier in den Adern kochte. Ich erinnerte mich an meine Siege, an das großartige Gefühl, besser gewesen zu sein als der Gegner.


    Und jetzt?


    Die stumpfe Klinge spiegelte mein gelangweiltes Gesicht wider. Wieder und wieder zog ich den Wetzstein über das Metall.


    «Beweg dich ein bisschen schneller, Serak», rief Jurland zwischen zwei Hieben mit dem Schmiedehammer. Um ihn her flogen Funken, der Rauch erinnerte mich an einen Grillabend und mein Magen knurrte.


    Ich biss mir auf die Zunge und versuchte, mich auf die ermüdende Arbeit zu konzentrieren. Diese simplen Tätigkeiten waren nicht geeignet, mein Gehirn bei Laune zu halten. Mein Zorn auf den Kommandanten wuchs mit jeder Minute, die ich hier verbrachte, gefesselt an diese sinnlosen Aufgaben, doch eigentlich müsste ich nur auf mich selbst wütend sein. Ich kannte die Regeln ja. Als ich schließlich zu den Bolzen überging, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass diese Strafe ein Ende nehmen würde. Die Werkstatt war für mich zu einem Kerker geworden, in dem ich mithilfe von Langeweile langsam zu Tode gefoltert wurde.


    Ich brütete in trostlosen Gedanken, als die Tür plötzlich aufschwang und kalte Luft hereinströmte. Ich hob den Kopf und sah Rex hereinkommen, seine blauen Augen funkelten vor unverhohlenem Vergnügen. Er war ein Naridier in seinen besten Jahren. Das raspelkurze, dunkelbraune Haar wurde an den Schläfen schon etwas grau und die ersten Falten zeigten sich, der Bauch war nicht mehr so flach wie vor zehn Jahren, doch das änderte nichts an seinem - wie ich zähneknirschend zugeben musste - attraktivem Erscheinungsbild.


    Er schlenderte langsam durch den Raum, als würde er sich umsehen. «Na, Serak,» begann er mit einem süffisanten Grinsen, «wie läuft’s so in der Werkstatt? Schon viele Schwerter geschärft?»


    Ich knurrte leise und konzentrierte mich wieder auf die Klinge vor mir, den Wetzstein fest in der Hand. «Was willst du, Rex?» Die Frage war unnötig. Wir wussten beide, dass er nur hier war, um mich leiden zu sehen.


    Er zuckte mit den Schultern und tat, als würde er die verschiedenen Gerätschaften in den Regalen begutachten. «Ach, nichts Besonderes. Wollte nur mal sehen, wie unser großer Krieger sich so schlägt.»


    Ich versuchte, meine Wut zu unterdrücken. «Ich mache meine Arbeit, und ich mache sie gewissenhaft.»


    Rex lehnte sich mit dem Hintern lässig gegen den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. «Jeder bekommt, was er verdient. Ich musste das melden, sonst hätte ich mir selbst Ärger eingebrockt. Das verstehst du doch, oder?»


    «Genieß es, solange du kannst, Rex. Irgendwann wirst du auch mal dran sein.»


    Er lachte und schüttelte den Kopf. «Vielleicht. Aber bis dahin werde ich jede Minute davon genießen, dich hier schuften zu sehen.»


    Nun mischte sich Jurland ein. «Garlyn war so freundlich, mir den Gehilfen an die Seite zu stellen, um den ich ihn gebeten hatte. Ich bin mit Seraks Arbeit sehr zufrieden, ich habe ihm Arbeiten anvertraut, die ich allein nicht mehr schaffe. Dass deine Rüstung so gut sitzt und dir nicht der Schwertgurt von deinem dicken Hintern fällt, verdankst du allein ihm, denn deine Ausrüstung ist wieder mal in einem unmöglichen Pflegezustand hier eingetroffen. Falls du nur hier bist, um dich über Serak lustig zu machen, kannst du gleich wieder verschwinden!»


    Ich sah ihn überrascht und voller Dankbarkeit an. So viel Kameradschaftsgeist hatte ich ihm nicht zugetraut. Fast tat es mir leid, dass ich die Arbeit so sehr hasste.


    Rex errötete vor Zorn, doch seine Stimme blieb ruhig. «Ich bin eigentlich aus einem anderen Grund hier. Eigentlich wollte ich mit dir sprechen und nicht mit deinem Gehilfen.»


    «Schön, hier bin ich. Worum geht es?»


    «Du hast einige interessante Gerätschaften dort im Regal, die in einer gewöhnlichen Werkstatt wie dieser nicht unbedingt üblich sind.»


    Rex näherte sich einem Regal und griff nach einer Flasche, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Darin schwammen verschiedene kleine Fläschchen, gefüllt mit farbenfrohen Substanzen. Jede trieb auf einer anderen Höhe. «Das hier zum Beispiel. Was ist das?»


    «Das ist ein Gasanalysator, ein Gerät, um die Zusammensetzung der Atemluft zu messen. Ich benutze ihn, da ich hier mit offenem Feuer arbeite. Der meiste Rauch entweicht durch die Esse, doch je nach Wetter kann die Luft schwer werden. Dann drückt der Wind den Rauch zurück in die Esse. Bevor das giftige Gas eine tödliche Konzentration erreicht, sehe ich es am Gasanalysator.»


    «So, du weißt also, was das ist. Woher hast du den Gasanalysator?»


    Jurland lächelte verschwörerisch. «Ich habe meine Quellen. Und du bist ziemlich neugierig, finde ich.»


    «Aus gutem Grund!» Rex gestikulierte aufgebracht. «Normalerweise nutzen Reliktjäger so was, wenn sie tief unten in versunkenen Tempeln und Katakomben nach Beute suchen. Bekanntlich sind Reliktjäger nicht eben nette Leute! Sie sind Grabräuber, Hehler, Schmuggler und meistens auch Mörder.»


    Jurland wirkte erstaunt. «Ich habe den Gasanalysator tatsächlich von einem Reliktjäger erworben. Einem erfolglosen Reliktjäger, der verletzt war und dringend Geld für einen Heiler benötigte. Darum habe ich einige seiner Ausrüstungsgegenstände für einen Spottpreis erhalten.»


    «Damit hast du wahrscheinlich seine Heilung finanziert, und jetzt treibt der weiter hier in der Gegend sein Unwesen», regte Rex sich auf. «Wann hast du das gekauft, wo und wie hieß der Kerl? Beschreibe ihn, damit wir ihn töten können, wenn er uns auf einem Kontrollmarsch begegnet.»


    «Jetzt reicht es aber», brummte Jurland. «Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig, und ich unterstütze auch keine Selbstjustiz. Raus jetzt, du hältst uns von der Arbeit ab.» Er wies mit dem Schmiedehammer zur Tür.


    Rex sah aus, als wolle er noch etwas sagen, verkniff es sich dann aber und verschwand.


    Gerade wollte ich in meiner Arbeit fortfahren, da erklang draußen das Signalhorn. «Trupp zwei ist zurück», brüllte jemand aus der Ferne. «Sie sind verletzt!»


    Mir fiel der Schleifstein aus der Hand und ich sprang auf. Mit der ledernen Arbeitsschürze um den Körper rannte ich durch das Lager in Richtung Tor. Kalter Schneematsch spritzte an mir hoch. Mir war egal, was Jurland oder Garlyn oder sonst wer davon hielt, ich musste sehen, wie es Mauli und Cherax und meinen anderen Kameraden ging!

    Ein ernstes Wörtchen, oder zwei


    Da es mein Jubiläum war, trank ich mehr, als erlaubt war. Auf dem Rückweg war ich nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Bevor wir in Sichtweite der Torwache kamen, zog ich meinen Arm von Maulis Schultern. Man könnte meinen, dass die frische Luft mir gutgetan hätte, aber ich war immer noch so betrunken wie zu dem Zeitpunkt, als wir den Heulenden Hund verlassen hatten.


    «Den Rest laufisch alllleine», verkündete ich.


    «Fall nicht hin, der Weg ist voller Pfützen», sagte Mauli besorgt.


    «Isch bin Meister der Ballllance», lallte ich und breitete die Arme aus. Zielstrebig torkelte ich um die Pfützen herum, meine Stiefel wurden nicht nasser, als sie ohnehin schon waren, aber aus irgendeinem Grund wurden wir trotzdem von der Torwache aufgehalten.


    «Ihr sollt doch nicht so viel saufen, dass ihr besoffen seid», meckerte einer der beiden, der Rexar hieß, aber alle nannten ihn Rex.


    «Wo binnich besoffn?», fragte ich.


    Er wies von meinem Kopf bis hinab zu den Stiefeln. «Überall, von oben bis unten! Schau dich an! Du weißt, dass ich das melden muss.»


    «Ach, komm, Re ... Rex.»


    «Mag sein, dass andere ein Auge zudrücken, aber ich mach das nicht. Jetzt rein mit dir und auf direktem Weg ins Bett, bevor noch ein Unglück geschieht.»


    «Das sachst du nur, weillu nich eingeladen warst! Du bissein elener Sauhund!»


    «Und die Beleidigungen melde ich gleich mit. Rein jetzt», knurrte Rex und schob mich grob durchs Tor.


    Ich stolperte über meine Füße, stürzte und schlitterte auf Händen und Knien durch den kalten Schlamm.


    Mauli erbarmte sich, mir auf die Beine zu helfen. Unter Protest ließ sich mich von ihr in meine Barracke führen. Es war noch niemand in meiner Stube, so kam sie mit herein. Sie setzte mich auf mein Bett und zog mir die nasse Jacke, den feuchten Wollpullover und die Stiefel aus, so dass ich nur noch im Unterhemd war. Danach ergriff sie meine Finger. «Deine Hände sind eiskalt.»


    «Bedank dich bei Rex, der mich innen Schlllamm geschickt hat.»


    Sie zog mir mein Nachthemd über. Aus der dreckigen Hose schälte ich mich selbst, dann ließ ich mich ins Bett sinken und wickelte mich in die Woldecke. Mauli verschwand für einen Augenblick, um mit einer gusseisernen Wärmflasche zurückzukehren, die sie mir an die Füße legte. «Gute Nacht», sagte sie.


    «Nacht.»


    Dass Cherax und die anderen eintrudelten, bekam ich nicht mehr mit. Ich schlief wie ein Stein.


    Nach dem Weckruf fanden wir uns, wie immer, zum Appell ein, um die Tagesbefehle entgegenzunehmen. Der Drillplatz war ein trostloser Anblick an diesem späten Wintermorgen. Der Boden war aufgeweicht und matschig, jeder Schritt verursachte ein widerliches Schmatzen. Ein kalter Wind wehte über das Lager, schneidend und unerbittlich, und trug den Geruch von feuchter Erde und altem Holz mit sich. Die Zeltplanen flatterten unruhig, als würden sie gegen den nahenden Appell zu so früher Stunde protestieren. Rauch stieg träge in die Luft, er verströmte den würzigen Geruch von verbranntem Holz und dem Eintopf, den es einmal täglich gab. Was wir zum Frühstück oder Mittag aßen, war unsere Sache.


    Die Rüstungen und Waffen glänzten im trüben Morgenlicht. Die Söldner standen in lockeren Haufen zusammen, die meisten von ihnen fröstelnd und missmutig. Manche schlugen sich die Hände gegen die Oberarme, um die Kälte zu vertreiben.


    Garlyn Meqdarhan schien eine schlechte Nacht gehabt zu haben. Er sah bleich und aufgedunsen aus, aber ansonsten hielt er sich frisch, wenn ich seinen Alterungsprozess mit dem von Mauli verglich, die genau so alt war wie er. «Guten Morgen», röhrte er. Blick und Tonfall sagten, dass er für einige von uns gar nicht gut werden würde.


    «Guten Morgen, Kommandant», antworteten wir pflichtschuldig.


    «Wie viele von euch wissen, hatte ich gestern ein vielversprechendes Gespräch mit einem Auftraggeber. Ich darf euch gute Neuigkeiten verkünden: Uns wird in Zukunft der Schutz eines Abschnitts der Salzstraße anvertraut werden. Damit ihr alle auf demselben Stand seid, hier eine kurze Einführung. Die Salzstraße ist keine einzelne Straße, sondern ein gut ausgebautes Straßennetzwerk, das die großen Städte des Nordens miteinander verbindet. So wurde früher das kostbare Steinsalz von hier nach da gebracht, woher sie ihren Namen hat. Heute handelt man alles Mögliche über sie, doch ihren Namen hat sie behalten. Damals wie heute sind Wegelagerer ein ernstes Problem. In letzter Zeit werden auch Karawanen mit beträchtlichem Geleitschutz überfallen und ausgeraubt. Deswegen werden wir uns um dieses Problem kümmern. Fragen?»


    Rex meldete sich. «Ist bekannt, wer die Händler überfällt?»


    Garlyn nickte. «Orks.»


    Rex spuckte aus. «War ja klar.»


    Ich meldete mich und konnte nur mit Mühe warten, bis ich aufgerufen wurde. «Das muss irgendeine Drecksrotte sein. Nur wenige Rotten überfallen Menschen! Was Orks brauchen, organisieren sie sich selbst, und was sie sich nicht organisieren können, das brauchen sie auch nicht.»


    «Wie sieht es aus mit Gold? Geschmeide?», warf Rex ein. «Bei dem ganzen Schmuck, den ihr ständig tragt, macht ihr den almanischen Prinzessinnen Konkurrenz. Und soweit ich weiß, kann nur eine einzige Rotte Metalle schmelzen und verarbeiten.»


    Das konnte so nicht stehen bleiben. «Das hat nichts mit Eitelkeit zu tun! Jedes Schmuckstück hat rituelle Bedeutung und ist entweder ein Fluchbrecher oder eine Trophäe. Irgendeine fremde Kette mit bunten Edelsteinen würde keinen Zweck erfüllen!»


    «Außer als Andenken an den erfolgreichen Überfall.»


    «Ruhe.» Garlyn deutete auf Rex. «Solchen Mist will ich kein weiteres Mal hören. Ob Orks ob Menschen, ob Trolle ob Alben, alle Völker sind gleich verdorben. Es gibt niemanden, der gut und reinen Herzens ist. Hier ist das egal! Hier sind wir alle Eisenfalken!»


    «Aber du musst zugeben, dass der Norden schon immer mit plündernden Orkbanden zu tun hat», murrte Rex.


    «Das sind meistens junge Krieger, die bloß ein bisschen Kampferfahrung und ihre ersten Trophäen sammeln wollen», warf ich ein.


    «Da bin ich ja beruhigt», ätzte Rex. «Unter diesen Umständen überlasse ich ihnen liebend gern meinen Skalp!»


    «Ich sagte Ruhe», donnerte Garlyn. «Rexar und Serak, ihr habt heute großen Putzdienst fürs unaufgeforderte Sprechen und für das Ignorieren des Befehls, zu schweigen. Was Serak betrifft, so darf er sich morgen früh außerdem noch die Strafe für seine Trunkenheit abholen kommen. Trupp eins macht sich jetzt fertig zum Garnisonsdienst laut Plan, Trupp zwei rüstet sich aus für einen Kontrollmarsch. Ausführung!»


    Während meine Kameraden sich für den Kontrollmarsch versammelten, trottete ich zurück in die Baracke, legte meine Rüstung und Bewaffnung ab, mit Ausnahme des Kampfmessers, das immer am Gürtel blieb, und holte mir das Putzzeug.

    Der kalte Wind biss uns ins Gesicht, als Rex und ich uns widerwillig durch den Matsch schleppten, beide mit Schaufeln, Eimern und Besen bewaffnet statt mit Schwertern und mit einer Menge ungesagter Worte.


    Wir begannen, den Schlamm beiseite zu schaben, damit die Pfützen abflossen, während Rex unaufhörlich vor sich hin fluchte. «Diese verdammte Kälte frisst einem die Knochen auf», murrte er, während er energisch mit seiner Schaufel über den Boden fuhr.


    Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Sein Ärger tat mir gut. «Vielleicht ist es das Beste, wenn du dich bewegst, Rex. Dann wird dir warm.» Er warf mir einen giftigen Blick zu, aber ich ignorierte ihn.


    Die Arbeit war zäh und undankbar. Unsere Stiefel schmatzten bei jedem Schritt, und der Schlamm klebte an manchen Stellen so hartnäckig, dass es eine Ewigkeit dauerte, ihn loszuwerden. Doch immerhin hörten wir auf zu steiten. Wir konnten unsere Wut auf die Arbeit richten, statt aufeinander.


    Die Latrinen waren unser nächstes Ziel. Der Gestank war überwältigend, und selbst durch die kalte Winterluft krochen die fauligen Dämpfe in unsere Nasen. Mit zusammengebissenen Zähnen machten wir uns an die Arbeit, säuberten die Sitzflächen der Plumpsklos und schütteten Kalk hinein, um die schlimmsten Gerüche abzutöten.


    Weiter ging es zu den Ställen, wo die wenigen Pferde lebten, die unsere Söldnergruppe besaß. Eins gehörte unserem Kommandanten, die anderen dienten den Kundschaftern und Meldereitern. Die Tiere hatten den Boden in eine schmierige, stinkende Masse aus Mist und Matsch verwandelt. Mit schweren Gabeln und Schaufeln bewaffnet, räumten wir den Dreck beiseite.


    Wir verteilten frisches Stroh, um den Stallboden einigermaßen trocken zu halten, und füllten die Tränken der Pferde auf.


    Am Ende des Tages, als Alvashek im Westen langsam hinter den schiefen Giebeln von Unwain versank und das Lager in ein düsteres Zwielicht tauchte, ertönte das Horn. Unsere Kameraden kehrten Heim. Wir schleppten wir uns müde und dreckverkrustet zurück zum Drillplatz. Der kalte Wind hatte nicht nachgelassen. Die Stiefel der heimkehrenden Kameraden schmatzten im Schlamm, doch im Gegensatz zu uns, die wir den Tag im Dreck und Gestank der Latrinen verbracht hatten, waren sie erschöpft, aber zufrieden. Ihre Gesichter waren gerötet von der Anstrengung und der Kälte, doch sie lächelten, weil es wieder Arbeit gab und damit Sold. Der Wirt des „Heulenden Hundes“ würde heute Abend einige Humpen mehr ausschenken müssen. Zudem schien die Arbeit nicht allzu schwer gewesen zu sein.


    «Wahrscheinlich schrecken wir sie durch unsere Gegenwart ab», meinte Cherax. «Orks belassen es meist bei Plünderungen, kleinen Scharmützeln und vermeiden große Gefechte. Da wird in Zukunft nicht viel passieren. Sie werden nach leichterer Beute Ausschau halten.»


    «Stimmt wohl», murrte ich. «Aber Garlyns roter Schopf wäre eine großartige Trophäe.»


    Cherax brach in schallendes Gelächter aus, die anderen stimmten ein. Anscheinend hielten sie das für einen Witz.


    Die Männer, die Garnisonsdienst gehabt hatten, trudelten aus den nun nicht mehr ganz so schlammigen Straßen des Söldnerlagers ein. Wenig später erschien unser Kommandant und die Gespräche verstummten. Er ließ den Blick über die glücklichen Söldner schweifen. Im krassen Gegensatz dazu standen Rex und ich am Rand des Trupps, schmutzig und mit dem widerlichen Gestank der Latrinen und des Stallmistes behaftet. Unsere Hände waren aufgesprungen von der Kälte und dem unnachgiebigen Schrubben, die Gesichter versteinert.


    «Seht euch die Helden des Tages an», rief er. «Damit ist die Schuld von Rex abgegolten. Du beteiligst dich morgen regulär beim Garnisonsdienst von Trupp zwei, während Trupp eins auf Kontrollmarsch geht.»


    «Jawohl, Kommandant», maulte er.


    «Wir werden künftig jeden Tag wechseln. Erst geht der eine Trupp auf Kontrollgang und der andere macht Garnisonsdienst, danach umgekehrt. Was Serak betrifft, so habe ich für ihn eine weitere Spezialaufgabe, um ihm den übermäßigen Durst für jetzt und alle Ewigkeit auszutreiben.»


    «Jawohl, Kommandant», sagte ich. Von der Kälte war meine Stimme rau.


    «Morgen früh kommst du nach dem Appell noch einmal zu mir, dann besprechen wir deine Pflichten. Wegtreten!»


    Damit zerstreute sich der nasse, durchgefrorene Haufen. Sehnsüchtig erinnerte ich mich an die heiße Badegrotte im Herzen der Bruthöhlen, wo man sich von der Kälte des Winters erholen konnte. Hier gab es so etwas nicht.


    «Was machst du heute Abend?», fragte Mauli. «Kommst du mit in den Heulenden Hund?»


    «Ich bin erledigt», murrte ich. «Ich will einfach nur schlafen.»


    «Rex kommt auch mit, obwohl er die gleiche Arbeit hatte.»


    «Ein Grund mehr, sich ins Bett zu verkriechen. Gute Nacht.»


