Beiträge von Leopold von Hohenfelde

    Man fand die Überreste von Leopoldius am Strand, blutige Kleider, zerrissen von einem Raubtier. Die Spuren im Uferbereich sprachen die gleiche Sprache. Was auch immer ihn überfallen hatte, es war gründlich vorgegangen und hatte nichts übrig gelassen außer Stoff und Blut, an dem die Wellen leckten.


    Indessen fuhr Leopoldius in der Kleidung eines Matrosen an Bord des Handelsschiffes, um als Erster die Flucht nach Naridien anzutreten. Während die offizielle Geschichte von Asa Karane ihn als Gefallenen listet, sollte er später als Leopold von Ghena in die Geschichte eingehen.

    Sohn der Dunkelheit

    Der Ruf des Nebelhorns rief Leopoldius an den Hafen. Eilig warf er den Mantel über, ging hinunter und nahm weder Diener noch Gefolge mit. Ein warmer, nach Tang stinkender Wind fuhr durch sein kurzes schwarzes Haar. Der mittlere Hohenfelde-Sohn verzichtete darauf, die Kapuze aufzusetzen. Vereinzelte Regentropfen fielen auf sein Gesicht, als Leopoldius hinaus auf das stahlgraue Meer blickte, in dem kein Fisch mehr schwamm. Die Magie der Erzhexer hatte das meiste Leben bereits aufgezehrt.


    Das almanische Transportschiff glitt durch den Regenschleier nach Asa Karane, wo niemand mehr die Kunst des Schiffbaus beherrschte. Sie waren hier gefangen und würden mit der Insel sterben, denn das Gold ihrer Schatzkammern war endlich. Man konnte nicht ewig vom Festland einkaufen, ohne selbst etwas zu erzeugen, dass die Kassen füllte. Der Krieg zwischen den Magierhäusern verschlang alles und die Bevölkerung schmolz rapide in sich zusammen. Leopoldius hatte berechnet, dass in spätestens 45 Jahren die Insel menschenleer sein würde. Mehr als zwei Generationen blieben ihnen nicht mehr und noch immer folgten sie dem Weg der Asche.


    Was sollte es nützen, den Kampf um die Thronfolge zu gewinnen, wenn wahrscheinlich schon sein Sohn, spätestens aber sein Enkel schlichtweg verhungern würde? Diesen Kampf hatte Leopoldius bereits verloren, noch bevor er überhaupt den Dolch im Duell gegen seine Brüder und seinen Vater erhob. Diesmal gab es keinen Sieger.


    Die trübe Brühe klatschte gegen die Steinmauer der Mole. Das Schiff legte an. Die Segel wurden nicht erst gerafft, denn man wusste um die unsichtbare Gefahr an diesen Gestaden, die an der Lebensessenz der Menschen zehrte. Man würde nach getaner Arbeit sofort wieder ablegen.


    Seilwinden knarrten, die Offiziere des Schiffes riefen Befehle. Während die Getreidelieferung noch abgeladen wurde, betrat Leopoldius das Schiff, vorgeblich, um mit dem Kapitän die Rechnung zu besprechen, wie er das schon einige Male zuvor getan hatte. Der Trubel lenkte den Blick ab von seiner markanten Gestalt, hochgewachsen und aufrecht mit dem Gang eines Mannes, der es gewohnt war, dass man ihm respektvoll auswich. Doch in der Kajüte traf er nicht den Kapitän.


    Ohne Gruß ging er vor der Frau, die in der Koje saß, in die Hocke. Keine Vertraulichkeiten, im Endeffekt war es eine geschäftliche Angelegenheit. Es war besser, sich nicht zu sehr an ihre Gegenwart zu gewöhnen. Nur kurz hatte er in ihr rundes Gesicht geschaut, dann blickte er auf das Kind, das sie in den Armen hielt. Lange betrachtete er schweigend das kleine Gesicht, den schwarzen Flaum auf dem runden Köpfchen, die streng zusammengezogenen, noch kaum sichtbaren Brauen. Die Ähnlichkeit war nicht zu leugnen.


    »Und was sagst du?«, fragte Kunigunde.


