Beiträge von Irving von Kaltenburg

    "Fürwahr, Vendelin. Fürwahr."


    Ein tiefer Blick bestätigte das uralte Bündnis. Es hatte geruht, doch war nie eingeschlafen. Wigberg in Souvagne, Kaltenburg in Ledwick - beide nahe der Krone. Nun war es Zeit, die Kräfte zu bündeln. Ledwick, wo ihre Vorfahren einst mit dem letzten Schiff des Lazzaro Fedele auf einer Sandbank aus weißem Sand aufgelaufen waren - es war der geeignete Ort für einen Neuanfang.


    "Ich lasse euch in eure Unterkünfte bringen. Nachdem ihr euch erfrischt und eine Kleinigkeit gespeist habt, wartet der Duca auf euch."

    "Ich verstehe." Natürlich verstand er, es war ja alles abgesprochen. "Dann bleibt mir nur zu sagen: Willkommen zu Hause. Alles Weitere wird seine Majestät mit euch besprechen."


    Den wichtigsten Mann an Bord hatte der gute Alejandro natürlich nicht erwähnt, hinter dessen harmlosem Buchhaltergesicht sich der gefährlichste Spion seiner Zeit verbarg. Vendelin würde fortan in größerer Lebensgefahr schweben, als alle desertierten Soldaten zusammen, denn er kannte die dunkelsten Geheimnisse aller Adelshäuser der almanischen Länder. Jahrzehnte hatte er dafür aufgewendet, sie zusammenzutragen, genau genommen sogar noch länger, denn diese Aufgabe oblag bereits seinem Vater und Großvater. Wahrscheinlich reichte dieser Teil der Familiengeschichte bis in die Tiefen der Vorzeit zurück. Und nicht einmal die Geheimnisse der Krone von Souvagne waren vor ihm verborgen geblieben.


    Irving trat an seinen Verwandten heran, nun lächelnd, wie man es selten sah, und bot ihm die Hand. "Wir haben uns lange nicht gesehen. Es freut mich, dass wir uns wiedersehen, Vendelin, auch wenn der Anlass ein zweischneidiges Schwert ist."

    Verstärkung vom Festland

    An den Gestaden von Monleone stand ein Mann in dunkler Robe. Der Sommerwind fuhr in sein schwarzes Haar, der den salzigen Duft des Meeres mit sich trug. Im Gegensatz zu Irvings üblicher Gewohnheit ließ er sich heute von einer Abordnung der Armada begleiten. Mit Speeren, deren stumpfe Enden sie als Stoßlanzen gegen Zivilisten einsetzten, schufen die Soldaten Platz. Weitere von ihnen sicherten mit kleinen, schnellen Kriegsschiffen den Seeweg in Richtung Festland. Irving erwartete hochkarätige Gäste. Aufmerksam blickte er in Richtung des Streifens am Horizont, wo das Festland grünte.

    Irvings Geist leerte sich, als würde man ein Gefäß ausgießen. All das kaum kontrollierbare Chaos verließ ihn. Er versuchte, magisch seine Umgebung abzutasten, doch es war, als sei er magisch erblindet, ja, als hätte er nie magische Kräfte besessen. Etwas schnitt ihn von einem Teil seiner Wahrnehmung ab, etwas ...


    ... etwas ...


    S t i l l e


    Irving hörte auf zu kämpfen. Angenehme Wärme umfing ihn, drang vom Boden in seine klammen Füße. Nach Dufthölzern riechende warme Luft drang in seine Atemwege. Seine Wangen röteten sich sanft. Die kleinen Fenster der Feste lagen weit oben und der Rest des Raumes eingesenkt in den Boden. Die Feste war nicht nur ein Buckel. Sie kroch tief hinab in den Schoß der Insel. Die Wände waren vollständig gefliest mit Platten aus goldenem Metall, das mit Ätzungen schöne Muster bildete. Und Irving roch den seltenen Duft von echtem Feuer ... nicht von alchemistischem. Die Öfen von Wyrmstein heizten die gesamte Anlage und Irving fragte sich, woher sie das Holz dafür nahmen.


    Ditzlin lächelte, als er mit der Hand über die golden schimmernde Wand strich.


