Das Schicksal der Eiskrähe

  • Hinab in die Tiefe

    Das Leben geht manchmal seltsame Wege. Das habe ich gelernt auf dem Pfad der Wahrheit. Nützt mir dieses Wissen etwas? Wer weiß. Der Mann, der mir aus dem dunklen Gang entgegenschaut, wirkt vollkommen entspannt, so als würde er jeden Tag in den Eispalast kommen. Seine Tracht kann ich keiner mir bekannten Kultur zuordnen, doch sein Gesicht wirkt menschlich. Er ist kein Frostalb. Könnte seine Kleidung einem frostalbischen Stamm entsprechen? Ich kenne mich zu wenig aus damit, um ihn einzuschätzen. Er trägt eine lederne Tasche, die groß und schwer aussieht.


    »Guten Tag, ich bin Arzt. Bist du verletzt?«, schnarrt er.


    Unfähig zu antworten nach diesem Schock schüttle ich den Kopf.


    »Gut. Wenn du es vermagst, bitte ich dich darum, zu mir zu kommen. Ich würde ungern ins Licht treten, auch wenn das Eis die Wirkung filtert.«


    Seine Worte ergeben für mich keinen Sinn, doch dass er Arzt ist und eine Verbandstasche trägt, weckt ein Urvertrauen in mir, dass mich dazu bringt, seinem Wunsch zu entsprechen. Er scheint auf einer Art Treppe zu stehen, die ins Eis geschlagen ist und nach ganz unten führt. Jetzt sehe ich auch die Lampe, die er auf der zweiten Stufe abgestellt hat. Ich ziehe die Kapuze wieder über den Kopf und wickle den Schal um Nase und Mund.


    Er streckt die freie Hand aus, um mir über den unebenen Untergrund zu helfen. Dankbar greife ich sie. Er lächelt und sein Griff ist überraschend fest.


    Zu spät sehe ich die langen Eckzähne.

  • Frühling


    Jeden Frühling öffnet der Gletscher seine verschneiten Spalten. Die Arashi fanden darin Geschenke der Götter, gefrorene Tiere, verloren geglaubte Schätze und Dinge von Reisenden, die sie nie zuvor gesehen hatten. Das Ende des Winters glich einer kollektiven Schatzsuche. Dieses Jahr fiel die Ausbeute besonders üppig aus. Man feierte das Fest der Dankbarkeit im Tempel, den man direkt an der weißen Wand des Gletschers errichtet hatte, um zu verhindern, dass er die Stadt verschlang. Das Schmelzwasser floss durch eigens dafür gemauerte Rinnen hinab ins Tal.


    Der Altar an der gemauerten Rückwand des Tempels beinhaltete ein Loch, das man offen gehalten hatte und aus dem der kalte Hauch des ewigen Eises kroch. Direkt vor einer Gletscherspalte hatte man einst diesen Altar errichtet und dann den Tempel drumherum gebaut. Man sprach Gebete hinein.


    Manchmal schickte der Gletscher auf diesem Wege dafür Geschenke.


    Als das Fest seinen Höhepunkt erreichte, schoss plötzlich ein nackter Mann aus dem Altar. Seine Haut war mit Blut bedeckt. Ein aufgeregtes Schreien ging durch die Menge. So etwas war schon lange nicht mehr geschehen! Bald war auch Niraya zur Stelle, souverän, wie man es von einem Priester erwartete.


    Er half dem Gletschergeborenen auf, der ihn ungläubig anstarrte. Niraya griff seine Hand und hob seinen Arm, beinahe triumphierend in die Menge blickend. »Was habe ich prophezeit?«


    Die Menge jubelte. Sie pries die Macht der Götter, die sich in diesem Gletscher manifestierte. Sie pries Niraya, der ihren Willen deuten konnte. Wer wollte noch zweifeln an ihm? Wer spotten über Niraya, der die Stimme der Götter war? Oh, ihr Unsterblichen, die ihr mit euren Wundern stets aufs Neue eure Existenz beweist!


    Der Gletschergeborene stand auf unsicheren Beinen, er schämte sich und hatte Angst. Niraya kannte das alles.


