Der Palaisin
Jahr 192 nach der Asche, Souvagne, Beaufort, Palastgelände.
Lange nach Ende der Schicht stand Robere allein in voller Rüstung hinter dem Hauptgebäude des Palasts. Die Sonne versank bereits hinter dem Waldpark und ließ die roten Ziegeldächer Beauforts glühen. Die schmalen dunklen Augen gegen die Abendsonne zusammengekniffen, verfolgte der frischgebackene Gardist mit feindseligen Blicken die Passanten, so als hätte er noch immer Wachdienst. Die Hellebarde hielt er fest in der Hand. Das ging so lange gut, bis ein untersetzter Gardist um die Ecke marschierte, kurz innehielt und sich dann vor ihm aufbaute.
»Name, Einheit«, blaffte der Gardist, wobei er Robere seinen Raucheratem entgegen stieß.
Über dem Kettenhemd lag der Wappenrock mit dem Schreiadler. An seinem Waffengurt hing ein Schwert. Eine Hellebarde suchte man an diesem Mann vergebens. Das verwirrte Robere. Er musste auf den Gardisten hinabsehen, der wohl Mitte dreißig sein mochte und ihn aus eisblauen Augen musterte. Das kurze dunkle Haar sah selbst gestutzt aus, einen Barbier besuchte dieser Gardist wohl eher selten, worauf auch sein Bartschatten schließen ließ.
Robere wusste zwar nicht, wer der Kerl war, vermutete aber anhand seines Auftretens einen Offizier. So machte er korrekt Meldung. »Robere Moreau, zweiter Mann von Unitè B, Leibgarde des Duc de Souvagne.« Es war das erste Mal, dass er sich so vorstellen durfte.
»Moreau, also ein Neuling! Sonst würde ich Ihren Namen kennen. Zu Ihrer Information, Moreau, Schichtwechsel war vor siebenundzwanzig Minuten!« Der Mann zeigte auf die große Uhr an der Palastwand, die Robere nicht lesen konnte. »Haben Sie das Trompetensignal nicht gehört?«
»Doch, Monsieur.«
Die Kiefermuskeln des Mannes spannten sich und an seinem muskulösen Hals traten die Adern hervor. »Nicht Monsieur! Ich bin Palaisin Bellamy Bourgeois!«
Roberes Augen weiteten sich erschrocken. »Der Palaisin? Das wusste ich nicht! Es ist mein erster Tag hier.«
»Und darum ignorieren sie den Schichwechsel?« Der andere blickte ungnädig. Noch immer stand er viel zu dicht vor Robere.
»Ich weiß nicht, was ich nach dem Dienstende machen soll. Boldi ist weggegangen.« Nervös blickte Robere zu Seite.
»Augen nach vorn«, donnerte der andere. »Und es heißt Coutilier Boldiszàr Boucher! Was ist das für ein Sauhaufen? Gehen Sie nach Schichtende wie jeder andere Gardist Ihre Ausrüstung ablegen, verschwinden Sie anschließend im Badehaus und würfeln Sie bis zur Schlafenszeit mit Ihren Kameraden!«
Das war eine sehr detaillierte Anweisung. Aber der Mann verstand das Problem nicht. »Boldi ist weg«, wiederholte Robere. »Ich kann da nicht rein! Ich kenn die nicht.«
»Nicht Boldi, zum Henker«, donnerte der Mann. »Welche Familie von Bastarden hat Sie ausgespien? Aus welchem Haus stammen Sie, wen hat Ihr Vater bestochen, damit Sie diesen verdammten Posten bekommen?! Ich reiße mir jeden Tag den Arsch auf, um aus der Leibgarde das Beste herauszuholen, und dann wird es mir von korrupten Taugenichtsen zunichtegemacht!« Der Mann tippte Robere hart auf die Brust. Seine Nasenspitze berührte fast Roberes Kinn. »Antworten Sie!«
»Mein Haus? Also ich ... stamme ... aus dem Waisenhaus.« Robere hatte gelernt, nicht leiser zu werden, wenn ein Vorgesetzter ihn anschrie, selbst wenn er stammelte. »Saint Aumary«, fügte er fest hinzu.
Der Mann wich einen Schritt zurück. Nun stand er in einer angenehmen Entfernung. »Saint Aumary«, wiederholte er. »In Dupont?«
»Ja, Palaisin.«
»Verstehe. Dann war es Boldiszàr, der sich für dich eingesetzt hat.«
Robere fiel der plötzliche Wechsel vom Sie zum Du auf. Da er es verabscheute, als mehrere Personen angesprochen zu werden, war er dafür dankbar. »Ja, Palaisin. Wir haben zusammen dort gewohnt.«
»Bellamy, wenn wir privat sprechen. Ich sagte doch, es ist Schichtende. Rauchst du?«
»Ja, Pal... Bellamy.« Nervös leckte er seine Unterlippe. Es fiel ihm schwer, sich an ständige Änderungen anzupassen, selbst dann, wenn sie zum Guten waren.