    Während ich mit bettfertig machte, hörte ich, wie die Kameraden plaudernd und lachend aufbrachen. Das war kein gutes Gefühl, aber ich wusste nicht, welche Schikanen Garlyn sich für den morgigen Tag für mich überlegt hatte. Er konnte recht kreativ sein, und ich wollte danach noch aufrecht gehen können. Ich zog die Wolldecke bis zum Hals und presste meine Füße gegen den heißen Stein, den ich mit ins Bett genommen hatte, während die Stimmen meiner Kameraden sich entfernten. Ich schloss die Augen und wünschte mir Schnaps.


    Bitte melde dich an, um diesen Anhang zu sehen.


    Selbstgeschriebener Song zur Einstimmung:


    Heart of the Tundra

    ©Baxeda


    Lyrics:

    Prolog


    Unwrain, ein Kaff im Nirgendwo, war nicht für sein schönes Wetter bekannt. Schneeregen peitschte in unsere Gesichter und bedeckte unsere Kapuzen und Wolljacken mit kaltem Matsch, so dass wir uns beeilten. Wenig später trat ich gemeinsam mit zwei Dutzend meiner Kameraden in die dunkle Holzhütte. Anderswo hätte man eine Kneipe wie diese wegen der völligen Abwesenheit von Hygiene geschlossen, aber in dieser Gegend war der «Heulende Hund» eine gute Adresse. Die Brandflecken auf den Holzdielen, die dreckigen Bleiglasfenster und der Kohlgestank aus der Küche verrieten, dass die Kneipe nicht zur gehobenen Gastronomie gehörte.


    Die wenigen Gäste blickten sich nach uns um. Sie verfolgten jede unserer Bewegungen, sei es wegen unseres martialischen Auftretens, wegen unseres Körpergeruchs oder aufgrund unserer schieren Menge. So viele Gäste auf einmal kannte man in Unwrain nicht, einem Ort, der so klein war, dass er eigentlich keinen eigenen Namen verdiente. Doch heute genoss die schäbige kleine Kneipe am Arsch der Welt die fragwürdige Ehre, von zwei Dutzend Söldnern verstopft zu werden, die sich um die wenigen Tische quetschten.


    «Mahlzeit», grüßte ich die fremden Gäste, während ich nach hinten zum Tresen ging und für alle die Bestellung aufgab. Das ging schneller, als wenn jeder einzeln wählte, da am Ende sowieso alle dasselbe tranken. Etwas anderes als Bier und Kohlsuppe stand nicht zur Auswahl, und natürlich entschieden sich alle für das Bier.


    Die beiden Schankmädchen waren sichtlich überfordert, der Wirt gereizt, doch am Ende standen die bestellten Biere auf den Tischplatten. Jeder von uns griff nach seinem Krug und alle Blicke richteten sich erwartungsvoll auf mich.


    Ich stand auf und hob mein Trinkgefäß, ließ den Blick betont feierlich über die Runde schweifen. Da ich unter Orks aufgewachsen war, bedeutete mir ein Jubiläum nichts. Das bloße Verstreichenlassen von Zeit war wenig ruhmvoll. Doch nachdem es mir den Ruf eines Geizhalses beschert hatte, weil ich das fünfjährige Jubiläum ohne Feier hatte ins Land ziehen lassen, versuchte ich mich zum zehnjährigen daran, es wieder gut zu machen, obwohl mein letzter Sold ausgeblieben war.


    «Auf zehn weitere Jahre mit euch, ihr elenden Drecksäcke.»


    «Auf zehn weitere Jahre!», brüllten die Söldner und dann tranken sie gierig.


    Ich nahm ebenfalls einen beherzten Schluck und stellte fest, dass das Bier heute krümelig schmeckte. Das war mir egal, ein Besseres gab es nicht und es würde seinen Zweck erfüllen. Mit einem Rülps pflanzte ich mich wieder auf meinen Hocker.


    Mauli und Cherax grinsten mich an, ich grinste zurück. Mauli war sichtlich älter geworden, seit wir uns vor zehn Jahren das erste Mal begegnet waren. Sie besaß nur noch die Hälfte ihrer Zähne und klagte über etliche Zipperlein, doch Cherax als Troll hatte lediglich ein paar Narben mehr als früher. Was mich betraf, musste ich momentan irgendwo zwischen fünfundzwanzig und dreißig sein und hatte damit noch etwas Zeit, bis das Alter sich bemerkbar machen würde.


    «Zehn Jahre, Serak», sagte Cherax bedeutungsschwer. «Wo ist nur die Zeit geblieben?»


    «Was dich betrifft - versoffen und verhurt», antwortete Mauli trocken. «Andere Leute haben derweil hart gearbeitet. Ich weiß sehr gut, wo all die Zeit geblieben ist. Ich spüre die Jahre in jedem Knochen.»


    «Kein Streit heute, ich verbiete das», stellte ich klar.


    «Mauli kann nicht anders», maulte Cherax. «Wenn die eines Tages unter der Erde liegt, muss man ihr Mundwerk extra totschlagen, damit es aufhört, sich über mich zu beschweren.»


    «Schnauze jetzt», sagte ich und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. «Heute wird gesoffen. Was ihr danach macht, ist eure Kanne Bier, aber jetzt wird gefeiert. Auf mich!» Ich hob den Krug.


    «Auf dich», stimmten Mauli und Cherax ein, wir tranken und damit herrschte vorerst wieder Tischfrieden.


    Während Mauli und Cherax sich mit den anderen am Tisch unterhielten, trank ich schweigend und versank in meinen Gedanken. Vielleicht lag es daran, dass ich, wie Mauli, nur mit einer kurzen Lebensspanne geschlagen war. Auch ich konnte die Zeit nicht einfach vergessen, jedes Jahr wog kostbar. Umso wichtiger war, dass ich mein Leben in guter Gesellschaft verbrachte.


    Das war nicht immer so gewesen. In den Bruthöhlen von Shakorz hatte ich das Leben eines Sklaven geführt, obwohl ich mir die Narben der Rotte verdient hatte. Irgendwann war es zu viel geworden, ich war in die Fremde geflohen, um mein Glück unter Menschen zu versuchen. Doch auch dort fand ich keinen Anschluss, ich war mit den komplexen Gesetzen der Freien Naridischen Republik überfordert und endete als Bettler und Dieb. Erst unter der Obhut des Raubritters Dolwin von Niederau, der das Leben eines Gesetzlosen führte, fand ich in der Ruine seiner Burg einen Ort, den ich Zuhause nennen konnte. Er lehrte mich lesen, schreiben, rechnen, kämpfen und ich zog mit glühendem Herzen für ihn in den Kampf. Doch nichts währt ewig und nichts Gutes währt überhaupt. Dolwin und seine Räuber wurden gehenkt, ihre Familien flohen in den Norden. Ich aber schloss mich einer Söldnerbande an.


    Garlyn Meqdarhan besaß nicht den Edelmut von Dolwin, er war ein skrupelloser, hinterlistiger Fuchs, und doch bot er mir eine neue Heimat. Bei den Eisenfalken war ich nicht Serak der Halbork, das erbärmliche Zwischenwesen, weder Ork noch Mensch, sondern hier war ich ein Krieger unter Kriegern. Wir teilten Suppe und Schnaps, wir schliefen unter einem Dach, wir lachten und weinten gemeinsam. Jede Mission, die wir unternahmen, schweißte uns fester zusammen. Ich war vor zehn Jahren noch ein junger Halbork auf Sinnsuche gewesen. Was ich am Ende gefunden hatte, waren Blut, Schmerz und einen verdammt guten Grund, weiterzumachen. Denn in dieser verfluchten Welt aus Dreck und Verrat, was könnte befriedigender sein, als den Göttern, die auf uns spuckten, mit einem höhnischen Lachen den Mittelfinger zu zeigen?


    Die zehn Jahre führten uns von einem Schlachtfeld zum nächsten Mein erstes großes Gefecht unter dem Eisenfalken fand damals in Blutstein statt – eine befestigte Siedlung voller Vogelfreier, die ihrem Namen alle Ehre machte, nachdem wir durchgezogen waren. Wir verloren die Hälfte unserer Männer, was für die Überlebenden den doppelten Sold bedeutete, und plünderten hemmungslos. Alles hat seine Vorteile.


    Am meisten aber blieb mir der verfluchte Auftrag im Nebelmoor im Gedächtnis, eine Sumpflandschaft so dicht und heimtückisch, dass selbst professionelle Fährtensucher darin verirrten. Ausgerechnet an diesem unwirtklichen Ort versteckte sich ein Trupp abtrünniger Soldaten, die wir auf Befehl eines naridischen Feldherrn aufreiben sollten. Doch nicht nur diese Mistkerle machten uns das Leben schwer, sondern auch das Sumpffieber, das in dieser verfluchten Brühe lauerte. Es schwächte die Abtrünnigen, so dass wir am Ende einen äußerst kläglichen, aber heiß ersehnten Sieg errangen. Für jeden Abtrünnigen, ob lebend oder tot, winkte uns ein dickes Kopfgeld. Doch auch von uns erwischte das Sumpffieber einige, und als fauliges Sahnehäubchen des Ganzen wurden wir auch noch um den Sold geprellt. Für all die Mühen, all die Toten, standen wir am Ende doch mit leeren Händen da.


    Das war der Grund, warum ich heute bloß einen Teil meiner Kameraden einladen konnte, aber besser als gar keine. Es gab kein Problem, das ich für unlösbar hielt, ich war auch im Kopf ganz ein Kämpfer geworden. Früher oder später würde es einen neuen Auftrag geben und neues Geld, bis dahin halfen Bier und Schnaps, die Flaute zu überstehen. Ja, auch Garlyn hatte mich vieles gelehrt.


    Die Krüge klimperten, Karten raschelten. Cherax versuchte sein Glück bei einem Schankmädchen und Mauli steckte sich eine Pfeife an. Die Ärmste ging – wie immer – leer aus, als die Pärchen sich für die heutige Nacht formierten. Das war gut für mich, denn so war sichergestellt, dass sie mir beim Trinken bis zum Schluss Gesellschaft leisten würde. Ich erzählte ihr einen Witz, bei dem Trolle äußerst schlecht wegkamen, sie lachte und wir stießen an.


    Alles in allem war ich mit meinem Leben zufrieden. Mit jedem Schwertstreich kämpfte ich nicht nur für bare Münze, sondern auch für die Genugtuung, dass jeder durch meine Hand fallen konnte, der mir dumm kam. Ich war nicht mehr der Jüngling, der herumgeschubst wurde, ich war ein ausgewachsener Krieger, dem man Respekt zollte. Ich war der Mann, der ich immer sein wollte.


    War ich glücklich?


    Die ehrliche Antwort lautet: Nein.


    Auch wenn ich es nie zugegeben hätte, vermisste ich den orkischen Alltag in Shakorz, die allgegenwärtigen Glücksbringer, den unbeugsamen Stolz der Krieger, den Geruch feuchter Erde und vor allem meinen sensiblen Milchbruder Katax. Kein Bier, kein Wein, kein Schnaps konnte mich mein Heimweh vergessen lassen. Das war einer der Gründe, warum ich mehr trank, als gesund für mich war. Nicht jeder Schmerz konnte weggegrinst werden.

    Heart of the Tundra

    Trennungshelfer


    Ein wüstes Fluchen riss mich aus dem Schlaf. Rex durchwühlte seine Taschen und verteilte alles auf dem Boden, als er nach dem kleinen Silberrelikt suchte. Als er es nicht fand, zog er sich auch Nias Gepäck heran, um jedes Fach und jede Seitentasche zu kontrollieren. «Nia, du hast mir etwas zu erklären. Wo ist das Relikt, das ich in meiner Hosentasche hatte?»


    Kurzerhand schüttete er ihren Rucksack aus.


    Nia sah ihm verständnislos zu. «Wovon redest du, Rex? Ich weiß nichts von einem Relikt. Und ich habe auch nichts aus deiner Hosentasche genommen.»


    «Lüg mich nicht an», brüllte er. «Relikte lösen sich nicht einfach in Luft auf.»


    «Ist es möglich, dass du es schlichtweg verloren hast?», fragte sie.


    «Hältst du mich für blöd?», schnauzte er. «Meine Hosentaschen sind verschließbar. Ich transportiere ständig Kleinkram darin und nie ist etwas herausgefallen. Du hast mir das Relikt gestohlen!»


    Nia hob abwehrend die Hände. «Du leidest unter Verfolgungswahn, wie immer, wenn du nach einem Tavernenbesuch wieder nüchtern wirst. Ich habe dir nichts gestohlen. Ich liebe dich mehr, als du dir vorstellen kannst.»


    In dem Moment fand Rex das Relikt mitten in ihrem Werkzeug liegen. Na so was aber auch. Triumphierend hielt er die kleine Silberkugel in die Luft. «Das glaube ich dir nicht, Nia», sagte er mit erstickter Stimme. «Du hast mich nie geliebt. Du hast mich nur benutzt, weil du eine schlechte Reliktjägerin bist!»


    «Jetzt hört es aber auf», schrie Nia. Doch nun schien ihr die gefährlich angespannte Körperhaltung von Rex aufzufallen, denn sie wich ein Stück zurück. Einen Reliktjäger, der einen derart anstarrte, sollte man nicht weiter reizen. Leise fügte sie hinzu: «Das ist alles nicht wahr. Ich liebe dich. Ich liebe dich wirklich, Rex. Bitte glaube mir.»


    «Nein, Nia», grollte er und verpasste ihrem Rucksack einen Tritt. «Das glaube ich dir nicht länger. Du hast mich für schnelles Geld verraten, hast mein Vertrauen ausgenutzt. Dafür wirst du bezahlen.»


    Rex griff nach Nias Eisenarmbrust, die schussbereit neben ihrem Schlafplatz lag, zielte auf sie und drückte ab. Es knallte und der Bolzen zischte knapp über Nias Schulter, um gegen den Fels zu prallen. Steinchen spritzten und prallten klimpernd von den Eisenteilen der Rüstungen ab. Nia ließ alles stehen und liegen. Sie rannte, was ihre Beine hergaben, das steinerne Band entlang und dann eilte sie polternd die Eisentreppe hinauf. Rex folgte ihr ein Stück und verschwendete zwei weitere Bolzen, ehe er wutschnaubend zu seinem Lager rückkehrte.


    «Na, wenigstens ist das Relikt wieder aufgetaucht», sagte ich unschuldig.


    «Halt dein Maul», brüllte Rex mich an, «halt einfach dein Maul!» Dann sackte er in sich zusammen und vergrub heulend die Maske in seinem gesunden Arm.


    Die beiden Reliktjäger, die mit uns am Tisch gesessen hatten, lagerten auf meiner anderen Seite. Unweigerlich hatten sie den Streit mitbekommen. Sie packten guter Dinge ihre Sachen. Sie stiegen ebenfalls die Eisentreppe hinauf, ohne ihre gute Laune auch nur im Mindesten zu verschleiern. Es fehlte nur, dass sie ein Liedchen pfiffen. Die beiden erinnerten mich an zwei Aasfresser. Rex ließ sie ziehen, so wie er auch Nia hatte ziehen lassen. Er würdigte sie keines Blickes und sagte nichts. Noch immer wurde er von einem heftigen Gefühlsausbruch durchgeschüttelt. Ich ließ ihn in Ruhe und rauchte. Als er wieder vernünftig atmen konnte, reichte ich ihm auch eine Rauchstange.


    «Danke, Sodo», sagte er erstickt. «Du bist ein wahrer Freund.»


    «Keine Ursache, Rexi. Dafür sind Freunde da.» Er würde nie verstehen, wie ich diesen Satz meinte.


    Gemeinsam rauchten wir und starrten in den Abgrund vor unseren Füßen.


    Ende


    Zurück im Riss


    Immerhin fiel Rex nun auf, dass ich keinen Platz mehr am Tisch hatte, rückte etwas zur Seite und winkte mich dazu. Jetzt saßen wir zu fünft um das winzige Möbelstück.


    «Wieso nennt der Kerl dich eigentlich Rexi?», fragte Nia leise.


    Aber Rex lachte nur und griff nach seinem Schnaps. Nia starrte ihn noch eine Weile fordernd an, um eine Antwort zu erzwingen, doch weil er hartnäckig schwieg, widmete sie sich schließlich wieder den anderen beiden. Rex konnte stur sein, das hatte ich auch schon erlebt, doch meistens war er umgänglich. Für ihn hörte der Spaß erst dann auf, wenn er sich verraten und verlassen fühlte, doch ansonsten war er kaum außer Fassung zu bringen. Er beobachtete mit bemerkenswerter Ruhe, wie seine Freundin vor seinen Augen mit den beiden Reliktjägern scherzte. Den zwei Burschen war augenscheinlich schnurz, ob Nias Partner mit am Tisch saß, während sie mit unverhohlenem Interesse ihre Chancen ausloteten. Wie weh Nia dem armen Rex damit tat, bemerkte sie nicht. Vielleicht war es ihr auch schlichtweg egal oder sie quälte ihn mit Absicht, um ihm zu zeigen, dass sie auch einen anderen Reliktjäger haben konnte oder gleich ein Doppelpack. Auch wenn sie eine Frau war, durfte man nicht vergessen, dass sie vor allem eines war: eine Reliktjägerin.


    Nia bemerkte irgendwann, dass Rex sie unentwegt beobachtete, und legte ihre Hand auf seine. «Was ist denn los? Du siehst so nachdenklich aus. Ist etwas nicht in Ordnung?»


    «Ich bin nur ein bisschen müde. Es war ein langer Tag.» Seine starken Schmerzen verschwieg er. Seine Sorgen ebenfalls.


    «Wir haben viel geschafft», pflichtete Nia ihm bei. «Wir können stolz auf uns sein.»


    «Ja, wir ergänzen uns gut.»


    «Das finde ich auch, Rex. Wir sind ein gutes Team. Und so viel mehr als das.» Ihre Finger schlossen sich fester um seine Hand.


    «Ja, das sind wir», wiederholte er so sanft, dass ich unwillkürlich das Gesicht verzog.


    «Du liebst mich, nicht wahr, Rex?», säuselte Nia.


    «Natürlich liebe ich dich. Wie könnte ich dich nicht lieben? Du bist die schönste, die klügste, die mutigste Frau, die ich je getroffen habe. Du bist mein Leben, Nia. Mein Licht in der Dunkelheit und ich werde dich nie verlassen.»


    Mir faulten fast die Ohren weg bei dem Gesülze. Ich schlürfte noch einen Schluck pilzig schmeckendes Taudisbräu.


    «Das ist schön, Rex», sagte Nia erleichtert. «Ich liebe dich mehr, als du dir vorstellen kannst. Du bist mein Fels in der Brandung. Ich wünschte, du würdest deine Zweifel vergessen, mir einfach vertrauen und dich in meine Arme fallen lassen.»


    «Ich zweifle nicht, Nia. Ich glaube es dir doch. Ich glaube es dir wirklich.»


    So schnell konnte sich der Sinn eines Mannes wandeln. Rex legte den gesunden Arm um Nia und kuschelte seufzend den Helm in ihren Federkragen hinein. Die anderen beiden Reliktjäger musterten ihn ungerührt. Vielleicht überlegten sie, wie sie ihn loswerden konnten, aber da er seiner Freundin keine Grenzen aufzeigte und ihnen auch nicht in die Quere kam, würde das wahrscheinlich gar nicht notwendig sein.


    «Dann sei glücklich, Rex», sagte Nia. «Lass uns die Nacht genießen und die Welt vergessen. Lass uns heute nur an uns denken. Komm, Rex. Unser Schlafnest wartet.»


    Nia stand auf und zog Rex mit sich. Hand in Hand gingen sie aus der Taverne. Im Gehen schmusten sie. Augenscheinlich waren sie glücklich. Oder vielleicht auch nicht.


    Die zwei anderen Reliktjäger sahen ihnen nach und starrten dann missmutig auf ihre Getränke. Das war wohl nichts gewesen – zumindest nicht heute.


    «Für mich wird es auch Zeit.» Ich erhob mich, klopfte zum Abschied auf den Tisch und ließ die beiden allein zurück. Ich bezahlte und dann stieg auch ich durch den Spalt zurück nach draußen in die Dunkelheit. Im Restlicht, das nach draußen fiel, entzündete ich meine Sturmlaterne, hängte sie an den Rucksack und machte mich auf den Weg.


    Wenn man der Eisentreppe ein Stück hinauf folgte, kam irgendwann ein breites Band in der Felswand, ein Vorsprung, auf dem man bequem gehen konnte. Er führte zu mehreren Felsnischen, in denen die Reliktjäger schliefen, nachdem sie in der Taverne zu Gast gewesen waren. Auch ich hatte dort mein Nest eingerichtet, so dass ich hören konnte beziehungsweise musste, was Rex und Nia nun trieben. Sie gaben sich hemmungslos ihrer Leidenschaft hin und vergaßen für eine Weile alles andere. Fast wäre mich das schlechte Gewissen überkommen, als ich an das gestohlene Relikt dachte. Aber nur fast. Irgendwann kehrte Ruhe ein und auch mir fielen die Augen zu.