    Nervös schnalzte der Gletschergeborene mit der Zunge. Er betrachtet die Menschen, als würde er etwas Bestimmtes erwarten.

    Tick, tack, tick, tack ...


    »Willkomen in Katagawara, der Grenzfestung«, sprach der Priester zu ihm, damit er sich in dieser Situation orientieren konnte. »Bei welchem Namen dürfen wir dich nennen, Gletschersohn?«


    Das verwirrte den Mann aber scheinbar noch mehr, er sah Niraya ungläubig an, hörte nicht auf, ihm in die Augen zu starren. Seine Lippen wollten lautlose Worte formen, doch der Priester schütelte kaum merklich den Kopf, so dass er sie sofort wieder schloss. Stattdessen ließ Niraya ihn weiter in seinen Augen lesen. Er gab ihm die Zeit, die Eindrücke setzen zu lassen. Endlich schien der Gletschergeborene zu verstehen und nickte kurz.


    Niraya ließ nun ein warmes Feuer entfachen, um ihn zu wärmen. Gemeinsam beobachteten sie, wie der Mast eines Segelschlittens verbrannt wurde, der vor gar nicht allzu langer Zeit abgesägt worden war. Niraya wusch den Körper des Mannes rituell mit warmer Yakmilch, um ihn vom Blut der Geburt zu reinigen, anschließend warf er die Lappen ins Feuer. Dann legte er ihm das Gewandt ihres Standes an. Der Priester hieß den Gletschergeborenen damit offiziell im Volk der Arashi willkommen. Fortan würde der Neuling bei ihm im Tempel wohnen, von Spenden leben und gemeinsam mit Niraya die geistige Führung des Volkes übernehmen.


    Ein heiseres Krächzen zerrieb die Stille wie ein Reibeisen. Rhythmisch, unmelodisch, angelockt vom Blut. Das neue Mitglied ihres Volkes schaute auf und sah die weiße Krähe im Gebälk des Tempeldachs sitzen. Da musste er das erste Mal lächeln.


    »Karasu Korikara«, sagte er den Namen des Tieres in der Sprache, die man in Arashima sprach. »Lange haben wir uns nicht gesehen. Lachst du vor Freude? Das will ich als gutes Zeichen nehmen. Für mich bist du kein Todesbote, sondern Vogel des Lebens. Gestatte mir, deinen Namen zu tragen und ich will dich mit gutem Fleisch nähren, damit du von den Göttern kein weiteres fordern musst. Ich bin froh, dich heute hier zu sehen.«

    Doch bei den letzten Worten sah er Niraya an.

  • Nachwort

    Mit Niraya war keineswegs eine Wandlung vorgegangen. Vom bösen Priester ist er nicht zum guten Priester geworden. Er blieb all die Zeit über er selbst. Ich bin es, den Blindheit geschlagen hatte.


    Abends bittet mein neuer Lehrer mich an seinen Tisch, lädt mich ein, mit ihm zu speisen. Gegenüber nehmen wir auf den bunten Sitzkissen Platz, die mit ihren farbenfrohen Garnmustern einen schönen Kontrast zum Weiß des Schnees bildeten. Die Arashi lieben bunte Muster, denn die Natur schenkt ihnen zu allen Jahreszeiten Monochromie.


    Die Spenden auf dem Tisch sind üppig in diesen schweren Zeiten, zu viel für zwei Männer. Nicht ohne Grund ist wohl Niraya in den fünfzig Sommern und Wintern, die er schon erlebt haben mag, zu einem schweren Mann geworden. Sein rundes und gemütliches Gesicht täuschte nur allzu leicht über den scharfen und berechnenden Geist dahinter hinweg. Beim Lächeln zeigte er rote Pausbacken. Vom dicken Hals zu den behangenen Ohren und Handgelenken ist er mit kostbaren Geschmeiden geschmückt. Die Menschen zahlen gut dafür, dass er den Gletscher bändigt, mit den Göttern spricht, Gebete an sie weiterleitet und ihre Botschaften für die Sterblichen übersetzt.