    Leopoldius nickte. »Ich erkenne ihn an als von mir gezeugt. Wir sind im Geschäft. Es wird geschehen, wie vertraglich zugesichert: Einmal im Jahr möchte ich das Kind lebend sehen, ohne dass mir der Termin vorher mitgeteilt werden darf. Je weniger Mitwisser es gibt, umso weniger Sicherheitslücken. Ich bilde dabei keine Ausnahme. Wer sein Vater ist, darf er niemals erfahren, so wenig, wie er jemals meinen Namen tragen oder auf dem Thron sitzen soll.«


    Seine Worte fühlten sich an wie Klingen im Mund. Er erhob sich, ohne seinen Sohn berührt zu haben, als würde er fürchten, das Übel seiner Familie könne ansteckend sein. Ein Hohenfelde zu sein, fühlte sich an wie ein Fluch. Er kannte niemanden dieses Namens, der je glücklich gewesen war. Sie alle starben dürr und verbittert mit einem Dolch zwischen den Rippen, wenn es Zeit war, den Platz auf dem Thron zu räumen. Eine Flucht würde nichts nützen, Leopoldius würde das Gift nur im Herzen in das neue Land tragen und dort würde es weitergehen wie bisher. Sein Sohn hatte nur eine Chance, wenn er nicht als Hohenfelde aufwuchs.


    »Er hat deine blauen Augen geerbt«, sprach Kunigunde zärtlich. »Überhaupt ist er dir sehr ähnlich.«


    Leopoldius löste den Blick von seinem erstgeborenen Sohn. »Die Ähnlichkeit ist gut für deinen Geldbeutel, nicht gut für ihn. Ich hoffe, dass er nur äußerlich nach mir schlägt und ansonsten ganz nach deiner Familie kommt. Vergiss niemals unseren Vertrag. Das Gold, das ich deinem Mann bei jedem Besuch überreichen werde, dient nicht nur dazu, meinem Sohn ein würdiges Leben zu ermöglichen. Zehn Prozent davon sind dir zugedacht, als Schmerzensgeld für die Entbindung und als Schweigegeld für deine Zunge. Offiziell bin und bleibe ich kinderlos. Bricht einer von euch den Vertrag, ist euer Leben verwirkt. Ich finde euch überall, in welchem Winkel von Asamura ihr euch auch versteckt.«


    Sie lachte unbeschwert, als würde er nur scherzen. Eine völlig unangebrachte Reaktion in Gegenwart eines Hohenfelde. »Das Schweigegeld ist nicht nötig. Ich weiß, wie wichtig mein Schweigen für die Sicherheit von Benji ist. Du hast mir von den Problemen in deiner Familie erzählt. Aber ich glaube auch, dass du dir zu viele Sorgen machst. Auf dem Festland ist er sicher.«


    »Probleme? Hier nennt man Mordlust nicht Problem, sondern Tradition.« Leopoldius hatte nie den Namen des Kindes erfahren wollen. Am liebsten hätte er ihn auch niemals gesehen, doch es gab keine andere Garantie dafür, dass Kunigunde und ihr Mann ihn nicht betrogen.


    Kunigunde lächelte. »Er ist nicht allein dein Sohn«, fuhr sie fort, »sondern ebenso meiner. Auch Pavel hat ihn ins Herz geschlossen. Meinem Gatten und mir wäre ohne dich nie ein eigenes Kind vergönnt gewesen.«


    Leopoldius schnaubte. Dass er nichts als ein Samenspender und ein Geldesel war, wusste er. Andererseits war es vielleicht gut, dass auch sie das so sah. Es würde den Abschied und seine einsamen Nächte in einem zu großen Bett leichter machen.


    Kunigunde überging sein Schnauben. »Nach Pavels Tod wären Land und Besitz von Generationen verloren gewesen«, plauderte sie, mit ihren roten Wangen und den leuchtenden Augen ein fast schon grotesker Gegensatz zu der finsteren Gestalt, die ihr gegenüber hockte. »Pavel kann ja nichts dafür. Nun hat er endlich seinen Sohn. Pavel wird Benji lieben wie sein eigen Fleisch und Blut. Es wird deinem Sohn gut gehen und er wird in Liebe aufwachsen.«


    »In Liebe.« Leopoldius bestätigte die Worte, ohne zu wissen, wovon sie sprach. Sein Blick trübte sich, als er an seine eigene Kindheit zurückdachte. Er hätte es gern besser gemacht, doch das einzige Geschenk, das er seinem Sohn erweisen konnte, bestand darin, ihm niemals Vater zu sein. Leopoldius musste die Rolle des Handelspartners spielen, der den almanischen Kapitän Pavel Bovier für seine Getreidelieferungen großzügig entlohnte.


    Leopoldius hob den Blick, betrachtete die Frau, die er nur einmal im Jahr sehen durfte. Würde ihr nächstes Kind ihm nicht ähnlich sehen, würde er weiterhin nur für eins zahlen. Anders konnte er nicht sicherstellen, dass sie nicht noch mit einem dritten das Lager teilte. Seine Lust machte sich bemerkbar bei dem Gedanken.


