Noel
Souvagne, Jahr 177 nach der Asche. Lehen la Grange.
Im Jahr 177 nach der Asche erblickte im Osten des almanischen Großherzogtums Souvagne, in den Ausläufern der Wüste Sundhi, ein Junge das Licht der Welt. Sein Haar war so hellbraun wie die trockene Erde, die großen und fast mädchenhaften Augen so grün wie das harte Gras seiner Heimat. Noel Blanchet sollte er in den ersten Jahren seines Lebens heißen. Das Meer lag nur eine Tagesreise von seinem Heimatort entfernt, doch wuchsen trotz der Nähe des Wassers nur wenige Pflanzen, welche dem Salz trotzen konnten. Niederschläge gab es selten in dieser Halbwüstenregion und wenn, dann fielen sie als Schnee im Winter. Die Vegetation war zähblättrig und strauchig. Die braungelbe, sandige Erde lag zwischen den Teppichen stacheligen Grases blank und der Wind schob sie vor sich her. Wo sie von Pflanzen gehalten wurde, sammelte sie sich und türmte sich zu Hügeln auf. Die Sundhi war nur während der Sommermonate heiß, im Winter herrschte ganztägiger Frost. Im Frühling und Herbst jedoch erwachte die Halbwüste zum Leben. Der Sanddorn erblühte, die Grasteppiche wurden weit und saftig. Die Viehzucht lohnte sich unter den wechselhaften Bedingungen allerdings kaum für die sesshaften Souvagner, dafür gab es in Almanien geeignetere Regionen, denn während der langen Trockenperioden war die Ernährung der Tiere mühsam. Dafür war die Jagd mit Windhunden vielversprechend zu jenen Monaten, in denen die Wildpferde und Antilopen sich am frischen Gras labten, um weiterzuziehen, sobald es erneut verdorrte. Ganze Karawanen trugen ihre zerlegten Leiber in die Stadt hinein, damit das Volk in der kommenden Zeit gut versorgt war. Der Rest des Bedarfs wurde dem Meer abgerungen oder importiert. Das Lehen gehörte aufgrund seiner Kargheit zu den ärmsten Regionen Souvagnes, war nur dünn besiedelt und stellte somit einen guten Standort für das geheime Kinderheim des Stählernen Lotos dar.
Noel sah durch das Fenster die Karawane der Jäger auf ihren hochbeinigen Pferden im Morgennebel verschwinden, begleitet von einer Meute Windhunde. Die einzige große Stadt des Lehens war La Grange, in deren Randbezirk das Heim lag. Offiziell war es ein normales Kinderheim, inoffiziell nahm es jedoch keine Kinder von außerhalb auf, angeblich wegen ausgeschöpfter Kapazitäten. Versuchte jemand ihnen ein fremdes Kind aufzudrücken, und ließ nicht locker, wurde dieses angenommen und dann sofort in ein anderes Heim gebracht, ohne je die Schwelle des Ordensheimes übertreten zu haben. Den Schützlingen des Stählernen Lotos mangelte es hier an nichts, denn dem Orden standen genügend finanzielle Mittel zur Verfügung. Auch waren die Kinder keine Waisen, sondern wurden hier abgegeben, damit sie bestmöglich auf ihr späteres Leben als stählerner Lotos vorbereitet werden konnten.
Noel wurde manchmal von seinen Eltern Yann Vandeau und Myriam Blanchet besucht, die freundlich zu ihm wahren. Doch herrschte eine gewisse Distanz und sie blieben nur selten länger bei ihm. Meist schauten sie nur, ob es ihrem Sohn gut ging, fragten ihn, was er so mache und gingen wieder. Sie kamen stets allein zu Besuch, denn sie waren weder verheiratet noch ein Paar. Noel freute sich zu ihren Besuchszeiten vor allem auf die Süßigkeiten, die sie mitbrachten. Wenn seine Mutter ihn umarmen wollte, entwand er sich und ging spielen.
Die Halbwüstenlandschaft war der Spielplatz der Kinder zu jenen Zeiten, in denen sie unter freiem Himmel spielen durften. Man ließ sie völlig allein herumstromern, denn sie sollten früh lernen, ohne Hilfe und ohne Gesellschaft zurechtzukommen. Menschen, die den Kindern gefährlich werden konnten, gab es in dieser entlegenen Gegend nicht. Nur selten geschah es, dass man eines von ihnen in suchen musste, das sich verirrt hatte. Das Haar vom Ostwind zerzaust erkundete Noel am liebsten einen besonders windigen Bereich, wo sich ein Labyrinth aus sandig-weichen Senken zwischen den von vergilbtem Gras bewachsenen Dünen gebildet hatte. Dort spielte er in Gesellschaft von Schlangen, Skorpionen und Spinnen, vergrub Schätze aus Knochen und Steinen und merkte sich jedes Einzelne seiner Verstecke. Er kontrollierte sie regelmäßig, denn irgendetwas musste er tun, wenn er allein da draußen spielte. Sich selbst zu genügen, hatte er von Anfang an lernen müssen, indem man ihn nur ohne seine Spielgefährten hinausgehen ließ.