    "Willkommen in Festung Wyrmstein. Dem Ort, an dessen Wänden alle magischen Kräfte sich brechen. Du findest hier die einzige Region auf ganz Asa Karane, die völlig frei von Magie ist und auch nicht gewaltsam magisch durchdrungen werden kann. Komm."


    Irving nickte müde, doch er begriff nicht, warum das so war. Nach dem kurzen Anfall des Schwindels fühlte er sich auf einmal ... frei. Seine Magie war sonst wild, wie eine um sich schlagende Krankheit in seinem Geist - und sie war fort. Es war, als sei diese Krankheit geheilt und das erste Mal in seinem Leben konnte Irving klar denken. Nie hatte er sich so gesund gefühlt, nie so klar. Er war nicht verrückt, seine Magie war es! Irving selbst aber war gesund!


    Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie froh er war, als er Ditzlin tiefer in den Schoß der unterirdischen Feste begleitete.

    Der Wyrmgrund

    Der kurze Moment des Sonnenlichts verging so schnell, wie er gekommen war, doch noch immer rotierten die Wolken um die Stelle, an der sie sich kurz geöffnet hatten. Vorsichtshalber hatte Ditzlin seinen Gefangenen bewusstlos geschlagen, um weiteren magischen Attacken zuvorzukommen. Langsam öffnete Irving die Augen. Tief unter seinen baumelnden Stiefeln zog eine Gebirgskette dahin. Gerade überquerten sie im Flug vier markante Gipfel. Dahinter eröffnete sich überraschend ein weites Tal, das bis zum Meeresufer reichte.


    Und dort lag der Wyrmgrund, der Ort, an dem Wigberg sich niedergelassen hatte. Was er sah, enttäuschte Irving fast. Das Konzept von Stolz schien Wigberg nicht zu kennen, zumindest strahlte ihre Architektur das Gegenteil aus. Die merkwürdig flache und kuppelartige Festung presste sich im Zentrum des Grundes nieder wie eine Schildkröte. Unterwürfig oder lauernd? Es war schwer zu sagen, doch Irving mochte diese Bauwerke nicht. Ob das Haus Wigberg seine wenig repräsentative Burg - den Wyrmstein - nach ihrem Wappentier benannt hatte, oder ob der Wyrm Einzug in ihr Wappen gehalten hatte, weil der Ort Wyrmgrund hieß, war Irving nicht bekannt. Das Anwesen unterschied sich völlig von den Burgen der anderen Häuser.


    Ditzlin ließ seine Taudisschwinge in den Sinkflug übergehen. In langsamen, großen Kreisen senkten sie sich hinab und Irving erkannte weitere Details. Auf schwarzen Bannern wehte der grüne Wyrm, mit einer verlockend roten Rebe in den einzigen beiden Klauen. Verlockend war hier nichts! Flechten und Moos bedeckten das uralte Gestein von Burg und Häusern. Niemand schien sich die Mühe zu machen, es zu entfernen, es machte sogar den Anschein, als würde man sie bewusst kultivieren. Je tiefer sie sanken, umso mehr wurde Irving die tatsächliche Größe der Anlage bewusst. Sie war flach, aber in ihrem Umfang gewaltig. Was die schiere Grundfläche betraf, brauchte der Wyrmstein sich nicht hinter den Anwesen anderer großer Häuser zu verstecken.


    Ein letztes Mal hob Irving den Blick, um die Weite zu genießen, bevor man ihn zweifelsohne erneut einsperren würde. Hinter der mächtigen Panzerkuppe mit ihren schrägen Wänden und dreieckigen Fenstern rauschte die graue, trostlose See. Eine Hafenanlage mit großen Schiffen ließ erahnen, dass Wigberg keineswegs nur Fischfang betrieb. Das Meer ... wie wunderschön. Irving fragte sich, welches der Schiffe Thabit gehörte, den er sich für seine Trophäensammlung auserkoren hatte. Er wusste, dass Thabit zur See fuhr.


