Beiträge von Sasuke Mokiri

    Auf dem halben Weg in die Hocke hielt Sasuke inne. Wie aus dem Nichts war die Norkara hinter ihm aufgetaucht, zumindest meinte er, ihre Stimme zu erkennen. Langsam richtete er sich auf und führte eine Hand in Richtung der Dolche, während er sich umdrehte. Tatsächlich fand er einen Speer auf sich gerichtet, erkannte Anspannung, aber keine Furcht. Sasuke nahm sich einen Augenblick Zeit, ehe er antwortete. "Ich wollte nachsehen, was aus dir und dem Alben geworden ist", sagte er schließlich wahrheitsgemäß. Wer so streng nach Segiras Ehrenkodex lebte wie Sasuke, war im Lügen nicht sonderlich geübt und er sah auch keinen Anlass dazu. Die Norkara war nicht seine Feindin und obwohl sie kampfbereit da stand, glaubte er nicht, dass sie ihn angreifen wollte. "Frostalben sind ein gefährliches Volk, kaltblütig und grausam. Es war ein Wagnis mit ihm den Lagerplatz zu teilen." Die Worte waren freundlich gemeint, doch als Sasuke sich selbst reden hörte, klang es plötzlich wie eine Belehrung. "Wo ist er hin?", fragte er deshalb schnell, um das Thema zu wechseln. Er war froh, dass die Frau nicht zu Schaden gekommen war, doch sein Interesse galt dem Alben. Wenn er hier war, war es mehr als wahrscheinlich, dass noch mehr frostalbische Krieger den Wald durchstreiften. So tief in Arashigebiet... das durfte nicht sein.
    Die Norkara beäugte ihn argwöhnisch und im Augenwinkel sah Sasuke auch ihren Hund lauern. Bevor er Jagd auf den Alben machen konnte, musste er zunächst diese beiden davon überzeugen, dass er nicht ihr Feind war. Ob er sie gar für seine Sache würde gewinnen können? "Ich heiße Sasuke Mokiri", brachte er schließlich die überfällige Vorstellung hervor. "Wer bist du und was führt dich in meine Heimat?"

    Sasuke verschwendete keinen Gedanken an ein Frühstück. Im Nu waren seine Habe auf seinem Rücken verstaut, die Spuren der Nacht verwischt und er befand sich auf dem Weg in Richtung des Lagers. Die Glieder schmerzten ihm und zumindest eine Tasse heißer Tee hätte ihm gut getan, doch das musste warten, wenn er den Aufbruch des seltsamen Paares nicht verpassen wollte. Es war schon beinahe hell und kleine Flecken Blau zwischen den Bauwipfeln und den grauen Schneewolken ließen auf einen freundlichen Tag hoffen. Freuen konnte sich Sasuke darüber im Augenblick nicht. Viel mehr ärgerte er sich, dass er so lange geschlafen hatte. <Vermutlich sind sie schon lange weg! Oder tot – zumindest einer von beiden.> Er konnte die negativen Gedanken nicht aussperren, bis etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregte.
    Spuren im Schnee.
    Sie waren nicht ganz frisch, jedoch bedeckte sie nur eine dünne Schneeschicht und Sasuke war sich sofort sicher, woher sie stammten. Es gab nur einen kleinen Unterschied zwischen den Abdrücken von Wölfen und Hunden, doch wenn man wusste, worauf man zu achten hatte, konnte man sie kaum verwechseln. Sasukes Blick huschte in alle Richtungen, obwohl er nicht erwartete, das Tier zu entdecken. <Es ist mir gefolgt…>, schoss es ihm durch den Kopf. Und dann? Hatte es ihn etwa beobachtet, ausgespäht wie ein Kundschafter? Das hieß wohl, dass zumindest die Frau mittlerweile von seiner Anwesenheit wusste, schloss er verbittert. Er hatte überhaupt nicht gemerkt gehabt, dass er verfolgt worden war. Seine Sinne und seine Vorsicht ließen wirklich zu wünschen übrig. „Sie hat einen fähigen Gefährten, so viel ist sicher“, sagte er dieses Mal laut und setzte mürrisch und wachsam seinen Weg fort.
    Zwar war es nicht weit, trotzdem war es bereits heller Tag, als er am Ort des Geschehens ankam. So lange hatte er geschlafen… Sasuke unterdrückte erneut einen Anflug innerlicher Selbstzweifel. Er brauchte gar nicht näher heran treten, um zu sehen, dass das Lager verwaist war. Lediglich die Glut schickte noch ein schwaches Rauchfähnchen gen Himmel. Wenigstens entdeckte er keine weitere Leiche und kein frisches Blut auf dem Boden. Sasuke seufzte. Er war zu spät und es blieb ihm nichts, als den Boden nach Spuren abzusuchen und die Verfolgung aufzunehmen.

    In was er für eine sichere Entfernung hielt, löste Sasuke seinen Beutel und breitete die Decke auf einem notdürftig vom Schnee befreiten Flecken Erde aus. Anschließend hing er seine Vorräte an einen Ast, um keine ungebetenen Gäste anzulocken. Nur eine Hand voll Pilze und zwei der bitteren Wurzelknollen behielt er sich für ein karges Abendbrot. Er versuchte nicht an den gebratenen Hasen zu denken, den die Norkara gerade verspeiste. Beim Essen ließ er die Gedanken schweifen. Beide, sowohl die Norkara als auch der Alb, waren ziemlich tief in Rebellenland vorgedrungen, wenn auch aus unterschiedlichen Richtungen. In keinem Fall mochte dies einen tieferen Grund haben, trotzdem war es augenscheinlich. Wenn nur ein wenig mehr von der Unterhaltung der beiden zu Sasuke durchgedrungen wäre! Möglicherweise bot sich morgen eine Möglichkeit, näher heran zu kommen, wenn sie denn weiterhin in Gesellschaft blieben. Natürlich durfte er auch den Hund nicht vergessen. Ein falscher Tritt, einmal eine schlechte Windrichtung und das Tier wüsste sofort um seine Anwesenheit. Ein Wunder eigentlich, dass er ihn nicht jetzt schon entdeckt hatte. Sasuke schob es auf die Ablenkung durch frisches Hasenfleisch, fragte sich aber, ob er damit nicht nur versuchte, sich selbst zu beruhigen. Ganz unwillkürlich suchten seine Augen die Umgebung ab, lauschten seine Ohren nach einem Hecheln oder Knurren und tastete seine Nase nach einem fremden Geruch. Doch da war nichts, nur das Rauschen der fernen Baumwipfel, das Knacken der Äste unter der Schneelast und die tiefer werdende Stille der hereinbrechenden Nacht.

    Eine Norkara, zweifelsohne. Der zweite Blick auf ihre Kleidung, der tierischen Begleiter und nun, da Sasuke wusste, worauf er hören musste, auch die Aussprache… Bei der Frau musste es sich um eine Norkara handeln, Kleidung und Ausrüstung nach aus einem der nördlichen Clans. Allerdings brachte ihn diese Erkenntnis nicht wirklich weiter. Immer wieder streiften Norkara durch Arashima, wenn meist auch eher in Küstennähe und nur in den allerwenigsten Fällen waren sie in den Befreiungskrieg verwickelt.
    Die Information, die das auflodernde Feuer Sasuke über den Alben schenkte, war schon eher gewinnbringend. Dies war mitnichten ein einfacher Soldat, dies war ein Anführer. In den letzten Jahren hatte Sasuke zu viele albische Rüstungen gesehen, um die Besonderen darunter zu verkennen. <Wenn er ein Anführer ist, warum ist er alleine? Oder… ist er das?> Sasuke wagte nicht, sich zu rühren und lauschte angestrengt nach dem Gespräch am Feuer, ebenso wie in den Wald hinein. Ein offener Kampf mit dem Alben war an und für sich bereits riskant genug. Solange er nicht ausschließen konnte, dass dessen Truppe sich in der Nähe befand, war es reine Torheit. <Und die Frau? Auf wessen Seite würde sie stehen, wenn ich einen Angriff wage?>
    Nein - es war keine Option, nicht im Augenblick. Er brauchte mehr Information.