    »Er schläft«, sagte Leopoldius. »Bette Benji doch für eine Weile in seine Hängematte.«


    Als der Kleine dort weiterschlummerte, legte Leopoldius die Hände an Kunigundes Schultern. Er küsste ihren Hals, während er sie rücklings in die Koje schob und ihr mit fahrigen Fingern das Kleid von den Armen zog. Mit den Zähnen riss er ihr Brustband nach oben und drang hart in sie ein. Weniger als eine halbe Stunde war ihnen vergönnt. Die letzten Minuten mit Kunigunde musste Leopoldius mit seinem Sohn teilen, der ihm zu verstehen gab, dass der Vater störte. So winzig, wie der Kleine war, konnte er doch schon Eifersucht empfinden. Sein penetrantes Gequengel verhinderte jeden weiteren Genuss.


    Als Leopoldius Pavel schließlich das Säckchen mit dem Gold in die Hand drückte, taxierten die beiden Männer sich. Leopoldius roch nach Leidenschaft. Es war Teil der Vereinbarung. Der Kapitän und der Fürstensohn waren eine Symbiose eingegangen, die beiden Schmerzen zufügte.


    »Danke«, sagte Pavel förmlich.


    »Ich habe zu danken«, erwiderte Leopoldius steif.


    Als das Schiff zurück in Richtung Osten segelte, war Leopoldius froh über Regen und Wind, die ihm wie ein stinkender feuchter Atem ins Gesicht hauchte. Er sah dem Schiff nicht nach, sondern marschierte zielstrebig zurück nach Hohenfelde. Die Zitadelle warf einen langen Schatten und sie trug seinen Namen. Doch es war nicht der Name seiner Familie und gleichsam nicht deren zu Hause. So wenig, wie die Familie Bovier seine Familie war. Weder Namensgleichheit noch Blutsverwandtschaft waren geeignet, den Zustand einer Familie zu begründen. Was es sonst sein könnte, lag außerhalb des Verständnisses von Leopoldius. Er konnte nur sagen, was eine Familie alles nicht war, denn er kannte nur den Zustand des Mangels. Im Kampf um den Thron focht und starb jeder allein.


    Er prüfte den Sitz seines Dolches, als er durch das schwer bewachte Eingangsportal trat.

    Impressionen von Asa Karane

    Auf Asa Karane wurde die Geschichte für die Nachwelt in Asche konserviert. Hier lebt nichts mehr, das die Erinnerung an die Vorzeit auslöschen könnte, weder Mensch noch Tier, weder Pilz noch Pflanze, bis auf ganz wenige Ausnahmen, die nicht unerwähnt bleiben sollen. Die Insel galt einst als blühendes Paradies, als die Flüchtlinge von Caltharnae nach der Vulkankatastrophe eintrafen, um sie zu besiedeln. Doch auch dieses Refugium versank in Asche, diesmal menschengemacht. Es schien keinen Ausweg zu geben, kein Entkommen, und so erhielt die Insel ihren Namen: Asa Karane, die Insel der Gefangenen.


    aschigeebene.jpgWer die Insel durchwandert, wird die meiste Zeit seines Weges die Aschigen Ebenen durchstreifen. Wie harte Erde liegen die festgebackenen Schichten unter den Stiefeln. Vereinzelt säumen die Reste von Mensch und Natur die uralten verlassenen Pfade. Asa Karane ist tot - die Magierkriege haben alles Leben aufgezehrt.




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    Der Niedergang von Kaltenburg geschah schleichend. Keine ruhmreiche Schlacht schrieb sein Schicksal in Blut. Das jahrzehntelange Siechen der politischen Macht mündete in Hunger und völliger Hilflosigkeit. Kaltenburg unterlag der erdrückenden Übermacht seiner Feinde. Magisch aufgezehrt ging das einst stolze Haus über Jahre des Siechtums hinweg zugrunde.



    Einer der wenigen Überlebenden war Prinz Irving von Kaltenburg, der als Kriegsgefangener von Wigberg der Auszehrung entging.


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    Eines der traurigsten Beispiele für den Niedergang markiert Jerolin, der Geschändete. Einst bekannt als Baum des Wandels galt er als das Wahrzeichen des Hauses Wolkenhaim. Nachdem die Burg bis auf die Grundmauern geschleift wurde, so dass nicht einmal mehr Ruinen zurückblieben, verblieb allein Jerolin, schwarz und verbrannt. Man ließ ihn stehen zum Hohn.








    Doch Jerolin, auch wenn er nicht mehr golden blüht und keine Sonnenfalter um seine Krone schwirren, lebt. Unter der Schicht schwarzen Rußes hat Jerolin neue Blätter geschoben. Man sagt, wenn die Welt sich einst wandelt und die Aufzehrung endet, wird er wieder erblühen, doch wird vielleicht kein Mensch dann mehr leben, um das Wunder zu bezeugen.


    toterwald.jpgDer Tote Wald scheint nur von Asche bedeckt, wie Jerolin, doch dieser Eindruck trügt. Streifen die Stiefel durch das silbrige Gras, zerfällt es zu Staub. Berührt man die Blätter der Bäume, bröckeln sie unter den Fingern. Schlägt man gegen die Stämme, so zerbrechen auch sie. Der Tote Wald ist konservierte Erinnerung dessen, was zerstört wurde, die Illusion eines gesunden Ortes an einem Ort, an dem nichts Gesundes mehr existiert.



