Fassungslos starrte sie mich an. Ihr glitt die Tasse aus den Händen und obwohl ich mich noch danach ausstreckte, um sie aufzufangen, fiel sie mit einem lauten Knall zu Boden und zerbrach. Der Tee hatte sich warm auf ihren Rock und die Ärmel meines Mantels ergossen.
Ich stieß einen gedämpften Fluch aus, nicht zuletzt, weil ich mich ohnehin schon wie ein reines Nervenbündel fühlte. Ich wollte mich gerade eilig bücken, um die Scherben aufzuheben, da hörte ich wie sie zu wimmern angefangen hatte. Ihre schmalen Lippen zitterten erbarmungswürdig, als ich mich wieder aufrichtete und sie ansah. Sie presste die Hände krampfhaft ineinander verschränkt an ihre Brust.
„M-Mum.“, stammelte ich schuldbewusst und umschloss mit meinen Händen behutsam die ihren. Sie ließ zu, dass ich sie auseinander zog und jede in einer meiner Hände festhielt. Ich drückte sie sanft.
„N-No-Noah.“, bebte ihre Stimme. Sie befreite ihre Hände und legte sie mir behutsam an mein Gesicht. Ihre Fingerspitzen drückten auf meine Wangenknochen, umschmeichelten dann meinen Kiefer und streichelten mir über die Wangen, über den rauen Bartschatten. Sie musterte mich von oben bis unten, legte ihre schmalen Hände auf meinen Schultern ab.
„Wie siehst du bloß aus...“, raunte sie vorwurfsvoll, „Du bist ja schrecklich dürr geworden.“
Das Volumen ihrer Stimme war von tiefer Besorgnis geschmälert.
„Ich erkenne dich kaum wieder.“
Sie wischte sich mit den Daumen die feuchten Spuren unter den Augen fort und verzog ihre Miene, nahm dann eine der locker in mein Gesicht herab hängenden Haarsträhnen prüfend zwischen ihre Fingerspitzen. „Ich werde dir die Haare schneiden müssen.“, stellte sie nüchtern fest. Ich umschloss mit meiner Hand zaghaft ihre und führte sie von mir und meinem Gesicht weg. Ich räusperte mich unbeholfen.
„Nein Mum, das musst du nun wirklich nicht.“, widersprach ich gedämpft. Ich fühlte mich noch benommen von der langen Fahrt und ich glaubte nicht, es verdient zu haben, dass sie auch nur das kleinste Bisschen für mich tat. Aber sie sah mich aus ihren großen braunen Augen so liebevoll an. Mein Gewissen wog umso schwerer für das, was ich ihr angetan hatte. Die Jahre, in denen sie um mich und mein Wohlbefinden gebangt hatte, weil ich nicht oft genug angerufen hatte, nie nach Hause gekommen war und sie mich, wenn überhaupt bloß in Virginia hatte besuchen kommen können, die wenigen Male jedes Jahr, weil ich nichts besseres zu tun gedacht hatte, als in Selbstmitleid und Trauer zu versinken, allein.
„Lass mich das doch machen.“, bat sie und langsam nickte ich schließlich. „Gut.“, gab ich mich einverstanden. Ich durfte es ihr nicht abschlagen.
„Dann komm mal rein.“ Sie setzte ein schmales Lächeln auf und trat bei Seite, damit ich an ihr vorbei auf den Hausflur treten konnte. Ich trat über die Schwelle und atmete auf. Ich war wirklich hier. Ich wagte kaum, es für möglich zu halten. Aber so war es.
Meine Mutter bückte sich hinter mir, um die größeren Scherben ihrer Tasse aufzuheben.
„Mum, warte. Lass mich doch-“, setzte ich an. Doch sie hob abwehrend die Hand.
„Nein, lass nur. Ich mach das schon. Geh du nach oben zu deiner Schwester und sag ihr Bescheid, dass du hier bist, ja? Sie wird sich unheimlich freuen.“
Sie sah nur kurz wieder zu mir auf, während sie sprach, dann klaubte sie die Überbleibsel der Tasse weiter auf. „Okay.“, sagte ich, „In Ordnung.“
Bevor ich die Treppe in die obere Etage emporstieg, sah ich mich jedoch noch ein Mal nach ihr um. Wie heute Nacht bei meiner Schwester lag mir eine Entschuldigung auf den Lippen, die ich irgendwie nicht aussprechen konnte.