    Das Verhalten des Alben gab ihm Rätsel auf. Mit dem Kerl stimmte etwas nicht. Er schien verwirrt und uneins. … und er hatte die Frau nicht angerührt. Im Gegenteil: er erwählte offenbar ihre Gesellschaft in dem Lager, das er zuvor erobert hatte. Warum? Scheute er einen Kampf? War er geschwächt oder verletzt und brauchte Hilfe? Sasuke konnte keinen Anzeichen einer größeren Wunde erkennen, doch das mochte nichts heißen. Diese Alben waren zähe Wesen. Er hatte schon Krieger mit aufgerissenen Bäuchen weiter kämpfen sehen.
    Langsam aber sicher fand die Kälte einen Weg zurück in Sasukes Stiefel. Zeit, sich für den nächsten Schritt zu entscheiden. Sein Blick fiel auf den Hund, der noch mit seiner Mahlzeit beschäftigt war. Wenn er sich zurückziehen wollte, dann jetzt, so gerne er das Gespräch am Feuer weiter verfolgt hatte. <Es ist zu früh. Ich kann mit keinem Alben gemütlich am Feuer sitzen und nachts, wenn ich schlafe, schlitzt er mir die Kehle durch.> Still wie ein Schatten trat Sasuke einen Schritt zurück, dann noch einen und noch einen. Er würde sich ein kaltes Nachtlager in ausreichend Entfernung einrichten und die beiden am nächsten Tag verfolgen. Die Norkara wirkte mitnichten schutzbedürftig, doch irgendetwas musste der Alb bezwecken. Sasuke sah sich in der Pflicht, dies herauszufinden.

    Das Knurren eines wilden Tieres bestätigte Sasuke, dass er in die richtige Richtung ging. Ein Wolf vielleicht? Vorbehaltlich lockerte er das Langschwert in der Scheide und tastete auf die andere Seite nach den Griffen seiner Dolche. Normalerweise mieden die Tiere das Zusammentreffen mit einem Menschen und Sasuke hielt es ebenso. Niemals würde er eines grundlos verwunden. Wenn es sich allerdings um ein ausgehungertes Exemplar handelte, war Vorsicht besser als Nachsicht.
    Geduckt und so leise wie möglich ging Sasuke voran. Der Wind drehte ein wenig und trug den Geruch von verbranntem Holz heran. Also doch kein wildes Tier... Oder nur eines, dass die Überreste eines verlassenen Lagers nach Essbarem absuchte? Sasuke ging vom Schlimmsten aus und stellte sich auf kriegerische Truppen ein, von welcher Fraktion auch immer. Vorsorglich verlangsamte er sein Tempo.
    Da! Er hörte Stimmen, konnte aber die Worte nicht verstehen. Erneut das Knurren... Sasuke ging nun so langsam wie möglich. Bislang hatte er nur zwei Stimmen vernommen, ein Mann und eine Frau. Der Aussprache nach handelte es sich bei dem Kerl um einen Alben, doch die Frau? Schwer zu sagen... ebenso wenig konnte er sicher sein, dass nicht noch mehr Personen in der Nähe waren, ganz zu schweigen von dem Tier, das, wenn der Wind ungünstig stand, sofort seine Witterung aufnehmen würde. Trotzdem ging Sasuke weiter. Er musste wissen, womit er es zu tun hatte.
    Nur wenige Schritte weiter stieß er auf einen Körper im Schnee. Schnell verschaffte sich Sasuke einen Überblick und presste die Lippen zusammen. Arashi... Er schickte ein stummes Stoßgebet zu Segira für den gefallenen Kameraden. Das Werk des Alben! Keine Frage. Jedoch... trotz des einsetzenden Dämmerlichts erkannte Sasuke zwei tödliche Wunden, von denen eine frischer wirkte, als die andere. Was ging hier vor? Ein Scheppern erklang von vorn. Noch immer neben der Leiche stehend, hob Sasuke den Blick und spähte zwischen den Bäumen hindurch in das Licht eines kleiner werdenden Feuers. Da war der Alb, ein Krieger ohne Zweifel und in seinem Rücken erkannte er den Schemen des Tieres, kein Wolf, eher ein Hund. Die zweite Person stand mit dem Rücken zu ihm. Der Kleidung nach war sie keine Albe. Beide hatten ihre Waffen gezogen, griffen sich aber nicht an. Unschlüssig verharrte Sasuke. Der Drang, den gefallenen Landsmann zu rächen, loderte in seinem Inneren, doch er versuchte die Gefühle zu beherrschen. Wut und Hass führten zu Fehlern und er konnte sich keine weiteren Fehler erlauben. Er musste wissen, was hier vor sich ging, wagte sich aber noch nicht näher heran.

    Mit einem der Dolche nahm Sasuke die Fische aus und schnitt sie in kleine Stücke, damit sie schneller einfroren. Er hatte Glück gehabt und mehrere Zopen und ein paar Bodenrenken fangen können, die nun seine leeren Vorratstaschen füllen würden. Wenn er doch nur ein bisschen Salz gehabt hätte... so musste die Kälte reichen, um das wertvolle Fleisch haltbar zu machen. Eigentlich konnte Sasuke langsam keinen Fisch mehr sehen, doch besaß er keine Fernwaffen, um einen Vogel zu schießen und um Fallen für kleine Nager oder Raubtiere zu stellen, fehlte ihm die Zeit. So würde es auch heute wieder ein eintöniges Mahl aus gebratener Zope und einem Eintopf aus Wurzelknollen und Pilzen werden. Immer vorausgesetzt, das klamme Holz und wenige Reisig ließe sich entzünden. Sasuke seufzte. Das Leben in der Stadt hatte ihn bequem gemacht. Direkt nach seiner Ausbildung hätte er monatelang in der Wildnis ausharren können und nun sehnte er sich bereits nach wenigen Wochen nach einem warmen Bett, gewürzten Speisen und einem kräftigen, heißen Tee.
    Nachdem der Fisch zerteilt war, zerkaute Sasuke etwas Engelwurz und Bärlauch und legte sein Bein frei, um die alte Wunde damit einzureiben. Früher hätte er so etwas als Kratzer bezeichnet. Heute zuckte er bei jeder neuen Belastung zusammen wie ein wehleidiges Kind. <Früher hätte ich so eine Wunde gar nicht zugelassen...>
    Bequem und nachlässig und alt, das war er geworden.
    Das Krächzen und Flügelschlagen aufgescheuchter Krähen ließ Sasuke innehalten. Er sah nach oben und in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, doch die Bäume versperrten ihm den Blick. Regungslos blieb Sasuke sitzen und fokussierte sich stattdessen auf sein Gehör. Zu seiner Linken knarzte ein Baum, irgendwo rieselte Schnee von einem Ast. Ansonsten: Stille. Es konnte alles sein. Ein Wolf oder ein Bär, ein Jäger aus einer der vielen Siedlungen um das Herz des Waldes herum, ein Trupp Rebellen... oder Alben. Von keinem davon wollte Sasuke im Schlaf überrascht werden und er beschloss nachzusehen. Leise erhob er sich, gab die Fischstücke in den Topf, schnürte sein Bündel und huschte zwischen die Bäume.

    Der Ausblick auf das Meer aus Baumwipfeln wärmte Sasuke die eingefrorenen Glieder und er atmete befreit durch. Selbst im tiefsten Winter gelang es den Schneemassen nicht, denn Duft der Nadelhölzer vollkommen zu ersticken, auch wenn die Bäume unter der Last knarzten und ächzten – Musik in Sasukes Ohren. Das Herz des Winters.
    Heimat.
    Zumindest beinahe.
    Jenseits des großen Nadelwaldes war alles, wonach er sich sehnte, alles, wofür er lebte und wofür er kämpfte. Er war nun so nah; und doch konnte er nicht dorthin zurück. Noch nicht.
    Sasuke nahm einen weiteren tiefen Atemzug und schulterte seinen Beutel neu, dann machte er sich an den Abstieg von der kleinen Anhöhe. Mit jedem Schritt sank er tief in den Schnee, der unablässig weiter aus einem grauen Himmel fiel und Sasukes dicken Fellmantel weiß färbte. Nachdem er notgedrungen durch einen Bach hatte waten müssen, waren seine Füße längst zu steifen Klötzen gefroren, was nicht hieß, dass sie nicht schmerzten und sich nach Ruhe und der Wärme eines Feuers verzehrten. Sasuke bezweifelte, dass Feinde in der Nähe waren, immerhin hatte er seit Tagen keine Spuren von Lagern oder Kämpfen zu Gesicht bekommen. Trotzdem würde er nicht rasten, ehe der Wald ihn in seine schützenden Arme geschlossen hatte. Er musste neue Kräfte tanken und nachdenken.


