Die Botschaft der Toten
Kalte Winde heulten durch die östliche Einöde, als unser Trupp sich auf den Weg machte, um die Toten zu bestatten. Die Landschaft schien endlos zu sein. Der Himmel war bleigrau, eine Decke aus schweren Wolken.
Ich war Teil dieser Kompanie. Dass ich Garlyns Wunsch abgewiesen hatte, machte mir zu schaffen. Meine Weigerung trug nicht dazu bei, das Misstrauen, das gegen mich in der Luft hing, zu verringern. Während des schier endlosen Marsches dachte ich zu viel nach. In mir wuchs das dringende Bedürfnis, mich als Eisenfalke zu beweisen. Im Moment erfüllte ich jedes Klischee, das auf einen Halbork zutraf, war unzuverlässig und feige. Doch der Gedanke an die Orks, die ich ausspionieren sollte – die Gesichter meiner Vergangenheit – erstickte jeden Mut. Ich ballte die Fäuste, als ich mich fragte, wie war Garlyn überhaupt auf diesen Gedanken gekommen war. Wollte er mich bloßstellen oder wollte er mich quälen? Ich konnte ihm nicht helfen! Die Erinnerung an meine Zeit bei den Skunks war wie Gift. Ich war damals aus gutem Grund geflohen, wie er sehr gut wusste. Und während ich marschierte, zitterten meine Finger nicht von der Kälte.
Für die Sicherheit unserer Kolonne waren einige Kundschafter zuständig, die ausgeschwärmt waren und das Ödland durchstreiften. Während ich neben Mauli herging, beschloss ich, das Schweigen zu beenden, das mir nicht guttat. Seit unserem kurzen Disput hatten wir beide kein Wort mehr miteinander gesprochen. Es war Zeit, etwas daran zu ändern. «Bist du noch sauer?», fragte ich mit einem vorsichtigen Grinsen.
Sie grinste breit zurück und zeigte mir die Pracht ihrer gelben Zähne. «Unsinn!»
«Gut», sagte ich erleichtert. Nicht, dass ich etwas anderes erwartet hatte. Mauli war weder zickig noch nachtragend. «Dann kannst du mir ja helfen, etwas gegen die Langeweile zu unternehmen und dich mit mir unterhalten. Was denkst du eigentlich über Orks?», wollte ich wissen.
Sie sah mich an, ihre Augen waren klar und durchdringend. «Was soll ich schon denken? Sie sind wie Tiere, genau wie wir, wenn wir uns im Kampf verbeißen. Sie haben unsere Leute getötet und waren harte Gegner. Ansonsten habe ich nichts Gutes über sie zu sagen. Warum fragst du?»
Ich überlegte, ob ich ihr wirklich antworten wollte, denn ich war der Meinung, dass ihr das klar sein müsste. Aber ich wollte nicht streiten, sondern mit ihr reden, also entschied ich mich für eine Antwort. «Sie sind Teil von mir, Mauli. Nicht nur Teil meiner Geschichte, sondern ein Teil von mir selbst, den ich nicht loswerden kann.»
«Und jetzt machst du dir Sorgen, dass ich dich mit ihnen in einen Topf werfe?»
«Rex ist dieser Meinung. Du hast viel Zeit mit ihm verbracht.»
Ihre Stirn runzelte sich unter dem Helm, während sie neben mir marschierte. «Du und ich, wir sind vom ersten Tag an Freunde gewesen. Du bist nicht wie diese Orks, denn du bist hier bei uns und keiner von ihnen. Das ist deine Wahl! Abgesehen davon ist es sowieso ein anderer Stamm. Du hast uns ja erklärt, dass die Skunks nicht plündern, sondern von der Jagd und vom Handel leben.»
Der Gedanke kreiste in meinem Kopf, es klang verlockend, als Halbork bequem wählen zu können, ob man als Mensch leben wollte oder ein Ork, doch so einfach war es leider nicht. «Ich bin fortgelaufen, aber ich fühle trotzdem eine Zerrissenheit in mir, Mauli. Es gibt immer wieder Momente, in denen ich mich fehl am Platz fühle. Genau wie damals bei den Orks. »
Maulis Miene blieb ernst. «Das ist doch ganz einfach, es sind deine Gedanken, die es kompliziert machen. Du gehörst weder zu den Orks noch zu den Menschen, sondern zu den Eisenfalken! So wie Cherax, so wie ich. So wie jeder hier! Unsere Herkunft ist egal. Du hast dich für dieses Leben entschieden. Garlyn zweifelt nicht an dir und ich werde auch nicht damit anfangen, bloß weil Rex es tut.»