    Unter vier Augen


    Wir gingen ein paar Schritte über den Schotterweg am Grund der Schlucht. Ich reichte ihm eine Rauchstange und zündete sie ihm an. Auch ich selbst gönnte mir eine. Da man Gewicht sparen musste, das Rauchen hier unten ein seltener Luxus.


    «Woher kennst du Nia eigentlich?», wollte ich wissen.


    Er nahm einen langen und tiefen Zug, den er sichtlich genoss, bevor er ihn langsam aus seinen Lungen entweichen ließ. «Wir haben uns bei einer Reliktjagd kennengelernt. Es war eine ziemlich große und schwere Cavernia-Klasse. Sie hat sie nicht allein fortbekommen. So habe ich ihr geholfen und wir teilten den Gewinn halbe-halbe. Seither waren wir ein paarmal gemeinsam unterwegs. Es ist praktisch, nicht immer wochenlang allein zu sein. Und irgendwie auch schön, nach einem anstrengenden Tag nah beieinanderzuliegen.»


    Armer Rex. «Was meinst du, wie sie für dich fühlt?», fragte ich offen. «Glaubst du, dass sie dich liebt?»


    Es wippte ein wenig auf den Füßen und nahm noch einen Zug, ehe er antwortete. «Ich möchte es gern glauben. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr vertrauen kann. Ich habe Angst, dass sie mich eines Tages hintergeht oder einfach verlässt, wenn sich eine bessere Gelegenheit für sie ergibt. Ich habe Angst, dass sie mich nur benutzt. Und dass sie mich nicht wirklich liebt.»


    «Und was ist mit dir?», fragte ich. «Was fühlst du für sie?»


    «Ich liebe sie, aber ich bin vorsichtig. Ich versuche, ihr nahe zu sein, weil mir das guttut, aber ich halte trotzdem eine gewisse Distanz. Es ist schwer zu beschreiben und noch schwerer zu ertragen. Wir arbeiten zusammen, aber ich überprüfe manchmal, wohin sie geht und mit wem sie sich trifft. Ich versuche, ihr zu vertrauen, aber du hast ja gesehen, wie sie mit den anderen Reliktjägern umgeht. Es ist schwer zu sagen, ob sie nur Spaß macht.»


    «Und warum hast du ihr nicht gesagt, dass sie dir mit dem Verband den Arm abschnürt?»


    Er versuchte, seine Sorgen weg zu grinsen, ich sah sein lückenhaftes Gebiss aufblitzen. Dann lachte er leise und schüttelte den Kopf. Den verletzten Arm hielt er angewinkelt und fest an den Körper gepresst, ein Zeichen großer Schmerzen. Ich griff wortlos seinen Ärmel und zog ihn lang, bis er vorsichtig den verletzten Arm aus der Jacke gefädelt hatte. Dann löste ich den Verband noch einmal, der viel zu fest gewickelt war und ihm in die Wunde schnitt.


    «Ich weiß, du warst deine ganze Kindheit lang allein», sagte ich, während ich die grauenvoll behandelte Wunde mit einem vernünftigen Druckverband versorgte. «Und du magst es nicht, allein durch den Taudis zu wandern. Aber muss es ausgerechnet diese Frau sein?»


    «Es gibt nicht viele Frauen, die wochenlang in irgendwelchen Höhlen herumkriechen würden. Nia begleitet mich fast jedes Mal und sie beschwert sich nie. Das will ich nicht einfach wegwerfen.»


    Rex hatte extreme Angst, erneut verlassen zu werden, so wie damals als Kind von seinen Eltern. Er neigte zum Klammern und darum verzieh er fast alles. Nia wusste das. Der Verband war fertig, Rex zog seine Jacke wieder richtig an. Wir rauchten noch zu Ende und warfen die Stummel zwischen das Geröll zu den zehntausend anderen Stummeln.


    «Hey, Rexi.»


    «Ja?»


    Ich umarmte ihn fest.


    Er guckte verdutzt, ertrug aber meinen Trost. Ich klopfte ihn sanft ab. Dass ich auch sein Gesäß bedachte, durfte er deuten, wie er wollte. Währenddeessen ließ ich unbemerkt das silberne Relikt aus seiner Hosentasche in meine Hand wandern. Dann gab ich Rex wieder frei und wir kehrten in den Riss zurück.

    Nia Nachtigall


    Der Gangart nach vermutete ich eine Frau, auch wenn man das bei jemandem in Rüstung nicht immer eindeutig feststellen konnte. Ihr Hals wurde von einem üppigen Kragen aus braunen Vogelfedern gewärmt. Zu meinem Missfallen marschierte sie schnurstracks an unseren Tisch, quetschte sich zwischen Rex und mich, obwohl da überhaupt kein Platz war, und pflückte mir das Tuch aus der Hand. «Danke, das übernehme ich.»


    «Was zum Taudis?!», rief ich in einer Mischung aus Empörung und Verstörtheit.


    Sie schnaubte nur und setzte, ohne aufzusehen, meine Arbeit fort.


    Rex grinste verschämt. «Darf ich vorstellen? Nia Nachtigall, meine, äh ... Partnerin. Nia, das ist Sodo, ein alter Bekannter.»


    So, jetzt war ich also plötzlich kein Freund mehr, sondern nur noch ein Bekannter.


    «Aha», sagte sie.


    Verärgert beobachtete ich ihr Treiben, während Rex stolz vor sich hin grinste.


    Das männliche Pärchen gegenüber fühlte sich durch die unerwartete Gegenwart einer Frau anscheinend genau so gestört wie ich. Sie zahlten und gingen. Nia brachte alles durcheinander.


    «Aber genug geplaudert», sagte Rex, und würgte damit seine Geschichte ab, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Zeig mir, was du gefunden hast.» Er beugte sich über den Tisch, um an Nia vorbeisehen zu können.


    «Na gut», murrte ich. «Schau dir das hier mal an.» Ich holte eine kleine Kugel aus Metall heraus, die mit seltsamen Symbolen bedeckt war. Sie glänzte im Licht und schien leicht zu vibrieren.


    Er nahm die Kugel in die freie Hand und drehte sie hin und her, während er versuchte, die Symbole zu entziffern.

    «Tamjidische Majuskeln», klärte ich ihn auf. «Aber in einer Sprache, die ich nicht kenne. Frag mich also nicht, was sie bedeuten. Kannst du damit etwas anfangen?»


    Er zuckte zusammen, als Nia kräftiger an seiner Wunde rieb. Eine Weile ertrug er stumm den Schmerz, dann hielt er die Kugel wieder ins Licht. «Keine Korrosion. Das könnte Silber sein.»


    «Das dachte ich auch, aber es ist wahrscheinlich zu leicht dafür. Man müsste es alchemistisch überprüfen.»


    «Was soll es denn sonst sein, so ganz ohne Korrosion?»


    «Keine Ahnung, vielleicht eine Legierung, oder es könnte auch nur mit Silber beschichtet sein. Es ist auf jeden Fall ein interessantes Objekt. Wenn es erst bestimmt und klassifiziert wurde, dürfte es einiges wert sein. Es braucht noch ein wenig Vorarbeit für einen lukrativen Verkauf, aber es hat Potenzial. Wie sieht es aus, hast du Interesse?»


    Wir wurden uns schnell handelseinig. Für einen fairen Preis wechselte mein Relikt seinen Besitzer. Ich sparte mir die mühsame Recherche und konnte gleich wieder hinabsteigen, um nach weiteren Objekten zu suchen. Rex, der selten lange unten bleiben wollte, konnte seinerseits an der Oberfläche einen guten Gewinn erzielen.


    Nach dem Handel ging ich kurz mal austreten und mir am Tresen ein neues Bier holen.


    Als ich wiederkam, war der Arm von Rex stümperhaft mit dem Tuch verbunden. Das hätte ich besser hinbekommen. Er und Nia hatten inzwischen eine großzügige Menge an leeren Bechern vor sich stehen.


    Nia war in einer ausgelassenen Stimmung. Sie schlürfte einen Becher Wein mit dem Trinkrohr und lachte und plauderte mit zwei weiteren Reliktjägern, von denen einer plötzlich auf meinem Platz saß. Der zweite blockierte den letzten freien Stuhl an diesem Tisch. Verärgert nahm ich an dem Tisch gegenüber platz. Abserviert von Nia Nachtigall. Von Rex herabgewürdigt zu einem Bekannten. Ich senkte den Blick. Auf die Tischplatte hatte jemand aus einem Bierfleck ein Herz gemalt.


    Nia erzählte den zwei Neuen gerade von ihren Abenteuern und Entdeckungen, von den Gefahren und Schätzen, die sie mit Rex in den Tiefen des Taudis gefunden hatte. Dabei neckte sie die beiden immer wieder mit anzüglichen Sprüchen.


    Rex hingegen brütete in einer nachdenklichen Stimmung vor sich hin. Er trank einen Becher Bier und beobachtete missmutig, wie Nia mit den zwei anderen Reliktjägern sprach und lachte.


    Auch mich brachte der Anblick zum Nachdenken. Ich fragte mich, was Nia wirklich dachte und fühlte – und was Rex wirklich wollte und brauchte.


    «Rexi, mein alter Freund», sagte ich, «auf ein Wort.» Ich wies mit dem Kopf in Richtung des Felsspalts. Er erhob sich und wir quetschten uns nach draußen.

    Ankunft im Riss


    Nachdem ich einige lange und anstrengende Tage im Taudis verbracht hatte, erreichte ich den Riss. Die Kneipe war heute ziemlich voll. An den Möbeln, die aussahen, als entstammten sie einem Schrottplatz, saßen dicht gedrängt die Reliktjäger. Ich sah einige alte Bekannte, aber auch Kollegen, die mir bisher noch nicht begegnet waren.


    Ich drängte mich zum Tresen und bestellte mir ein Bier. Dabei spürte ich ihre Blicke auf mir. Einige waren neugierig, andere misstrauisch, wieder andere feindselig. Ich ignorierte sie und quetschte mich an einen schiefen kleinen Tisch. Dort schlürfte ich mein Bier durch eines der eisernen Trinkröhrchen, wie sie in Reliktjägerkneipen zu den Getränken ausgegeben wurden, damit man seine Maske nicht abnehmen musste.


    Es war ein selbst gebrautes Bier, das Zorn aus verschiedenen Zutaten herstellte, die er im Höhlenlabyrinth fand. Er nannte es einfallsreich «Taudisbräu» und behauptete, dass es die beste Medizin für einen Reliktjäger sei. Er sagte, es würde Kraft und Mut verleihen, um die Gefahren der Tiefe zu überstehen. Er sagte auch, dass es den Reliktjäger helfen würde, ihre Schmerzen und Sorgen zu vergessen. Und jeder, der den einbeinigen und einarmigen Wirt sah, der seine letzten Jahre im selbstgewählten Exil der Tiefe verbrachte, erkannte, dass Zorn wusste, wovon er sprach. Er hatte viele Stammkunden, die sein Bier liebten und lobten. Natürlich gab es auch unzufriedene Kunden, die es widerwärtig fanden, was an den eigenwilligen Zutaten lag. Zorn kümmerte sich nicht um sie und schenkte ihnen kein Bier mehr aus. Er war stolz auf sein Bier, und er wollte es nicht ändern.


    Ich blickte mich suchend um. Der Jäger, mit dem ich mich treffen wollte, war noch nicht eingetroffen. So vertrieb ich mir die Zeit damit, die anderen zu beobachten und ihren Gesprächen zu lauschen. Die Kneipe mit ihren natürlichen Steinwänden sah aus wie eine gemütliche Höhle. Der Boden bestand aus Sand, der mit unglaublich staubigen Teppichen bedeckt war. Als Zimmerdecke diente ein Metallgerüst, an dem eine einzelne flackernde Sturmlampe hing, die zwischendurch immer mal wieder ausfiel. Darüber verlor sich die Felsspalte in ewiger Dunkelheit.


    Es war eng im Riss, man konnte kaum gehen, ohne jemandem mit dem Messergriff am Gürtel eine zu verpassen oder mit seinem Hintern einen Becher von einem Tisch zu reißen. Es blieb nicht viel Raum für Individualdistanz. Die meisten meiner Rivalen waren Einzelgänger und man nahm die erzwungene Nähe nur widerwillig hin. Doch mir gegenüber saßen zwei Reliktjäger in stummer, beinahe schon harmonischer Eintracht nebeneinander. Mit ihren behandschuhten Fingern schrieben sie sich geheime Botschaften in den Dreck auf den Tisch, die sie gleich wieder verwischten. Sie gehörten vermutlich zu jenen, die im Taudis für immer ihr Refugium gefunden hatten und überhaupt nicht mehr an die Oberfläche zurückkehrten.


    Ein Beben erschütterte das Gestein, der Eisenstuhl vibrierte unter mir. Die Gäste der Kneipe blieben ruhig und warteten ab. Jeder Reliktjäger kannte die unterirdischen Erschütterungen, die einer der zahllosen Gründe waren, einen Helm zu tragen. Die Sturmlaterne flackerte und fiel für einen Moment komplett aus. Für zwei Atemzüge saßen wir in vollständiger Finsternis.


    Als das Licht zurückkehrte, knirschte und ächzte es im Eingang. Ich wandte den Kopf. Ein weiterer Gast quetschte sich durch die Gesteinsspalte, welcher die Kneipe ihren Namen verdankte. Es war Rex, pünktlich und verlässlich, beides keine sonderlich häufigen Eigenschaften unter Reliktjägern. Ich hob die Hand, damit er mich bemerkte.


    Er hob ebenfalls die Hand. «Sodo! Du alter Hund!» Gut gelaunt kam er auf meinen Tisch zu. Er war groß und kräftig, trug eine Lederjacke, eine metallbesetzte Hose und einen Helm mit einem Visier. An seinem breiten Waffengurt hingen ein Dolch und ein Bastardschwert.


    Rex war ein ehemaliger Söldner, den ich im Taudis kennengelernt hatte, ein harter Brocken, der keine Angst vor Gefahren kannte. Er war stur und eigensinnig, ein Experte für den Nahkampf und die Überlebenskunst im Äußeren Taudis. Aber er war auch loyal, weshalb er zu den wenigen Reliktjägern gehörte, mit denen mich eine Freundschaft verband. Unter den Reliktjägern genoss er einen guten Ruf, hatte aber gleichzeitig viele Feinde, deren Abneigung über bloße Rivalität hinausging. Leider war er auch risikofreudiger, als gesund für ihn war. Ihn wiederzusehen war nicht selbstverständlich, und ich freute mich, dass er wohlauf war.


    Er erreichte meinen Tisch und umarmte mich. Er roch nach Schweiß, Rauch und nach Blut. Ich erwiderte seine Umarmung und klopfte ihm auf den Rücken. «Lange nicht gesehen, Rexi. Lass das nächste Mal früher wieder von dir hören.»


    «Besorgt gewesen?»


    «Quatsch. Ich wollte wissen, ob ich endlich deine Gebeine plündern kann. Aber nein, der Herr ist einfach mal wieder monatelang auf Expedition.»


    Er lachte und klopfte mich kräftig, damit ich es unter meiner Schutzkleidung spürte. Ich trug eine Lederrüstung, darüber ein Kettenhemd mit einem Waffengurt um die Hüfte sowie Eisenschienen an den Unterarmen und Schienbeinen. Über dem Kettenhemd trug ich einen kurzen Wappenrock mit seitlicher Schnürung, der jedoch kein Wappen zeigte, sondern einfarbig schwarz war, denn ich kämpfte in diesen Tagen für niemanden. Dazu gehörte natürlich stets der Helm. Auf meinem Rücken lagen über Kreuz meine beiden Kurzschwerter, am Gürtel trug ich mein Jagdmesser. Jeder Reliktjäger hatte seinen eigenen Stil, doch gänzlich unbewaffnet und ungerüstet stieg niemand in den Taudis.


    Er ließ mich los und setzte sich neben mich an meinen Tisch. Er bestellte sich einen Schnaps und grinste mich durch die Mundöffnung seines Helms an. Dabei zeigte er seine Zähne, von denen einige fehlten. Er war ein guter Freund, aber auch ein gefährlicher Gegner. «Hast du etwas Interessantes für mich dabei, Sodo?»


    Ich nickte. «Das will ich meinen. Ich habe ein paar Sachen gefunden, die dich vielleicht interessieren könnten. Aber zuerst erzähl mir, wie es dir geht. Wie war dein letzter Ausflug in den Taudis?» Ich lehnte mich zurück, auf eine gute Geschichte hoffend, denn die Wochen und Monate im Taudis konnten trotz aller Gefahren manchmal recht eintönig und langweilig werden.


    «Es war eine harte Reise, Sodo, das sag ich dir. Ich bin auf eine Höhle gestoßen, die voller Grubenasseln war, groß wie Ochsen. Ich hätte mich durchkämpfen müssen, um zu der Kammer zu kommen, in der ich das Relikt vermutete. Siehst du die Abdrücke?» Er fädelte seinen blutverschmierten Arm aus der Jacke. Seine Hautfarbe verriet, dass er ein Mensch war. Er zeigte mir eine nässende Bisswunde an der Schulter.


    Ich beugte mich herüber, um sie zu betrachten. «Das sieht übel aus.» Mehr als das! Er hatte Glück gehabt, dass er nicht verblutet war. «Halt mal still.» Ich zog meinen Rucksack heran, der auf dem Boden unter dem Tisch stand, und holte ein Tuch hervor, das ich in seinen Schnaps tauchte. Vorsichtig begann ich, die Krusten zu lösen und die Wunde zu reinigen. Trotz der Schmerzen, die ich im zweifellos zufügte, hielt er still und ließ mich die Behandlung durchführen.


    Derweil trat ein weiterer Reliktjäger durch den Riss.

    Straßenleben

    «Es ergibt keinen Sinn», hörte ich einen jungen Konstabler sagen. «Die Diebstähle häufen sich, und wir haben keine Spur. Es ist, als würde der Dieb aus dem Nichts auftauchen und wieder verschwinden.»


    Ein anderer mit einem Bart runzelte die Stirn. «Wahrscheinlich ist das kein einzelner Täter. Diesen Herbst wimmeln die Straßen von Landstreichern. Die Bürger werden unruhig, und die Händler beschweren sich über ihre Verluste. Wenn das so weitergeht, bin ich meinen Posten los.»


    Ich lehnte mich noch tiefer in den Schatten eines Hauseingangs, während die Staatskonstabler über mögliche Verdächtige und Strategien diskutierten. Der Wind schob raschelndes Laub über die Straße.


    Der junge Konstabler kratzte sich am Kopf. «Bei Dunkelheit ist es am schlimmsten, aber man kann doch keine Ausgangssperre verhängen. Die Tage werden kürzer, die Händler sind auf die abendlichen Verkäufe angewiesen. Die Umsätze würden einbrechen. Und irgendwann müssen die Bürger nach einem langen Arbeitstag schließlich noch einkaufen können.»


    Ich grinste in mich hinein. Dunkelheit war das richtige Stichwort, doch bis sie dahinter kamen, mochte noch viel Zeit vergehen. Würde die Sicherheitskommission die Märkte besser ausleuchten, wäre der Vorteil dahin, den ich zu nutzen gelernt hatte. Inzwischen konnte ich sehr gut einschätzen, wie viel – oder besser gesagt, wie wenig – die Menschen nachts sahen. Ohne künstliche Beleuchtung waren sie so gut wie blind, während mir das Licht der beiden Monde vollkommen ausreichte, um selbst Farben im Dunkeln unterscheiden zu können.


    Um es wie ein Naridier zu formulieren: Meine Sinne waren in diesen Tagen mein wertvollstes Kapital.


    «Wir müssen die Einsatztaktik anpassen und härter durchgreifen», sagte der ältere Konstabler. «Und den Bürgern zeigen, dass der Hohe Richter ihre Sorgen ernst nimmt. Wir rücken heute mit drei Gruppen aus. Du gehst mit Gruppe zwei die Strecke um den Markt. Ich werde mit Gruppe eins die Straßen zwischen den Ständen im Auge behalten. Gruppe drei wird außerhalb in den Gassen patrouillieren. Diese Diebe sollen sich nirgends sicher fühlen.»