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    Wo Schatten ist, scheint manchmal noch ein Licht. Der Wanderer durch die Asche trifft manchmal auf eine Herberge, unerwartet an solch einem Ort, doch sehr willkommen, um den Staub aus der trockenen Kehle zu spülen, ein Mahl zu sich zu nehmen, das nicht geraubt wurde oder eine Nacht in Sicherheit zu verbringen. Es scheint eine stille Übereinkunft zu geben, die der Aschigen Absteige Sicherheit garantiert. Jeder kehrt gern hier ein und niemand plündert sie, so als sei das Gasthaus eine besondere Art von Tempel, an dem keiner rühren dürfe.










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    Eines der mächtigsten Häuser von Asa Karane ist Hohenfelde. Die Zitadelle aus schroffem Mauerwerk ragt wie steinerne Zähne hinauf in die Wolken. Eng und finster sind die Gänge, alchemistisches Feuer erhellt in kranken Farben die Dunkelheit. Glücklich ist niemand, der hier wohnt und doch schart man sich ängstlich um den Erzhexer Fürst Indutiomarus von Hohenfelde, um im Schatten seiner Macht die schlechter werdenden Zeiten zu überleben. Hohenfelde hatte entscheidenden Anteil am Untergang von Kaltenburg. Die Zitadelle, das Wahrzeichen ihrer Macht, hat bis in die letzten Tage und darüber hinaus überdauert.

    Das Erbe von Leopoldius

    • Offiziell ist Leopoldius ledig, hat weder Freunde noch Geliebte, nur Diener und Verbündete.
    • Leopoldius hat vor Beginn des Kampfes gegen seine Brüder in aller Heimlichkeit Kinder gezeugt.
    • Diese wurden von Asa Karane aus in Sicherheit gebracht, niemand weiß von ihnen, denn traditionell sterben mit dem unterlegenen Bruder auch dessen Nachfahren, so bereits vorhanden.
    • Sie wuchsen auf dem Festland auf als Familie Bovier, auch bekannt als "die Wildblumen".
    • Als Dunwolf von Hohenfelde später mit einer gewissen Ledvigiana eine Verbindung einging, erinnerte er sich an den Bruder, der durch seine Hand fiel. Die Linie Mancini wurde somit auch die Linie von Dunwolf, "die Seelilien".
    • Die Mancinis und die Boviers zogen sich über die Jahrhunderte immer wieder an, doch selten endeten ihre Verbindungen glücklich.

    Dunwolf genoss die Fürsorge seines großen Bruders sichtlich, schloss sogar die Augen, als würde das Nähen ihn entspannen, obwohl es zweifelsohne schmerzhaft war, wie Nadel und Faden durch seine Schnittwunden glitten und sie zusammenzogen. Der Schmerz trat jedoch vor der behütenden und bewahrenden Geste in den Hintergrund.


    Als Leopoldius und Dunwolf gemeinsam am Tisch saßen, war Leopoldius nicht wirklich bei der Sache. Er stützte sich auf, sah Dunwolf nicht mehr in die Augen, rieb sich das kalte Gesicht. Der Kamin war nur kurz angeheizt worden, wie immer, die im Gestein gespeicherte Restwärme musste genügen.


    "Ja, ich habe die Schwachstelle identifiziert. Vater will, dass diese Kreatur uns drei überlebt. Nicodemus soll jener Sohn sein, der am Ende von uns übrig bleibt. Die Schwachstelle ist, dass Vater dieses Geschöpf liebt."

    Leopoldius ließ sich nicht anmerken, was in ihm vorging, als er das entstellte Gesicht seines kleinen Bruders sah. Wortlos winkte er ihm, mitzukommen und führte ihn in seine privaten Gemächer.


    Dort setzte er Dunwolf auf einen gepolsterten Stuhl und holte einen Erste-Hilfe-Koffer. Dies war keine Erfindung eines Hohenfeldes ... aus dem Heer des Festlands stammte der eigentümliche Brauch, sich um seine Verwundeten zu sorgen, statt sie magisch und physisch zu verwerten. Leopoldius´ Spione hatten sie mit dem Schiff mitgebracht, wie so manch anderes. Es war das erste Mal, dass er testete, was er einst gelernt hatte, um sich selbst versorgen zu können.