Der cremefarbene Teppich der auf der Treppe ausgelegt war, ließ meine Schritte dumpf erklingen. Während ich nach oben ging, sah ich im Augenwinkel neben mir an der Wand all die aufgehängten Kinderfotos und mein reumütiges Herz ballte sich beinahe krampfhaft in meiner Brust. An einem Bild blieb ich hängen und hielt inne. Das Abschlussfoto. Ich selbst war in der Mitte abgebildet, Piper und Mum jede an einer meiner Seiten. Ich hielt mein Abschlusszeugnis in den Händen, war in eine hellblaue Robe gekleidet und trug die dazugehörige Absolventenkappe, unter der vereinzelt schwarze Locken hervorlugten. Inzwischen waren meine Haare tatsächlich deutlich gewachsen. Mein Lächeln wirkte versteinert und eher bitter, als fröhlich.
Ich erinnerte mich unangenehm zurück, dass es noch ein solches Foto gab, auf welchem ich zwischen Mr. und Mrs. Green gestanden hatte. Nadine und Adam.
Ihre Tochter hätte an dem Tag vor knapp sechs Jahren auch die Highschool beendet, nur dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits spurlos verschwunden gewesen war. Meine Mutter hatte es für eine nette Idee gehalten, die beiden trotzdem einzuladen und sie durch mich an dem Erlebnis dieses Meilensteins teilhaben zu lassen, dem auch sie gemeinsam mit ihrer Tochter entgegengefiebert hatten. Doch an diesem Tag war Rachels Abwesenheit spürbarer gewesen, als je zuvor. Andere Eltern, Mitschüler, das Lehrpersonal hatten uns ständig daran erinnert, dass jemand an unserer Seite fehlte. Als ob wir es hätten vergessen können. Es hatte eine Rede gegeben über sie, gehalten von einem Menschen der sie kaum bis überhaupt nicht gekannt hatte und über Verlust und Bewältigung. Danach hatte es eine weitere über glänzende Zukunft gegeben und über all das, was uns junge Menschen noch im Leben erwarten würde, wenn wir nicht müde wurden hart zu arbeiten. Ich erinnerte mich, wie mir das übel aufgestoßen war, weil ich vor allem Angst gehabt hatte, das Rachel gar keine Zukunft mehr haben würde und ich eine ohne sie. Ja, ich fürchtete mich schon damals die ganze, verdammte Zeit davor, dass sie tot war und ich war mir nur zu bewusst, dass es hier in Maple Grove niemanden mehr gab, der etwas anderes geglaubt hätte. Schon sehr lange wusste ich nicht mehr, was ich selbst glaubte.
Adam und Nadine hatten schüchtern und nur zurückhaltend in die Kamera gelächelt. Dies war nicht der freudige Augenblick, den man sich vom letzten Tag des Abschlussjahres seines Kindes versprach.
Ich wand mich von dem Foto ab und schluckte, setzte meinen Weg nach oben fort. Bevor ich jedoch auf der linken Seite an Pipers Zimmertür klopfte, zog es mich zu dem Zimmer auf der rechten Seite hin, das neben dem kleinen Bad in der Mitte lag, das meine Schwester und ich uns damals geteilt hatten, als ich noch Zuhause gewohnt hatte. Ich drückte die Klinke herunter und gab der Tür einen kleinen Schubs, sodass sie in den Raum aufschwang. Ich tat einen Schritt in den Raum hinein und sah mich verstohlen darin um, als wäre es das Zimmer von jemand anderem und ich wäre unberechtigt eingedrungen.
Hier hatte sich nichts verändert. Es hatte höchstens ein bisschen Staub angesetzt, wie ich überrascht feststellte, aber ansonsten war alles ganz so geblieben, wie ich es zurückgelassen hatte. Ich wusste nicht, wie ich mich deshalb fühlte, ob ich mich deshalb freute oder ob es mich eher melancholisch stimmte, traurig. Es fühlte sich an, als wäre all das aus einem anderen, entsetzlich fernen Leben und doch auch, als wäre ich gerade gestern erst hier gewesen. Fremd und doch zugleich selbstverständlich vertraut. Ein Gefühl, das stumpf, doch drängend an der Oberfläche kratzte.
Feine, leichte Staubflocken tanzten durch die abendlichen, goldenen Lichtstrahlen, die durch die Vorhänge blitzten.