    Ich lauschte aufmerksam, als sie sich aufteilten, um ihre Patrouillen fortzusetzen. Wie freundlich von ihnen, mir ihre Pläne zu offenbaren. Als die Schritte in der Ferne verhallten, trat ich aus meinem Versteck hervor. Mein Blick streifte die schmalen Gassen und die herabgefallenen Blätter, die den Boden bedeckten. Alles war in Ordnung, vom Knurren meines Magens abgesehen. Ich war nicht mehr so schwach wie noch vor einigen Wochen, doch die ständige Kälte sorgte dafür, dass ich dennoch immer Hunger verspürte. Es war zum einen das ständige Zittern, das viel Energie verbrauchte, aber auch die Notwendigkeit, sich ständig zu bewegen. Wurde es zu kalt, durfte ich nicht stehen bleiben oder mich gar niederlegen, das wäre mein Tod gewesen. Ich musste laufen, die ganze Nacht durch. Erst, wenn Alvashek aufging und die Temperaturen wieder stiegen, wagte ich, mich unter einer Brücke oder in einem verlotterten Hinterhof einzurollen, um zu schlafen.

    Jetzt aber war es abends und somit Zeit, mich um das Essen zu kümmern.


    Der Duft von Gewürzen und exotischen Kräutern hing in der Luft, mischte sich mit dem reichen Aroma frisch gebackenen Brotes. An den Ständen der Obst- und Gemüsehändler lag der süße Geruch reifer Südfrüchte, während der Wind die herabgefallenen Blätter aufwirbelte und den erdigen Geruch des Herbstes in die Nacht trug. Die Juweliere hatten ihre Schätze in funkelnden Vitrinen ausgestellt, die im schwachen Licht der Laternen schimmerten wie Sterne am Nachthimmel. Das Klappern von Metall auf Metall verriet, dass einige Schmiede ihre Stände noch nicht geschlossen hatten, und das Flackern von Schmiedefeuer erzeugte tanzende Schatten auf den Wegen.


    Der Markt war belebt, wenn auch anders als tagsüber. Landstreicher und Bürger, die unter den Laternen standen, um etwas zu essen oder sich zu unterhalten, teilten sich den Raum mit nächtlichen Händlern, die mit allerlei Waren handelten. Der Klang von feilschenden Stimmen und das Lachen von Nachtschwärmern vermischten sich zu einem konstanten Hintergrundgeräusch.


    Mein Magen knurrte vor Hunger, als ich an den Ständen mit gebratenem Fleisch vorbeiging. Der verlockende Duft von Gewürzen und gegrilltem Fleisch stach mir in die Nase, und ich konnte das Brutzeln auf den heißen Platten hören. Die Versuchung war groß, doch ich musste mich beherrschen, um den richtigen Augenblick abzuwarten, ohne mich vorher verdächtig zu machen. Als zerlumpter Landstreicher einen Stand zu betrachten, erweckte sofort Misstrauen. Ich durfte nicht stehenbleiben. Die Händler waren wachsam. Man konnte eine gute Gelegenheit nicht erzwingen, nur die Augen danach offenhalten. Erwischt zu werden konnte ich mir nicht leisten. Falls ich jemals in den Fokus der Händler oder gar der Staatskonstabler geriet, würde ich nie wieder unbehelligt über diesen Markt schlendern können, darum war Vorsicht das oberste Gebot.


    Doch das nahmen sich offenbar nicht alle Landstreicher zu herzen.


    Ein zierlicher Bursche mit kurzem braunen Haar widmete sich intensiv filigranem Schmuck, den er sich offensichtlich nicht leisten konnte. Viel zu lange betrachtete er eine Kollektion juwelenbesetzter Halsketten. Als ich näher kam, verriet mir meine Nase, dass es sich in Wahrheit um eine junge Frau handelte.


    Der Händler behielt sie ebenfalls im Auge. Doch der Winter kam ihr unvermittelt zur Hilfe: Der Schnee eines Hausdaches löste sich und rutschte polternd über die Dachkante. Der Keramikstand gegenüber wurde unter lautem Getöse verschüttet. Das Zelt brach ein, die Stangen brachen und hunderte Stücken Geschirr gingen zu Bruch.


    In dem Moment griff die junge Frau zu.


    Blitzschnell packte ich ihr Handgelenk und bog es nach oben. Die juwelenbesetzte Kette glitzerte zwischen ihren Fingern im Schein der Straßenlaternen. «Du willst doch nicht etwa stehlen?», sagte ich mit falscher Freundlichkeit. Dabei grinste ich breit, so dass sie meine scharfen Zähne sah.


    «Lass mich los, Froschgesicht!», schrie sie und trat mir gegen das Knie. Ich trat zurück, was ihr das Bein wegriss und sie stürzen ließ. Hätte ich sie nicht am Handgelenk gehalten, wäre sie gestürzt. Ich zog sie wieder auf die Füße. «Na, na», tadelte ich.


    «Meine Opalkette», rief der Schmuckhändler entsetzt, der endlich verstanden hatte, was hier gerade passierte. Ich entwand der Diebin das Schmuckstück und reichte es dem Händler zurück, der sich überschwänglich bedankte. Inzwischen hatte auch jemand nach den Stako gerufen, die sich mit grimmigen Gesichtern durch die Menge drängten, die langen Kampfstäbe in den Händen. Erst jetzt gab ich die zappelnde Diebin frei.


    «Dafür wirst du büßen», keifte sie und rannte davon. Die Staatskonstabler folgten ihr mit polternden Stiefeln. Ob sie die Diebin fassen konnten, weiß ich nicht, da ich mich ganz auf den Händler konzentrierte, der mir zum Dank für die Hilfe eine großzügige Menge Münzen in die Hand rieseln ließ. «Es sollte mehr ehrliche Leute wie sie geben», sagte er froh.


    «Jeden Tag eine gute Tat», sprach ich salbungsvoll. Würde nur jeder Abend so gut verlaufen!


    Ich begab mich auf direktem Weg zu dem Stand mit dem gebratenen Fleisch, wo ich mir ein Festessen schmecken ließ.

    Die beiden folgenden Kapitel spielen zwischen "Das Gasthaus" und "Flammen und Klingen".

    Betteltage

    Lichtstrahlen spiegelten sich in den Schaufenstern der Stadt. Die Scheiben trennten mich von all den Reichtümern und Köstlichkeiten. Mir blieb nur das, was das Leben auf den Straßen zu bieten hatte, aber ich war nicht der Einzige, der Hunger litt.


    Die Landstreicher suchten jetzt, da der Winter vor der Tür stand und es nichts mehr in der Natur zu holen gab, die Sicherheit der Stadt. Sie lungerten in Hauseingängen und Hinterhöfen, immer nur so lange, bis man sie vertrieb. Es gab nur wenige Plätze, an denen ich mich längere Zeit am Stück ausruhen konnte.


    «Bitte, meine Dame, ein kleines Kupferstück für einen hungernden Wanderer», murmelte ich, meine Stimme von der Kälte und Erschöpfung brüchig. Meine ausgestreckte Hand zitterte leicht.


    Die meisten Passanten taten, als wäre ich unsichtbar. Einige wandten ihren Blick ab, als ob meine Not sie nicht berührte. Andere eilten vorbei, als hätten sie ihre eigenen Ängste vor der Dunkelheit in ihren Taschen versteckt.


    Nur wenige wagten es, mich mit zusammengekniffenen Lippen anzusehen. Meine Hilferufe prallten gegen die Mauern ihrer Gleichgültigkeit.


    So lief es Tag um Tag. Die Straßen und Gassen, die anfangs einem Labyrinth glichen, offenbarten mir während der endlosen Streifzüge nach und nach ihre Geheimnisse und ihre Gesetze. Diese waren nicht mit den Gesetzen Naridiens identisch, sondern kamen dem nahe, was ich aus der Wildnis kannte, und das man in Shakorz ‹das Gesetz der Jäger› nannte.


    «Bitte, ein Stück Brot würde genügen, eine Kleinigkeit, um den Hunger zu stillen.»


    Manche hörten kurz auf, zögerten einen Moment, doch ihre Blicke verrieten Misstrauen und Ekel, und dann setzten sie ihren Weg fort. Andere sahen mich drohend an, während sie schnellen Schrittes vorbeigingen.


    Das erste Gesetz des Jägers besagte: Es gibt Jäger und es gibt Beute.


    Der Himmel verdunkelte sich, und ein Nachtwächter ging herum, um die Straßenlaternen zu entzünden. Eine Nacht war wie die andere, kalt und trostlos. Mit jedem verstrichenen Tag schwand meine Hoffnung auf Mitgefühl. Ich bettelte immer seltener und irgendwann nicht mehr. Ich wurde zu einem Schatten, der vom Strom der Passanten übersehen wurde, während er jeden Tag ein Stück mehr verblasste.


    Als ich spürte, dass mir wortwörtlich das Leben aus dem Körper wich, das ich tatsächlich begann, zu sterben, besann ich mich endlich, dass ich ein Jäger war. Meine Nase war so fein wie die eines Wolfs und meine Augen so scharf wie die einer Raubkatze. Ich besaß ein Gebiss, mit dem ich menschliche Finger hätte kauen können wie knackiges Wurzelgemüse. Ich hatte den Nachtmantel bezwungen, den König des Waldes. Was kümmerte mich ein Gesetz, dass mich verhungern ließ? Ich würde nicht länger darauf warten, dass sich jemand erbarmte, sondern von dem Recht Gebrauch machen, dass das Blut in meinen Adern mir gab: das Recht des Jägers.


    Und fortan wendete sich das Blatt.

    Der Riss

    Auf dem Weg zum "Riss" musste man einen gefährlichen Weg durch den Taudis zurücklegen. Der Taudis war eine labyrinthartige Welt aus Tunneln, Höhlen und Spalten, die sich unter der Oberfläche von Asamura erstreckten. Er war das Revier der Reliktjäger. Sie orientierten sich mit Karten, Kompassen und Sturmlaternen. Sie mussten ständig auf der Hut sein, um nicht in einen Hinterhalt zu geraten oder beim Klettern abzustürzen.


    Um zur Kneipe zu gelangen, musste man im äußeren Taudis einen rostigen Hebel finden und umlegen. Dabei öffnete sich eine Falltür. Während sich der Hebel langsam wieder zurück in seine Ausgangsposition bewegte, Schloss sich auch ratternd die Falltür wieder, man hatte also nicht viel Zeit. Danach stieg man eine Eisentreppe hinab, die inmitten einer Schlucht sehr weit in die Tiefe führte, ehe man den Grund erreichte. Dort unten fand man Schotter und Dunkelheit, doch die vielen herumliegenden Kippen, leeren Konservendosen, zerbrochenen Flaschen und abgenagten Knochen verrieten, dass es hier noch mehr geben mussste. Auch war im Schotter ein Weg freigeräumt, dem man folgen konnte. An seinem Ende fiel schließlich aus einem Felsspalt ein Streifen Licht.


    Die Kneipe war die letzte Bastion der Zivilisation. Sie hieß "Der Riss", und sie war nur durch einen schmalen Spalt in der Felswand zu erreichen. Die Reliktjäger mussten sich durch den Spalt zwängen, um in die dunkle Höhle zu gelangen, die als Schankraum diente. Dort erwartete sie ein schäbiger Tresen. Von der Decke hing eine Sturmlaterne, die ein flackerndes Licht warf. An den Tischen saßen Gestalten in Leder und Metall, die ihre Erfahrungen austauschten, ihre Relikte begutachteten oder feilschten. Sie trugen Masken, um ihre Gesichter zu verbergen. Viele prahlten mit ihren Abenteuern im Taudis. An den Tischen einzuschlafen war in Ordnung.


    Falls jemand Zweifel hegte, dass man ein echter Reliktjäger sei, musste man ein Rätsel beantworten:


    ♦♦♦

    "Ich bin das Herz des Taudis,

    ich bin der Zeuge der Zeit,

    ich bin der Fluch der Reliktjäger

    ich bin der Schlüssel zur Macht.


    Wer bin ich?"

    ♦♦♦


    Die korrekte Antwort lautet: "Ein Relikt." Wer das Rätsel nicht löste, galt als Spion der Außenwelt und sein letztes Stündlein hatte geschlagen.


    Die Sitzgelegenheiten in der Kneipe waren spärlich und unbequem. Die Tische waren aus grobem Holz gezimmert, das mit Rissen und Kerben übersät war. Die Stühle waren aus Metallstangen und Lederfetzen zusammengeschweißt, die kaum Polsterung boten. Die Bänke waren aus Steinblöcken gehauen, die kalt und hart waren. Die Reliktjäger kümmerten sich nicht um den Komfort, solange sie einen sicheren Platz hatten. Sie saßen dicht gedrängt an den Tischen, die oft mit Krügen, Tellern und Waffen übersät waren. Sie achteten darauf, niemanden anzustarren und es mit rauen Spielchen hier unten nicht zu übertreiben, denn das konnte leicht zu einem Streit oder einem Kampf führen. Hier unten galt schließlich der Oberflächenfrieden nicht, weshalb man auch seine Waffen nicht abgab.


    Der Wirt der unterirdischen Kneipe war ein alter Reliktjäger, der aufgrund seines körperlichen Zustands nicht mehr selbst nach Relikten suchen konnte. Er war maskiert, um seine Identität und seine Verletzungen zu verbergen. Er hieß Zorn, und er war eine Legende unter den Reliktjägern. Er hatte in seiner Karriere unzählige Relikte gefunden und verkauft, aber auch viele Feinde gemacht. Er war in viele Kämpfe und Konflikte verwickelt, die ihm Narben und Wunden zugefügt hatten. Er hatte einen Arm und ein Bein verloren und die Götter wussten, was noch alles, und er konnte nur noch mit einer Krücke laufen. Er hatte sich aus dem Geschäft mit den Relikten zurückgezogen und die Kneipe eröffnet, um seinen Lebensabend im Taudis zu verbringen. Er war ein strenger Wirt, der keine Unordnung oder Unruhe in seiner Kneipe duldete. Er schenkte Bier und Schnaps aus, die er selbst braute oder destillierte. Er kochte auch Essen, das er aus den Zutaten zubereitete, die er im Taudis fand. Er verlangte faire Preise für seine Waren, aber er akzeptierte keine Relikte mehr als Zahlungsmittel. Damit hatte er endgültig abgeschlossen.


    Der “Riss” war ein sicherer Ort für die Reliktjäger, denn sie respektierten Zorn, der selbst kein Jäger mehr war, und sie alle brauchten diese Kneipe, um sich zu stärken, bevor sie im Taudis auf sich allein gestellt waren. Deshalb ließen sie die Kneipe in Ruhe und überfielen sie nicht.


    Am Ende des Tages

    Das Schicksal hat viele Gesichter. Eines ist olivgrün und war von langer Kälte und tiefem Schmerz gezeichnet. Ich hatte das Rad herumgerissen, zu spät für Dolwin, doch für mich noch rechzeitig.


    Vier Tagen lief ich dem aufziehenden Winter entgegen, bis ich die Söldner einholte, welche die Räuberfamilien nach Norden eskortierten. Ich betrat die Wiese inmitten der Wildnis und sah das Rastlager. Zu allen Seiten ragten schroffe Felsen empor und bildeten einen schützenden Kessel. Die Salzstraße, die mitten hindurch lief, war das Einzige, das darauf schließen ließ, dass dieses abgelegene Gebiet Anschluss an die Zivilisation besaß. Ein stark qualmendes Feuer kämpfte gegen den Wind, der mir Schnee ins Gesicht bließ. Halb eingesunkene Zelte aus Planen und frisch geschlagenen Stämmen standen schief zwischen den Felsen. In diesen notdürftigen Behausungen hatte man die Frauen und Kinder untergebracht. Die Männer bauten sich zum Schlafen Nester aus den Zweigen von Krüppelkiefern, nur den Mantel zum Schutz. Aufgrund der Zivilisten gab es nicht ausreichend Zelte für alle.


    Der Geruch von verbranntem Holz lag in der Luft und vermischte sich mit dem frischen Duft des Schnees. Die Räuber hielten sich bei ihren Familien in der Nähe der Zelte auf. Die Söldner drängten sich um das schlecht brennende Feuer herum. Die Flammen spiegelten sich auf dem Eisen. Ihre Rüstungen waren dreckig, ihre Gesichter müde und stoppelig. Es wurde nicht viel geredet. Manche nippten an ihrem verdünnten Wein, den sie in einem Topf erhitzt hatten oder löffelten die wässrige Suppe, die aus den letzten Vorräten gekocht worden war. Andere starrten stumm ins Feuer. Wer schlafen wollte, holte sich einen großen heißen Stein aus dem Feuer, wickelte ihn in Kleidung und rollte sich mit dieser einzigen Wärmequelle in ein Kieferzweignest ein, um die Nacht zu überstehen. Die meisten schliefen allein, doch manche drängten sich auch zu zweit oder zu dritt zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen.


    Man sah ihnen die Unzufriedenheit an. Der Überfall der Radhora hatte die Pläne des Kommandanten völlig über den Haufen geworfen. Wahrscheinlich hätten die Söldner nun eigentlich in unserer Burg residieren und sich von unseren Frauen bedienen lassen wollen, anstatt bei Wind und Wetter in der Wildnis zu kampieren. Es würde kein bequemes Leben werden, das auf mich zukam, doch wann hatte ich das je gehabt? Meine Entscheidung stand.


    Ein lautes Grummeln und eine imposante Gestalt erhob sich. Cherax breitete seine Arme aus und lächelte mich an. «Serak! Das wurde ja auch Zeit», brüllte er. Sein grollendes Lachen durchdrang die Stille und hallte über die Wiese. War ich schon jemals derart herzlich begrüßt worden? Ich glaube nicht. Als ich seine Raubtieraugen erwartungsvoll auf mir ruhen sah, musste ich lächeln. Wortlos umarmte ich den massigen Troll, froh, nach Dolwins Tod nicht völlig allein zu sein.


    Eine weitere Gestalt trat hinzu. Mauli legte ihre Hand auf meine Schulter. «Serak, du alter Haudegen! Lass dir von Cherax’ Geschwätz nicht den Kopf verdrehen. Man könnte fast glauben, er hat dich vermisst», sagte sie mit einem schelmischen Lächeln, das ihren markanten Gesichtszügen schmeichelte. Auch sie war wohl kein Mensch, zumindest kein ganzer.


    «Es ist gut, in solchen Zeiten Freunde zu haben», erwiderte ich. Cherax’ warmer Atem hüllte mich in Dampfwolken, während wir uns gegenseitig klopften. Mit etwas Mühe gelang es mir, mich aus der Umarmung des Trolls zu befreien und ließ mich auch von Mauli herzlich drücken. Anschließend erzählte ich den beiden in wenigen Worten, was geschehen war.


    Während der Wind über die Wiese fegte und unsere Stimmen in der kalten Luft verwehten, wurde mir bewusst, wie besonders diese Augenblicke waren. Inmitten der Kälte standen wir gemeinsam, eine ungewöhnliche Gruppe von Kämpfern, die füreinander da waren. Gemeinsam würden wir dieser eisigen Welt trotzen, bereit für jeden Kampf, der uns bevorstand.


    Eine weitere Gestalt stapfte durch die wachsende Schneedecke zum Feuer. Die Schritte waren schwer und bestimmt, jede Bewegung von einer Aura der Autorität umgeben. Garlyn, der unnachgiebige Kommandant der Söldnertruppe, trat vor mich und sein Blick durchdrang mich wie der Stahl eines Schwertes. «Serak, du wankelmütiger Narr! Du denkst wohl, du könntest einfach so zu uns zurückkehren?» Seine Worte klangen streng, doch ich hatte das Gefühl, dass er sie nur halb ernst meinte. Wahrscheinlich betrachtete er es als seine heilige Pflicht, erst einmal zu meckern, weil ich seinem Angebot nicht sofort gefolgt war.


    Ich stellte mich aufrecht hin, so wie es für einen Halbork angemessen war, und erwiderte seinen Blick. «Ich hatte meine Gründe, um fortzugehen. Aber ich habe auch meine Gründe, zurückzukehren.» Ich hätte ihm von meinem erwachten Kampfwillen berichten können, von meinem Abscheu gegenüber der Radhora und dem Wunsch nach blutiger Vergeltung. Stattdessen wies ich mit dem Kopf kaum merklich in die Richtung meiner beiden neuen Freunde.


    Garlyn sah mich lange an. «Serak», sagte er schließlich, «du bist ein merkwürdiger Kauz und hast ziemlich lange zum Überlegen gebraucht, aber du kennst den Wert von Kameradschaft. Dann will ich mal Gnade walten lassen. Willkommen in unserer Mitte.»


    «Danke, Garlyn. Dein Weg ist mein Weg.»


    Er winkte ab, als ob ihm so viel Pathos unangenehm sei. «Dein Wort in den Ohren der Götter.» Dann wandte er sich rasch ab. Scheinbar war sein heutiges Pensum an Freundlichkeit erschöpft und er hatte nur noch Kapazitäten für Gemecker, wie der nächste Söldner zu spüren bekam. Aber er hatte mir gestattet, meinen Platz in den Reihen seiner Kämpfer einzunehmen.