    Landwirtschaft konnte Irving keine entdecken, da Wigbergs Boden völlig unfruchtbar war, wie man sagte, schon früh magisch vollständig ausgebrannt. Doch es gab wohl einiges an Bergbau und verarbeitender Industrie, zumindest qualmte und stank es. Noch nie hatte Irving von einer abstoßenderen Festung gehört, sie erinnerte ihn an ein Furunkel und der gesamte Wyrmgrund an eine Krankheit, die Asa Karane befallen hatte, und sich hartnäckig festsetzte und langsam in alle Richtungen kroch.


    Der Schutz zu Land wirkte, von der Festung selbst abgesehen, lächerlich. Eine schmächtige Wallanlage zog sich als dünner Ring mit dem Wyrmgrund als Zentrum um die umliegenden Häuser. Es schien, sie sei nur dazu gemacht, Tieren und die Wesenheiten der Wildnis den Zutritt zu verwehren, als einen menschlichen Angriff abzuhalten. Ein so kleiner Wall vermochte keine Truppen eines anderen Hauses aufzuhalten. Die Verteidigung von Wigberg musste anders gestaltet sein ... doch wie? Irving hielt Ausschau nach weiteren Wehranlagen, fand aber nur den überdachten Wehrgang und einige kleine Türme. Wigberg hätte nicht bis heute überlebt, wenn das alles war, was sie zu bieten hatten. Dieses Mäuerchen war fast schon Hohn, eine Herausforderung, es doch zu versuchen. Die wahre Verteidigung musste für das Auge unsichtbar sein ...


    Wenig später hatte Festung Wyrmstein den Sohn von Kaltenburg verschluckt.

    Irving sah Horatio nach. In seinem Blick lagen Neid, weil er nicht ins Landesinnere gehen konnte, Hoffnung, dass die Pflanzung der Koralle nicht nur Symbol bliebe, sondern tatsächlich etwas bewirken würde und Trauer, weil er Amias im Rahmen dieses Konzils verloren hatte. Amias, der über Jahrhunderte sein treuer Sklave und unterhaltsamer Freund gewesen war und nicht zuletzt ein Relikt aus seiner Heimat Asa Karane. Die letzte Verbindung zu der Welt, nach deren Werten Irving und Thabit lebten. Allein kehrte er in den biomechanischen Leib seines Mannes zurück.


    'Kurs auf Monleone', bat er. 'Man erwartet uns.'

    Irving stieg als Erster aus. Doch würde er nicht weit ins Landesinnere gehen. So sehr ihn die Neugier auch reizte, es war ihm nicht vergönnt. Der Ozean war Thabits Reich und sein Gefängnis und mit ihm gemeinsam saß auch Irving dort für immer ein. Der Dhunico war ihr unangefochtenes Territorium, doch er war wörtlich alles für sie, denn alles andere war ihnen verwehrt.


    "Wir sind in Souvagne", verkündete er. "Horatio, von hier an seid Ihr auf Euch allein gestellt. Hier endet unsere Herrschaft und die Eure beginnt. Es war angenehm, mit Euch zu sprechen und einen Teil der Reise gemeinsam zu bestreiten."

    Irving grinste vor Genuss und rieb seinen Hintern auf der Sitzfläche im Kreis, während er zusammen mit Thabit den Geschmack der Seele kostete. Mit leisem Stöhnen kaute er auf seiner Unterlippe und schloss die Augen. Wenige Augenblicke später war der Mann, der im Ozean trieb, nur noch eine leere Hülle, von der nicht einmal ein Geist in den Nexus steigen würde. Noch toter konnte ein Mensch nicht sein. Für Thabit und Irving aber bedeutete Tod Leben.


    'Wir akzeptieren das Opfer. Allerdings sollte es keine einmalige Angelegenheit bleiben, bedenkt dies und haltet die alten Bräuche hoch, dann werden eure Schiffe sicher über den Dhunico gleiten. Nun hört, dass wir eine Lieferung des Ältesten Horatio von Schwarzfels für den Duc de Souvagne haben und das Ihr uns auf den Nerv geht, Magier.'

    'Einen kleinen Moment noch, Thabit', kommunizierte Irving liebevoll. Dann schickte er eine Botschaft, die das Gefühl all seiner Arroganz und jahrhundertealter Bosheit an den Magier vermittelte.