Als zöge es mich durch Fremdbestimmtheit an, ging ich geradewegs mit bedächtig gesetzten Schritten über den grauen Teppich auf das Fenster zu, das dem Nachbarhaus zugewandt war. Ich legte meine Hand an den dichten, unter meinen Fingerspitzen spürbar rauen, dunkelblauen Stoff des Vorhanges und hob ihn ganz langsam und zögerlich an. Ich hatte unwillkürlich den Atem angehalten. Gegenüber von meinem Fenster lag das Zimmerfenster von Rachel.
Von hier aus konnte ich ihren Schreibtisch sehen, auf dem sich immer noch Magazine stapelten und die bunt gepunktete Dose mit Kugelschreibern und Markern in verschiedenen Farben. Ich überlegte, ob es wohl immer noch die alten Magazine waren oder ob Nadine ihrer Tochter vielleicht immer neue hinlegte, in der Hoffnung sie würde sie irgendwann lesen.
Auch da drüben schien sich nichts verändert zu haben. Als gäbe es einen Ort auf dieser Welt, zwei miteinander verbundene Orte, in denen die Zeit doch noch stehen geblieben war.
Ich legte eine Hand auf die kühle Glasscheibe und schloss die Augen. Ich stellte mir vor, wie sie da saß. Eine dunkelblonde, lange Haarsträhne rutschte hinter ihrem Ohr weg und sie strich sie wieder zurück. Nachdenklich zog sie die Brauen zueinander und balancierte einen Stift auf ihrer Oberlippe. Sie kippelte mit ihrem Stuhl. Den Kopf hatte sie auf ihren Handballen abgestützt. Die Ellenbogen auf ihren Tisch gestemmt. Ein Augenaufschlag und sie sah mich an, ließ ihren Stuhl in die Ausgangsposition kippen, nahm den Stift von den hervor geschobenen Lippen. Herausfordernd hob sie eine Braue und grinste, bevor sie eilig etwas auf ihren Block kritzelte und ihn an die Fensterscheibe drückte. ‚Wie lange starrst du mich schon an?‘, stand darauf.
Ich öffnete die Augen wieder. Nebenan saß niemand und da war auch keine Nachricht hinter der Scheibe. Natürlich nicht. Ich seufzte bedrückt.
„Noah?!“ Ich fuhr herum. Piper quietschte aufgekratzt. „Noah, Noah, Noah!“, rief sie lauthals und nahm die kurze Distanz zwischen Tür und Fenster, zu mir, in langen, schnellen Schritten, als würde sie Anlauf nehmen. Aber es dämmerte mir nicht rechtzeitig. Ohne Vorwarnung sprang sie mich an, schlang Arme und Beine um meinen Oberkörper, wie sie es schon ständig getan hatte, als wir noch klein gewesen waren, mit dem bedeutenden Unterschied, dass sie jetzt viel größer und wie es aussah auch viel stärker geworden war als früher und schwerer. Diese Mal war ich vollkommen unvorbereitet, im Gegensatz zu damals. Ich ächzte, stieß mir durch den Schwung ihres Sprungs und den Aufprall den Kopf an der Fensterscheibe und mir entfuhr vor Schmerz und vor allem vor Schreck ein Aufschrei. Wir prallten unterlegt von einem lauten Rums auf dem Schreibtisch auf. Ich war heilfroh, dass er es aushielt ohne unter uns in zwei Teile zu zerbrechen. Eine hässliche Delle würde er bestimmt davon tragen. Aber Piper ließ sich von nichts beirren. Sie gluckste vor Freude und schmiegte sich kuschelnd an mich. Sie hatte ihr Gesicht an meinen Nacken geschmiegt. Ich war verkrampft auf den Schreibtisch gestützt und ließ mich schlussendlich kurzerhand darauf absinken.
„Ich weiß nicht, wie lange der Tisch uns beide aushält, Piper.“, gab ich zischend zu Bedenken. Mir bollerte der Kopf. Ich presste die Augenlider aufeinander und biss die Zähne zusammen, bis das Gefühl allmählich abebbte und nur noch ein dumpfer Druck zurückblieb.
Piper schnaubte amüsiert. „Ist mir doch scheißegal.“, erwiderte sie vergnügt.
„Na ja, mir aber nicht.“, erklärte ich stöhnend.