    Ich fand einen Platz am Rande des Feuers und ließ mich nieder. Das Knistern des Holzes und das gelegentliche Zischen der Glut waren die einzigen Geräusche, die die Stille durchbrachen. Ich lauschte den gedämpften Gesprächen und den leisen Flüchen. Mittendrin vernahm ich auch bissigen Humor und leises Lachen. Mauli drückte mir eine Eisentasse voll Suppe in die Hand, die hauptsächlich aus geschmolzenem Schnee, Wiesenkräutern, etwas Salz und ein paar gekochten Getreidekörnern zu bestehen schien. In die andere Hand drückte mir Cherax eine zweite Tasse, gefüllt mit heißem, stark verdünntem Wein. Außerdem meinte ich, einen Hauch von Trolltrank im Dampf zu riechen. In die Tassen waren mit krummer Schrift die Namen ihrer Besitzer graviert.


    Ich lächelte, weil sie nicht nur Speis und Trank, sondern auch ihre persönlichen Gefäße mit mir teilten.


    Sie ließen sich rechts und links von mir nieder. Gemeinsam beobachteten wir das Feuer, das aufgrund der Nässe stark qualmte und uns dennoch wärmte. Auch Mauli und Cherax mussten den vergangene Kampf noch verarbeiten, der die Truppe ein Drittel ihrer Kämpfer gekostet hatte. Auch sie hatten Leute verloren, die ihnen wichtig gewesen waren. Wir alle hatten Verluste erlitten. Jeder von uns trug Narben, die tiefer schnitten als die Klinge eines Feindes. Und doch waren wir hier, jeder auf seine Weise ein Kämpfer, der gegen den Strudel der Vergangenheit ankämpfte und seine eigene Bestimmung suchte. Wir schwiegen und lauschten dem Knistern und Knacken des Feuers. Ich schloss die Augen und atmete tief ein, ließ all meine Sorgen und Zweifel mit dem Rauch des Feuers aufsteigen.


    Die zunehmende Dunkelheit legte sich um uns wie ein schützender Mantel, und in diesem Moment waren wir eins. Wir waren Krieger, Träumer, die sich an der Kante des Abgrunds befanden und sich weigerten, aufzugeben. In der aufziehenden Nacht loderte eine Flamme der Entschlossenheit in unseren Herzen, und sie brannte hell und heiß.

    ENDE


    Abschied

    Wie lange es dauerte, bis das Leben aus ihm gewichen war, vermochte ich nicht zu sagen. Nach einer gefühlten Ewigkeit standen wir immer noch um den Galgen, an dem Dolwin von Niederau starb oder schon gestorben war.


    Das Erhängen war eine unehrliche Strafe, die ein Begräbnis ausschloss. Die im Laufe des Verwesungsprozesses einzeln herabfallenden Glieder warf man in die Knochengrube unter dem Blutgerüst. Man würde sich nicht die Mühe machen, die Fixierung nach dem Eintritt des Todes zu lösen. Selbst im Tode würden Dolwins Hände gefesselt sein. Wenn man einen verrotteten Leichnam fand, der keinerlei Hinweise mehr auf seine Todesursache bot, waren überkreuzte Hände immer ein Hinweis auf den Tod durch Erhängen.


    Die Eiskrähen sprangen, flatterten, pickten bereits an seinen Augen. Ich musste den Blick abwenden. Die Menge beann sich zu zerstreuen. Während die Blutreiter dem Hohen Richter einen freien Weg vorbereiteten, stieg Solwin von Niederau gemessenen Schrittes von der Tribüne. Was mochte er fühlen, oder war sein Inneres genauso hart gefroren wie meins? Er sah nicht nach links und rechts, als er durch das Spalier seiner Leibwächter schritt, und noch weniger zurück.


    Das Kommando über seine Sicherheit hatte der imposante Blutreiter im weißen Waffenrock inne, dessen Gesicht von einem Maskenhelm verborgen war. Die Köpfe der übrigen waren heute frei, da sie keinen Angriff erwarteten. Einer der letzten, die auf der Tribüne standen, um den Rücken des Hohen Richters zu schützen, war ein kleiner, zart gebauter Blutreiter im roten Waffenrock der Mannschaftsdienstgrade. Der zierliche Bursche erregte meine Aufmerksamkeit. Ich sah genauer hin, die von der Kälte gerötete Himmelfahrtsnase kam mir bekannt vor.


    Von wegen Bursche! Arvida war das, die dort oben stand! An ihrer Hüfte hing ein Säbel. Wahrscheinlich war sie sogar bei dem Überfall auf die Burg dabei gewesen und hatte im Wald unsere Frauen und Kinder abgeschlachtet. Ihre Anwesenheit verriet mir, dass die Blutreiter nicht nur ein elitärer Eingreiftrupp waren, sondern auch ein Netzwerk von Agenten und Spionen unterhielten. Da war sie, die undichte Stelle. Das Gesicht des Verrats hatte Sommersprossen und eine Himmelfahrtsnase. Darum also hatte sie so rücksichtslo versucht, Teil der Räuberbande zu werden, und war bereit gewesen, mich zu opfern. Warum war ich nicht früher auf die Idee gekommen, das hinter so viel Skrupellosigkeit vielleicht etwas anderes steckte als blanker Überlebenswille? Und warum war Dolwin so gütig zu ihr gewesen, obwohl sich früh abgezeichnet hatte, dass man ihr nicht trauen konnte?


    Die Antwort war bitter und schmerzlich: Weil er stets ein Herz für die Armen gehabt hatte. Für mich, für viele andere unsere Bande, die von den Straßen zu ihm gekommen waren, und auch für Arvida.


    Ich sah in ihrem Antlitz jedoch keine Trauer, kein Anzeichen für ein schlechtes Gewissen. Dies war kein plötzlicher Sinneswandel. Arvida war nie ein Straßenmädchen gewesen, sondern war schon damals eine Agentin der Blutreiter.


    Niemand, der eine Waffe am Gürtel trägt, ist unschuldig. Auch ich tat vieles um zu überleben, das nicht im Einklang mit den Gesetzen des Landes stand, auf dessen Boden ich mich bewegte. Doch Arvidas Weg war ein anderer als meiner, denn sie hatte jemanden, der es aufrichtig gut mit ihr meinte und damit auch sich selbst verraten.


    Ich nahm nicht mein Jagdmesser zur Hand, sondern den von Rosgar gestohlenen Dolch. Er schien mir die geeignete Waffe zu sein. Ich hatte nie ein Mörder werden wollen, doch dass Moral fürs Überleben kein geeigneter Maßstab war, hatte ich bitter gelernt. Meine Finger schlossen sich fest um den Griff, während meine Augen das Ziel fixierten.


    Ein Wurf aus dem Handgelenk, kurz und kraftvoll. Die Klinge zischte durch die Luft, war kaum mit dem Auge zu verfolgen, flog an Köpfen und Hüten vorbei und fuhr bis zum Heft in ihr Ziel, vollkommen lautlos.


    Arvida strauchelte. Ihr Blick glitt nicht hinab zu dem Dolch, der bis zum Anschlag in ihrer Brust steckte, sondern hinauf zum grauen Himmel, wo die weißen Krähen kreisten. Sie wirkte entrückt, beinahe ein wenig verträumt. Arvida fiel und niemand fing sie auf.


    Ich wandte mich ab, noch bevor Arvidas Körper den schneenassen Bretterboden der Tribüne berührte. Raschen Schrittes verließ ich den Richtplatz. Es gab hier nichts mehr zu tun. Die meisten Menschen waren schon gegangen. Nach einem kurzen Moment des Erstaunens begriffen die verbliebenen Zuschauer, was geschehen war. Doch niemand blickte sich nach mir um. Im Moment des Wurfes waren alle Augen fest auf den Galgen gerichtet gewesen. Niemand hatte gesehen, woher der Dolch gekommen war.


    Die Blutreiter drängten sich mit erhobenen Schilden um Solwin von Niederau, um ihn abzuschirmen. Ihr Kommandant in der weißen Robe rief Befehle. Die Staatskonstabler schwärmten aus. Schwere Stiefel polterten über das Pflaster, die Menge wich zur Seite. Niemand wusste, wer der Mörder war. Doch ich das Glück auf die Probe zu stellen, war für einen Rotmondgeborenen noch nie eine gute Idee gewesen. Und so verschwand ich leise aus der Wahrnehmung der Menschen von Vellingrad, nur ein Vagabund von vielen.


    Ich würde auf Nummer sicher gehen und nichts dem Zufall überlassen. So betrat ich eine Seitengasse, die mir gut bekannt war. Dort löste ich das Gitter eines Abwasserschachts und glitt hinein. Hinter mir verschloss ich die Öffnung sorgfältig. Dann schritt ich über die erhabenen Trittsteine in die nasse Dunkelheit. Falls jemand meinen Fluchtweg beobachtet hatte, so war es dennoch unwahrscheinlich, dass die Konstabler mir in dieses Labyrinth folgen würden. Mich dort in der Dunkelheit zu fassen, war nahezu unmöglich. Und es gab so viele Öffnungen, das unklar war, durch welche ich zu entkommen gedachte.


    Meine Schritte hallten im Untergrund wieder, doch oben war im Alltagslärm nichts davon zu hören. Die Konstabler unternahmen keinen Versuch, mich hier unten zu erwischen. Sie riefen, sie rannten, sie durchsuchten die Menschen. Sollten sie nur, ich hatte nicht vorgehabt, zurückzukehren. Mein Weg führte mich fort.


    Das entlegene Gitter unterhalb der Stadtmauer von innen zu lösen hatte etwas Arbeit gekostet und sehr viel Kraft, doch hier war ich nun, ein zweites Mal aus dem übelsten nur denkbaren Dreck neu geboren. Wie einst aus der Sickergrube der Bruthöhlen stieg ich nun aus der Kanalisation von Vellingrad empor. Was für ein Held ich doch war.


    Nachdem ich die Böschung erklommen hatte, erreichte ich die Straße, die nach Norden führte. Sie war in alle Richtungen frei. Ich verließ Vellingrad zum letzten Mal, an meinen Füßen die Stiefel, die Dolwin mit geschenkt hatte, an meinem Körper die Kleider eines Räubers, der lange vor meiner Ankunft gefallen war. Vielleicht würden die Blutreiter ermitteln und die Tatwaffe untersuchen. Vielleicht würde Rosgar Dachsendom seinen geworfenen Dolch erkennen und Aussage machen. Womöglich würde bald mein Steckbrief dort prangen, wo zuvor der von Dolwin gehangen hatte, vielleicht mit einem noch höheren Kopfgeld, doch in Vellingrad würde mich niemand mehr finden.


    Im Spätherbst war ich hier eingetroffen und im Spätherbst verließ ich diese Station meines Lebens. Dolwin hatte mir ein Leben geschenkt und seines endete hier.


    Im Obsthain grub ich die Schwerter aus, meines und das von Dolwin. Dann machte ich mich auf den Weg zurück in den Wald. Ich würde noch einmal an der Räuberburg vorbeikommen, die schweigend im Wald stand und endgültig zur Ruine verkam. Als ich dort eintraf, waren alle Räume durchwühlt, die Habseligkeiten aus den Schränken gerissen und die Kisten ausgekippt. Die Hälfte der Burg war verbrannt, weil irgendwer Feuer gelegt hatte, doch aufgrund der Witterung hatten die Flammen nicht alle Räume erfasst.


    Dort holte ich meine unfertige Fluchkette ab, mein Notizbuch, Schreibzeug und einige Lehrbücher. Für Jithir fand ich eine passende Schwertscheide. Da zwei Klingen unbequem um die Hüfte lagen, schlang ich mir die Waffengurte über Kreuz um den Oberkörper. Schwer lagen nun die beiden Schwerter auf meinem Rücken. Über meine Schultern ragten die Griffe. Ich deckte mich noch mit anderem Kleinkram ein, wie einem Kompass und einer Schnur. Auch einen schweren Wollmantel nahm ich mit. Andere Dinge, die zu schwer waren, aber die ich für nützlich hielt, vergrub ich, damit sie den Plünderern der Radhora, die schon hier gewesen waren und wiederkehren würden, nicht in die Hände fielen. Ich nahm an, dass man die Burg vollständig schleifen würde und berücksichtigte das bei der Wahl meines Verstecks.


    Dann verließ ich den Ort, der mein zu Hause gewesen war. Jeder Atemzug verursachte Dampfwolken, während ich in gleichmäßigem Lauf der nassen Straße folgte. Ich wusste, wo mein nächstes Ziel lag. Bald würde ich am verlassenen Grenzturm vorbeikommen und der Straße hinaus in die Wildnis folgen, um unsere Truppe einzuholen. Ich gedachte, der Einladung von Cherax zu folgen und als Söldner anzuheuern. Dolwin hatte seine Zeit nicht an mich verschwendet. Ich war erwachsen und ich war ein Krieger.


    Es galt, seinem letzten Befehl zu folgen: «Aufgeben ist keine Option.»

    Kein Held

    Wie ungleiche Augen glotzten die Monde gleichgültig auf uns Sterbliche hinab: weiß und groß Oril, und daneben, tiefer hängend, klein und rötlich wie ein Himmelsgeschwür, Daibos. Reglos lag ich auf dem Dach, lautlos zitternd. Ein kaltes Rosa kroch vom Osten über den Horizont, als die Soldaten unseren Karren aus den Stallungen holten, gezogen von unseren beiden gutmütigen Ochsen. Nun bemerkte ich, dass die Schlafenden am Fuße der Mauer in Wahrheit Tote waren. Auf einer Seite, sorgsam gebettet, die gefallenen Soldaten. Auf der anderen Seite, achtlos hingeworfen und zum Teil übereinander liegend, die besiegten Räuber. Jene in ihrem Blute zu sehen, mit denen ich einen Tag vorher noch gegessen und getrunken hatte, erfüllte mich mit einem Gefühl tiefer Sinnlosigkeit.


    Der Tau glitzerte auf den Mauern der Ruine. Kurz döste ich weg, trotz Kälte und Grauen, und sah im Halbschlaf die Gesichter meiner Leute. Die Überlebenden mussten auf ihrem Marsch unter Garlyns Kommando schon ein gutes Stück hinter sich gebracht haben. Jetzt, da es wärmer wurde, legten sie wahrscheinlich eine Rast ein. Ihr Leben ging weiter. Das der anderen nicht. Alles, wofür ich jetzt noch hier weilte, war Dolwin.


    Die Soldaten traten ihm in die Seite, damit er aufstand. Meine Hand ballte sich zur Faust. Mühsam kämpfte er sich auf die Beine. Seine Kleidung hing in dunkelroten Fetzen von seinem Körper. Erde und Blut verklebten die Haut. Das war sie also, die Zivilisation, die Begriffe wie «Humanität» und «Menschlichkeit» geprägt hatte.


    Der leuchtende Saum von Alvashek erhob sich über den Wald. Die Zinnen warfen lange Schatten, doch die Außenmauer leuchtete warm im Morgenlicht. Langsam kehrte das Gefühl in meine Finger zurück, doch nicht in mein Herz. Eine tiefe innere Kälte hatte von mir Besitz ergriffen. Mein Gesicht war hart und starr wie das einer Statue, während ich die Soldaten beobachtete. Einige aßen etwas, während andere sich bereits marschfertig machten. Sie gingen ihrem Dienstalltag nach, während Dolwins Leben mit jedem Blutstropfen ein wenig mehr aus ihm heraussickerte. Bald bewegte die Radhora sich mit ihrem kostbaren Gefangenen durch das Tor nach draußen in den Wald, der Dolwins Familie gehörte und den sie heute mit seinem eigenen Blut entweiht hatten.


    Ich wartete, bis sie außer Hörweite waren, ehe ich herunterkletterte und mich an die Verfolgung machte. Zügig setzte ich meine Schritte, mied den gepflasterten Grund und folgte den Wurzelwegen und Wildpfaden, die sich parallel zur Straße durch den Wald wanden. Ich konnte ausreichend Abstand lassen, um mich nicht in Gefahr zu bringen, denn ich kannte hier jeden Winkel. Als sie die Talstraße erreichten, teilten sie sich auf. Die Hauptstreitmacht wanderte nach Osten in Richtung Turm, so wie Garlyn es geahnt hatte. Eine kleine Abordnung samt des Karrens mit den Toten und ihrem berühmten Gefangenen im Schlepptau wandte sich nach Westen, in Richtung Vellingrad. Dieser folgte ich. Ihr Ziel war vorhersehbar und bestätigte sich im Verlauf des Marsches: Vellingrad.


    Hätte es etwas genutzt, die marschierende Armee mit Nadelstichen zu stören und zu traktieren? Konnte ein einzelner Mann eine professionelle Militäreinheit aufhalten, wenn sein Herz nur tapfer genug war? Falls ja, so war ich dieser Mann nicht.


    Als ich die Stadt erreichte, war später Vormittag und die Soldaten freuten sich auf das wartende Mittagessen. Ihre Toten würden in einer Zeremonie bestattet werden, in denen der die Magistrate der Stadt ihnen für ihren Dienst dankten. Die Angehörigen würden ihr Beileid und ihre Abfindung erhalten.


    Was aber auf Dolwin wartete, stand in den Sternen.


    Bevor ich Velingrad betrat, vergrub ich meine Waffen und die Rüstung in einem Obsthain unter einem knorrigen Apfelbaum. Alles militärische nahm ich ab, rieb mit nassem Gras meine Haut und meine Kleider zumindest so sauber, dass ich als einer der vielen Landstreicher durchgehen konnte. Unbewaffnet und ungerüstet würde niemand Anstoß daran nehmen. Kapuze und Schal verdeckten den Großteil meines Gesichts. So lange ich nicht an die Radhora oder die Stako geriet, spielte mein Äußeres keine Rolle. Der kleine Mann hatte andere Sorgen, als sich mit einem verdreckten Landstreicher zu befassen, der den Gestank des Todes auf dem Leib trug.


    Ich strich durch die Straßen, doch weil ich zu viel Zeit mit meiner Säuberung verbracht hatte, verlor ich Dolwins Spur. Ob sie ihn in die Kaserne brachten oder ins Rathaus, wo auch das Stadtgefängnis sich befand, wusste ich nicht. Und ich konnte schlecht jemanden fragen. Aber seien wir ehrlich: Es wäre auch egal gewesen. Man brach nicht mal eben in ein naridisches Gefängnis ein und befreite den Delinquenten. Wenn jemand wusste, wie man jemanden effektiv einsperrte, dann die Naridier.


    Fürs Erste war Dolwin verschwunden. Ich würde warten.


    So bezog ich den verwilderten Apfelhain, wo ich mich von vergessenem Fallobst ernährte, das war vorerst genug. Schlaf fand ich nur tagsüber, wenn die Temperaturen es erlaubten, nachts musste ich in Bewegung bleiben, um nicht zu erfrieren, und strich durch die Straßen. Kannte ich diese Situation nicht bereits? Der Kreis begann sich unaufhaltsam zu schließen. Im Gegensatz zu damals spürte ich tiefe Abgestumpftheit, die nicht einmal Raum für Trauer oder Wut ließ. Ich konzentrierte mich nur auf die nächste Handlung und dachte kaum nach.


    Drei Tage später kündigten die Herolde Dolwins anstehende Hinrichtung an.


    Als die Menge sich versammelte, war ich einer von vielen. Die weißen Eiskrähen umkreisten den Richtplatz am Galgenberg. Ihr tiefes Krächzen, das an das Knarren von Bäumen erinnerte, klang durch den Herbstnebel. Die Menge drängte nach vorn. Ich bewegte mich schweigend unter den Menschen, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und den Schal bis zu den Augen hoch. Ich hörte, wie sie sich über die zerschlagene Räuberbande unterhielten, aber auch über geradezu grotesk banale, alltägliche Dinge, wie das spätere Mittagessen. Die großen Pflastersteine waren glitschig vom Morgentau, man musste langsam gehen.


    Als wir den Richtplatz erreichten, der von der Radhora gesichert wurde, drängte ich mich nach vorn. Die Menge stand so dicht, dass ich zeitweise ziemlich brutal dabei vorgehen musste. Bis in die erste Reihe schaffte ich es nicht, doch ich fand einen Platz, von dem aus ich das Geschehen im Auge behalten konnte. Die Holztribüne aber, auf welcher der Hohe Richter zum Volk sprechen würde, war umgeben von Blutreitern, einige zu Pferd, andere zu Fuß.


    Meine Augen waren jedoch auf Dolwin gerichtet, der in diesem Moment zum Ort seiner Hinrichtung geführt wurde. Mit verbundenen Augen und auf den Rücken gefesselten Händen stieg Dolwin von Niederau auf das Blutgerüst, auf dem der mehrstöckige Galgen stand. Vier Folterknechte halfen dem maskierten Henker bei der Verrichtung seiner Arbeit. Man legte Dolwin ein dickes Hanfseil um den Hals. Ein schweres Kaltblutpferd wartete hinter dem Blutgerüst, weiß wie die kreisenden Eiskrähen.