    'Der Gott aller Ozeane, Thabit Argentocoxos Davy Tod-aus-den-Tiefen von Wigberg, verlangt nichts geringeres als einen Jüngling, der mit durchgeschnittener Kehle zum Sterben in den Dhunico geworfen wird! Im Optimalfall ist es ein schöner Jüngling, wenn Thabit besonders gewogen sein soll.'


    Hässliche Jünglinge waren schließlich entbehrlich, aber einen schönen Knaben zu opfern, tat jeder zivilisierten Nation weh. Es war der Vergleich zwischen einem Geschenk, dass in Butterbrotpapier und einem, das in Seide eingeschlagen überreicht wurde.

    Eine Furche entstand zwischen Irvings schwarzen Brauen. Dass der Souvagner behauptete, die See würde in diesem Abschnitt ihnen gehören, fand er ausgesprochen anmaßend. Der Herr der See war Thabit Argentocoxos und niemand sonst.


    'Souvagner, ich frage EUCH, wer seid IHR und warum hat Thabit Argentocoxos noch keine Opfergaben noch Gebete von eurem Land empfangen? Der Dhunico ist mitnichten Teil von Souvagne, keinen Fingerbreit! Dies ist nicht die Azursee. Noch haben wir diese Nachlässigkeit geduldet, doch langsam wird es an der Zeit, Thabit den nötigen Respekt zu erweisen, wenn ihr wollt, dass diese Mauer bestehen bleibt und dass eure Schiffe künftig heil den Seewegen folgen!'

    Die Ankunft der Kronenkorallen in Souvagne

    Irving lehnte mit geschlossenen Augen in dem weichen Sitz, der das Herzstück der Kommandozentrale von Argentocoxos bildete. Die Oberfläche fühlte sich an wie Haut, doch bestand nicht aus Leder - sie lebte. Die Wärme, die Irving durch den leichten roten Stoffmantel spürte, war nicht sein eigener Körper, der die Lehne erwärmt hatte, sondern war die Eigenwärme des Lebenden Schiffes. Der Sitz war in Wahrheit ein Sinnesorgan, das mit unzähligen Sensoren den Willen der Person wahrnahm, die in ihm thronte. Von dort aus wurden die Informationen weitergeleitet und ohne weitere Zwischeninstanz in Handlungsbefehle umgewandelt. Die Kontrolle, die Capitano Irving über das Schiff hatte, war absolut, wenn dessen Seele nicht gegenwirkte, doch warum sollte sie das tun? Sie beide wussten, was der andere dachte und empfand. Weder konnte einer ohne den anderen überleben noch wollten sie es. Schiff und Kapitän waren in untrennbarer Symbiose verbunden, sie waren eins.


    Und so spürte Irving, wie das Wasser, dass den Körper des Biomechanoiden umspülte, wärmer wurde, als sie sich der Küste näherten - und beide waren zeitgleich verwundert, als sie eine Mauer inmitten des Ozeans fühlten. Es war ihnen unmöglich, einen der Hochseehäfen anzusteuern. Irving öffnete die Augen. Wie gelangten souvagnische Schiffe hinein? Vermutlich würden sie gleich magisch kontaktiert werden. Er wartete aufmerksam.

    Die Umstehenden sahen es meist, wenn Thabit mit seinem Mann sprach. Diesmal herrschte kein Zweifel daran. Das Gesicht des Augurs verzog sich vor Liebe und Verzweiflung.


    'Für immer, Thabit', wiederholte er und sehnte sich zurück in seine Schaltzentrale, seinen Sessel und Thron, der zugleich das Ehebett für ihn und den Biomechanoiden war. Er benötigte eine Weile, um sich wieder zu sammeln, ehe er antworten konnte.


    "Im Namen von Thabit von Wigberg und im Namen von Kaltenburg verkünde ich, dass wir diesem Bund beitreten. Amias, ich erteile dir das Wort. Vendelin und Wolfram, sprecht für eure Zweige der Familie."

    Einige in der Runde schauten betreten, als Amias, Davard und Horatio das Problem auf den Punkt brachten. Sie waren festgefahren in ihren Denkweisen, bisweilen sogar gefangen. Es würde nicht einfach werden, einen neuen Weg zu beschreiten, selbst dann nicht, wenn der aufrichtige Wille dazu bestand.