„Du darfst hier aber nicht mehr mitreden.“, stellte sie süffisant klar. Ob der Heiterkeit, mit der sie sprach, war ihre Stimme nun scharf unterlegt. Ich seufzte ergeben.
„Ja, ich schätze dieses Recht habe ich mir vor einiger Zeit verwirkt.“, stimmte ich resigniert zu.
„Ganz genau.“, erwiderte sie schnippisch und beugte ihren Oberkörper zurück, sodass ich sie festhalten musste, damit sie nicht nach hinten weg kippte und uns beide in eine Bruchlandung auf den Boden manövrierte, nachdem wir die ersten Turbulenzen relativ gut überstanden hatten. Die Kopfschmerzen hatte ich mir wohl mehr als verdient.
Piper schnaubte schon wieder, aber ihre warmen, braunen Augen strahlten immer noch vor Glück unseres unerwarteten Wiedersehens. Sie hatte mich wirklich vermisst, natürlich, und ich spürte erst jetzt so richtig die ganze Spannweite, nach der mir meine kleine Schwester selbst ganz furchtbar gefehlt hatte. Nach der mir meine Familie unheimlich gefehlt hatte und sogar mein Zuhause. Ich zog Piper mit einem Ruck zurück ganz nah an mich heran und umarmte sie so fest ich konnte, ohne ihr wehzutun. Ich neigte meinen Kopf beschämt über ihre Schulter.
„Tut mir leid Piper.“, rutschte mir die ungelenke, fade Entschuldigung aus, die schon lange überfällig war. „Arschloch.“, murmelte sie schlicht als Reaktion darauf. Ich grunzte amüsiert.
„Zicke.“, gab ich ebenso murmelnd zurück.
„ Du Riesenidiot.“, setzte sie seufzend nach.
„Schuldig.“, gab ich mich geschlagen. „Das war‘s jetzt aber oder?“
„Erstmal.“, bestätigte sie, „Aber zieh dich warm an. Das war erst die Vorrunde.“
„Verdammt.“ Ich lachte leise.
Sie löste ihre Glieder, mit denen sie sich an mich geklammert hatte und stellte sich vor mich hin.
„Und wie ich sehe, turnst du noch?“, fragte ich sie scherzhaft. Sie zog sich ihren Rock über der Strumpfhose wieder in die rechte Position und strich ihn glatt. Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, nicht mehr.“, antwortete sie. „Hab mich dazu entschieden aufzuhören. Die Arbeit in der Schülerzeitung hat mir besser gefallen. Ach, und vor allem Fotografieren.“, erklärte sie. Als sie mich ansah verzog sie entschuldigend das Gesicht. Wir hatten ja nie darüber geredet.
„Achso.“ Mir war peinlich, dass ich sie vorher nie danach gefragt hatte. „Hm.“ Sie räusperte sich.
„Mum ist unten?“, hakte sie nach und wechselte damit geschickt das Thema.
„Ja.“, nickte ich.
„Gut. Dann lass uns mal zu ihr gehen.“, beschloss sie kurzerhand und tänzelte leichtfüßig aus dem Zimmer in den Flur. Ich blieb zurück, unschlüssig, ob ich ihr gleich folgen sollte. Es hätte sich eigentlich selbstverständlich anfühlen müssen.
Sie drehte sich in der Tür noch einmal zu mir um.
„Willst du da Wurzeln schlagen?“, fragte sie verwundert. Ich ließ mir einen Moment Zeit mit der Antwort und sah sie bloß an. Sie hatte sich so verändert. Sie sah dem Mädchen aus meiner Erinnerung bloß noch ähnlich.
„Nein, lieber nicht.“, entgegnete ich und stieß mich von dem Schreibtisch ab, warf noch einen Blick über die Schulter in das verlassene Zimmer von Rachel. Dann folgte ich Piper.
Unten in der Küche war unsere Mutter gerade dabei aufzudecken.
„Da kommt ihr ja gerade richtig.“, nahm sie uns in Empfang und grinste verlegen.
„Es ist ein bisschen dürftig, weil ich...Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du kommen würdest.“, erklärte sie zurückhaltend an mich gewandt. Sie wischte sich die Hände umständlich an ihrer Schürze ab.