    "Es wird wehtun. Nicht zucken."


    Er tränkte einen Lappen mit einem Gemisch, dass nach scharfem Alkohol und Alchemie stank. Damit wusch er vorsichtig Dunwolfs schönes Gesicht. Von ihnen dreien hatte es die Natur mit ihm am besten gemeint. Am besten mit dem Äußeren und am besten mit der Magie. Kurzzeitig bluteten die Wunden noch stärker.


    Leopoldius zog einen festen Garn auf eine gekrümmte Nadel. Dann begann er vorsichtig zu nähen, so wie er es gelehrt bekommen hatte von jenen, die nach anderen Gesetzen lebten. Jenen, die einander halfen anstatt zu vernichten, was nicht mehr heil war. Asamura, das Festland, an das Leopoldius sein Herz verloren hatte, ohne es je betreten zu haben.


    Langsam richtete er sich auf und betrachtete sein Werk. Er lächelte, betrachtete Dunwolf mit all seinen Nähten. "Verwegen. Nun noch einmal langsam." Behutsam räumte er den Erste-Hilfe-Koffer wieder zusammen und verwahrte ihn in einem Schrank. Dann schenkte er ihnen beiden heißes Blut vom Kamin ein, wo eine Kanne bereitgestanden hatte. "Der vierte Sohn ist also dazu gemacht, als Sieger hervorzugehen, bedacht mit unfairen Vorteilen. Nicht nett von Vater, die Regeln zu beugen."

    Früher hätte er auf eine unerwartete Annäherung seines Bruders mit entschiedener Abwehr reagiert. Es wäre klar gewesen, dass sie das Ziel hatte, sein Misstrauen abzutragen, um eines Tages auf Dolchnähe heranzukommen.


    Trotz all der Möglichkeiten war noch immer der Dolch die bevorzugte Waffe, wenn es darum ging, sich seinen Platz in der Familie zu erkämpfen. Wenn es so etwas wie Ehrgefühl überhaupt unter ihnen gab, dann spielte das wohl die wichtigste Rolle. Durch eine andere Waffe oder gar durch fremde Hand seinen Bruder zu verlieren, hätte Leopoldius als tödliche Beleidigung aufgefasst, noch schlimmer wäre es, wenn er selbst auf andere Weise umkäme.


    Doch heute war dies nicht das Ziel. Dunwolf spürte es ebenso. Ihr Bündnis währte bis zum Finale und vielleicht stand das schon heute bevor. Leopoldius erwiderte die Umarmung fest, aber nicht brutal. Nachdem sein Bruder ihn auf die Stirn geküsst hatte, richtete Leopoldius sich auf. Er war der Ältere, formal der Größere, auch wenn er ein Stück kleiner geraten war, und küsste Dunwolf seinerseits auf die Stirn.


    "Was auch immer uns in dieser Welt trennt: Du bist und bleibst mein kleiner Bruder. Sollte es an der Zeit sein, werde ich dir eine Statue widmen und dafür sorgen, dass man dein Andenken ehrt und das von Arbogast bespuckt. Komm ... vielleicht ist heute schon der letzte Tag. Bevor wir es angehen: Gibt es noch etwas, dass du klären musst oder bist du bereit? Ich bin es, Dun."


    Er sagte es aufrecht und fest doch das Herz war ihm schwer wie Blei.

    Die Suche nach der Brut des Indutiomarus

    Nachdem sie den Düsterling verhört und an die Hunde verfüttert hatten, waren die beiden Brüder unterwegs durch die Zitadelle von Hohenfelde, bereit, ihr erlangtes Wissen in finstere Taten münden zu lassen. Noch immer spürte Leopoldius die brüderliche Umarmung auf seiner Haut, die erste, die sie beide je geteilt hatten, vielleicht die einzige. Er wusste nun, dass er seinen Bruder entgegen aller Regeln liebte. Ein Grund mehr, Indutiomarus so schnell wie möglich zu beseitigen, denn er würde derlei Schwäche nicht dulden, noch mehr das Bündnis fürchten zwischen ihnen.


    "Wir sollten zuerst nach Hinweisen in seinem Wohnbereich suchen. Warst du schon mal dort? Hat der Alte dich mal zu einem Gespräch dort sehen wollen? Mich nicht. Das geht so weit, dass ich keine Ahnung habe, wo in dieser verwinkelten Zitadelle er sein widerliches Nest bezogen hat!"

    Leopoldius ließ das aufgebrachte Geschrei seines Bruders über sich ergehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch nicht von Anfang bis Ende ... es gab einen Bruch in seiner Maske, einen Splitter, der sich löste, als Dunwolf schrie:


    Du hast ein Kind.