    Irving schloss die Augen und schmiegte seine Seele an die von Thabit. Sein Mann wusste, dass Irving nicht gezögert hätte, eine Hohenfelde, ob unschuldig oder nicht, zu richten und dass seine Worte sehr viel umsichtiger gewählt waren als seine Gedanken. Auch Thabit konnte nach all den Jahren des Hasses auf die Familie, welche die seine ermordet hatte, nicht einfach aus seiner Haut.


    'Sag du zuerst Ja', bat er. 'Sonst kann ich es nicht. Ich weiß, wie wichtig dieses Bündnis ist, aber mein Hass ist wie ein eiternder Dorn in meiner Seele.'

    "Ich halte mich mit einer Einschätzung zu eurem Plan zurück, denn ich weiß zu wenig über Aurora. Warum soll sie auf einmal sterben, wenn sie seit Jahrhunderten existiert, egal in welchem Zustand? Um sie würde ich mir überhaupt keine Gedanken machen, es leiden viele, man kann nicht jeden erlösen. Dunwolf und Mabel halte ich für entscheidender. Zuerst muss Dunwolf fallen, da er gewarnt ist, wenn seiner Tochter etwas zustößt. Er ist die größere Gefahr. Sie kommt danach."

    "Man könnte es auch so sehen, dass die Beißer das Erbe von Caltharnae und Asa Karane bewahren. Menschenfleisch zu konsumieren ist ein Ritual, keine Perversion. Die Menschen sind es, die eine Perversion daraus gemacht haben! Was ist verwerflich daran, die Hoden und das Herz eines würdigen Gegners zu verspeisen, anstatt ihn zum Verrotten auf dem Schlachtfeld liegen zu lassen? Ersteres ist eine Würdigung, zweiteres eine Vergeudung. Oder meint ihr, ich hätte die Hoden meiner Ruspanti einfach in den Abfall geworfen?


    Perversion ist, wenn man das Fleisch gedankenlos und gierig in sich hineinschlingt und der Herkunft keine Bedeutung beimisst. Es ist der Unterschied vom Genießen eines guten Glases Wein und einem hirnlosen Säufer. Der Zirkel der Menschenfresser muss nach der Vernichtung von Marbel auch dahingehend umstrukturiert werden, es muss eine moralische Erziehung stattfinden, dann tut man mit dem Erhalt des Zirkels sogar ein gutes Werk.


    Schwache Mitglieder auszuselektieren ist ebenso eine Vergeudung, denn was ist Schwäche? Wie Nicodemus sagt, jeder hat seine Stärken anderswo, Spezialisierung ist der Schlüssel."

    Irving, der gerade registriert hatte, dass Amias sich bei Horatio einhenkelte, als sei dieser ein alter Freund, drehte den Kopf und musterte Davard nun von der Seite.


    "Das ist die große Frage, Davard. Die Hohenfeldes haben im Moment keinen Sprecher, jeder scheint sein eigenes Süppchen zu kochen und das betrifft auch Dunwolf. Was hält deine Familie von ihrem Ältesten? Ehren sie ihn? Oder wünschen sie, dass er über kurz oder lang abgesetzt wird?"

    "Korrekt", stimmte Irving zu. "Dies hier ist keine Sitzung in einem Plenarsaal oder dem Konferenzraum eines Handelsunternehmens. Das hier ist ein Familientreffen. Inzwischen sind wir alle, ohne dass wir uns dazu aufgefordert haben, instinktiv vom Euch zum Du übergegangen. Das nehme ich als ein gutes Zeichen. Wir sind eine Familie, Dalibor. Ich weiß, warum du geblieben bist. Du hast an Marthis gedacht.


    Du vermisst deinen großen Bruder, der vor kaum mehr als einem Jahr für immer von dieser Welt verschwunden ist, so wie kurz zuvor auch Veyd. Dein Herz schwankt zwischen dem Wunsch nach Vergeltung und dem Wunsch, dass so etwas nie wieder geschieht. Denn deine Lieben sind dir lieb und teuer, auch wenn ein Eibenberg das anders zeigt als ein Wigberg."

    Irving lächelte.