«Trotzdem meint Garlyn, ich könnte einfach so zu diesen Orks spazieren und sie fragen, wer sie sind.»
«Ach, deshalb hast du gefragt. Das ist es, was dir zu schaffen macht!»
Ich nickte. "Er verlangt zu viel von mir. Wenn ich diese Orks sehe, dann… dann kommen all die Dinge zurück, vor denen ich davongelaufen bin, all das Unrecht, das sie mir angetan haben.»
Sie lächelte gütig. «So geht es vielen von uns. Wir alle hatten ein Leben vor den Eisenfalken, das wir in der Ferne zurückgelassen haben. Wir alle tragen unsere Vergangeheit im Gepäck und sie kann schwerer Ballast sein. Hat Cherax dir mal erzählt, weshalb er hier ist?»
«Er hat angedeutet, dass er von seinem Stamm verbannt wurde. Trotzdem nennt er sich immer noch Cherax von den Sandvipern.»
«Weil er die Hoffnung nicht aufgegeben hat, eines Tages zurückzukehren. Auch er ist zerrissen und ich bin es auch manchmal. Du bist nicht allein.» Mauli legte mir eine Hand auf die Schulter. «Und wir stehen zusammen. Rex kann gern seine eigene Meinung zu dir haben, aber ich habe meine eigene.»
Ein Lächeln huschte über mein Gesicht.
«Und jetzt pack deine Sorgen und schau nach vorn», sagte sie. «Siehst du? Dort geht Alvashek auf.» Und tatsächlich: Das Grau der Wolken öffnete sich und gab den Blick auf das Morgenrot frei. Es war das erste Mal seit Langem, dass ich wieder ein Stück Himmel sah. Der Winter näherte sich dem Ende und bald würde das Eis tauen. Mauli gab mir einen freundschaftlichen Knuff und löste sich von mir. Wir marschierten nebeneinander weiter. Ich hörte das knirschende Geräusch unter meinen Stiefeln, als ich durch den vereisten Schlamm stapfte. Die Wolken zogen fort und der beginnende Tag leckte den Raureif vom Gras. Ich konnte die ersten zarten Versprechungen des Frühjahrs riechen – frische Erde, die aus dem Winterschlaf erwachte.
Der Wind blies immer noch schneidend, aber er hatte die Schärfe verloren, die er in den vergangenen Tagen hatte. Ich konnte es fast fühlen – das Leben, das sich von irgendwo tief unten, aus den Wurzeln, seinen Weg nach oben suchte. Am Rand des verfallenen Feldes, das wir durchquerten, konnte ich die ersten Frühlingsblumen sehen – Blausterne, die sich aus der Erde schoben und störrisch dem Winter trotzten.
Mauli entdeckte sie ebenfalls. «Seht ihr das?», fragte sie. «Frühling. Hätten wir bei dem letzten Gefecht gedacht, dass wir das noch erleben?»
«Hier gibt es keinen Frühling», warf Cherax ein. «Nur eine Pause zwischen den Wintern.» Als Troll war er das heiße Klima des Südens gewöhnt, das keinen Winter kannte, nur Regenzeiten.
«He, Doriq», rief Mauli. «Es wird Frühling!»
Der Unteroffzier zuckte mit den Schultern, in seinem Blick lag etwas, das ich nicht deuten konnte. Vielleicht war es eine Erinnerung an das, was er erlebt hatte. Als wir uns der Region näherten, in welcher der Überfall stattgefunden hatte, verstummte auch der Letzte. Jeder versank in seinen eigenen Gedanken. Vielleicht dachten sie an die Heimat, an Frauen und Kinder. Vielleicht dachten sie an das Gold, das wir verdienen würden. Oder vielleicht an gar nichts.