War er im Heim, lernte Noel Arbeiten, die sonst weibliche Bedienstete ausübten, wie Wäsche waschen, kochen, putzen und sich um die jüngeren Kinder kümmern. Er konnte Schuhe flicken und Möbel reparieren, beherrschte das Nähen, Stricken und Häkeln und wusste, wie man ein Kleinkind versorgt. Nichts davon konnte er sonderlich gut, dafür beherrschte er von allem die Grundlagen. Man bereitete ihn darauf vor, völlig ohne Diener, Knechte und Mägde zurechtzukommen. Ihn erwarteten, abgesehen von der Hausarbeit, viele geleitete Spiele, die eine Pflichtveranstaltung waren. Damals wusste er noch nicht, dass auch sie bereits Bestandteil seiner Ausbildung waren.
Theaterstücke einzustudieren und Rollenspiele zu improvisieren war Alltag. Neben Puppen und Marionetten nannte jedes Kind einen umfangreichen Verkleidungskoffer mit unterschiedlichen Kostümen sein Eigen. Auch Perücken und Schminke gehörten dazu, so dass sie sich gegenseitig oder allein verkleiden konnten. Im Gegensatz zu anderen Haushalten durften die Jungen des Stählernen Lotos mit Puppen spielen, sie wurden sogar dazu ermutigt. Sie sollten sich Märchen um diese Figuren ausdenken, um sie zum Leben zu erwecken. Die Kinder für Tagträumereien zu rügen, kam hier niemandem in den Sinn.
Und in einer weiteren Besonderheit unterschied sich die Erziehung der Ordenskinder in der von anderen Kindern. Lügen wurde nicht bestraft, sondern durch reichhaltige Verlockungen herausgefordert. Man sorgte dafür, dass es sich lohnte, wenn man die Kinder nicht erwischte. Mit dem Lügen aufzuhören kam ihm nicht in den Sinn, denn er erlebte, dass jeder in diesem Heim den anderen andauernd belog. Die Ammen logen genau so wie die Erzieher. Es schien, als taten sie es absichtlich in einer Weise, dass die Kinder herausfinden konnten, ob jemand ihnen eine Unwahrheit auftischte. Es gehörte zum Alltag dazu, Lügengeschichten zum Besten zu geben und wenn Noel von der Klapperschlange erzählte, mit der er sich in der Sundhi angefreundet hatte, tat sein Erzieher so, als würde er es glauben - nicht wissend, dass der Junge unter dem Geräteschuppen tatsächlich eine Klapperschlange hielt, die er mit selbst gefangenen Mäusen fütterte. Und nicht ahnend, dass Noel die Geschichte bewusst so erzählte, dass sie wie erfunden klang, damit man ihm sein Haustier nicht erschlug.
Mit sechs Jahren wurde jedes Kind des Heimes von einem Mitglied des Ordens adoptiert, das war etwas, worauf Noel sich freute. Er würde reiten und kämpfen lernen. Die Hausarbeiten und die Schauspielerei langweilten ihn immer mehr, je älter er wurde und er sehnte sich nach Spielen, die wilder waren und gefährlicher. Neben der Klapperschlange unter dem Geräteschuppen hielt Noel verschiedene Giftspinnen und Skorpione in hölzernen Dosen, die er unter seinem Bett versteckte, bis sie starben. Nur seine Klapperschlange, die nach wie vor frei wohnte, überlebte seine Fürsorge.
So vertrieb er sich seine Freizeit bis zu dem Tag, an dem er seinen Mentor kennenlernen würde. Man sagte Noel, er würde bei dem Mann, der ihn einst adoptierte, Dinge lernen, mit denen er später sehr viel Geld verdienen konnte, ohne dass man ihm offenbarte, welche dies sein würden. Noel wollte von seinem Geld eine Meute der braunen, stehohrigen Windhunde kaufen und mit ihnen in der Sundhi jagen gehen. Er wusste damals noch nicht, dass diese edlen Geschöpfe dem Adel vorbehalten waren, genau wie die Hochwildjagd und dass er in seinem Leben nie auch nur einen einzigen Windhund besitzen würde.