Verrills Frage
Verrill hatte am Morgen am Fenster ihres gemeinsamen Gemachs gestanden. Ihr Blick war auf die See gerichtet. Ebbe und Flut, die Gezeiten, die Tide, das Spiel der Wellen die unaufhörlich an den Strand brandeten. Das was sie heute sah, hatten andere Augen bereits vor Jahren und Jahrhunderten erblickt. Das Meer war ewiglich und dennoch barg es jeden Tag Neuerungen. Die See war ihre Heimat geworden und sie selbst wurde als Ducachessa von Ledvico als See bezeichnet. Vor fast einem Jahr war ihr gemeinsamer Sohn Delfio geboren worden. Tazio und ihr Kind, der Kronprince von Ledwick.
Lange Zeit in ihrem Leben hatte Verrill geglaubt, dass sie die Welt nur versteckt hinter Buchdeckeln bereisen konnte. Ihre Welt beschränkte sich auf den Hof von Souvagne und ihr Thronsaal war die Bibliothek gewesen. Dort hatte sie als Gregoire gelebt oder besser gesagt sich vor der Welt und allen voran von Benito dem Heiler versteckt. Ciel war es gewesen, der ihr Leid erkannte und sich ihrer angenommen hatte.
Als Gregoire hatte sie Linhard geheiratet, aber er hatte keinen Platz mehr in ihrem Leben. Er konnte ein guter Mann sein, aber zwischen Tazio und ihr war kein Platz für einen dritten Mann. Weder für Linhard, noch für Ciel. Tazio hatte Linhard die Hand gereicht, er hatte es versucht so wie er vieles in seiner stoischen, ruhigen und gutmütigen Art versuchte. Auch in ihm wohnte die Seele der See. Ruhig war die Seele Tazios, blau wie der Himmel und tief wie der Abgrund. Aber wehe dem, der das Meer herausforderte. Eben noch in glatten Wogen vor sich hintreibend, konnte der Ozean die mächtigsten Stürme entfesseln denen Mann und Maus schutzlos ausgeliefert waren. Gütig und gnadenlos dass waren die Seiten der See und das waren auch die Seiten die Tazio innewohnten.
Nicht nur ihm, denn auch ihr wohnen zwei Seiten inne und sie hatte einst einem der mächtigsten Geschöpfe der Meere die Stirn geboten. Niemals zuvor hatte sie derartige Angst gehabt. Nicht um sich selbst, nein, sondern um ihren Mann Tazio. Nur deshalb stand sie auf den Zinnen ihres Palastes, eine Geisel in der Hand und forderte das Schicksal samt einem Ältesten heraus um jenen Mann zu schützen den sie aus tiefstem Herzen liebte.
Dem Herausgeforderten erging es ähnlich, auch er liebte wie die bodenlose See und zwar jenen Mann den sie in ihrer Gewalt gehabt hatte. Und so standen sie beide dort und kämpften für jene Männer die sie liebten. Am Ende hatte der Älteste nachgegeben und dadurch hatten sie beide gewonnen und zwar ihre Liebsten zurück und sie selbst eine große Erkenntnis.
Manchmal musste man bereit sein zurückzuweichen, einen Schritt zurück zu machen, denn oft machte man damit einen Schritt auf andere zu. Verrill hatte verstanden und sie hatte begriffen wie innig die Liebe zu Irving sein musste, wenn Thabit alles bereit war aufzugeben. Ihr erging es nicht anders. Sie hatte auf den Zinnen gestanden und mit dem letzten Atemzug ihren Mann verteidigt.
Heute wusste sie, dass dies nicht nötig war. Das Irving nicht das war, was sie befürchtet hatte. Denn auch dies stand fest, manchmal machte Liebe blind und sie war blind vor Sorge gewesen.
Verrill hatte in Tazio und Ledwick ein Zuhause und eine Heimat gefunden. Sie gehört zu ihm und diesem Land. Nichts und niemand sonst hatte ein Anrecht auf sie. Das hieß auch, dass sie die alten Bande trennen musste. Sie band ihre Haare zusammen, die ihr mittlerweile weit über den Rücken reichten und betrat die Amtsstube von Tazio. Mit einem freundlichen Lächeln setzte sie sich ihrem Mann gegenüber.
"Guten Morgen mein Seestern. Heute benötigt die See ihren Seelöwen. Tazio Du bist mein Mann. Der Mann den ich liebe, Du bist mein Zuhause, der Vater unseres Sohnes und Du hast mir die Welt zu Füßen gelegt. Du hast mir gezeigt, dass ich als Verrill leben kann und Du mich genauso so liebst. Gleich wie ich mich kleide oder gebe, für Dich bin ich immer Deine bessere Hälfte und das mit meinen beiden Seiten. Für andere ist in unserer Ehe kein Platz Taz. Es gibt nur Dich und mich, den Seelöwen und seine See. Ich wünsche mir die Scheidung von Linhard. Er ist im Grunde seines Herzens ein guter Mann, aber er ist nicht mein Mann. Das bist ausschließlich Du. Würdest Du mir dabei bitte helfen?", bat Verrill, beugte sich über den Tisch und küsste Tazio zärtlich auf den Mund.