»Folge mir.«
Er führte Robere zu einer weiß lackierten Bank im Palastgarten, die zwischen blühenden Rosenbüschen stand. Dort ließen sie sich nieder. Der Palaisin zog seine Tabaktasche hervor, drehte Robere eine Rauchstange und reichte sie ihm. Danach drehte er sich selbst eine. Er zündete beide an und nebeneinander sitzend rauchten sie. Robere ließ den weißen Qualm wie Nebel durch seine Nasenlöcher und zwischen den Zähnen hindurch sickern, um ihn möglichst intensiv zu riechen und zu schmecken. Bellamy hingegen pustete mit zurückgelegtem Kopf eine Rauchfontäne in den Abendhimmel.
»Wie habt ihr euch nach dieser Zeit wiedergetroffen?«, hakte Bellamy nach.
»An der Nordfront. Ich war ... ich war ...« Er konnte diesen Mann nicht belügen. Boldiszàr kannte die Wahrheit und würde sie dem Befehlshaber der Leibgarde nicht vorenthalten. »Wir wurden als Kinder getrennt. Mit Zwölf muss man das Waisenhaus verlassen und beim Lehnsherrn arbeiten. Wohin Boldi verschwunden ist, wurde mir nicht gesagt. Sie haben ihn einfach mit einer Kutsche abgeholt! Ich war jünger und blieb. Zurück.«
»Aber wo habt ihr euch wiedergetroffen?« Bellamy ließ sich nicht ablenken.
Robere schnaufte. »An der Nordfront. Boldi ... also mein Coutilier hat Prince Ciel de Souvagne eskortiert. Der die Arbeiten am Wall leitete.«
»Du warst demnach bei der Armee, die den Nordwall hochzog?«
»Nein«, gab Robere unwillig zu. »Ich war bei der Strafkompanie. Die zur Verstärkung kam.« Er senkte den Blick. Er wusste, dass die Leibgarde des Duc aus Männern bestand, die aus den besten Familien stammten. Nur er war die unrühmliche Ausnahme. Wobei ... Boldiszàr war das auch. Und was war mit Bellamy Bourgeois? Sein Nachname ließ auf keines der bekannten Adelshäuser schließen.
Der Palaisin setzte sich bequemer hin. »Bleib entspannt. Wenn du deine Zeit in der Strafkompanie gedient hast, bist nun ein redlicher Mann. Aber weshalb warst du dort?«
Jetzt wurde es Robere richtig ungemütlich. »Ich. Ich hab.« Robere nahm einen tiefen Zug von der Rauchstange, um seine Nervosität auszuräuchern. Manchmal half das. Boldiszàr hatte erzählt, dass irgendetwas im Pfeifenkraut wäre, das die Nerven beruhigte. Doch heute blieb seine Angst. »Ich hab«, versuchte Robere es verzweifelt, doch konnte den Satz nicht beenden. »Ich kann nicht gut reden, Monsieur. Palaisin. Bellamy!« Er massierte sich mit dem Handballen den schweißnassen Haaransatz und sah weg.
»Ich habe Zeit«, erwiderte Bellamy gedehnt und sog genüsslich an seiner Rauchstange.
»Ich bin rehabliert«, rief Robere. »Frontdienst gegen Absolution. So hat es Chevalier de Sonzier gesagt! Ich bin kein Verbrecher mehr vor dem Gesetz! Ich kann diese Arbeit hier als Gardist. So gut wie jeder andere. Ich bin fähig mit der Waffe. Und ich bin. Treu!« Sein Herz raste bei der Vorstellung, wegen seiner unrühmlichen Vergangenheit wieder aus der Leibgarde geworfen zu werden, erneut vor dem Nichts zu stehen und Boldiszàr zu verlieren. »Ich bin ein guter Soldat, Bellamy! Das haben alle gesagt!«
»Und nichts anderes habe ich behauptet.« Bellamy schien seinen Spaß an Roberes Verzweiflung zu haben. Er tätschelte ihm jovial den Oberschenkel. »Ich warte immer noch auf deine Antwort. Noch eine Rauchstange?«
»Ja.« Robere strich die Glut an seiner Stiefelsohle ab und schnippte den Stummel in die Wiese.
»Aufheben. Dort ist der Mülleimer.«
Robere stand auf und warf den Stummel an seinen korrekten Bestimmungsort.
»Also?« Bellamy sog und die Glut spiegelte sich in seinen eisblauen Augen. Robere beobachtete, wie seine dunklen Bartstoppeln sich auf der Oberlippe aufstellten. Etwa die Hälfte davon glitzerte silbern, so wie das Haar an seinen Schläfen.
»Ich hab.« Robere schaute noch immer auf die arbeitende Mundmuskulatur seines Gegenübers. Er atmete tief durch und sah zur untergehenden Sonne. »Spieltrieb.«
Bellamy drehte eine neue Rauchstange, während er seine eigene, die noch zur Hälfte vorhanden war, auf die Armlehne der Bank legte. Er entzündete die neue Rauchstange, bevor er sie Robere reichte. »Verstehe«, sagte er gedehnt. »Darum hast du Angst, allein zu den Gardisten in die Gemächer zu gehen.«
Robere nickte, ohne Bellamy anzusehen.