    Das Blutgerüst selbst erinnerte an eine Bühne, gezimmert aus massiven Balken und sauber verplankt. In jeder Ecke stand eine Säule des mehrstöckigen Galgens. Ganze Räuberbanden konnten hier zeitgleich gehängt werden. Mit einem derart imposanten Galgen konnte Vellingrad überzeugend die örtliche Blutsgerichtbarkeit demonstrieren. Darum befand er sich weit sichtbar auf einer Erhöhung, genau dort, wo die viel befahrene Salzstraße in die Stadt hinein führte. Was auf dem Blutgerüst geschah, war eine Machdemonstration, aber auch eine Abschreckung.


    Inmitten dieses Blutgerüsts stand Dolwin von Niederau.


    Auf die Tribüne kam nun der Hohe Richter geschritten, zu Fuß begleitet von mehreren Blutreitern. Solwin von Niederau war persönlich gekommen, um seinen eigenen Vater zu richten. Er trug das gleiche braune Haar, doch er hatte es kurz rasiert, um sich von den Gepflogenheiten des alten Adels zu distanzieren, und einen gepflegten kurzen Wangenbart. Gekleidet war er in eine elegante schwarze Robe mit einem Stehkragen, welche die Würde und Autorität des Amtes ausdrücken sollte. Um seine Taille wurde sie anstelle eines Gürtels von einer silbernen Kette mit einem Vorhängeschloss zusammengehalten. Das Schloss zeigte das Wappen Naridiens, den schwarzen Kraken. Die Kette symbolisierte, dass der Richter in seinen Entscheidungen an die Gesetze Naridiens gebunden war. Auf den Rücken und die Brust der Robe aber war die blutrote Winterweide von Niederau gestickt.


    Eine Fanfare erklang und ein Herold rief: «Ich bitte um Ruhe! Seine Exzellenz, der Hohe Richter zu Vellingrad, Solwin von Niederau, ist bereit, das Urteil zu verkünden.»


    Die Wortwahl fiel mir auf, denn tatsächlich verkündete er das Urteil heute nur – gefällt hatte er es schon vor Jahren.


    Solwin blickte von der Tribüne aus auf die Menge, die sich um das Blutgerüst versammelt hatte. Dann schweifte sein Blick zu seinem Vater.


    «Bürger von Naridien, heute ist ein großer Tag für die Gerechtigkeit. Heute wird ein lange gesuchter Verbrecher seine gerechte Strafe erhalten. Heute wird ein Feind der Republik sein Ende finden. Heute wird ein Vater von seinem Sohn gerichtet.

    Ja, ihr habt richtig gehört. Der Mann, der dort der Vollstreckung harrt, ist mein Vater Dolwin von Niederau. Er ist der Anführer der Räuber, die unser schönes Land seit Jahren heimsuchen, die Händler überfallen und die Schmuggler sicher über die Grenze geleiten. Er ist der Anführer der Rebellen, die unser Gesetz missachten. Er ist der Anführer der Verräter, die unser Volk seit Jahren peinigen, Steuern hinterziehen und den Handel schädigen.»


    Er ließ den Blick seiner blauen Augen über die Menge schweifen. Die optische Ähnlichkeit zu Dolwin war so offensichtlich, dass es mir weh tat, die Kälte in diesen Augen zu sehen.


    «Ich weiß, was ihr denkt», fuhr er fort. «Ihr denkt: Wie kann ein Sohn seinen eigenen Vater verurteilen? Wie kann ein Sohn seinen eigenen Vater richten? Wie kann ein Sohn seinen eigenen Vater hassen?


    Ich sage euch, wie. Ich sage euch, warum. Ich sage euch, wofür.


    Ich verurteile meinen Vater, weil er ein Mörder ist. Er hat unschuldige Menschen getötet, nur weil sie wohlhabend waren und er ein armer Schlucker ist, der den Wandel der Zeiten nicht begriff. Er hat kein Erbarmen gezeigt, kein Gewissen, keine Reue. Er hat sich selbst zum Richter und Henker der Unschuldigen gemacht. Er hat sich über das Gesetz gestellt.


    Ich richte meinen Vater, weil er ein Lügner ist. Er hat mir falsche Werte beigebracht, falsche Ideale, falsche Hoffnungen. Er hat mir erzählt, dass die Republik uns unterdrücken und ausbeuten würde. Er hat mir erzählt, dass wir uns wehren müssten, dass wir uns befreien müssten, dass wir uns rächen müssten. Er verschwieg mir, wie wichtig ein hohes Maß an Steuern und Abgaben für den Wohlstand und die Sicherheit einer Nation sind.


    Ich hasse meinen Vater, weil er ein Versager ist. Er hat nie mit eigenen Händen gearbeitet, sondern anderen die Früchte ihres Fleißes geraubt. Er klammert sich an das vergangene Fürstentum und an die veralteten Werte einer Zeit, die aus den Köpfen gestrichen und in die Geschichtsbücher verbannt gehört. Die Zeit des Fürstentums Naridien ist vorbei und die Zukunft gehört der Freien Naridischen Republik.


    Ich verurteile meinen Vater zum Tode durch den Strang!»


    Er hob den silbernen Hammer, der die Macht seiner Entscheidungen symbolisierte, und schlug damit auf seinen Tisch.

    Die Zuschauer lauschten dieser Rede wie gebannt. Sie wussten, dass dies ein historischer Moment war, einmalig und unwiederholbar. Sie waren Zeugen eines Dramas, das sie nie vergessen würden, waren Zeugen eines Konflikts, der sie nie loslassen würde - Zeugen einer Szene, die sie nie verstehen würden. Die Blutreiter blickten derweil grimmig in die Menge und die Staatskonstabler hielten die Zuschauer vom Galgen fern. Es gab keine Möglichkeit, einzuschreiten.


    Mein Herz raste, ich hörte das Pumpen dumpf in meinen Ohren. Der Henker drehte den Knoten nach hinten, zu Dolwins Nackenwirbelsäule, und drückte das Seil vorn in die weiche Halsmulde unterhalb des Adamsapfels. Er zog es händisch fest, damit es nicht verrutschte, wenn der Zeitpunkt gekommen war. Kalter Schweiß brannte in meinen Augen. Zwei alte Frauen geiferten, dass ihnen der Speichel aus den zahnlosen Mündern spritzte. Die Menschen um mich herum stanken nach dem Getreidebrei ihres Frühstücks, nach Lampenfett und altem Schweiß.


    Das Erhängen zählt im naridischen Grenzgebiet zu den häufigsten Tötungsmethoden. Ich will ehrlich sein: Auch wir Räuber hatten uns die Hände am Blut unserer Opfer schmutzig gemacht. Über das Erhängen wusste ich Bescheid. Bäume wachsen überall und ein Seil ist schnell gefunden. Im Wort ‹Galgenbaum› ist die eigentliche Herkunft des Tötungsinstruments noch zu hören. Selbst das Eichenholz, das dafür als Baumaterial dient, hat seinen Ursprung in der Praxis, jemanden an Thayar, dem heiligen Eichbaum, zu erhängen. Der Galgen ist bekannt für seinen raschen und sicheren Tod. Darum war er beliebt. In der Praxis starben die meisten Delinquenten langsam unter Todesqualen.


    Ein kalter Wind trieb raschelndes Laub über den Richtplatz. Hinter mir hustete jemand, rechts und links applaudierten die Menschen, als der Henker seinem Gehilfen das Signal gab. Das Seil um Dolwins Hals zog sich straff, als der Folterknecht das Kaltblut antrieb.


    Dolwin stand einen Moment auf den Zehenspitzen, dann lösten seine Schuhe sich vom Grund. Das langsame Hinaufziehen verhinderte, dass seine Halswirbel brachen und zögerte den Eintritt des Todes hinaus. Ich wusste, dass die tiefe Lage des Seils ihm den Adamsapfel in den Hals drückte, der ihm die Luftröhre verschloss. Man erzählte sich, dass es extrem schmerzhaft sei, aber nicht lange dauern würde. Langsam zog das Seil ihn hinauf in den grauen Morgenhimmel. Und dort hing er. Die Menge schrie, die Raben krächzten. Ich schwieg, mein Hals fühlte sich genau so zugezogen an wie der des Mannes, der bis zum höchsten Punkt des Galgens gezerrt wurde, dem Platz für die schlimmsten Verbrecher.


    Es würde von einem schwachen Charakter zeugen, nun das Unrecht der Welt zu beklagen. Wir waren Räuber und kannten die Strafe. Aber Trauer ist erlaubt. Das Tuch, das ich über Nase und Mund trug, schmeckte nass und salzig. Vom Himmel fielen schwere Tropfen, klatschten laut auf das Pflaster.


    Feierlich erhob der Hohe Richter sich noch einmal, um zu der versammelten Menge zu sprechen.


    «Bürger von Naridien», rief Solwin, «heute ist ein großer Tag für die Gerechtigkeit. Heute wird ein Vater von seinem Sohn gerichtet. Und heute wird ein Sohn von seinem Vater befreit. Ich bin der Hohe Richter von Naridien. Ich bin der Hüter des Gesetzes. Ich bin der Diener des Reiches. Ich habe meinen Vater zum Galgen geführt. Ich habe meinen Vater zum Schweigen gebracht. Ich habe meine Pflicht erfüllt und meine Ehre bewahrt. »


    Es sah aus, als würde er in die Runde blicken, doch ich hatte das Gefühl, er würde eher über die Köpfe aller hinweg sah, zu einem Punkt in der Ferne.


    «Ich bin nicht mehr sein Sohn», sagte er. «Und er ist nicht mehr mein Vater. Er ist nur ein Fremder, der zufällig mein Blut teilt. Er ist nur ein Feind, der zufällig mein Gesicht trägt. Er ist nur ein Verbrecher. Lasst euch dies eine Mahnung sein, dass die naridischen Gerichte keine Gnade kennen. Gegenüber niemandem und aus keinem Grund.


    Das Urteil wurde vollstreckt, die Versammlung ist beendet.»


    Erneut klang der Schlag des silbernen Hammers.

    Der Ruf der Toten

    Ich spürte einen Schlag auf meine Schulter. Ich öffnete die Augen und sah Garlyn, den Söldnerkommandanten, über mir stehen. Sein roter Bart war länger als gestern, seine Augenringe tiefer.


    «Aufstehen, Halbork!», rief er. «Die Sonne geht bald auf. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die naridischen Hunde schlafen nicht. Sobald sie etwas sehen, werden sie sich auf den Weg hierher machen. Wir müssen uns noch vor dem ersten Tageslicht in die Wildnis absetzen.»


    Ich stöhnte und setzte mich auf. Mein ganzer Körper schmerzte und mein linker Arm war kaum brauchbarer als gestern. Ich war noch müde von dem Kampf in der Burgruine. Es war keine rein körperliche Erschöpfung. Mein Kopf fühlte sich an, als sei er mit Watte gefüllt. Langsam quälte ich mich auf die Beine und sah mich um.


    Dieser alte Grenzturm war ein verwitterter Überrest aus einer längst vergangenen Zeit. Er stand einsam auf einem Hügel, umgeben von dichtem Wald, der inzwischen so hoch gewachen war, dass man das Bauwerk von weitem kaum noch saß. Er war aus grauem Stein gebaut und besaß einen runden Grundriss. Zwanzig Meter ragte er in den Himmel und hatte vier Stockwerke. Durch die schmalen Fenster, die mehr an Schießscharten erinnerten, sah ich die Sterne, die langsam verblassten.


    Der Turm war Teil einer Reihe von Türmen, die entlang der Grenze verteilt waren. Sie dienten früher nicht nur zum Eintreiben von Zoll, sondern auch dazu, Eindringlinge zu entdecken und zu melden. Ihre Dächer waren mit Signalfeuern ausgestattet, die bei Gefahr entzündet werden konnten.


    Doch dieser Turm war schon lange verlassen und verfallen, denn dahinter lag nur noch Wildnis. Die Zeit der großen Kriege zwischen den Großmächten war vorüber und Naridien wollte sparen. Der Grenzturm war von Moos und Efeu überwuchert. Er hatte Risse und Löcher in den Wänden. In den Ecken kroch der Schimmel hinauf und Spinnweben hingen von der Decke. Eine dicke Schicht Staub und Schmutz bedeckte den Boden. In den Ritzen wimmelte das Getier.


    Der Turm war kein gemütlicher Ort zum Verweilen. Er war kalt und feucht und auch ein wenig gespenstisch. Seine Mauern waren voller Erinnerungen an vergangene Kriege und Leiden, genau wie die Burgruine, nur war die Atmosphäre noch drückender. Doch der Turm war die einzige Zuflucht für die Räuber und die Söldner, die vor den Naridiern geflohen waren.


    Ich kontrollierte meine Kleidung und den Sitz meiner Ausrüstung. Es erwies sich als nicht leicht, das zweite Kurzschwert so zu verstauen, dass es mich nicht behindern würde oder verletzten konnte. Am Ende blieb mir nur, es in einen vermoderten Lumpen zu wickeln.


    Die Räuber und Söldner bereiteten sich ebenfalls auf den Abmarsch vor. Ihr Atem bildete beim Sprechen Wolken vor ihren Gesichtern. Wir hatten es eilig, denn es ging das Gerücht, der Radhora sei unser Versteck im Turm bekannt.


    «Wer auch immer uns beim Sturm auf die Burgruine verraten hat, weiß auch über alles andere Bescheid», meinte Mauli gerade zu Cherax. «Wenn ich den Verräter in die Finger kriege...!» Sie machte eine Bewegung, als würde sie jemandem das Genick brechen.


    «Wo genau soll es jetzt überhaupt hingehen?», wollte ich wissen. Da Mauli mit den Schultern zuckte, blickte ich zum Troll. «Weißt du es?»


    Er schnürte gerade seine Stiefel. «Wir bringen die Frauen und Kinder nach Kaisho. Dort sind sie in Sicherheit.»


    «Das liegt doch am Arsch der Welt», stöhnte ich.


    Cherax nickte. «Fernab aller Sorgen. Wenn alle Stränge reißen, können sie sich über die Grenze nach Arashima in Sicherheit bringen. Aber ich denke, Kaisho ist ein guter Ort für einen Neuanfang.»


    «Und die Söldner?», hakte ich nach.


    «Wir», fuhr Cherax unbeirrt fort, «kehren zurück in die östliche Wildnis. Wo es dann hingeht, entscheidet Garlyn.» Er lächelte mir zu. «Hast du Familie unter den Zivilisten? Bleibst du bei ihnen?»


    «Familie? Ich?» Ich schüttelte den Kopf, ein bitteres Lächeln auf den Lippen. «Wohl kaum.»


    Cherax schien auf diese Antwort nur gelauert zu haben. «Du könntest dich uns anschließen», platzte er fröhlich heraus. «Man verdient gutes Geld und wie du siehst, wird das Leben nicht langweilig.»


    «Aber hallo», freute sich Mauli. «Neue Leute werden immer bei uns gesucht und wie es scheint, kannst du mit dem Kurzschwert umgehen. Das heißt, du müsstest nicht erst ewig ausgebildet werden sondern kannst von Anfang an dabei sein. Es würde dir bei uns gefallen.»


    Ich lächelte. «Das glaube ich gern. Aber mein Platz ist woanders.»


    Ich nickte ihnen zum Abschied zu, dann ging ich die Treppe herunter. Draußen standen schon die ersten Söldner und Zivilisten, die für den Abmarsch fertig waren. Auch Garlyn war darunter. Ich sagte ihm Bescheid, damit er die Räuber über meinen Verbleib informieren konnte, falls jemand fragte. Mir war nicht danach, mich von jedem einzeln zu verabschieden und jedem noch einmal die gleiche Erklärungliefern zu müssen.


    «Garlyn? Auf ein Wort», bat ich.


    Der Söldnerkommandant beendete sein Gespräch und ging mit mir ein paar Schritte abseits. «Hab nicht viel Zeit», murrte er.


    «Ich habe nur eine einzige Frage», sagte ich. «Was ist mit Dolwin? Haben wir seinen Leichnam geborgen?»


    Er schüttelte den Kopf. «Nein. Wie denn auch? Wir haben nur diejenigen mitgenommen, die aus eigener Kraft laufen konnten, die Lebenden und die Leichtverletzten.»


    Ich senkte den Blick und sah meine besudelte Kleidung. Schlamm und Blut bildeten eine stinkende Kruste. Wie viel davon Feindesblut war und wie viel mein eigenes, war unmöglich zu sagen, doch ich schien mit ein paar Kratzern davongekommen zu sein. Was aber war mit Dolwin? Ich konnte nicht glauben, dass er tot war. Er hatte mich aufgenommen, als ich von den Orks verstoßen wurde. Er hatte mir gezeigt, wie man überlebt und kämpft. Er hatte mir eine Familie gegeben und daran geglaubt, dass ich ein Krieger werden würde.


    «Das kann ich nicht akzeptieren», sagte ich. «Ich muss zurück zur Burgruine. Ich muss Dolwin finden und ihn bestatten. Er verdient ein ehrenvolles Begräbnis. Und vielleicht ist er gar nicht tot?»


    Nun mischte auch Cherax sich ein, der mir hartnäckig hinterhergekommen war. «Das ist Wahnsinn, Serak. Du kannst nicht allein zurückgehen. Die Naridier werden dich töten. Oder schlimmer, sie werden dich gefangen nehmen und foltern. Wir alle zusammen konnten sie nicht abwehren. Wie willst du das allein schaffen? Du hast keine Chance gegen sie.»


    «Das ist mir egal», sagte ich. «Ich schulde es Dolwin. Er war mein Freund. Er war mein Anführer. Er war mein Vorbild. Ich kann ihn nicht einfach so zurücklassen.»


    Der Söldnerkommandant drehte sich eine Rauchstange aus einem getrockneten Kräuterblatt von der Größe seiner Hand. «Wenn du dir das wirklich antun willst, halte ich dich nicht auf», sagte er, «aber ich halte es für Dummheit. Die Lebenden können dich sicher besser gebrauchen als die Toten. Dass wir hier in Sicherheit sind, wurde von deinen und meinen Leuten mit ihrem Blut bezahlt. Vergiss das nicht.»


    «Wie könnte ich das je vergessen», sagte ich leise. «Aber es gibt Dinge, die man tun muss.»


    «Du bist ein Narr», sagte Garlyn. «aber du bist erwachsen und wirst es schon wissen. Ich kann dich nicht zwingen, mir zu folgen. Du musst deine eigene Entscheidung treffen. Aber bedenke, dass du damit dein Leben aufs Spiel setzt. Und dass du vielleicht nie wieder deine Freunde siehst, die noch leben.»


    Ich wusste, dass er recht hatte. Aber ich hatte mich entschieden. Ich musste Dolwin die letzte Ehre erweisen. Erst, wenn ich seinen Leichnam gesehen hätte, würde ich glauben, dass er tot war. «Ich danke dir für alles, Garlyn.»


    Er grunzte etwas unverständliches, steckte seine Rauchstange in den Mund, zündete sie an und widmete sich rauchend seinen Söldnern.


    Cherax aber blieb noch. «Willst du wirklich nicht mit uns kommen?» Ich hätte nicht gedacht, dass jemand mit so einem grobschlächtigen Erscheinungsbild derart traurig schauen konnte. Der Troll erweckte sonst den Eindruck, als könne er Schädel mit bloßen Händen zerquetschen, doch jetzt bot er ein Bild des Jammers. Seine langen Ohren hingen genau so herab wie seine Mundwinkel.


    Ich schmunzelte über seine Hartnäckigkeit, doch unsere Wege würden sich heute trennen. «Danke», sagte ich, «aber ich suche nach Dolwin.»


    «Du wirst nichts finden, das dir gut tut», sagte der Troll sanft. «Tu dir das nicht an.»


    «Wer soll ihn bestatten? Soll er von wilden Tieren gefressen werden, weil ich mich selbst schonen wollte? Und was ist, wenn er noch lebt? Das nicht wenigstens nachgeprüft zu haben, könnte ich mir nie verzeihen.» Ich klopfte meine Ausrüstung. «Danke für das Angebot und für eure Hilfe, aber unsere Wege trennen sich hier. Alles Gute für euch.»


    Cherax griff nach meinen Schultern und zog mich fest an sich heran. Ich musste eine innige Trollumarmung über mich ergehen lassen. Tröstend tätschelte ich ihm den breiten Rücken, während er mich fast an seiner Brust erstickte. Wahrscheinlich hätte er mich gern zum Freund gehabt. Dann ließ er mich los.


    Mauli gab mir die Hand. Auch sie wirkte nicht zufrieden mit meiner Entscheidung. Wir drei wussten nicht, ob wir uns jemals wiedersehen würden, doch es war unwahrscheinlich.


    «Lebt wohl.» Ich tippte mir zum Abschied an die Schläfe.