    Für das Essen nimmt er nun die weiße Kapuze vom kahl rasierten Kopf. Wir könnten kaum unterschiedlich aussehen.


    Er: Im letzten Lebensdrittel, dick und weich, mit weiblichen Gesichtszügen, geschminkt.

    Ich: Jung, drahtig, das Gesicht scharfkantig und von der Kälte verbrannt, vollkommen schmucklos.


    »Du hast inzwischen verstanden, warum ich dich anklagen musste«, beginnt er und schenkt uns Tee ein.


    »Karasu Korikara wurde nie angeklagt«, erinnere ich ihn. »Sein Gewissen ist rein.«


    Er lächelt. »Lass uns für einen Augenblick vergessen, dass alles vergessen worden ist. Lass uns gemeinsam die Erinnerung pflegen, um die Gegenwart zu verstehen, damit wir die Zukunft gestalten können.«


    Ich schnaube. »Damit auch Karasu Korikara den Pfad der Wahrheit absolvieren muss, wie Ikuto Chud? Spar dir deine schön klingenden Sprüche, die doch nur Phrasen sind. Ikuto mag das Land Arashima verraten haben, du aber hast einen Freund verraten. Wer schwerer wiegt, mag jeder für sich entscheiden.«


    »Und ist Ikuto immer noch ein Verräter seines Landes?«


    »Nein, denn er ist tot. Er starb im Eispalast, in den du ihn schicktest. Er kehrte niemals daraus zurück. Du hast ihn erfolgreich umgebracht.«


    »Der Gletscher gebar den reinherzigen Karasu Korikara, um Ikutos Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Wenn das kein guter Tausch war, der Verräter ist fort und ein neues Wesen ward uns geschenkt. So schlecht kann meine Entscheidung folglich nicht gewesen sein. Also schön, mit Ikuto ist also nicht mehr zu sprechen. So möchte ich, dass du mich anhörst, warum ich meinen alten Freund verraten und auf den Pfad der Wahrheit geschickt habe. Iss, Karasu, bedien dich, es ist mehr als genügend da.«


    Ich löffele Yakbutter in meinen Tee und etwas Salz, nehme mir Fleisch und Soße.


    Niraya aber beginnt zu erzählen. »Ikuto war ein kluger und geschickter Mann. Die Informationen brachte er auf geheimen Pfaden an seine Feinde. Und doch gab es Augen, die noch schärfer sahen. Man war Ikuto auf der Spur, man hatte seine Umtriebe erkannt. Die Anklage hätte Hochverrat gelautet, die Strafe wäre grausa, gewesen. Man hätte ihn in fest ein Fischernetz geschnürt, wie in einen engen Sack. Dann hätte man ihn in ein Eisloch auf dem Fluss gesenkt, bis er untertaucht, und dann den Strick durchtrennt. Ich aber kam der Anklage zuvor. Aus meinem Mund handelte es sich um eine Anklage wegen Gotteslästerung, denn Politik interessiert einen Priester nicht. Und dieses Verbrechen ist mit dem Bezwingen des Pfades der Wahrheit vollständig zu sühnen. Nun ist niemand mehr da, der noch wegen Hochverrates angeklagt werden könnte.«


    »Sehen die Leute denn nicht, dass ich Ikutos Gesicht trage?«


    Niraya lächelte. »Sie sehen, was sie sehen wollen und negieren den Rest. Die Götter haben ihr Urteil gesprochen, kein Sterblicher darf daran rütteln. Deiner wiedergeborenen Seele eine zweite Chance eingeräumt.«


    »Einige werden mir trotz allem misstrauen ...«


    »Das werden sie, Karasu. Doch du wirst hier im Gletschertempel bleiben und in meine Fußstapfen treten, wenn es an der Zeit ist. Nicht einmal die Verruchtesten würden einen Priesteranwärter schmähen oder ihm ein Leid antun. Du bist hier sicher, Karasu.«


    »So danke ich dir für deinen Verrat, Niraya«, spreche ich und löffele auch ihm Yakbutter und Salz in seinen Tee.