    Schon seit Wochen streifte er willkürlich durch das Land, in der verzweifelten wie lächerlichen Hoffnung, auf ein Zeichen von Dimulon Eisträumer zu stoßen. Schon seit Wochen überfiel er wahllos zerstreute Truppen von Alben oder schlich sich nachts in deren Lager, wann immer das Risiko, geschnappt zu werden, gering genug war. Und stetig hatten ihn seine Füße dabei nach Osten getragen, obwohl er wusste, dass es zwecklos war. <Du kannst nicht nach Hause. Noch nicht. Nicht so.>
    Trotzdem hatte er die Richtung beibehalten, als zöge ihn eine unsichtbare Macht dorthin zurück. Zunächst hatte er versucht, es zu leugnen, dann, als das nicht länger haltbar war, beschlossen, dass er die Pause in einigermaßen sicherer Entfernung zu Cynabal dringend brauchen konnte, ehe er sich von Neuem auf die Jagd begab. Er brauchte neue Vorräte und vor allem brauchte er einen Plan. Er hatte keine Jahre lange Ausbildung genossen, um dann wie der erste Mensch durch die Landschaft zu irren, bis die Kälte oder ein Feind Erbarmen zeigte und ihn ins Reich der Toten schickte. Denke wie dein Feind. Was würde Eisträumer tun? Endlos hatte er die Frage im Geiste gewälzt und war zu keinem zufriedenstellendem Ergebnis gekommen. <Ich brauche nur ein wenig Ruhe>, sagte er sich und sein Körper würde es ihm danken. Die letzten Meter des Abhangs rutschte er mehr, als er ging und stöhnte auf, als sich die Wunde am Oberschenkel meldete. Zwar war der Schnitt gut verheilt – der Kälte und Sasukes gutem Gedächtnis über wilde Heilpflanzen sei Dank – trotzdem konnte die junge Haut jederzeit wieder aufreißen und der Kampf gegen die Entzündung begänne von Neuem. Es war nicht die einzige Verletzung, die er bei seinen Angriffen auf die Alben hatte erleiden müssen, doch es war mit Sicherheit die schwerwiegendste. Noch ein Grund sich auszuruhen. Nur ein paar Tage die gute Heimatluft schmecken und ungestört die Gedanken ordnen und fokussieren. Nur ein paar Tage Frieden.

    Der Schnee knirschte unter Sasukes Stiefeln, als er die Ebene verließ und nach Norden in die Ausläufer des Gebirges marschierte. Wo der Himmel ansonsten klar war, hingen Dunstschleier zwischen den schneeigen Gipfeln des Woshangebirges und zogen sich bis hinab in die Wipfel der Fichten und Kiefern, unter denen Sasuke für die nächsten Tage Schutz zu finden hoffte. Wenn es keinen definierten Ort zum Ziel gab, war es das Beste, sich auf das eigene Überleben zu besinnen. Auf offener Fläche war er nicht nur Wind und Wetter ausgeliefert, sondern auch den Augen von Spähern und hungrigen Raubtieren. Im Wald gab es Nahrung und Feuerholz und die Chance, jeden Abend einen Unterschlupf für die Nacht zu finden.
    Es fiel Sasuke nicht schwer, My’shu hinter sich zu lassen. Die Stadt war in guten Händen und er konnte dort nichts Besonderes mehr beitragen. Im Gegenteil: vielleicht war My’shu ohne ihn besser dran und noch immer hatte er einen Auftrag zu erfüllen. Damit du überhaupt einmal einen Auftrag zu Ende bringst. Bislang war sein Einsatz alles andere als löblich verlaufen. Doch noch war es nicht zu spät, seinen Wert für die Partei unter Beweis zu stellen. Er würde Dimulon Eisträumer jagen, würde ihn finden und zur Strecke bringen, koste es, was es wolle.
    Das einzige Problem an der Sache war, dass Sasuke nicht wusste, wo er seine Suche beginnen sollte. Einzig die Spuren des frostalbischen Heeres dienten ihm als Orientierung und das setzte voraus, dass Eisträumer weiterhin unter ihnen weilte. Zunächst hatte Sasuke vermutet, die Truppen würden auf direktem Wege nach Kagohiro marschieren, doch wenn das ihr Ziel war, nahmen sie zumindest nicht den direkten Weg. Oder auch sie suchen die Nähe zum Wald. So unwahrscheinlich es manchmal schien, auch Frostalben brauchten mehr als Schnee und Eis, um zu überleben.
    Langsam frischte der Wind auf, doch er fand keinen Weg durch Sasukes dicken Fellmantel. Sein Bündel mit Wechselkleidung, etwas Verpflegung sowie einem Topf und Essgeschirr, den Feuersteinen, ein wenig Arznei und zwei Landkarten lag ordentlich verschnürt auf seinem Rücken, Schwert und Dolche hingen griffbereit an Sasukes Hüfte. Die wertvollsten Habe aber trug Sasuke in einer versteckten Brusttasche am Leib. Die Talismane Segiras und Infiniatus‘. Alles andere hatte er in der kleinen Wohnung zurückgelassen. Er wünschte, er hätte Aisikas Briefe bei sich, doch er wusste, Shakuro hätte sie ihm niemals zurück gegeben, selbst wenn er Gelegenheit gefunden hätte, ihn danach zu fragen.


    Dem klaren Himmel nach würde es eine kalte Nacht werden und Sasuke war dankbar, als er endlich zwischen die ersten Bäume schlüpfte. Sofort wurden Wind und Geräusche gedämpft. Der würzige Geruch der Nadelhölzer umfing Sasuke und verstärkte das Gefühl von Geborgenheit. Vielerorts hatte der Wind die Äste frei geblasen, doch andere ächzten noch unter der Last des alten Schnees. Obwohl es noch nicht dämmerte, machte Sasuke sich sofort auf die Suche nach einem Unterschlupf. Damit, das wusste jeder Arashi schon im Kindesalter, konnte man nie früh genug beginnen. Es dauerte auch noch eine ganze Weile, bis Sasuke fündig wurde. Schließlich ließ er sich unter einer Fichte nieder, deren unterste Zweige ein dichtes Dach bildeten, sodass der Boden frei von Schnee und Eis war. Sasuke löste das Bündel und breitete die Decke, mit der er alles verschnürte, auf dem Nadelbett aus. Danach sammelte er Feuerholz und schlichtete es auf, dass er es nur noch entzünden musste. Zunächst aber brauchte er ein Abendessen. Ein Stück abseits vermutete er einen Bach, denn das stete Plätschern von Wasser hatte ihn die letzten Minuten begleitet. „Mal sehen, was du noch so drauf hast“, murmelte er sich selbst zu und ging los, um im letzten Licht des Tages noch den ein oder anderen Fisch zu fangen.


    Die folgenden Tage war Sasuke eins mit der Natur. All seine Instinkte waren zurück, als hätte er niemals in einer Stadt gelebt. Er folgte den Fährten von Tieren, jagte und sammelte genug Nahrung, dass er sich Vorräte anlegen konnte und fand jede Nacht einen sicheren und trockenen Unterschlupf. Sein Weg führte ihn nach Nordwesten, wobei er stets nahe am Waldrand blieb, um die Spuren der Alben nicht aus den Augen zu verlieren. Leider machte ihm am fünften Tag seiner einsamen Reise das Wetter einen Strich durch die Rechnung.
    Sasuke spürte den Sturm lange bevor er über die Welt hereinbrach. Die Luft brodelte, die Bäume wiegten sich unruhig im aufkeimenden Wind. Alles Getier zog sich zurück in die Sicherheit ihrer Höhlen und Nester und Sasuke eilte sich, es ihnen nachzutun. Obwohl die Sonne kaum ihren höchsten Punkt passiert hatte, war es bereits düster wie am Abend. Sasuke war gezwungen, tiefer in den Wald vorzudringen. Bäume alleine würden ihn nicht schützen können. Als er endlich eine kleine, unbewohnte Höhle fand, schneite es bereits heftig und der Wind zerrte wütend an den Baumkronen und pfiff mit hohen Tönen in die Ausläufer des Gebirges hinein. An Jagd und die Suche nach Feuerholz war nicht zu denken, also begnügte sich Sasuke mit ein paar trockenen Wurzeln und Pilzen, die er zuvor mit der eigenen Körperwärme auftaute. Nach dem kargen Mahl holte er die gekreuzten Schwerter und den schwarz weißen Stein hervor und ging auf die Knie. Wie jeden Abend bat er Segira um Kraft und Rat bei all seinen Entscheidungen und Infiniatus um Balance und innere Ruhe. Mit beiden Gegenständen in der Hand legte sich Sasuke früh schlafen. Während außen der Sturm tobte, träumte er von zu Hause.

    Shakuro Aisako


    Je näher er dem Nordtor kam, desto größer war die Verwüstung. Hier hatten die Kämpfe wohl am längsten angedauert. Shakuro bahnte sich einen Weg zwischen den unzähligen leblosen Körpern hindurch und konnte sich dem Stich der Schuld in seinem Innern erneut nicht verwehren. Einige Arashi hatten auch hier mit Aufräumarbeiten begonnen, doch der Großteil der Truppen war an den Palisaden und dem Tor zugange. Erstaunt entdeckte Shakuro einen Ork unter ihnen, der die riesigen Holzpfähle ganz alleine aufrichtete. Möglicherweise waren die Arashi doch nicht so alleine in ihrem Kampf, wie er gedacht hatte. Könnten Bündnisse zu anderen Völkern möglicherweise der Schlüssel sein, um dem eisigen Griff der Frostalben endgültig zu entkommen?


    Von Sasuke war nichts zu sehen. Shakuro schritt die Palisade auf und ab und fragte die arbeitenden Männer und Frauen nach dem Verbleib seines Freundes, doch es dauerte eine ganze Weile bis er endlich Auskunft erhielt.
    Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. „Sasuke, du Teufelskerl“, flüsterte er, legte den Kopf in den Nacken und starrte in den blassen Himmel.