    Damit verließ ich die Söldner und die überlebenden Söldner und Räuber samt ihren Familien und kehrte zurück in den nächtlichen Wald. Diesmal rannte ich nicht, denn es gab keinen Grund. Besser war es, unentdeckt zu bleiben. In der Ferne sah ich Lichter. Als Menschen konnten die Naridier sich bei Nacht im Wald ohne künstliche Beleuchtung nicht effektiv bewegen, da sie nichts sahen, doch sie bereiteten sich anscheinend auf den ersten Lichtstrahl des Tages vor, um auf den Turm zu marschieren. Wer war nur für all das verantwortlich? Wer hatte uns erst die Söldner auf den Hals gehetzt und sie dann verraten? Mir fiel keine Antwort ein.


    Über den Hochpfad kehrte ich zur Burgruine zurück. Es roch nach Blut, Schweiß, Urin und Fäkalien. Der Geruch war so scharf, dass ich genau sagen konnte, wo ein Toter oder Schwerverletzter gelegen hatte. Das Laub war aufgewühlt, das Unterholz niedergetrampelt, die Moospolster abgerissen, Steine von ihrem alten Platz fortgerollt. Die Baumstämme, die unsere Leute von oben heruntergestoßen hatten, hatten Schneisen der Verwüstung geschlagen und junge Bäume abgeknickt, umgebogen oder entwurzelt. Hier und da lagen Gegenstände, die verloren worden waren.


    Da ich mich gut auskannte, wusste ich eine Stelle, wo ich die Mauer mithilfe eines Baumes erklimmen konnte. Leise kletterte ich auf den Wehrgang. Die Radhora hatte hier oben nur sehr wenige Wachen, da sie nicht mit einem Angriff rechnete. Die meisten Wachen hatten beim Tor ihren Posten bezogen, so dass ich mich wie ein Schatten auf den oberen Ebenen der Ruine bewegen konnte. Ich musste nur wenigen Soldaten ausweichen und das fiel mir nicht schwer. Sie fühlten sich sicher und schliefen oder unterhielten sich. Doch ihre Gespräche brachten nichts Interessantes zu Tage.


    Auf einem Dach bezog ich meinen Posten und beobachtete den Innenhof. Und da sah ich Dolwin, der gut bewacht in Ketten auf dem Boden lag. Er war schwer angeschlagen, aber er war der einzige Räuber hier, der noch lebte!

    Sturm auf die Burg

    Unter den beiden Mondsicheln hatten sich alle Anwesenden im Burghof versammelt, Räuber wie Söldner, Alte und Junge. Der kalte Nachwind schob dicke Nebelschwaden durch den Wald und verschleierte ihre Stiefel, so dass sie im fahlen Licht wie schwebende Geister anmuteten.


    Dolwin hob seinen schwarzen Stein hoch, so dass jeder ihn sehen konnte. «Die Männer mit den schwarzen Steinen stehen unter meinem Kommando», rief er. «Wir bilden die Verteidigung.»


    Nun hob Garlyn seinen weißen Stein. «Die Männer mit den weißen Steinen stehen unter meinem Kommando», dröhnte seine Stimme über den Burghof. «Unsere Aufgabe ist es, die Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen.»


    Zerknirscht blickte ich auf den weißen Stein, der mich von Dolwin trennen würde.


    «Die Aufgabe der Verteidiger ist es, den anderen so viel Zeit wie möglich zu verschaffen», rief Dolwin, «damit sie die Frauen und Kinder in Sicherheit bringen können. Wir sind das einzige, was zwischen ihnen und den Klingen der Radhora stehen wird.» Dolwin sah ernst von einem zum anderen. «Garlyn und seine Männer aber haben nur eine einzige Aufgabe: Den Kreis der Angreifer erfolgreich zu durchbrechen und dafür zu sorgen, dass sie diesen Ort so schnell wie möglich und so weit wie möglich hinter sich lassen können. Ich verlasse mich auf euch.»


    Dabei sah er mir fest in die Augen, meinen Zweifel wohl erahnend. «Und danach?», fragte ich.


    «Das liegt allein bei euch. Ihr lauft, bis alle in Sicherheit sind.»


    Mein Atem stockte für einen Moment, als mir klar wurde, was geschehen sollte. Während die anderen Kämpfer mit dem weißen Stein mit ihrem Los keineswegs unglücklich wirkten, bedeutete es für mich, den Mann im Stich zu lassen, der mir das Leben gerettet hatte, ihn und die Räuber, die an seiner Seite bleiben würden. Die Söldner waren mir egal.


    Dolwin umschloss meine olivgrünen Hände mit seinen starken, von zahllosen Trainingsstunden geschwollenen Fingern. «Ich habe dir den Stein gegeben, weil ich dir vertraue, dass du ihn nicht verschwenden wirst.»


    «Ich will ihn tauschen», sagte ich. «Jemand anderes mag leben. Mein Platz ist an deiner Seite.»


    «Dein Platz ist dort, wohin ich dich schicke», sagte er und drückte meine Hände. «Heute musst du zum Krieger werden und dein schwaches Herz besiegen. Dies ist deine letzte Prüfung. Aufgeben ist keine Option. Ich erwarte, dass du siegst.»


    Ich biss mir auf die Lippe und mein Gesicht verzog sich in inneren Qualen. Unter Aufbietung aller Willenskraft gelang es mir, ein Nicken zustande zu bringen. Dolwin ließ meine Finger los und wandte sich ab, um die Verteidigung zu organisieren. Ich spürte noch die väterliche Wärme seiner rauen Hände.


    Ich stand da mit hängenden Schultern, als mich jemand von hinten knuffte. Ich wandte mich um. Mit hochgezogener Braue wartete ich ab, was Cherax wollte. «Mach dir keine Sorgen», sagte er und fand in dieser schweren Stunde irgendwo in seinem Inneren die Kraft für ein Lächeln.


    Hinter mir hörte ich Dolwins feste Stimme. Jeder nahm seinen Posten ein. Die Flucht musste schnell gehen. Es blieb keine Zeit mehr, die Welt drehte sich nicht um mich. Und so folgte ich Cherax zu seinem Kommandanten.


    Garlyn und zwei seiner Männer schoben soeben die Abdeckung von einem trockenen Brunnen. Dolwin hatte ihm natürlich alles erklärt. Cherax nahm einige großzügige Schlucke aus seinem Trinkschlauch und reichte ihn mir. «Nimm vier große Schlucke. Das wird dir über die ersten Stunden hinweghelfen.»


    Der Troll besaß eine einnehmende Art. Obwohl ich ihn kaum kannte, vertraute ich ihm und würgte artig die geforderten vier Schlucke seines Schnapses herunter. Es war eine Tortur, das beißende Zeug zu trinken. Ich spürte, wie die feurige Hitze des Trankes sich in meinen Muskeln ausbreitete. Mein Bewusstsein wurde so klar, als würde ich ein zweites Mal aus dem Schlaf erwachen. Ich fühlte mich übertrieben wach und meine Sinne schienen doppelt so scharf wie sonst. Nachdem meine Augen aufgehört hatten zu tränen, sah ich jedes noch so winzige Detail meiner Umgebung und hörte jeden noch so leisen Laut. Er reichte den Schlauch weiter herum. Als er leer war, packte er ihn wieder ein.


    «Mir nach», raunzte Garlyn.


    Wir folgten dem Söldnerführer die Leiter hinab in den Brunnenschacht. Als der letzte unserer Gruppe hinabgestiegen war, schob einer der Verteidiger die schwere Holzplatte von außen wieder darüber. Es wurde stockfinster. Nicht einmal ich konnte noch etwas sehen.


    «Haltet euch mit einer Hand am Gürtel eures Vordermanns fest», hallte Garlyns Stimme. «Mit der anderen tastet ihr euch die Wand entlang. Wir gehen langsam, damit wir nicht stolpern. Und ab sofort sind wir leise.»


    Ich ertastete den Waffengurt des Trolls und schloss meine Finger darum. Er zog mich langsam vorwärts. Meinen Gürtel hielt ebenfalls jemand gepackt. Meine Nase verriet mir, dass es der weibliche Kumpan von Cherax war. Meine Fingerspitzen fanden das glitschige Gestein des Geheimgangs. Der Boden aber bestand aus weicher, feuchter Erde.


    Anfangs lief alles reibungslos, als draußen mit einmal ein fürchterliches Gebrüll erklang. Die Radhora hatte die Burg erreicht. Eine Frau in unserem Gefolge versuchte, so leise wie möglich zu weinen. In meinen Adern aber kreiste der Trolltrank und ich spürte nichts als meinen eisernen Willen und meinen wachen Geist, der so klar, kalt und tief erschien wie ein Gletschersee. Das gefiel mir sehr gut, denn mein Name – Serak – bedeutet Gletscher.


    Stärke und Kontrolle fühlten sich gut an, denn ich wollte kein Klotz am Bein sein, sondern jemand, auf den Verlass war.

    Während wir den Schacht durchquerten, tobte über uns das Gefecht mit wachsender Intensität. Schwere Gegenstände polterten den Hang hinab rollten mitten durch die feindlichen Truppen. Ich wusste, dass es sich um Steinkugeln und Baumstämme handelte, die wir nach dem letzten Überfall überall positioniert hatten.


    Eine Mutter versuchte, ihr weinendes Kind zu beruhigen. Egal, wie leise wir uns bewegten, Kinder waren in solchen Situationen unberechenbar. Der Geruch der muffigen Luft änderte sich, ein frischer Wind fuhr mir ins Gesicht.

    Zum zweiten Mal in meinem Leben musste ich mir meinen Weg durch einen dreckigen Schacht zurück ins Licht bahnen.


    «Alle stehenbleiben», sagte Garlyn. «Ich kundschafte die Lage aus.» Seine Schritte entfernten sich, während wir warteten. Ich spürte meinen heftigen Herzschlag.


    Nach einer Weile kehrte der Söldnerführer zurück. Sein Atem ging schwer, weil er anscheinend gerannt war. «Es wird schwierig, sie sind einfach überall. Ein geschlossener Kampf ist für uns aussichtslos. Wir müssen darauf vertrauen, dass Dolwin und die anderen oben für ausreichend Ablenkung sorgen. Wir haben nur dann eine Chance, wenn wir uns verteilen. Jeder muss allein fliehen.»


    «Das hat Dolwin aber anders angeordnet», raunzte ich.


    «Ist Dolwin hier?», blaffte Garlyn zurück. «Konnte er die Situation vorhersehen? Lasst ausreichend Abstand und dann lauft, so schnell ihr könnt.»


    «Wo ist der Treffpunkt?», fragte Cherax.


    «Am Grenzturm», antwortete Garlyn. «Von dort aus ziehen wir gemeinsam weiter.» Und er rannte. Seine Schritte waren bald nicht mehr zu hören. Der nächste Söldner floh. Nach einer Pause folgte ihm eine Frau mit Kind auf dem Arm. Nach und nach verließen alle den Brunnenschacht. Manchmal bildeten Männer, Frauen und Kinder kleine Gruppen, die entgegen der Anweisung gemeinsam flohen. Wen sollte ich beschützen?


    «Bleib bei Mauli und mir», sagte Cherax.


    Mauli ... fast hätte ich gelacht, doch tief im Inneren war ich froh darüber, dass wir drei zusammenbleiben würden. Wir rückten nach und standen in der gemauerten Öffnung, die von Spinneben und Efeu fast ganz verdeckt wurde. Nun war es an uns.


    Cherax startete durch. Ich und die Kameradin hinter mir, die wohl besagte Mauli war, folgten ihm. Geraume Zeit hörte ich nur noch meine schnelle Schritte und meinen keuchenden Atem. Durch den Nebel bewegten sich die Silhouetten der feindlichen Soldaten. Sie kannten nur einen Weg – nach oben. Dafür ließen sie sogar zu, dass wir entkamen. Ihre Befehle schienen sich ganz auf das Erstürmen unseres zu Hauses zu konzentrieren.


    «Sie brechen durch», brüllte jemand von oben. «Am Nordhang!»


    Ich rannte, was meine Beine hergaben, wobei ich versuchte, Cherax und Mauli nihct aus den Augen zu verlieren. Erde und Laub stoben unter meinen Stiefeln. Hinter mir erklang ein ohrenbetäubendes Gepolter. Ich konnte mich gerade noch zur Seite retten, als ein riesiger Baumstamm den Hang hinabpolterte, der mehrere Soldaten mit sich gerissen hatte, ehe er zwischen den Bäumen verkeilt stecken blieb.


    «Ich bin es, den ihr wollt», hallte Dolwins Stimme durch den nächtlichen Wald. «Kommt und holt mich, ihr Feigl-»


    Mitten im Wort riss seine Stimme ab. Ich hörte einen Aufschlag und ein erneutes Poltern. «Dolwin!» Ich fuhr herum. Cherax und Mauli würden ohne mich fliehen müssen. Die Frauen und Kinder hatten genügend Wächter, mein Weg war ein anderer. Ich rannte zurück, alle Vorsätze und Befehle missachtend. Ich sah Dolwin oben auf den Zinnen kämpfen. Mehrere Soldaten hieben auf ihn ein. Er benötigte meine Hilfe.


    Mit der Energie des Trolltrankes in den Adern kämpfte ich mich vorwärts. Nun wurden die Soldaten auf mich aufmerksam. Ich hob den Schild, um einen tödlichen Hieb abzuwehren. Der Aufprall erschütterte meinen Arm bis in die Schulter. Gleichzeitig stieß ich mein Kurzschwert nach vorn. Die Klinge drang bis zur Hälfte ein. Ich drehte sie herum, wie ich es gelernt hatte, und riss sie zurück, schubste den Gegner aus meinem Weg und drang weiter vor. Schon hieb der nächste Soldat auf mich ein. Die Angreifer standen über mir am Hang, was ihnen einen Vorteil verschaffte. Die Schläge, die auf meinen Schild einprasselten, rissen mich fast von den Beinen, ehe ich auch diesem Mann ein blutiges Ende bereitete. Ich stapfte weiter nach oben, das nächste Duell begann. In der Regel genügte ein einziger Treffer mit dem naridischen Kurzschwert, ein einziges Herumdrehen und Herausziehen der Klinge, um derart schreckliche Wunden zu reißen, dass der Gegner nicht mehr aufstand, ganz gleich, wo ich ihn traf. Dafür war diese Waffe konzipiert, und für den Platzmangel, dem man im Wald oder bei engen Gefechten ausgesetzt war. Das Training machte sich bezahlt.


    Ich spürte, wie mein Herz in meiner Brust hämmerte, als ich mich hinauf zu Dolwin kämpfte. Ich hatte schon viele Kämpfe erlebt, aber noch nie gegen so viele Feinde auf einmal. Die Soldaten aus Naridien waren gut ausgerüstet und ausgebildet, sie waren harte Gegner. Mein größter Vorteil war meine bessere Sicht in der Dunkelheit, vielleicht auch meine Kraft, aber im großen und ganzen war ein trainierter Menschenmann mir ebenbürtig. Ich war zu wenig Ork, um sie allein mit roher Kraft überwinden zu können. Mir wurde bewusst, dass ich auf Dauer keine Chance gegen ihre Übermacht haben würde, aber ich konnte Dolwin nicht allein lassen. Er würde nicht allein sterben müssen, ich wäre bei seinem letzten Atemzug an seiner Seite, bevor auch ich mich zur Ruhe legen durfte. Ich war ein Halbork, ein Ausgestoßener, ein Gejagter. Ich hatte nichts zu verlieren außer ihn.


    Ich stach mit dem Schwert nach jedem Soldaten, der mir zu nahe kam. Ich traf einen Angreifer unter dem Arm. Der Soldat schrie, als meine Klinge in seine Achselhöhle eindrang, und stolperte zurück. Einem anderen, der ihm zur Hilfe eilte, rammte ich die Schildkante ins Gesicht und ein heißer Regen von Blut ging auf mich nieder. Dann folgte auch für ihn der tödliche Stich und er stürzte zu Boden.


    Ich war der Krieger, der ich immer sein wollte. Alles, was ich gelernt hatte, kam in dieser Schlacht zur tödlichen Entfaltung. Mein Weg zu Dolwin war alles, was noch zähle. Ich kämpfte und verlor bei jedem Schritt, den ich vorwärts kam, ein Stück meines alten Selbst. Auch wenn unsere Feinde uns überlegen waren, wich ich nicht zurück.


    Die Geräusche der Schlacht änderten sich erneut. Bei der Burg sah ich Flüchtende. Leider war das nicht die Radhora. Die Söldner, die an Dolwins Seite hatten kämpfen sollen, rannten in alle Richtungen davon, anstatt weiter gegen die Soldaten zu kämpfen. Anstatt den Rückweg ihrer Kameraden bis zum bitteren Ende zu schützen, wollten sie nur noch überleben.


    Mein Fuß stieß gegen einen Körper, so dass ich stolperte. Ich hatte nicht nach unten sehen wollen, doch um nicht zu stürzen, tat ich es kurz. Dort lag Wenk, die Kleidung dunkel von Blut. Ich sah auf den ersten Blick, dass er tot war. Ich spürte einen Stich in meinem Herzen. Diese Leute hatten mich aufgenommen, als meine eigene Rotte mich verstieß. Sie hatten mir gezeigt, wie man lebt und lacht. Sie hatten mir einen neuen Namen gegeben, mit einem freundlichen Klang der Ironie: Serak der Tapfere.

    Ich wollte ihnen beweisen, dass sie sich auf mich verlassen konnten und dass ich der Krieger war, den Dolwin in mir gesehen hatte. Ich wollte ihnen danken, dass sie mir ein Zuhause gegeben hatten.


    Die Anzahl der Soldaten schien sich noch einmal verdoppelt zu haben. Langsam wurde es eng, und sie sammelten sich auf dem Weg zum Tor. Sie grinsten hämisch auf mich hinab und spotteten über mich. Sie waren viele und meinten wohl, dass ich ein leichtes Opfer war. Sie hielten mich für einen Feigling.


    Sie irrten sich.


    Ich hob Schild und Schwert. Mein Kriegsruf gellte durch den Wald, als ich mich auf sie stürzte. Ich war Serak der Tapfere. Und ich war ein Krieger.


    Ich kämpfte wie der Nachtmantel, in dessen Fell mein Speer gesteckt hatte und durch dessen Adern Gift floss. In meinen Augen brannte salziger Schweiß. Ich stach mit meinem Schwert nach Gesichtern und Hälsen, was auch immer an Haut in mein Blickfeld geriet. Mal rammte ich die Spitze gegen einen Schild, der hastig hochgezogen wurde, und mal in weiches Fleisch. Die Klinge war nun vollständig rot, meine Faust und mein Unterarm tropften von Blut.


    Ein Gegner stellte sich in meinen Weg, als ich Jelir gerade wieder aus einem Körper gerissen hatte, und griff sofort an. Ich wich einen Schritt zurück, rang vor Anstrengung schwer nach Luft, und drängte zwei Stufen hinauf, blockte mit dem Schild seinen schweren Hieb und stach erneut zu. Die Klinge verfehlte ihr Ziel auch diesmal nicht. Jeder Soldat, der zwischen mir und Dolwin stand, musste weichen. Seine Kumpane reagierten verunsichert und als ich einen Weiteren getötet hatte, ergriffen die Übrigen die Flucht. Doch jedes Zustechen kostete mich mehr meiner Kraft. Ihre Zahl schien unendlich und noch immer war ich nicht bei Dolwin angelangt.


    Mühsam erkämpfte ich mir ein paar weitere Stufen. Mein Schild wurde von derart vielen Hieben getroffen, dass mein Arm versagte. Der Linke war schon immer mein schwacher Arm gewesen. Ich warf den nutzlos gewordenen Schild beiseite, während ich mir der Konsequenzen vollumfänglich bewusst war. Die Soldaten formierten sich im Tor, rückten zu einem Schildwall zusammen. In ihren Augen sah ich, dass sie mich nun endgültig töten wollten. Sie höhnten und riefen Beleidigungen, um mich zu einem selbstmörderischen Angriff auf den Schildwall zu provozieren. Ich hörte in ihren Worten, wie sie mich verfluchten und in ihren Stimmen, wie sehr sie nach meinem Blut lechzten. Wie konnte ich es ihnen verdenken?


    Doch was sollte ein einzelner Kämpfer gegen einen Schildwall ausrichten? Mit einem plötzlichen Gefühl von Hilflosigkeit schaute ich auf die menschliche Mauer. Ich roch den Tod, der in der Luft lag, wie Blut, Schweiß und Schmutz sich zu einem schrecklichen Gestank vermischten. Dieses Hindernis konnte ich nicht durchdringen. Meine Beine zitterten bereits seit geraumer Zeit, was mir erst jetzt bewusst wurde. Ich schmeckte Erde, Blut und Salz und den säuerlichen Geschmack von Erbrochenem.


    Verzweifelt blickte ich hinauf zu den Zinnen, wo Dolwin auf die Knie fiel. Der nächste Schlag seines Gegners traf seine Schwerthand.