Cherax zeigte nach vorn und sagte: «Dort.»
Die jetzt hoch genug stand, tauchte alles in ein blasses, goldenes Licht, das den Schnee und den vereisten Boden zum Schimmern brachte. Doch für uns war dieser Ort kein friedlicher Anblick. Der Boden war aufgewühlt.Die Blutflecken waren immer noch zu sehen. Eine dünne schicht von Steinen bedeckten die Toten, nun würden sie vernünftig bestattet werden. Die letzten Schritte gingen wir langsam und andächtig.
«Hier haben sie uns überfallen», sagte Doriq.
«Und jetzt kommen wir zurück, um das zu holen, was uns gehört“, knurrte Garlyn. «Dort drüben errichten wir die Hügelgräber für unsere gefallenen Kameraden, den Kopf eines jeden in Richtung seiner Heimat ausgerichtet, ihre Füße zur Mitte hin, so dass sie einen Stern bilden.»
Wir nahmen die Spaten zur Hand und verteilten uns, um Steine aus dem gefrorenen Boden auszugraben, denn ein naridisches Hügelgrab bestand nur aus Steinen und sonst nichts. Die Stille, die uns dabei umhüllte, war fast greifbar.
«Serak, du kommst zu mir», sagte Doriq.
Ich rammte meinen Spaten in die Erde und begab mich zu ihm. «Ja?»
«Dort hinten liegen die gefallenen Orks. Ich möchte sie ebenfalls bestatten, um keinen zornigen Hauch auf uns zu ziehen.» Der Hauch war das, was einem Körper sein Leben verlieh. Wer lebte, der atmete. Wer nicht lebte, der atmete nicht. Wer starb, hauchte sein Leben aus. Der Lebenshauch flog mit dem Wind davon, konnte aber auch zurückkehren. «Wie sind die Bestattungsriten der Orks, Serak?»
«Das ist bei jedem Stamm unterschiedlich, wie bei den Menschen. Naridier haben Hügelgräber, Almanen verbuddeln ihre Toten in der Erde und Rakshaner bauen ihnen Häuser. Bei den Orks ist es kaum weniger unterschiedlich.»
«Kannst du herausfinden, welchem Stamm sie angehören, damit wir nicht heimgesucht werden?»
Ich sah ihn scharf an, denn ich war sicher, dass diese Frage mit Garlyn abgesprochen war. «Du meinst, ich soll sie mir ansehen?»
«Du würdest uns helfen.»
Ich ballte die Fäuste und atmete tief durch. Alvashek stieg höher und malte Schatten über die verwüstete Landschaft, als wollte er die Gräuel, die hier geschehen waren, mit einem goldenen Schleier bedecken. Der Wind war angenehm mild. Ich freute mich über die Botschaft des Frühlings, doch sie konnte die Situation nicht erträglicher machen. Ich dachte daran, dass ich Garlyn schon einmal enttäuscht hatte und an die Vorwürfe von Rex. «Also gut», knurrte ich.
«Soll dich jemand begleiten?»
«Nein, ich mach das schon.»
«In Ordnung. Dann Ausführung.»
Ich stapfte mit grimmigem Gesicht über die Hügelkuppe, der Boden war schmierig unter meinen Füßen. Im kalten Schlamm lagen die gefallenen Orks. Ich zögerte nicht, das hätte es nur schlimmer gemacht, sondern ging rasch zu ihnen, um möglichst wenig Zeit zum Nachdenken zu finden. Sie trugen Fellkleidung und von ihren Gürteln hingen verschiedene Trophäen, Tierschwänze, Klauen, Zähne. Mir wurde schwindlig bei dem Anblick, denn die Art, wie sie die Trophäen um die Hüfte trugen, kam mir bekannt vor. Ich nahm meinen Mut zusammen und drehte einen von ihnen auf den Rücken, so dass sein Kopf zurückfiel und ich mir seinen Hals besehen konnte.
«Das kann nicht sein», keuchte ich, während ich seinen nassen Fellkragen nach unten drückte. «Das ist unmöglich!»
Rechts, unterhalb des Ohres, trug der Tote die gleichen beiden Schnittnarben, die auch mich zu einem Mitglied dieser Rotte machten.