    "Ich rede von meinem zierlichen, liebenswürdigen Ruspante Amias. Er saugt Essenzen wie ein Lich. Jedoch fehlt ihm die Gabe, sie so zielgerichtet einzusetzen wie andere, er beherrscht nur die Zauber der Ruspanti und was er zuvor schon erlernte, sich von fremder Magie zu nähren. Seine Magie ist passiv ausgerichtet. Der Mann ist so alt wie ich, mir dem Unterschied, dass er kein einziges Mal gestorben ist. Jedoch ist er nicht in der Lage, seine Gestalt zu wechseln, wie ein Ältester das kann. Dafür ist er mit ewiger Schönheit und Jugend gesegnet."


    Ob jemand außer ihn einen pickligen, mageren Eunuchen als schön bezeichnen würde, war Irving gleichgültig, er hatte sein eigenes Ideal.


    "Amias ginge sicher als Magier des fünften Grades durch nach den heutigen Maßstäben, auch wenn er nicht in das moderne Schema passt. Auf Asa Karane aber wäre er unter den Hexenmeistern Durchschnitt gewesen."


    Er nickte in Richtung der Ruine.


    "Dal steht noch immer dort, allein, und starrt in die leere Schale."

    "Ich habe meine Gabe verloren, als Thabit und ich den unsterblichen Bund eingingen. Aber es ist eine neue Gabe hinzugekommen." Er tippte an seine Schläfe. "Ich sehe mit tausend Augen und höre mit tausend Ohren. Gleichzeitig. Nein, ich bin kein Essenzmagier im alten Sinne mehr, meine Kunst geht am ehesten in Richtung Geistmagie. Lebensessenz absaugen und nutzen kann ich nicht."


    Der Finger schwenkte herum und richtete sich auf Amias, der gerade zu Horatio schlenderte und sich neben ihm niederließ.


    "Aber er. Er beherrscht die Essenzmagie wie damals. Wenn ich mich nicht täusche, ist er der einzige noch lebende Essenzmagier aus alter Zeit, der kein Ältester ist. Es ist nicht Thabit, der ihn am Leben hält. Das schafft er ganz allein. Mit modernen Begriffen ginge er wohl am ehesten als Lich durch, nur dass er mit Totenbeschwörung nie etwas zu tun hatte."


    Irving hörte auf, auf Amias zu zeigen und widmete seine Aufmerksamkeit wieder ganz Davard.


    "Prince Ciel und der Duca stehen sehr gut mit Linhard. Aber etwas hält ihn davon ab, sich ganz auf Tazio einzulassen, vermutlich schlichtweg dessen weltliche Macht. Mit Ciel aber steht er auf sehr gutem Fuß."

    Irving lächelte nun und machte eine Geste mit den Fingern, als würde er ein delikates Gericht loben.


    "Alexandre de la Grange ist ein sehr stolzer Mann. Ihm ging es gegen den Strich, dass der Duc ihn zwang, ausgerechnet einen Nekromanten zurück ins Leben zu rufen. Also hat er eine kleine Sollbruchstelle eingebaut - wer wöllte ihm das nachweisen? - und hat ganz nebenbei eine uralte Praktik neu entdeckt. Der Mann ist sehr gut.


    Er hat Brandurs Seele halbherzig verankert und ganz ähnlich wie bei einem Vampir hat Brandur einen Riss in der Seele, aus dem seine Essenz heraussickert. Noch hat Alexandre nicht herausgefunden, wie er sie sich nutzbar machen kann oder scheut davor zuück, da er zurecht ahnt, dass dies in Richtung der von ihm so verhassten Nekromantie geht. Aber du verstehst, worauf ich hinaus will. Mit Bluthexerei hat er einen Schadenszauber gewirkt. Er hat das Bindeglied zwischen Bluthexerei und Nekromantie wieder entdeckt - die Essenzmagie. Ich bin gespannt, was er erst kann, nachdem er Unterricht bei Nicodemus genommen hat.


    Eine Bitte habe ich. Auch wenn Alexandre einem Hohenfelde schadet, so vergiss dabei nicht, dass er ihn überhaupt erst ins Leben zurückrief. Alexander ist über Amias Teil von uns. Wie auch immer du das Problem zu lösen gedenkst, der Marquis darf dabei keinen Schaden nehmen."