    Shakuro Aisako


    Ruckartig fuhr Shakuro nach oben und bereute es so gleich. Eine Hand fuhr zu seiner Stirn, die andere tastete nach der Wand, um sich abzustützen. Woher kamen diese Kopfschmerzen? Verwirrt blickte er sich um, hielt sich vorsichthalber aber weiter fest. Dies war definitiv seine Wohnung und offenbar hatte er in dem alten Korbstuhl geschlafen. An der Decke flackerte die Öllampe munter vor sich hin, doch Shakuros Schläfen schmerzten zu sehr, als dass er sich wegen des verschwendeten Brennstoffes hätte ärgern können. Was beim ewigen Eis war passiert? Vorsichtig blickte er an sich hinab und erschrak, als er die blutigen, zerrissenen Fetzen sah, die einmal sein Wams gewesen waren. Die Schlacht. Da war eine Schlacht gewesen. Er hatte gekämpft, er war beinahe gestorben, aber offensichtlich nur beinahe. Immerhin war er lebendig genug gewesen, um nach Hause zu gehen. Zögerlich untersuchte er seinen Körper, tastete die Brust entlang, bewegte die Beine. Bis auf ein paar Prellungen und höllischen Muskelkater schien alles heil zu sein. Hatte er bloß eine auf den Deckel gekriegt?
    Shakuro beschloss, sich wieder hinzusetzen. Stück für Stück fügte er die Teile seiner Erinnerung zusammen, die, wann immer er meinte sie greifen zu können, wieder entschwanden, wie dünne Blätter, die der Wind erfasste. Es kostete Shakuro unfassbare Mühe konzentriert zu bleiben, während er sich eigentlich nur danach sehnte, die Augen wieder zu schließen. Terry. Er erinnerte sich an den Abschied von dem großen Mann, der ihm kurz zuvor das Leben gerettet hatte. Fast im selben Moment, in dem er Terrys Gesicht vor seinem inneren Auge sah, wanderte sein wirklicher Blick langsam und unwillkürlich zum Tresen.
    Die Unschuld mit der es da stand kam fast schon einer Provokation gleich. Shakuro brauchte weder die Pipette neben dem Rumfass, noch die umgestürzte Tasse auf dem Boden als weitere Indizien. Nun wusste er, was geschehen war. Seufzend ließ er sich tiefer in den Sessel sinken und rieb sich die Augen. „Zum ewigen Abgrund mit deinem Grog, Terry!“ Woher sonst sollten Kopfschmerz und Schwindel kommen? Natürlich hatte Shakuro es selbst noch nie erlebt, doch er kannte die Nebenwirkungen des verbotenen Stoffs sehr wohl. Mühevoll hievte er sich wieder auf die Beine und setzte Wasser für Tee auf. Immer wieder musste er sich an der Wand und am Tresen abstützen und ein paar tiefe Atemzüge nehmen. Jetzt, da er wusste, dass er getrunken hatte, fiel ihm auch der Grund dafür wieder ein. My’shu lag in Trümmern und Sasuke Mokiri wurde verbannt. Mit einer Tasse Fenchel-Anistee für seinen angeschlagenen Magen stieg er die Stufen hinab in den Ladenbereich. Das Schriftstück lag zusammengeknüllt auf dem Boden. Shakuro hob es auf, strich es glatt, las es erneut und legte es neben die Kasse. Dann ging er zur Türe und schob den Vorhang ein Stück zur Seite. Zu seiner Überraschung schien die Sonne. Er hatte trübes, düsteres Wetter erwartet, den Rauch schwelender Restbrände, Trümmer und Chaos. Stattdessen tauchte eine junge Wintersonne die Straße vor seinem Haus in weiches Licht und alles herum wirkte friedlich, wenn die Zerstörung freilich überall erkennbar war.
    Hoffnung. Das Licht des kalten Morgens bedeutete Hoffnung.
    Eilig wusch sich Shakuro und kleidete sich neu, dann ging er hinaus. Während er geschlafen hatte, hatten seine Nachbarn bereits ganze Arbeit geleistet. Tote und Verwundete waren fortgeschafft worden, Brandherde gelöscht, sogar die meisten Trümmer schon zur Seite geräumt und aufgeschlichtet. Überall wuselten Arashi umher, trugen Waffen oder sonstige Ausrüstung zusammen, sammelten Holzreste und spülten Blut und Dreck von der Straße. Shakuro nahm einen tiefen Atemzug und die kalte Morgenluft füllte seine Lungen und hauchte ihm neues Leben ein. Zwar roch er noch verkohltes Holz und Stahl und Leder, doch vor allem war da die Frische des Winters. Die Kälte konnte auch ein Segen sein, dachte er. Sie nahm den Gestank des Todes mit sich, anders als Hitze, die ihm erst so richtig Substanz verlieh.
    Shakuro wusste, dass er auf schnellstem Wege zu Sasuke gehen sollte, doch ehe er sich versah, packte er bei einer Gruppe Arashi mit an, die versuchten eine beschädigte Veranda zu stabilisieren. Den halben Vormittag schleppte, hämmerte und schrubbte er. Dass dies nicht allein dem Drang entsprang, zu helfen, sondern vor allem dem Aufschieben seiner undankbaren Aufgabe geschuldet war, war ihm die ganze Zeit über vollkommen klar. Er nahm es in Kauf. Irgendwann war das Gröbste in seiner Straße allerdings erledigt und er hätte sich aktiv eine neue Arbeit suchen müssen, also nahm er sich zusammen und machte sich auf den Weg ins Stadtzentrum. Er hatte nicht den blassesten Schimmer, wo Sasuke sich befand, doch er wusste, wo er Hinweise bekommen konnte.
    In der provisorischen Verwaltungszentrale herrschte ein heilloses Durcheinander. Jeder, der ein Familienmitglied oder einen Freund vermisste, versuchte hier Auskunft zu erhalten. Shakuro musste sich durch eine Menge wartender Arashi quetschen, bevor er ein anderes Parteimitglied fand, das ihn zu den diensthabenden Offizieren führte. Nach einigem Herumfragen, erfuhr Shakuro, dass Sasuke zuletzt am Nordtor gesichtet worden war.
    Eine wahre Flut anderer Arashi spülte Shakuro schließlich zurück auf die Straße. Wieder atmete er tief durch. Dann machte er sich auf den Weg, seinen Freund in den Tod zu schicken.

    Mit verschränkten Armen stand Sasuke vor dem Tisch und wartete. Ragosh stand seitlich hinter ihm und Sasuke musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass die Hand des Orks auf dem Heft seiner Waffe ruhte. Die Albin starrte ihn aus ihren bleichen Augen hasserfüllt an ohne zu blinzeln.
    „Wie sind eure Befehle bezüglich der Stadt?“, wiederholte Sasuke seine Frage, obwohl er keine Antwort erwartete. Eile half nicht weiter. Er musste Zeit investieren, die er nicht hatte, um die entscheidende Schwachstelle zu finden. Sofort war ihm aufgefallen, dass die Frostalbin eine schmerzhafte Wunde an der Seite hatte, auch wenn sie offensichtlich nicht stark blutete. Trotz ihrer Bemühungen konnte sie die Schonhaltung nicht verbergen.
    Sasuke spürte Ragosh‘ Ungeduld, doch der Ork hielt sich im Hintergrund, bereit das Verhör auf seine Art fortzuführen, sollte Sasuke ihm einen Wink geben. Noch war es aber nicht so weit. Frostalben offen zu bedrohen schürte ihren Trotz und verstärkte ihren Willen. Unter Androhung von Gewalt werden sie mehr und mehr wie das Eis, das sie verehren, dachte Sasuke.
    „Du fürchtest den Tod nicht, denn du weißt, dass er dich sowieso ereilt, durch die Hand des Feindes oder durch die deiner eigenen Leute. Wahrscheinlich wünscht du dir sogar, hier zu sterben.“
    Weiter funkelte sie ihn an. Ihre Mimik veränderte sich nicht, doch Sasuke wusste, dass sie sich über seine Worte ärgerte. Weil sie der Wahrheit entsprachen.
    „Ich werde dafür sorgen, dass du nicht hier stirbst. Wie sind eure Befehle bezüglich der Stadt?“
    Er trat näher an den Tisch heran. Sie hatten die Frau nicht fixiert, doch Sasuke fürchtete sich nicht vor einem Angriff. Beinahe sanft legte er seine Hand auf ihre Seite, ohne sie aus den Augen zu lassen. Sie versteifte sich etwas, ansonsten regte sie sich nicht. Wie erwartet. Sie wollte die Wunde kaschieren, doch zu spät. Sasukes Finger glitten unter das lose Rüstungsteil und er drückte mit dem Knöchel des Zeigefingers zwischen die Rippenbögen. Ein Keuchen entfuhr der Kriegerin und Sasuke bohrte weiter, drehte die Hand von einer auf die andere Seite. Sein Verdacht bestätigte sich. Mehrere Rippen waren gebrochen. Mühevoll rang die Albin um Beherrschung, fletschte mit den Zähnen und knurrte. Dann griff sie an. Während Sasuke seinen Arm hochriss, um ihren Schwinger abzuwehren, trat Ragosh vor und der Knauf seines Schwerts traf die Albin übel am Kinn. Ihr Kopf wurde zurück geschleudert und Blut spritzte. Gleichzeitig verstärkte Sasuke den Druck auf ihre Rippen. Reste eines unterdrückten Schmerzensschreis entwichen ihrer Kehle, doch als sie den Kopf wieder nach vorne nahm, hatte sich die Entschlossenheit in ihrem Blick nicht verändert.
    „Ich sterbe hier.“
    Ihre Stimme war heller als erwartet und erinnerte viel mehr als ihr Aussehen daran, dass sie weiblich war. Tief in seinem Innern wusste Sasuke, dass dies die einzigen Worte waren, die er von ihr zu hören kriegen würde und er wusste auch, dass sie seine Frage beantworteten. Dies war der Befehl. Dies war alles, was die Kriegerin wusste.
    Einen Augenblick lang stand er regungslos da und musterte sie. Dann zog er in einer blitzschnellen Bewegung seinen Dolch und eine helle rote Linie erschien auf der weißen Kehle der Albin. Überraschung blitzte durch ihre Augen. Ihre Finger tasteten nach der Wunde, fanden Blut und ein Röcheln entfuhr ihr.
    „Sie weiß nichts. Und es widerspricht Segiras Willen, einen Gegner unnötig leiden zu lassen“, erklärte er leise, obwohl Ragosh nicht gefragt hatte.