„Ist schon gut, Mum. Tut mir leid, dass ich nicht angerufen hab. Und...Und sowieso, das alles-“
Ich stockte. Ich konnte es nicht vernünftig in Worte fassen, sodass es dem gerecht wurde, was ich empfand und es gelang mir ebenso wenig, nicht lahm zu klingen.
„Lass uns jetzt nicht darüber reden.“, winkte sie entschieden ab, „Wir haben noch genug Zeit zu reden.“ Mir entging der hoffnungsvolle Unterton und die stumme Frage in ihrem Blick nicht, die sie sich nicht zu stellen traute.
„Ja, natürlich.“, erwiderte ich, um sie zu beruhigen, obwohl ich eigentlich noch gar nicht darüber nachgedacht hatte, wie lange ich überhaupt bleiben würde. Morgen früh würde ich auf der Arbeit anrufen müssen, um mich abzumelden. Ich bezweifelte kaum, dass Katelyn verständnisvoll sein würde. Die Frage war nur, für wie lange ihr Verständnis ausreichen würde.
Als meine Mutter den Topf Kartoffeln als letztes auf dem runden Esstisch abgestellt hatte, setzten wir uns. „Greift zu.“, sagte sie. Piper wollte gerade nach den Vorlegelöffeln im Kartoffeltopf greifen, als ich ihr die Hand auf den Arm legte. „Warte.“, sagte ich, „Ich mache das.“ Sie zuckte verblüfft mit den Schultern. „Okay, bitte.“ Ich nahm ihren Teller entgegen und trug ihr auf. Erst eine ordentliche Portion Kartoffeln, was sie mit einem „Hey! Nicht so viel!“, quittierte und dann noch von dem Hering in Sahnesoße. „Danke.“, sagte sie, als ich den Teller wieder vor ihr abstellte. Als nächstes nahm ich noch den Teller meiner Mutter entgegen. „Danke, Noah.“, sagte sie vorsorglich.
„Kein Problem.“, antwortete ich und trug auch ihr eine gute Portion auf. Zuletzt nahm ich mir selbst von beidem ein bisschen.
„Bist du sicher, dass dir das reicht?“, fragte Piper neckend, während sie zweifelnd mein Essen beäugte. Ich sah sie aus verengten Augen heraus fragend an.
Sie schnaubte. „Du bist total das schmale Hemd geworden.“, kommentierte sie.
„Ich hab dich eben oben zu Fall gebracht. Das wäre früher nie passiert.“ Ich sah an mir herunter. Ich wusste, dass ich deutlich abgenommen hatte, seit sie mich zum letzten Mal gesehen hatten. Ganz besonders seit meinem Abschluss. Aber das lag auch daran, dass ich die letzten Jahre keinen Sport mehr getrieben hatte. Dafür hatte mir schlicht jeglicher Antrieb gefehlt.
„Du hattest einfach das Überraschungsmoment auf deiner Seite.“, seufzte ich, „Das war nichts als pures Glück.“, tat ich es ab.
Sie schnaubte. „Ja klar!“, höhnte sie, „Wer‘s glaubt!“
„Außerdem bist du größer geworden.“,stellte ich nüchtern fest. „Und fetter...“, setzte ich noch nach, um sie zu ärgern. Ich grinste in mich hinein.
Sie schnappte empört nach Luft. „Was war das?! Muuum!“
„Noah.“, tadelte Mum mich, aber sie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Jetzt weiß ich auch endlich, warum es da oben bei euch vorhin so gepoltert hat. Ich dachte schon, ich müsste mir Sorgen machen. Es ist nichts kaputt gegangen?“
„Nein.“, grinste Piper. „Ich hab meinen Bruder nur gebührend begrüßt. Nicht wahr Noah?“ Sie stieß mir ihren Ellenbogen in die Seite.
„Verdammt, Piper.“, beschwerte ich mich, aber das kümmerte sie gar nicht weiter. Ich kam nicht umhin zu lächeln, schüttelte aber trotzdem verständnislos den Kopf.
„Sei mal kein Weichei.“, entgegnete sie bloß und machte sich dann zufrieden summend über ihr Essen her. Während wir aßen sprachen wir kaum mehr. Ich schätzte, das lag hauptsächlich daran, dass keiner von uns an dem Abend richtig wusste, was er hätte sagen können, weshalb wir die Stille vorzogen, um uns erst mal an mein plötzliches Auftauchen und unsere unerwartete Zusammenkunft zu gewöhnen. Ja, ich selbst konnte es tatsächlich auch noch nicht richtig wahrhaben, dass ich wirklich dort war.