»Haben sie dich in der Strafkompanie so büßen lassen, wie du vorher mit anderen gespielt hast?«
»Nein. Ich hatte dort einen ... Beschützer. Meinen Commandant Meqdarhan. Der auch wegen Spieltrieb dort war. Glaube ich jedenfalls, zumindest hat er welchen. Das weiß ich. Er war ... gut zu mir. Hat aufgepasst, damit sie mich nicht ärgern. Warum, weiß ich nicht.«
»Weil er ein guter Mann ist, der all seine Schäfchen hütet«, erklärte Bellamy. »In der Strafkompanie hat jeder Mann Dreck am Stecken und seine Aufgabe ist es, aus Verbrechern wertvolle Mitglieder der Gesellschaft zu machen. Das ist eure letzte Chance und das weiß er. Dass er dich schützte, zeigt, dass er seine Aufgabe ernst nimmt und niemanden verurteilt. Denn das Urteil wurde längst gesprochen.«
Robere war überrascht, dass Bellamy so respektvoll von dem Ausbilder einer Strafkompanie sprach und dass der Palaisin keinen Anstoß daran nahm, dass Robere überhaupt bei der Strafkompanie gedient hatte.
»Aber Meqdarhan ist nicht hier«, beharrte Robere. »Wenn die Kameraden von Unitè B merken, warum ich bei der Strafkompanie war. Quälen sie mich! Niemand wird Gardist, weil er freundlich ist. Ich bin so allein, Bellamy. Ich kann ohne Boldi nicht zu den anderen in die Quartiere. Ich will das nicht.«
»Dann wirst du dir Freunde suchen müssen. Und noch weiß niemand von deinem sogenannten Spieltrieb, nicht wahr? Du bist nicht verpflichtet, irgendjemandem zu deinem früheren Leben Auskunft zu erteilen. Von deinen Vorgesetzten abgesehen, versteht sich.«
»Und wenn ich keine Freunde finde? Ich bin nicht gut in so was. Ich bin. Wie ich bin.« Dass er Probleme damit hatte, zu sprechen und sich gut zu verkaufen, war ja nicht zu überhören. Auch, dass seine nahezu fehlende Mimik die Leute irritierte, war ihm bereits gesagt worden.
»An ein mögliches Scheitern solltest du gar nicht erst denken, Robere. Du hast es aus dem Waisenhaus über die Strafkompanie bis hinauf zur Leibgarde des Duc geschafft. Das kann nicht jeder von sich behaupten.«
Bellamy stand auf, drückte den Rest seiner Rauchstange am Rand des Mülleimers aus und warf ihn hinein.
Robere überlegte kurz. »Ein Lob«, schlussfolgerte er. »Du hast mich gelobt!«
Ehe der Palaisin etwas erwidern konnte, näherten sich Schritte und beide drehten sich nach ihnen um.
Da nahte Boldiszár. Er salutierte. »Palaisin.«
Der erwiderte den Gruß freundlich und fügte danach hinzu: »Steh bequem. Wir sprechen gerade privat.«
»Ah, schau an, das ging schnell.« Boldiszàr blickte zwischen den beiden hin und her. »Ich hatte nach Robere gesucht.«
Der grinste glücklich. »Der Palaisin da hat mir zwei Rauchstangen geschenkt. Ich konnte nicht ablehnen. Darum musste ich mit ihm draußen bleiben.«
»So, hat er das?« Boldiszàr schmunzelte mit dem gesunden Mundwinkel. Jetzt, wo er und Bellamy nebeneinanderstanden, war die Ähnlichkeit verblüffend. Zwei kompakte Kraftpakete, schwarzhaarig und blauäugig und beide schlecht rasiert. Sie hätten Brüder sein können. Vielleicht waren sie das sogar? Bellamy hatte freundlich reagiert, als Robere von seinem Waisenhaus berichtet hatte. Aber Robere wagte nicht zu fragen, woher Bellamy stammte.
Der grinste Boldiszàr jetzt mit gelben Zähnen an. »Das ist doch jener Robby, von dem du früher erzählt hattest, oder nicht? Der aus Saint Aumary?«
Boldiszàr nickte. »Klar ist er das. Es gibt nur einen Robby - meinen Wahlbruder, meinen Lebensretter und meinen bester Freund.«
Robere bekam rote Ohren, sah schnell weg und grinste verschämt, freute sich aber riesig über das Lob in Gegenwart des Palaisins. Gleich zwei Lobe hintereinander! Oder hieß es Lobs?
»Na also«, rief Bellamy. »Dann gebietet es doch der Anstand, ein paar persönliche Worte zur Begrüßung von Robby zu wechseln, nicht wahr?« Bellamy klopfte Boldiszàrs Schulter. Leiser sagte er: »Stell ihm einen Mentor zur Seite, bis er seinen Platz in Unitè B gefunden hat.«
Dann stapfte Bellamy ohne einen Abschied davon.