    Nur mühevoll wandte Sasuke sich vom Horizont ab und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war. Bis Ragosh‘ Worte in seinem Verstand ankamen, brauchte es einen Moment. Er trat neben den großen Ork.
    „Auf jeden Fall“, sagte er leise. „Gute Arbeit. Die behalten wir.“
    Würde sie ein wenig Licht ins Dunkel bringen können? Hatte sie Information über Dimulon Eisträumer und dessen Pläne? Irgendetwas sagte Sasuke, dass der Oberst am liebsten in Eigeninteresse handelte, doch ab einem gewissen Punkt musste auch er sich dem Willen des Regenten fügen und damit den Absichten der Frostalben insgesamt.
    „Moroso“, setzte Sasuke an. „Ich brauche einen ungestörten Ort. Ragosh und ich werden die hier so weit wie nötig aufpäppeln und befragen.“
    Der Mann nickte und wies nach unten. „Das Quartier für die Wachablösung scheint recht unversehrt zu sein. Ihr könnt dort hinein gehen. Ich schließe mich mit meinen Männern den Befestigungsarbeiten an. He!“, rief er dem nächsten Krieger zu. „Hat hier jetzt endlich mal jemand Kyako ausfindig gemacht?!“ Er ließ Sasuke und Ragosh stehen und eilte weiter.


    „Kannst du sie tragen?“ Die Frage war im Prinzip Blödsinn, denn es war offensichtlich, dass Ragosh die Albenfrau wahrscheinlich mit nur zwei Fingern hochheben konnte. Doch Sasuke wollte sicherstellen, dass es dem Ork nichts ausmachte. Wenn die Kriegerin Schmerzen hatte, dann kaschierte sie es recht gut durch den blanken Hass in ihrem Blick.


    Obwohl die Kämpfe mittlerweile versiegt waren, spähte Sasuke zunächst vorsichtig durch eines der zerbrochenen Fenster der Wachstube, stieß dann mit dem Fuß die Holztüre auf und ging langsam mit erhobener Waffe hinein. Das Quartier war verwaist. Schnell nahm Sasuke einige Tonkrüge und Teller vom Tisch, damit Ragosh die Frau dort ablegen konnte. In jedem Wachhaus gab es einen Arzneischrank, doch Sasuke wollte der Albin nicht zu leichtfertig entgegenkommen. Sie brauchten Informationen. Falls die Frau Hilfe brauchte, musste sie sich diese erkaufen.

    Shakuro Aisako


    Es wurde stiller im Hafen. Beinahe wehmütig blickte Shakuro hinaus auf das Meer, das vor kurzem Terry und seine Flotte geschluckt hatte. Wo zuvor noch die Schiffe der Norkara lagen, arbeiteten Arashi nun unermüdlich an der Absicherung des Hafens. Wie es in den Stadtteilen landeinwärts aussah, wusste Shakuro nicht. Überrannt worden konnte sie dort aber nicht sein, sonst wären schon lange weitere Alben ins Hafenviertel nachgerückt.
    Er seufzte. Wie ein Sieg fühlte es sich irgendwie nicht an. Überall lagen Tote, die Stadt brannte stellenweise und wirkte auf einmal so schutzlos auf Shakuro. Widerständler wie Städter hatten begonnen die Gefallenen aufzubahren, um sie zu verbrennen. Sie konnten das Risiko nicht eingehen, sich die Seuche hierher zu holen. Andere sammelten Waffen und Rüstungsteile ein, die noch von Nutzen sein konnten. Wieder andere kümmerten sich um Verwundete und dann gab es noch diejenigen, die die Toten betrauerten. Was wohl aus Sasuke geworden war? Hatte er es geschafft, den Kommandanten der Besatzer auszuschalten? Lebte er noch? Falls ja, nahm Shakuro sich fest vor, sich bei ihm dafür zu entschuldigen, dass er ihn im Unwissen gelassen hatte.
    „Shakuro Aisako?“
    Die Stimme eines Jungen durchbrach seine Gedanken.
    „Man sagte mir, Ihr seid Shakuro Aisako.“
    „Der bin ich.“
    „Ich habe ein Schreiben für Euch.“
    Stirnrunzelnd nahm Shakuro das versiegelte Schriftstück entgegen. Gelbes Wachs, eine Blüte. Das kam aus der Parteispitze.
    „Äh danke“, murmelte er, ohne aufzusehen und entrollte das Papier an Ort und Stelle.
    Er las es mehrfach, dann knüllte er es zusammen, steckte es ein und machte sich auf den Weg zu seinem Laden. In den Straßen wurde er mit noch mehr Leid, noch mehr Toten und Verwundeten konfrontiert. Ein kleines Mädchen schrie nach seiner Mutter, eine alte Frau beweinte einen jungen Mann, eine andere eine ganze Familie. Shakuro konnte sich der Schuldgefühle nicht verwehren. Trug er nicht die Verantwortung? Hatte er dem Vorhaben nicht zugestimmt, es gar empfohlen? Das letzte Stück rannte er fast, floh sich in sein Haus und tigerte darin auf und ab. My’shu war zurückerobert, doch es befand sich in chaotischen Zuständen. Viele junge Leute waren gestorben und nun noch das? Er fischte das Schriftstück hervor. Sasuke wurde aus My’shu verbannt… er hatte seinen letzten Auftrag, Eisträumer auszulöschen, wieder nicht erfüllt, wieder enttäuscht. Zur Strafe sollte er die Stadt verlassen und den Oberst jagen, im Feindesland spionieren. Und er, Shakuro, war ausersehen worden, ihm das nahe zu bringen. Partei hin oder her… Sasuke war sein Freund! Shakuro wusste, dass der junge Kerl nichts lieber wollte, als seine Familie wieder zu sehen und dieser Wunsch rückte gerade in weite Ferne. Wenn überhaupt… sie schicken ihn in den Tod, dachte er.
    Neben all dem Leid unter der Bevölkerung nun auch noch das… Shakuro ließ sich auf den Boden sinken und rieb sich die Stirn. Wie ein Häuflein Elend saß er da, schmutzig und stinkend, bis ihm etwas einfiel. Langsam ging er hinauf in seine Wohnräume und setzte Wasser auf. Der Geruch des Tees hauchte ihm neues Leben ein und dann tat Shakuro etwas Ungeheuerliches… Kurz blickte er nach oben, wie um zu prüfen, ob Segira ihn beobachtete, griff entschlossen zu der Pipette neben dem Fass und gab zwei volle Ladungen Rum in den Tee. Er atmete tief durch und trank.
    „Grog also... Auf dich, Terry.“