    Das Blut wich Leopoldius aus dem Gesicht, seine Augen öffneten sich ein Stück weiter als üblich und sein Mund stand einen Fingerbreit offen. Nur für einen oder zwei Momente, in denen all seine Hoffnungen und Pläne in sich zusammenzustürzen schienen, bis er begriff, dass Dunwolf nicht ihn gemeint hatte, sondern in einer Verdrehung der grammatikalischen Gegebenheiten ihren Vater meinte.


    Als könnte er noch verhindern, dass Dunwolf seinen Fehler bemerkte, legte Leopoldius nun seinerseits die Hände auf dessen Schultern, kroch mit den Fingern weiter in den warmen schwarzen Haarschopf hinein, umfasste sanft mit einer Hand das Genick und zog den jüngeren Bruder an sich. Starr an die Wand blickend, bettete er Dunwolfs Kopf an seine Schulter. Die zweite Hand legte er ihm auf den schmalen Rücken, dorthin, wo er ihm irgendwann den Dolch rammen würde.


    "Sh-shhhhh ... Ein ruhiger Geist ist wie die Oberfläche eines Sees, glatt, schwarz und von unerschöpflicher Tiefe. Der tosende Fluss ist nur flach und an zahlreichen Stellen findet sich eine Furt, um ihn ganz bequem zu queren. Sei wie der See, still und dunkel. Für Zorn ist später Zeit."


    Es gelang ihm, während er sprach, seine Maske zu richten und er gab Dunwolf zärtlich wieder frei.


    "Ich denke, du hast Recht. Indutiomarus hat Hohenfelde zum Fraß freigegeben. Seine letzte Rache vor dem Fall. Doch, Dunwolf, es liegt an uns, ob wir uns von Eibenberg und Wigberg in die Knie zwingen lassen. Die Kunst ist, das Spiel nicht nach den Regeln seiner Gegner zu spielen. Wir wissen nun, wer Nicodemus ist, wir wissen, wohin Arbogast entflohen ist, wir kennen Vaters Plan. Nutzen wir das, um ihm unsere Regeln aufzuzwingen."

    "Meine Gedanken? Die sollst du vernehmen.


    Arbogast kennt keine Loyalität, er kennt nur das, was ihm nützt. Ist das zufällig Treue, wird er es auch damit versuchen, doch sein Herz ist von uns dreien das verdorbenste, dreckigste und er ist derjenige, der zuerst zu sterben verdient. Ich denke, da sind wir beide uns nach wie vor einig. Er wird Hohenfelde verraten und Eibenberg wird uns in die Knie zwingen. Vielleicht nicht im offenen Kampf, aber wirtschaftlich, sobald der hässliche Vogel singt.


    Was einen Humunkulus angeht, mag es sein, dass Vater den Sand in seiner Lebensuhr rieseln hört und uns zuvor gekommen ist. Ich traue ihm zu, sich selbst magisch ausbluten zu lassen und daran zu verenden, um uns den Sieg nicht zu gönnen. Er weiß, dass er es nicht schaffen wird. Seine Taten singen Hohn, so lange er es noch vermag."

    Es dauerte nicht länger als nötig. Im Gegensatz zu Dunwolf ließ Leopoldius kein Gefühl nach außen dringen. Natürlich war er genau so geschockt wie sein Bruder. Doch er hatte sich die Auswertungen aufsparen wollen für die Zeit danach. Diese würde gleich gekommen sein.


    Das Blut lief in Strömen auf den schwarzen Steinboden. Da der Düsterling kopfüber hing, würde es sehr schnell gehen.


    "Gleich ist es vorbei." An wen er diese Worte richtete, war nicht ersichtlich.


    Als das Röcheln der offenen Kehle verstummte, wandte Leopoldius sich seinem Bruder zu. Mit einigen beiläufigen Schwüngen ließ er das Blut von der Dolchklinge spritzen, stand jedoch weit genug entfernt und machte keinerlei Anstalten, auf Dunwolf loszugehen.


    Eine weitere vertane Gelegenheit ... du wirst alt, Leopoldius. Bereite alles vor ... für den Tag, an dem du nicht mehr handeln kannst.


    Er strich das Blut an einem Stofftaschentuch ab und ließ die Klinge wieder in die Scheide gleiten, wo er sie sicherte.


    "Arbogast und Vater halten uns gleichermaßen zum Narren. Wir sind wieder Drei, doch siehe, Dunwolf - unser allerjüngster Bruder wurde mit unfairen Vorteilen bedacht. Wir müssen ihn töten, bevor er ein Mann wird. Noch ist er ein harmloser Säugling. Was Arbogast betrifft, frage ich mich, womit er sich bei den Eibenbergs eingekauft hat."