    Schimmernd im Mondlicht flog sein Kurzschwert hinab. Kurz vor meinen Stiefeln landete es im Laub. Da lag sie, Jithir, die Zwillingswaffe von Jelir. Ich hob mit meiner linken Hand das Kurzschwert auf. Der Arm funktionierte nicht mehr, aber die Finger ließen diese Bewegung zu. Ich hob beide Schwerter, auch wenn das Linke mir lediglich moralischen Beistand leisten konnte, entschlossen, ein letztes Mal gegen den Schildwall anzurennen und mein Leben hier und heute auf eine Weise zu beenden, die ich für würdig hielt.


    Doch etwas riss mir die Beine unter dem Körper Weg. Ich stürzte mehrere Stufen hinab, bis ich von der Treppe herunterkullerte. Ich rollte mich auf den Rücken und hob beide Schwerter über mich, bereit, meinen letzten Kampf auszutragen.


    Über mir stand Cherax. Er sagte nichts, sondern sah mir in die Augen und reichte mir die Hand. Ohne einen Ton von mir zu geben ließ ich mich von ihm auf die Beine ziehen. Er war trotz aller Gefahren und entgegen seiner Befehle zurückgekehrt, um mich zu holen. In meinem Herz, das unter dem Einfluss seines Tranks zu einem glasklaren Gletschersee geworden war, spürte ich wieder einen Funken Wärme. Ich brachte es nicht über mich, die selbstlose Rettung abzulehnen. Noch einmal blickte ich hinauf zu den Zinnen, doch Dolwin war nicht mehr zu sehen. Dafür tauchten Schützen auf dem Wehrgang auf. Cherax legte den Arm um meine Schultern und zog mich zwischen die Bäume in Deckung. Mehrere Pfeile schlugen in die Stämme ein. Es klang, als würde jemand mit einem Hammer auf das Holz schlagen.


    So folgte ich Cherax durch den Wald. Die Geräusche der Schlacht wurden leiser. Die Bäume zogen an meinem Blickfeld vorbei, während ich rannte, doch ich war langsam. Ich sprang plump über Äste und Wurzeln, stolperte über Steine und am Schluss humpelte ich nur noch. Wir kamen in das Areal mit den hohen Tannen. Der Nebel war nun so dicht, dass man kaum noch etwas sah. Er schluckte die meisten Geräusche.


    «Ich kann nicht mehr», japste ich. «Lauf.»


    Doch Cherax blieb.


    Von Moos zu Moos und von Stein zu Stein stolperte ich hinab ins Tal. Rechter Hand sah ich eine Barrikade der Soldaten, hörte die erstaunten Rufe, weil wir sie durch dieses schwierige Gelände einfach umgangen waren, doch sie verfolgten uns nicht. Ich sprintete noch ein letztes Mal, um endgültig aus der Reichweite der Soldaten zu kommen, bis wir schließlich schwer atmend ins Gehen verfielen.


    Vor uns ragte der Grenzturm in den dunklen Himmel. Ich schob Jelir in die Scheide und Jithir lose in den Gürtel. Aus der Ferne hörten wir noch immer den Kampflärm. Ich stieg die Treppe hinauf, wobei ich mich mit dem rechten Arm am Geländer festkrallte. Der Linke nützte mir nichts mehr. Meine Beine waren äußerst wackelig und ich strauchelte mehrmals. In den leeren Räumen fiel ich vor Erschöpfung einfach der Länge nach auf den blanken Boden, genau wie alle anderen.


    Der Hälfte von uns gelang es, den Turm heil zu erreichen.


    Auf den Rest warteten wir vergebens.

    Alles oder nichts

    Es war spät geworden. In der Ruine saßen die Räuber und Söldner in mehreren Reihen im Kreis um das Feuer. Im Zentrum saßen die beiden Anführer und ihre engsten Vertrauten. Ich verfolgte die Verhandlungen mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn. Zwischendurch betrachtete ich die Söldner und versuchte, uns irgendwelche Chancen auszurechnen, doch realistisch betrachtet gab es keine.


    Nach dem steilen Aufstieg zur Burg waren alle verschwitzt. Nahe der Mauer nahm ein hühnenhafter Söldner seinen Helm ab, um die kühle Nachtluft zu genießen. Er kämmte mit den Fingern seinen schwarzen Hahnenkamm, der plattgedrückt kreuz und quer über seinem Kopf klebte. Ich sah genauer hin, weil er ziemlich lange und spitze Ohren besaß. Trotz der Dunkelheit genügte mir das Rechtlicht, um Farben zu sehen. Das Grau seiner Haut war keine Einbildung, das schien sein natürlicher Farbton zu sein. Interessant waren auch seine Hauer, die aus dem Oberkiefer wuchsen und sich wie die eines Wildschweins nach oben schwangen. Anatomisch schien er näher am Ork als am Menschen zu sein, doch er war eindeutig weder das eine noch das andere. Was zum Henker war er?


    Als er meinen Blick bemerkte, zwinkerte er mir mit einem Auge zu. Weil ich zögerte, winkte er mich zu sich heran. Ich blickte mich um. Dolwin und Garlyn sprachen miteinander, auch Vigant und weitere erfahrene Männer saßen bei ihm. Da nichts dagegen sprach, verließ ich meinen Platz und ging zu dem merkwürdigen Kerl herüber, um mich neben ihm im feuchten Laub niederzulassen, das sich vor der Mauer türmte. Aus Gewohnheit setzte ich mich dabei auf einen meiner Füße, damit mein Hintern trocken blieb.


    Der graue Bursche drückte mir einen angesabberten Trinkschlauch in die Hand, aus dem es scharf nach selbstgebranntem Beerenschnaps roch. «Du siehst aus, als könntest du einen tüchtigen Schluck gebrauchen. Trink nur!»


    Weil etwas Deeskalation sicher nicht schaden konnte, trank ich das scharfe Zeug. Sofort bereute ich es. Es fühlte sich an, als würden glühende Kohlen meine Speiseröhre hinabrutschen! Ich verschluckte mich, hustete und bekam die Plörre in die Nase. Mein Gesicht brannte wie Feuer und mir stiegen Tränen in die Augen.


    «Selbst gemacht», sagte der Graue stolz.


    «Schmeckt köstlich», log ich dermaßen offensichtlich, dass er und ich zeitgleich in Gelächter ausbrachen, was uns aus der Gegend um das Feuer herum strenge Blicke bescherte.


    «Es ist ein altes Trollrezept», sagte er leise und zwinkerte mir schon wieder zu. Das schien er gern zu machen. «Und du bist...?!»


    «Ein Halbork», raunte ich.


    «Das sehe ich selbst, ich wollte deinen Namen wissen!»


    Ich grinste schief. «Serak. Und deiner?»


    «Cherax.» Grinsend knuffte er mich mit der Faust. «Darauf trinken wir einen.»


    «Bitte nicht», flehte ich.


    Einer seiner Kameraden lehnte sich zu mir herüber. Sein Helm glänzte im Licht der beiden Monde. «Lass dich nicht abfüllen. Das macht der gern.» Die Stimme verriet, dass es sich um eine Frau handelte, auch wenn die Rüstung alle weiblichen Formen neutralisierte.


    «Spielverderberin.» Cherax nahm mir den Trinkschlauch wieder ab und trank selber einen kräftigen Schluck. «So, den Rest heben wir uns für später auf. Wir wissen ja nicht, was uns heute noch alles erwartet.» Er wirkte sorglos, womit er das Gegenteil von mir bildete. Ich war ein Nervenbündel, aber das gemeinsame Lachen und die wenigen Worte hatten den Knoten in meinem Inneren gelöst. Auch wenn diese Söldner mit Sicherheit gefährliche Burschen waren, so hatte ich nicht länger das Gefühl, dass sie tatsächlich unsere Feinde waren. Aus ihrer Richtung war kein Hass zu spüren. Ihnen ging es, wie uns Räubern, nur ums Geschäft. War das nicht eine gute Basis für erfolgreiche Diplomatie?


    Ich warf einen Blick auf unsere beiden Anfüher, die mit steinernen Gesichtern miteinander verhandelten und meine Hoffnungen auf eine friedliche Lösung schrumpften in sich zusammen. «Denen würde ein Schluck deines Trolltranks wahrscheinlich auch gut tun», murmelte ich.


    Aber Cherax winkte ab. «Entspann dich. Die zwei sind Kommandanten, die müssen so schauen. Uns kann das egal sein. Wir haben den Luxus, gemeinsam etwas trinken zu dürfen. Es wird am Ende nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Würden wir Söldner tatsächlich kämpfen wollen oder ihr Räuber uns unbedingt auslöschen, dann würden wir jetzt nicht hier zusammen sitzen, oder?»


    «Tja ...»


    «Situationen wie diese habe ich schon zu Hauf erlebt. Erst gibt es lautes Säbelrasseln, aber meist ist am Ende alles halb so wild.»


    Ich war mir da nicht sicher und auch seine Kameradin hob die Brauen, sagte aber nichts. Meine Ohren richteten sich zum Feuer aus. Die Töne aus dieser Richtung wurden schlagartig doppelt so laut, während die Geräusche hinter mir sehr viel leiser wurden. Nun verstand ich jedes Wort der beiden Kommandanten.


    «Wer euch schickt, hast du immer noch nicht offenbart», sagte Dolwin aufgebracht.


    «Was geht dich das an?», knurrte Garlyn. «Uns wurde gutes Geld geboten, um euch auszulöschen, das muss dir genügen. Ich gebe dir die einmalige Chance, mit barer Münze zu bezahlen anstatt mit Blut. Ich habe kein Interesse daran, einen Trupp bedeutungsloser Wegelagerer zu vernichten, wenn es Alternativen gibt.» Er machte mit Daumen und Zeigefinger eine reibende Bewegung, wobei er anzüglich grinste. «Seien wir ehrlich, es wäre kein Kampf, sondern ein Abschlachten. Das muss nicht sein.»


    Natürlich, es ging um das Wichtigste im Leben eines Söldnerkommandanten - um Geld. Geld, Geld, Geld, allen Naridiern ging es am Ende nur darum. Allen, außer denen, die das kleine Refugium in der Ruine gewählt hatten.


    «Wenn ich dich recht verstehe», sagte Dolwin mit abweisendem Gesicht, «willst du dich doppelt bezahlen lassen: einmal von deinem Auftraggeber dafür, dass du uns angeblich getötet hast und einmal von uns dafür, dass du es nicht tust.»


    In aller Ruhe klemmte Garlyn Meqdarhan sich eine Rauchstange zwischen die Lippen, zündete sie an und begann zu qualmen. «Es wäre schön, wenn es so einfach wäre», nuschelte er, während die Rauchstange in seinem Mund wippte. «Unser Auftraggeber ist nicht blöd. Ich werde ihm eine glaubwürdige Geschichte unseres Scheiterns auftischen müssen. Die Anzahlung behalte ich ein, aber jedwedes Kopfgeld muss ich verzichten, wenn ich keine Köpfe vorlegen kann. Freilich schadet ein Handel mit dir außerdem dem guten Ruf meiner Einheit. Schon allein deshalb kann ich euch nicht aus reiner Gutmütigkeit laufen lassen und muss die Entlohnung großzügig bemessen.» Nach einem genüsslichen Lungenzug, nahm er endlich die nervig wackelnde Kippe aus dem Mund.


    «Wie viel verlangst du?», fragte Dolwin.


    Garlyn pustete ihm einen Rauchkringel ins Gesicht, der sich um Dolwins Hals legte. «Fünftausend je Kopf.» Er grinste böse. «Freilich gilt das auch für eure Frauen und Kinder, nicht allein für die Männer. Wir sind in Naridien, hier gilt gleiches Recht für alle, im Leben wie im Tod.»


    Das Entsetzen bei dieser Summe führte zu einem allgemeinen Schweigen unter den Räubern. Nun war die Katze aus dem Sack. Der edelmütige Söldnerkommandant hatte sein wahres Gesicht gezeigt.


    «Wir sprechen hier von mehr als einer Viertelmillion», sagte Dolwin schließlich mit mühsamer Beherrschung. «Eine solche Summe habe ich nicht. Garlyn, nicht einmal ein Zehntel davon! Das Angebot ist eine Farce, und ich bin sicher, das weißt du. Was also willst du wirklich? Wir müssen eine andere Lösung finden, oder meine Räuber und ich werden uns bis zum letzten Mann und bis zur letzten Frau, ja, bis zum letzten Kind verteidigen und so viele von euch wie möglich mit in den Abgrund reißen. Lebend bekommt ihr keinen von uns.»


    Garlyn nahm noch einen Zug und lächelte mit seinen gelben Zähnen. Er schien genau zu wissen, was er wollte. Ich war mir sicher, dass er dieses Spiel nicht zum ersten Mal spielte. «Kein Problem», sagte er. «Denken wir pragmatisch: Was ist diese Burg wert und welche Ländereien gehören dazu?»


    Dolwin atmete tief durch. «Diese Burg ist unveräußerlich. Sie ist der einzige Ort auf Asamura, an dem für uns Platz ist. Ohne sie sind wir nichts. Ich werde meine Leute nicht zu einem Dasein als obdachlose Bettler verdammen.»


    Der Söldnerführer nickte. «Dir sind deine Räuber wichtig, schön und gut, aber wersuche doch mal, die Dinge wirtschaftlich zu betrachten. Es missfällt den Leuten in Vellingrad, dass ihr hier die Händler abfangt und ausplündert, oder abartige Zölle erhebt und irgendwelche Schutzsteuern erfindet. Gleichzeitig schleust ihr auch noch Schmuggler durch. Jemand hat ein Interesse daran, diese kriminellen Machenschaften zu beenden, die den Handel in dieser Region schädigen. Ich bin das angeheuerte Werkzeug dazu. Aber ist es wirklich dein Wille, all jene, die dir etwas bedeuten, zum Tode zu verdammen?»

    Dolwin seufzte, er antwortete nicht.


    «Ich muss gestehen», fuhr Garlyn unbarmherzig fort, «dass die Summe, die er mir für jeden eurer Köpfe geboten hat, es mir schwer gemacht hat, überhaupt Verhandlungen in Erwägung zu ziehen. Es grenzt an ein kleines Wunder, dass wir nun hier sitzen. Man will uns für das Ausräuchern dieses Räubernestes fürstlich bezahlen, und die Klingen meiner Männer haben schon seit Wochen kein Blut gekostet. Wirf diese Gelegenheit nicht leichtfertig weg.»


    Dolwin presste die Lippen aufeinander, schloss die Augen und ballte eine Faust. «Du setzt mich unter Druck, aber das ändert nichts. Wir haben Familien mit kleinen Kindern. Ohne Burg gibt es für uns keine Zukunft, besonders jetzt im Winter.»


    «Wie wäre es damit: Ich biete dir eine lebenslange Pacht an», schlug Garlyn vor. «Ihr könntet hier wohnen bleiben für einen jährlich zu entrichtenden Betrag in einer fairen Höhe, die problemlos für euch zu stemmen ist. Immerhin seid ihr darin erfahren, euch Geld zu organisieren. Außerdem wünsche ich mir von dir ein paar Gefälligkeiten, wenn es hin und wieder darum geht, ein paar Freunde über die naridische Grenze zu lassen.»


    Dieser Gauner. Wahrscheinlich hatte er von Anfang an nur darauf gewartet, dieses Angebot zu unterbreiten!

    «Ich muss anerkennen», sagte Dolwin würdevoll, «dass man dich nicht allein wegen deines roten Haares Garlyn den Fuchs nennt. Du hast dir deinen Beinamen redlich verdient.»


    Garlyn lächelte selbstgefällig und zog an seiner Rauchstange.


    «Moment mal», mischte ich mich ein. «Gehört ihr zu den Grünen Kadern?»


    Garlyns Augen wurden schmal, als er mich rauchend musterte. «Und was ist mit dir? Welcher Orkrotte bist du entlaufen?»


    «Versuch es gar nicht erst», knurrte ich, «niemand ist so blöd, irgendein Kopfgeld auf mich auszusetzen. Dafür bin ich viel zu bedeutungslos. Mich will niemand zurück haben, sie sind froh, mich los zu sein.»


    «Manchmal muss man nur die richtigen Leute kennen.»


    «Schluss jetzt damit», mischte Dolwin sich ein. Er stützte das bärtige Kinn in die Hand und wirkte unwahrscheinlich alt und müde. Er tat mir leid und gern hätte ich irgendetwas getan, um ihm beizustehen. Stattdessen trank ich mit den Schergen dieses Söldnerkommandanten, als wäre ich einer der ihren. Ich erhob mich, klopfte meine Hose sauber und ging kommentarlos wieder zu Dolwin, um mich in seine Nähe zu setzen. Er sollte wissen, dass ich bei ihm war. Wenn es wirklich hart auf hart kam, würde ich an seiner Seite in der ersten Reihe stehen.


    Noch einmal zählte ich alle durch.


    Uns waren gerade einmal fünfzehn Krieger verblieben. Diese waren von einundfünfzig Söldnern umgeben, bis auf die Zähne bewaffnet. Weitere vierundzwanzig von Garlyns Männern lagen irgendwo auf der Lauer und bewachten unsere gefangenen zwölf Freunde als Geiseln. Ich glaubte, Armbrüste in der Dunkelheit zu spüren, die auf uns zielten. Eine Eskalation wäre sinnlos. Garlyn hatte recht, es würde ein sehr kurzer Kampf werden, vielmehr eine Hinrichtung. Aber vielleicht konnte es mir gelingen, wenigstens Garlyn den Fuchs mit in den Tod zu reißen. Das würde mein oberstes Ziel sein.


    Bevor Dolwin eine Entscheidung fällen konnte, kam einer der Söldner angerannt. Atemlos fiel er neben Garlyn auf die Knie, umarmte ihn fest von der Seite und flüsterte ihm dabei etwas ins Ohr, ehe er ihn wieder freigab. Die Augen von Garlyn waren schreckgeweitet.


    «Wie schnell sich die Dinge doch manchmal ändern», sagte er sehr langsam, während er die Rauchstange sinken ließ. «Dolwin, alter Raubritter: Vergiss alles, was ich dir vorschlug und auch meine Drohungen. Sie sind null und nichtig. Ich habe soeben erfahren, dass meine Truppe ihrerseits verraten wurde. Die Radhora nähert sich dieser Stellung», sagte Garlyn ernst. «Die Talstraße ist in diesem Moment bereits in beide Richtungen blockiert und die Soldaten sind dabei, den Kessel zuzuziehen.»


    Die Radhora. Der Klang dieses Namens sorgte sowohl von den Seiten der Räuber als auch der Söldner für Ausrufe des Entsetzens. «Die Republikanische Armee des Hohen Rates? Hier?», rief Dolwin.


    Garlyn nickte düster. «Scheinbar finden sie es bequem, euch und uns auf einen Schlag gemeinsam zu eliminieren.» Und dann, ganz leise, hörte ich den Söldnerkommandanten sagen: «Wir sind nur eine Kompanie. Die Radhora operiert in Batallionsstärke. Das ist dann wohl das Ende ... für euch und für uns.»


    Doch Dolwin umfasste nun Garlyns Unterarm. «Nicht, wenn wir uns verbünden und Seite an Seite kämpfen. Denken wir pragmatisch. Das hier ist meine Burg und sie ist nicht ungeschützt. Ich habe noch ein paar Asse im Ärmel.»

    Garlyn hob den Blick. Die beiden sahen sich in die Augen, dann nickte der Fuchs. Er erwiderte Dolwins Griff um den Unterarm. Er war ein elender Scheißkerl, aber so, wie er gerade dreinblickte, glaubte ich ihm, dass er es ernst meinte. Der Anführer der Räuber und der Kommandant der Söldner besiegelten damit ihren Pakt.


    Dann sprangen sie auf die Füße und zogen sich für eine kurze Beratung in Dolwins Rittersaal zurück. Wenig später kehrten sie zurück in den Burghof. In ihrer Mitte ging Vigant mit einem bauchigen Tongefäß.


    Was jetzt geschah, war eine Schlachtvorbereitung, wie sie die Krieger dieser Welt nur selten zu Gesicht bekamen: Dolgrim ging mit dem Lostopf herum und jeder zog blind einen Stein. Die beiden Anführer gingen neben ihm her und kontrollierten bei jedem ihrer Männer, was er gezogen hatte.


    Schließlich war ich an der Reihe. Ich wusste so wenig wie jeder andere, wofür Schwarz und Weiß standen, doch wenn ich an mein legendäres Pech dachte, war klar, dass ich die schlechtere Variante ziehen würde. Ich tauchte die Hand ein, spürte die kalten Kiesel und nahm nicht den erstbesten, sondern einen von ganz hinten links. Als ich die Finger öffnete, lag ein schwarzer Stein in meiner Handfläche.


    Dolwin nahm ihn mir kommentarlos weg und legte mir dafür seinen eigenen weißen Stein in die Hand. Den schwarzen steckte er in seine Tasche. Dann gingen sie weiter zum nächsten.