    Das Grauen steigerte sich mit jedem Toten, den sie passierten und legte sich schwer wie Stahl in Sasukes Magen. Ragosh hatte Recht. Obwohl der Kampf so gut wie entschieden war, gaben die Alben nicht klein bei. Entweder sie hofften weiterhin auf Verstärkung oder sie wollten so viele Arashi mit in den Tod reißen, wie nur möglich. Immer wieder wurde die Gruppe in Gefechte verwickelt, die dichter wurden, je näher sie dem Tor kamen. Trotz der Kälte war Sasuke nass geschwitzt und sein Körper sehnte sich nach Erholung. Wieder und wieder riss er sein Schwert hoch, um einen Schlag abzuwehren, obwohl ihm die Arme brannten und seine Schnelligkeit nachließ. Ein Alb mit einer üblen Wunde an der Seite traf ihn mit dem Schaft seines Speers an der Schulter und Sasuke knickte unter der Wucht ein, hob blind seine Waffe und hörte Eis brechen. Er sah auf, gerade als das abgebrochene Ende des Speers in Richtung seines Gesichts schoss und duckte sich darunter hinweg. Nein. Sie gaben tatsächlich nicht auf. Aufgeschlitzte Leiber, zerbrochene Waffen, nichts hielt diese Alben davon ab, weiter zu kämpfen.
    „Zieht ab“, knurrte er. „Ihr werdet alle sterben.“
    Zu seiner Überraschung lachte der Alb. „Wir sind sowieso schon alle tot.“
    Sasuke parierte seinen Schwinger mit einem Fußtritt und versenkte das Schwert in der Kehle des Mannes. Er verstand. Immerhin hatte er die Frostalben lange genug beobachtet. Wenn die Stadt fiel, würde jeder einzelne Überlebende, geflohen oder freigelassen, für diese Schmach bezahlen. Und die Frostalben kannten nur eine Strafe.
    Keuchend zog Sasuke das Schwert aus dem Toten und bemerkte einen blutigen Tatzenabdruck auf dem Boden. Da! Noch einer und noch einer. Das Getümmel um sich herum ignorierend, folgte er den Spuren. Eisträumer war hier entlang geritten und er hatte eine Spur des Todes hinterlassen. Entsetzen lähmte Sasuke und er schnappte nach Luft. Er hatte versagt. Es war sein Auftrag gewesen, den Oberst zu beseitigen. Stattdessen war der Nekromant entkommen und sein Eisbär hatte alle, die sich ihm in den Weg gestellt hatten, in Stücke gerissen.
    Schnell schickte er ein Stoßgebet zu Segira und stürzte sich dann mit einem lauten Schrei wieder ins Getümmel. Die Reihen der Alben lichteten sich und sie erreichten das Tor.


    Außer Atem erklomm Sasukes Gruppe den Wehrgang, von wo sie einen guten Blick zu allen Seiten erhaschen konnten. My’shu war ein einziges Chaos. Der Kampfeslärm war zu einem allgegenwärtigen Hintergrundgeräusch angeschwollen, hie und da stiegen Rauchsäulen in die Höhe und wo man hinsah, färbte Blut den Boden. Auch vor der Stadt hatten Kämpfe stattgefunden, die dann entweder versiegt oder in das Innere der Stadt verlegt worden waren.
    „Segira sei uns gnädig…“
    Ein junger Arashi, der zwei Kurzschwerter führte, starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Ebene vor My’shu hinaus. Sasuke folgte seinem Blick. Reihe um Reihe standen sie am heller werdenden Horizont. Ihre eisigen Waffen funkelten und blitzten und beinahe konnte man meinen, die Luft um sie herum gefrieren zu sehen. Einige Hundert mochten es schon sein, schätzte Sasuke und sah zu seinen Kumpanen. Ragosh der Ork blickte grimmig hinaus und hatte seine Waffe fest gepackt. Seine Entschlossenheit war unverkennbar, doch Sasuke bezweifelte, dass Entschlossenheit alleine reichen würde.
    „Sichert das Tor“, murmelte er mehr zu sich selbst, obwohl alle verfügbaren Arashi bereits ihr bestes taten, genau das zu tun. Gleichzeitig wusste er, dass My’shus Befestigungen einer Belagerung in diesem Zustand nicht Stand halten würden.
    Vor den Reihen der Frostalben bewegte sich etwas. Sasuke kniff die Augen zusammen und beinahe hätte er bitter auflachen mögen. Das hätte er sich auch denken können…
    Der riesige Eisbär trottete vor den Kriegern entlang, auf seinem Rücken noch immer Eisträumer, der beide Arme hob und etwas zu rufen schien. Eine Weile geschah nichts. Dann drehte er sich um, hob abermals die Hände. Es begann… Vage nahm Sasuke wahr, wie unten Befehle gebrüllt wurden, obwohl es noch immer Kämpfe gab, versuchte jemand Formationen zu bilden, das Tor wurde verriegelt und auch auf dem Wehrgang wurden hektisch Waffen weitergereicht, alte Verteidigungsanlagen bemannt und Pfeile bereit gelegt.
    Anstelle zu stürmen, wandten die Alben My’shu allerdings zu Sasukes vollkommener Überraschung plötzlich den Rücken zu und marschierten ab. Eisträumer blieb stehen und Sasuke hätte schwören können, dass er ihn ansah, auch wenn es fast unmöglich sein musste, aus der Entfernung jemanden in dem Getümmel um das Tor herum zu erkennen. Dann, ganz langsam, setzte sich das große Tier in Bewegung und der Nekromant folgte den Kriegern in den Horizont hinein.
    „He, Sasuke“, Mosoro stieß ihn an. „Bist du taub? Ich sagte, wir müssen schnellsten Kyako finden! Jeder, der gehen kann, muss helfen die Stadt zu befestigen.“
    „Sie sind abgezogen“, murmelte Sasuke halb in Gedanken versunken, versuchte sich auszumalen, was Eisträumer planen könnte.
    „Und du glaubst, dass sie weg bleiben? Das war eine Machtdemonstration! Wir sollten schauen, dass wir diesen Ort hier dicht machen, sonst war alles umsonst.“

    Shakuro Aisako


    Der merkwürdige Wunsch, laut aufzulachen, kochte in Shakuro hoch, als die Anspannung abfiel und er erkannte, dass er noch nicht sterben musste. Gleichzeitig wäre er dem großen Norkara am liebsten um den Hals gefallen. Doch er beherrschte sich und nahm das Schwert entgegen.
    „Terry!“, rief er aus und versuchte sich in dem kurzen Moment, in dem keine neuen Angriffe folgten, zu sammeln. „Du hast mir das Leben gerettet!“
    Aus der Nähe betrachtet war dem Piraten die Anstrengung der Kämpfe anzusehen.
    „Im Norden wird die Stadt befestigt. Wir haben die Aufgabe, das Hafenviertel zu säubern. Ihr könnt uns gerne dabei helfen, wenn ihr möchtet, doch wenn nicht, seid ihr frei zu gehen. Die Abmachung wurde erfüllt.“
    Noch während er die Worte sprach, ärgerte sich Shakuro darüber. Er hätte sich die Unterstützung der wilden Männer aus dem Süden zu gerne noch ein wenig gesichert, doch seine Ehre verbot es. Den Rest von My’shu zu erobern war eine Sache, den Hafen dauerhaft zu halten eine andere. Die Pläne dafür standen, allerdings waren die Arashi per se keine Seefahrer, zumindest nicht im gleichen Maße wie die Norkara, und es gab einen Stamm dort draußen, der ihr Feind war. Auch die Frostalben verstanden sich besser mit Schiffen oder schwimmenden Reittieren. Deshalb hatte es sogar zur Debatte gestanden, den Hafen komplett zu zerstören und die Stadt vom Seeweg abzuschneiden. Da man sich dadurch allerdings selbst mehr schadete, als half, hatte man dagegen entschieden. So würden sie sich auf eine Barrikade bestehend aus der eigenen Flotte, ein in Shakuros Augen wenig verlässliches Warnsystem und einige schwere Geschütze an Land verlassen müssen, um einen möglichen Angriff über den Seeweg abwehren zu können. Wie auch immer – es war nicht an Shakuro sich darüber Gedanken zu machen. Er hatte seinen Anteil erbracht. Im Geiste legte er sich schon geeignete Worte für einen endgültigen Abschied zurecht, als ihm etwas einfiel.
    „Allerdings… wenn ihr nun geht, können wir gar nicht gemeinsam auf den Sieg anstoßen!“
    Zu spät wurde ihm klar, dass er diese Wort eventuell bereuen könnte.