    Der Schmerz des gequälten Geschöpfs erreichte nicht das Herz des Hexers. In diesem Spiel ging es um sein Leben, er folterte nicht aus Lust, wenngleich er sie bisweilen empfand, wenn er an einen Körper dachte, der sich schreiend unter ihm wand.


    Leopoldius ließ die Worte eine Weile wirken und dachte nach. Sie erschienen ihm glaubwürdig. Er blickte auf und drehte ein wenig den Kopf.


    "Hast du noch Fragen, Bruder?", erkundigte er sich liebenswürdig bei Dunwolf.

    "Nichts kann ich mir denken! Ich will es aus dem Mund dieses Halbmenschen hören."


    Leopoldius ging nun in die Hocke, den Dolch in der linken Hand, wie es für ihn üblich war. Die rechte legte er dem Düsterling nun an die Wange, doch er lächelte nicht. Sein Blick blieb hart.


    "Unser Scharfrichter versteht sich gut auf Chirurgie. Vielleicht kann dein Bauch wieder zugenäht werden? Doch dazu darfst du es nicht noch schlimmer machen, Sanar ... beantworte die Fragen und mach uns keinen weiteren Ärger. Wohin ist Arbogast geflohen? Wo befindet sich unser jüngster Bruder Nicodemus? Wir wollen ihn begrüßen. Und wer ist seine Mutter?"

    Leopoldius hatte nicht vor, sich mit dem Geschöpf einen Schlagabtausch zu liefern. Derart fast schon liebevolle Wortgefechte waren den Feinden vorbehalten, die er respektierte. Ein Diener gehörte nicht dazu.


    Er zückte seinen Dolch. Das wachsende Feuer spiegelte sich nicht auf der Klinge, denn sie war matt und schwarz, um genau das in der Dunkelheit nicht zu tun. Und doch war sie scharf wie ein Skalpell, denn kein Hohenfelde trug den Dolch, den er zur Volljährigkeit geschenkt bekam, nur zur Zierde.


    Leopoldius setzte am Schambein an und zog ihn in einem Zug hinab bis zum Brustbein, wobei er eine gleichmäßige Tiefe beibehielt. Der Bauchraumklaffte auseinander, die Eingeweide quollen rosa, weiß und dunkelrot ein Stück hervor, waren jedoch unverletzt.


    "Verschwende unsere Zeit nicht. Wo ist Arbogast? Wer ist Nicodemus?"

    "Natürlich. Dort drüben ist ein Kohlebecken, es muss nur gemütlich angefacht werden."


    Er zeigte mit der Hand in die entsprechende Richtung, ehe er sich wieder dem Düsterling zuwandte.


    "Deine Meister sind momentan mein geschätzter Bruder und ich, Kreatur. Deine Hoffnung, Vater würde die Drecksarbeit für Arbogast ausführen, muss ich dir nehmen. Er hat auch von anderen Dingen erfahren und wir leben immer noch. Du hingegen ... wer weiß. Es hängt davon ab, wie viel dir deine Existenz bedeutet."

    Doch Sanar kam nicht.


    Er konnte nicht kommen.


    Man hatte ihn entführt. Doch nicht in den privaten Gemächern von Leopoldius war er nun zu finden, sondern das Agonarium erschien den Hohenfelde-Brüdern als der geeignete Ort.


    "Dass Düsterlinge nicht beeinflussbar sind, ist der einzige Grund, warum der Alte so vernarrt in sie ist."


    Leopoldius sprach mit Dunwolf, ohne die mit den Füßen an einer Kette inmitten des Raumes schwingende Kreatur anzusehen, die gerade kleine Kreise zog, denn Leopoldius hatte sie geschlagen. Größere Kreise verhinderte die zweite Kette, die vom Boden aus die Hände hielt.

    "Wonach ich mich sehne, kann ich mich an dem Tag fragen, da ich auf dem Thron sitze, Alexander. Vorher wären es Ideen, die mich in Gefahr bringen. Vater hält Dunwolf und mich allein aufgrund der Tatsache, dass er noch lebt, für zu weich, um lebenswert zu sein. Nach wie vor glaube ich, dass Nicodemus Sohn Nummer vier ist, den er irgendwo versteckt hält. Nun weißt du auch, warum ich mich scheue, nachzufragen, wo Arbogast sich befindet. Ich denke, ich weiß, dass er auf Eis liegt. Denn vier sind einer zu viel."


    Sein Blick hob sich, um Alexander in die Augen zu sehen.


    "Was ich mit meiner Macht schaffen könnte, ist irrelevant, denn ich kann es nicht. Die Kunst der Zerstörung wird in den nächsten Jahren perfektioniert werden müssen, falls mir diese Zeit noch bleibt und ich nich selbst auf Eis enden werde. Natürlich kannst du den Eiskeller betrachten ... er existiert und er ist gut gefüllt."