Nach dem Essen wollte ich meiner Mutter noch beim Abwasch helfen, weil ich noch nicht richtig raus hatte, wie ich mich gerade verhalten sollte, aber sie wies meine Hilfe erneut ab.
„Tut mir leid Noah. Bitte, versteh es nicht falsch. Ich brauche jetzt ein bisschen Zeit für mich.“, entschuldigte sie sich, „Ich freue mich unglaublich, dass du hier bist, aber ich kann es noch nicht ganz begreifen.“ Sie musterte mich mitleidig.
„Außerdem...siehst du wirklich sehr erschöpft aus. Du hast eine lange Anreise hinter dir. Leg dich lieber schlafen, in Ordnung, Schatz?“ Ich stimmte ihr mit einem Nicken zu. Ich war auf einmal wirklich sehr müde. Ich stand an die melierte Arbeitsfläche gelehnt, unter und über der sich die braunen, antiken Küchenschränke aus massivem Holz reihten und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Durch das kleine Fenster in der Hintertür und das Fenster zum Nachbarhaus hinaus, spähte Dunkelheit zu uns herein. Der Abend war bereits spät geworden.
Auch Piper war schon nach oben gegangen, um sich schlafen zu legen.
„Also dann...Gute Nacht, Mum.“, verabschiedete ich mich. „Gute Nacht.“, erwiderte sie. Sie hatte den Blick gesenkt. Ihre ruhige, entspannte Stimme wirkte aufgesetzt.
Ich stieß mich ab und wollte gerade die Küche verlassen, da hielt sie mich doch noch am Arm zurück. „Noah.“ Sie sah mich aus ihren großen Rehaugen unentschlossen an, so als wäre sie selbst ganz verwirrt und hätte vergessen, was sie eben noch zu mir hatte sagen wollen. Ich erkannte Fältchen um ihre Augen und Mundwinkel herum und feine, ungerade gezogene, gut sichtbare Linien auf ihrer Stirn, die ich noch gar nicht kannte. Auch ihre Haare waren weit mehr ergraut und sie schien sie nicht mehr nachzufärben.
„Ja?“, fragte ich, nachdem wir uns bloß eine Weile lang angesehen und sie kein weiteres Wort mehr gesagt hatte.
Dann zog sie mich in eine beherzte, intensive Umarmung. Sie drückte mich fest an sich und ich erwiderte den Druck. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, weil ich etwa einen ganzen Kopf größer gewachsen war als sie.
„Tu mir das nie wieder an.“, flüsterte sie, „Hörst du? Nie wieder.“
Ich schluckte. Aber ich sagte nichts dazu. Ich wollte nichts versprechen, von dem ich nicht sicher wusste, das ich es auch einhalten könnte.
„Ich liebe dich Mum.“, sagte ich stattdessen und sie seufzte.
„Ich dich auch mein Schatz.“, erwiderte sie. „Ich werde dich immer lieben und das weißt du. Ich bin vermutlich der einzige Mensch, der das bedingungslos kann.“
Ich nickte zustimmend, beugte mich herunter, um mein Kinn auf ihre Schulter zu drücken. Ich schloss die Augen und genoss einfach, dass Gefühl in den Armen meiner Mutter zu sein, auch wenn sie gerade mein schlechtes Gewissen zu füttern versuchte, damit ich nicht mehr davonlaufen würde. Es war ein tröstliches Gefühl. „Vermutlich.“, stimmte ich ihr vage zu.
Sie löste sich als erste aus der Umarmung. In ihren Augen glitzerten zum zweiten Mal an diesem Tag, dass ich es sah, Tränen.
„Nun geh schlafen.“, sagte sie bestimmt. „Wir sehen uns morgen.“
„Ist gut, schlaf gut, Mum.“ Sie nickte und wand sich von mir ab. Ihre Hände tauchten platschend in das Abwaschwasser ein und sie rumpelte geschäftig mit dem Geschirr, damit ich nicht hörte, wie sie schon wieder leise zu weinen angefangen hatte.
Ich ging nach oben. Vor meiner Zimmertür blieb ich erst mal eine Weile unschlüssig stehen. Ich hatte die Hand auf den Türgriff gelegt, aber fand irgendwie nicht den richtigen Impuls ihn herunterzudrücken.