    Ragosh‘ Frage war gut. Ja – wohin wollte er? Er hatte keinerlei Befehl in dieser Schlacht, war nicht in die Planung mit einbezogen worden. Aus dem Augenwinkel sah er, dass auch Mosoro ihn erwartungsvoll ansah, wann immer die Kämpfe lange genug pausierten. Eigentlich hatte Sasuke gehofft, dass man ihn nun über das weitere Vorgehen informierte und nicht umgekehrt. Schnell duckte er sich unter einem Eisschwert hinweg und durchbohrte den Alben, der ihn einen Kopf kürzer hatte machen wollen. Er zog seine Waffe zurück und blickte in die weit aufgerissenen Augen des Kämpfers – nein: der Kämpferin. Noch immer wartete der Ork auf eine Antwort und das zu Recht. Mitten in dieser Straße zu verharren brachte ihnen am Ende vermutlich nichts als den Tod. Sie mussten sehen, dass sie eine sinnvolle Aufgabe fanden, um zur Beschließung dieser Schlacht beizutragen. Sasuke grübelte. Es gab noch immer einen Auftrag… doch Dimulon Eisträumer konnte mittlerweile schon über alle Berge sein. Er blickte in die Richtung, in die der riesige Eisbär davon gestürmt war. Norden… Und fasste einen Entschluss.
    „Wir schlagen uns zum nördlichen Stadtrand durch und helfen die Stadt zu verriegeln“, sagte er bestimmt, als wäre das von Anfang an sein Plan gewesen. „Wenn ihr unterwegs den Eisbärreiter seht, sagt mir Bescheid.“

    Shakuro Aisako


    Die Tage nach Terrys Besuch waren die schlimmsten, die Shakuro jemals erlebt hatte. Am liebsten wäre ihm gewesen, die Schlacht hätte sofort begonnen, dann hätte er das Für und Wieder seiner Entscheidung nicht Tag für Tag und Nacht für Nacht erneut durch wälzen müssen, während er Reismehl ausversehen in die Teeregale räumte oder stundenlang die dunkle Decke über seinem Bett anstarrte und auf einen Schlaf voller wilder Träume wartete. Laufend wuchsen neue Zweifel. War die Offensive auf die Stadt der richtige Weg? Wie hatte er jemals sicher sein können? Shakuro lechzte nach einem Zeichen Segiras, dass er korrekt handelte. Nun, da alles in die Wege geleitet war, wurde ihm die Tragweite erst richtig bewusst. Unzählige würden sterben, die Besatzer vor Zorn rasen und die Spaltung seines eigenen Volkes möglicherweise unwiderruflich wachsen. Und für was? Für eine Stadt. Wie immer, wenn er dieses Gedankenspiel durchging, kniff Shakuro die Augen zusammen und schüttelte vehement den Kopf. Er hatte alles abgewogen, gründlich durchdacht. Es ging nicht bloß um My’shu. Es ging um alles, das seine Partei und die freien Arashi sich erarbeitet hatten. Es ging um nicht weniger, als die Zukunft Arashimas. Shakuro seufzte. Wie so oft in diesen Momenten blickte er zu dem Rumfass, dass Terry mitgebracht hatte. Ob ein Schluck daraus seine Nerven beruhigen könnte? Nein! „Shakuro, du Narr!“, schalt er sich. Seine Landsmänner und er waren auf jedes Quäntchen von Segiras Segen angewiesen, wie konnte er da nur daran denken, sie kurz davor zu verstimmen?
    Tagelang taumelte Shakuro durch sein Gedankenkarussell, bis die Nacht der Entscheidung endlich gekommen war. Sein Platz war nicht auf dem kundschaftenden Fischerboot, doch immerhin im Hafenviertel, sodass er die Ankunft der Norkara miterleben konnte. Wie eine riesige Welle aus Feuer brachen sie ein, einer Naturgewalt gleich. Es dauerte nicht lange, bis Shakuro Terry entdeckt hatte, der sich mit seiner riesenhaften Gestalt voran kämpfte. Die Unterstützung der Truppe um Shakuro war gar nicht nötig, um den Hafen zu sichern. Trotzdem stürzten sie sich nun auf den Wink eines älteren Arashi namens Yasuri in dem Kampf, um den Männern aus dem Süden beizustehen. Das Hafenviertel musste unbedingt gesichert werden. Es war nicht auszuschließen, dass eine Flotte der Wolfs-Norkara oder ein Schwarm Shezem in der Nähe war. Mit Mühe streckte Shakuro einen jungen Alben nieder. Er war in der Kunst des Schwertkampfes ausgebildet worden, doch richtig gut war er nie darin gewesen. Kein Künstler an der Waffe wie Sasuke, kein Bär wie Terry. Seine Stärken lagen in strategischem Denken, genialen Plänen und Redegewandtheit. Eine Eisharpune zischte haarscharf an seinem Kopf vorbei und Shakuro zuckte zusammen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie einer seiner Kollegen fiel, seine Augen tränten vom Rauch und der Lärm war ohrenbetäubend. Erneut kochten Zweifel in ihm hoch, doch nun war es endgültig zu spät. Sie würden My’shu schon wieder aufbauen. Erst galt es, es zurück zu erobern. Klirrend parierte er einen Schwerthieb und hatte kurzen Blickkontakt mit dem feindlichen Arashi. „Ihr bringt nur noch mehr Leid über uns!“, rief dieser. „Diesen Krieg können wir nicht gewinnen.“ Erneut schlug er zu. „Wenn wir nicht kämpfen, haben wir schon verloren! Und kein Arashi wird je wieder in Freiheit leben“, gab Shakuro zurück und sprach damit aus, womit er sich selbst die ganze Zeit auch schon zu beruhigen versucht hatte. Kurz meinte er Zweifel durch die Augen seines Gegenübers blitzen zu sehen und wollte schon ansetzen, ihn zu überreden, einfach die Seiten zu wechseln, da biss dieser entschlossen auf die Zähne und verstärkte seine Angriffsbemühungen. Shakuros Schwert fiel klirrend zu Boden. Er war nun ganz in der Nähe von Terry, konnte dessen massige Gestalt deutlich erkennen. Gerne hätte er den Mann noch einmal gesprochen, hätte ihm danken wollen, dass der Pakt eingehalten worden war und ihm mitteilen mögen, dass er sämtliche Erwartungen übertroffen hatte. Allerdings sah es gerade nicht gut für ihn aus. Er war unbewaffnet und es war nur dem erneuten Zögern des Mitläufers geschuldet, dass er noch lebte. Dieser hob nun langsam sein Schwert an. Um ihn herum waren alle in Gefechte verwickelt, niemand schien seine aussichtslose Situation zu bemerken. Shakuro schloss die Augen und rechnete damit, jeden Augenblick von scharfem Arashistahl durchbohrt zu werden.

    Der Impuls Eisträumer hinterher zu rennen durchzuckte Sasuke, doch sofort schaltete sich sein Verstand ein. Es war sinnlos. Der Alb war weg. Er hatte versagt. Einen Moment lang stand er da, das Schwert nach unten gerichtet in seiner schlaffen Hand und Enttäuschung flutete ihm durch die Adern. Jemand rief seinen Namen. Benommen drehte Sasuke sich um und erblickte ein bekanntes Gesicht. Erstaunen verdrängte die Resignation. „Mosoro?“ Also war die Gelbe Blüte ausgerückt. Der alte Freund kam schnellen Schrittes auf ihn zu und zog Sasuke in eine kräftige Umarmung. Noch etwas verdattert erwiderte er die Begrüßung, doch sein Blick hatte bereits die nächste Überraschung entdeckt. Einen Ork. Unter den Männern, die Mosoro begleiteten, war tatsächlich ein Ork. Automatisch begann Sasuke zu grübeln, ob er schon jemals einen der ihren gesehen hatte. Wie kam es, dass er Seite an Seite mit den Rebellen kämpfte? Eilte das benachbarte Volk ihnen zur Hilfe, aus Furcht vor der eisigen Bedrohung aus dem Norden, oder war er nur ein Einzelkämpfer? Er war ein Prachtexemplar, stämmig und stark und vermutlich gäbe es keinen passenderen Kumpanen bei einer Mission wie dieser. Trotzdem war es ungewöhnlich. Zeit, nachzufragen blieb nicht. Die Kämpfe hatten sie wieder erreicht und Sasuke drehte sich gerade rechtzeitig, um gemeinsam mit Moroso den Angriff eines schwer bewaffneten Frostalben abzuwehren. Alle Fragen mussten warten, ebenso die Unsicherheit, was Dimulon Eisträumer betraf. Unweit entfernt sah er den großen Ork in einem Gefecht und konnte nicht anders als über dessen Geschick und Kraft zu staunen. Entschlossen schwang Sasuke sein Schwert und setzte zeitgleich zu einem Fußtritt in Richtung Hals an. Wäre die Stadt nicht in ohrenbetäubendem Lärm ertrunken, hätte man das laute Knacken gehört, mit dem das Genick des Alben brach. Mit vor Erstaunen aufgerissenen Augen sank er zu Boden und gesellte sich zu den vielen, vielen anderen Gefallenen, Freund wie Feind. Dieser Angriff musste wohl geplant sein, dachte Sasuke, denn ansonsten hätte er längst schon erwartet, von einer Übermacht eingekreist zu sein. Als hätte er seine Gedanken gelesen, brüllte Moroso zu ihm hinüber. „Wir müssen uns beeilen und die Stadt von Feinden wie Verrätern säubern, bevor sie neue Streitkräfte heranziehen können! Kyako hat einen ganzen Tross bei sich, um My’shu nach Norden und Westen hin zu befestigen!“ Es gab nur einen Kyako, den Sasuke kannte und das bedeutete, dass auch Widerständler von der Partie waren. Widerständler, Norkara und sogar ein Ork, die auf ihrer Seite kämpften. Sein Blick traf den, des hünenhaften Kriegers und er nickte ihm anerkennend zu, um zu zeigen, dass er froh war, an seiner Seite kämpfen zu dürfen. Heute Nacht gab es nur eines, das zählte. Überleben.