    Als er blinzelte, wischte er den Glanz seiner Augen mit dem Wimpernschlag fort, als er sich Dunwolfs gefrorenes Gesicht vorstellte. Arbogast interessierte ihn nur mäßig ... doch das Band zu Dunwolf war dicker als zu sonst jemanden ihrer Familie.

    "Ich spreche von der Tradition, das ist richtig. Wer sagt denn, dass wir nicht bemerken, dass wir selbst unser größter Feind sind? Ich sehe diesen Fakt klar vor mir. Aber das heißt nicht, dass ich etwas daran ändern kann. Die Macht eines Prinzen von Hohenfelde ist groß, Alexander. Ein Fingerzeig und ein Teil des Heeres marschiert in den Kampf, wenn das mein Wunsch ist. Ich kleide mich in Samt und Leder, in schwarzen Nerz und in blauen Stahl. Aber in der Ahnreihe meiner Sippe bin ich einer von tausenden, welche diese Tradition zementierten, und vollkommen bedeutungslos.


    Die Frage, wofür wir kämpfen, muss ein jeder meines Blutes sich stellen. Jeder wird sie anders beantworten. Ich kämpfe für den Thron, weil ich ein Hohenfelde bin und weil niemandem sonst dieses Erbe zusteht. Ich will diese Zitadelle regieren und in die Zukunft führen, ich will den Grundstein dafür legen, dass einer meiner Söhne mir eines Tages im hohen Alter ein Ende in Würde bereitet. Ein Sohn, auf den ich stolz sein kann.


    Bevor ich auf dem Thron sitze, werde ich nicht heiraten, keine Söhne zeugen und keine Liebschaften eingehen. Es würde mich vielleicht erpressbar machen, zumindest aber schwächen. Wenn ich unterliegen sollte, will ich allein sterben."


    Seine Hand erwiderte nun die Geste und seine Finger schlossen sich um die Hand von Wittelspitz. Mit dem Daumen streichelte er ihn.


    "Offiziell, meine ich", sagte er leiser und starrte ins Leere. "Ich kann nicht fliehen, Alexander. Mein Platz ist hier."


    "Meinen Erzeuger? Er wird mich nicht für nützlicher erachten, wenn ich mich um die Zukunft des Hauses sorge. Er wird es mir als Schwäche ankreiden, als Weichheit. Der Harte ist sich selbst der Nächste und er denkt erst dann an das große Ganze, wenn er auf dem Thron sitzt. Denn sonst bereite ich damit den Nährboden für die Brut des siegreichen Bruders."


    Leopoldius fasste sich an die Schläfe, das kurze Haar fiel ihm über die Stirn. Man sah, er hatte es zerwühlt.


    "Magische Feuer brennen nur kurz, sie heizen nicht mit Magie. Das ist unmöglich für eine ganze Feste. Sie müssen einen anderen Weg gefunden haben."


    Seine Stimme war vor Neid zerfressen, nichts war neben der alltäglichen Bedrohung durch die Familie in Hohenfelde so allgegenwärtige Not wie die Kälte.


    "Dein Gedanke ist gut, aber ich kann ihn mir nicht leisten, so sehr ich auch finde, dass du im Recht bist. Möchtest du mit Ditzlin sprechen? Mit mir wird er nicht reden ... er verabscheut uns."

    Leopoldius blickte starr vor sich hin, als die warme, fleischige Hand sich sanft auf seine Schulter legte. Eine Berührung, die ihn sich nach einer Massage sehnen ließ. Doch Leopoldius ließ sich äußerlich nicht anmerken, was in ihm vorging, dass er eine Pause benötigte, dass ihn das alles aufzehrte, aber dass eine Pause ihn umbringen würde.


    Er schenkte Wein nach und schob Wittelspitz den kostbaren Kelch hinüber. "Mir geht es gut, ich bin gesund und unverletzt.


    Unsere Nahrungsmittelvorräte machen mir sorgen. Wir haben die Bevölkerung kontrolliert unten gehalten, so dass wir keinen Hunger leiden müssen, doch die Einwohnerzahl von Wigberg und Kaltenburg steigen seit einiger Zeit wieder. Der Tag wird kommen, da sie uns in einem Maß übertreffen, dem wir nicht mehr standhalten können.


    Ich plane Wigbergs Muschelbänke zu vergiften. Wenn es sich als erfolgreich herausstellt, ist das Meer vor Kaltenburg dran. Leider ist Arbogast nicht zu sprechen, ich wollte ihn um Rat fragen, er ist unser bester Giftmischer.


    Und was ist mit dir? Du wirkst erholt. Warum sollten wir Wigberg deiner Meinung nach im Auge behalten?"