    Einige Arashi halfen dem gealterten Kollegen auf die Beine und untersuchten ihn, während Sasuke mit den übrigen die Treppe hinunter in den Innenhof eilte. Dort tobte der Kampf, der bereits viele Opfer gefordert hatte. Alben und Arashi starrten gleichermaßen aus leeren Augen in den Nachthimmel, mit aufgerissenen Kehlen, abgetrennten Gliedmaßen und furchtbar zerfetzten Leibern. Dazwischen lagen vereinzelt fremdländische Menschen, wie Sasuke sie manchmal am Hafen sah – Norkara. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass die Menschen auf der Seite der Rebellen kämpften. Sasukes Begleiter stürzten sich sofort in den Kampf, doch er bahnte sich einen Weg aus dem Hof hinaus. Das heftige Pochen in seinem Kiefer verklärte ihm den Blick, aber eiserner Wille trieb ihn an. Er wusste nichts von der Offensive der Rebellen und auch nicht von deren Strategie, doch er hatte noch immer einen Auftrag zu erfüllen. Dimulon Eisträumer musste sterben.


    Die Straßen My’shus waren das pure Gegenteil zur Zeit seiner Ankunft. Männer schrien, Stahl klirrte und hinter allem leuchtete der Horizont im Schein zerstörerischen Feuers. Eisträumer war nirgends zu sehen. Sasuke hatte gehofft, der Alb wäre in einen Kampf verwickelt und aufgehalten worden, doch obwohl auf der Straße Tumult herrschte, war der Mann wie vom Erdboden verschluckt. Eine rasche Entscheidung musste her. Mit Sicherheit würde der Hauptmann die Stadt verlassen, doch in welche Richtung? Über Land oder zu See? Nach kurzem Zögern eilte Sasuke in Richtung von My’shus Zentrum. Die Anwesenheit der fremden Norkara würde auch Eisträumer eines gesagt haben: der Hafen war womöglich nicht länger in der Hand der Besatzer.


    Ganz My’shu schien in Kämpfe verwickelt zu sein. Es gab kaum eine freie Gasse und der Gestank des Todes lag schwer in der Luft. Entsetzt sah Sasuke, wie ein Frostalb mit einem wuchtigen Eisbeil den Kopf eines Kriegers spaltete, obwohl dieser einen Helm getragen hatte. Der Alb fletschte die Zähne und sein Blick heftete sich an Sasuke, der, das Schwert mit beiden Händen packend, in Kampfstellung ging. Im Hintergrund erkannte er verschwommen den erbitterten Zweikampf zweier Arashi, der ihn fast mehr grauste als der gestiefelte Tod, der mit hin und her schwingendem Beil auf ihn zu stakste. Auf den letzten Metern beschleunigte er sein Tempo und holte dabei einhändig mit seiner brutalen Waffe aus. Sasuke wartete ruhig, seinem donnernden Herzen zum Trotz und erst als der Hieb seines Widersachers niedersauste, wich er seitlich aus und hob die Klinge. Eis kreischte auf Stahl und Splitter flogen zu allen Seiten. Im Bruchteil einer Sekunden folgte der nächste Schwinger und Sasuke hatte keine Gelegenheit für einen Konter. Während eine wahre Salve an Angriffen auf ihn einprügelte, blieb ihm nichts, als zurückzuweichen und einen Hieb nach dem anderen zu parieren. Langsam aber sicher näherte er sich einer Hauswand, die ihm komplett den Fluchtweg abschnitt. Er musste handeln. Riskant wie es war, ob der übermenschlichen Kraft seines Gegners, packte Sasuke sein Langschwert nun mit einer Hand und exakt in dem Augenblick, in der das Beil erneut auf ihn zuflog, zog er geschwind den Dolch aus seinem Gürtel und warf. Dann ließ er sich zu Boden fallen und rollte sich schnell zur Seite. Er zweifelte, dass er den Hieb einhändig hätte abwehren können, zumindest nicht, ohne sich den Arm zu brechen. Schnell wie eine Katze sprang Sasuke in die Hocke, eine Hand auf dem Boden abgestützt, die andere über der Schulter erhoben, die Schwertspitze nach vorne gerichtet. Erleichtert sah er, dass sein Dolch getroffen hatte. Der Alb tastete überrascht an der Stelle herum, an der ein Heft aus seinem Kehlkopf ragte, dann kippte er vornüber. Sasuke atmete schwer. Der Schmerz in seinem Kiefer drohte ihn zu übermannen, doch er durfte nicht aufgeben. Er brauchte Eisträumer. Mit wachsamem Auge kroch er nach vorne, zog seinen Dolch aus dem toten Alben und verstaute ihn wieder in seinem Gürtel. Dann eilte er weiter die Straße entlang.
    Sein Innerstes zog sich zusammen, als er erkannte, wie viele Arashi auf Seiten der Besatzer kämpften und als einer sich ihm in den Weg stellte, vermochte er ihn nicht zu töten. Stattdessen ließ er den jungen Kerl bewusstlos zurück und bog in eine größere Straße ein. Ein Surren ertönte, er spürte einen Windhauch und es war nur der Axt eines stämmigen Norkara zu verdanken, dass nicht er, sondern eine drahtige Albe sich zu den anderen Opfern in den Rinnstein gesellte. Sasuke wollte sich bedanken, doch der große Mann hieb schon auf den nächsten Feind ein und beförderte ihn in eine der vielen Wasserstraßen, die My’shu in diesem Teil der Stadt durchzogen. Dann endlich sah er ihn.
    Eisträumer war ein Stück weiter in ein Gefecht mit mehreren Arashi verwickelt. Von seinem Geisterschild war kaum noch etwas übrig und seine nackten Füße wurden von vielen Körpern gesäumt. Er hielt ein großes Eisschwert, das er vermutlich einem gefallenen Artgenossen abgenommen hatte und das ebenso blau schimmerte wie der Pflock, mit dem er Sasuke hatte richten wollen. Seine Gegner wirkten verschüchtert, ihre Angriffe kamen vereinzelt und der Kommandant von My’shu bewegte sich schnell und elegant wie ein Raubtier und streckte einen nach dem anderen nieder. Kurz überlegt Sasuke sich von hinten anzuschleichen und ihm das Schwert in den Rücken zu rammen, doch er verwarf den Gedanken gleich wieder. Es wäre nicht ehrenhaft. Und erfolgreich wäre es auch nicht gewesen, denn just in diesem Moment blickte ihn Eisträumer über die Schulter hinweg an. Langsam zog er das Schwert aus dem Rumpf des letzten Kriegers und kam auf Sasuke zu. die Welt schien einzuschrumpfen. All der Lärm ebbte ab, die Umrisse von Sasukes Blickfeld verschwammen, die Bewegungen verlangsamten sich, als spiele sich alles unter Wasser ab. Übernatürlich laut kam Sasuke hingegen das Klatschen von Eisträumers Füßen auf dem Boden vor, als er unweigerlich auf ihn zuschritt und sein Haar wie in Zeitlupe hinter dem Rücken von links nach rechts schwang. Schon fürchtete er, er wäre wieder in einem Zauber gefangen, doch sein Geist war klar, er spürte das Heft des Schwerts deutlich in beiden Händen und den festen Grund unter seinen Füßen. Darauf bedacht, dem Nekromanten nicht direkt in die Augen zu sehen, stand Sasuke da, tief in den Knien, jeden Muskel seines Körpers angespannt. Ein Brüllen durchschnitt die Nacht und Sasuke duckte sich unwillkürlich nach unten ab und nahm die Hände über den Kopf. Ein riesiger Schatten flog über ihn hinweg und mit ihm kam der ganze Lärm und Tumult zurück in Sasukes Bewusstsein. Eisträumer hatte eine weiße Hand erhoben und ein monströser Eisbär kam vor ihm zum Stehen. Mehrere Pfeile steckten in der Flanke und den Hinterläufen des Tieres, das ehrbietungsvoll den Kopf vor dem Frostalben senkte. Eisträumer streichelte ihn im Nacken, dann sprang er behände auf dessen Rücken. Der Bär richtete sich brüllend auf die Hinterbeine auf, dann rannte er in die Nacht davon, über die Körper von Lebenden wie Toten gleichermaßen hinweg. Kurz davor trafen sich jedoch noch einmal die Blicke von Dimulon Eisträumer und Sasuke Mokiri und die Botschaft war eindeutig: Wir sehen uns wieder.