Baxis NaNo-Texte 2018

  • Noel
    Souvagne, Jahr 177 nach der Asche. Lehen la Grange.


    Im Jahr 177 nach der Asche erblickte im Osten des almanischen Großherzogtums Souvagne, in den Ausläufern der Wüste Sundhi, ein Junge das Licht der Welt. Sein Haar war so hellbraun wie die trockene Erde, die großen und fast mädchenhaften Augen so grün wie das harte Gras seiner Heimat. Noel Blanchet sollte er in den ersten Jahren seines Lebens heißen. Das Meer lag nur eine Tagesreise von seinem Heimatort entfernt, doch wuchsen trotz der Nähe des Wassers nur wenige Pflanzen, welche dem Salz trotzen konnten. Niederschläge gab es selten in dieser Halbwüstenregion und wenn, dann fielen sie als Schnee im Winter. Die Vegetation war zähblättrig und strauchig. Die braungelbe, sandige Erde lag zwischen den Teppichen stacheligen Grases blank und der Wind schob sie vor sich her. Wo sie von Pflanzen gehalten wurde, sammelte sie sich und türmte sich zu Hügeln auf. Die Sundhi war nur während der Sommermonate heiß, im Winter herrschte ganztägiger Frost. Im Frühling und Herbst jedoch erwachte die Halbwüste zum Leben. Der Sanddorn erblühte, die Grasteppiche wurden weit und saftig. Die Viehzucht lohnte sich unter den wechselhaften Bedingungen allerdings kaum für die sesshaften Souvagner, dafür gab es in Almanien geeignetere Regionen, denn während der langen Trockenperioden war die Ernährung der Tiere mühsam. Dafür war die Jagd mit Windhunden vielversprechend zu jenen Monaten, in denen die Wildpferde und Antilopen sich am frischen Gras labten, um weiterzuziehen, sobald es erneut verdorrte. Ganze Karawanen trugen ihre zerlegten Leiber in die Stadt hinein, damit das Volk in der kommenden Zeit gut versorgt war. Der Rest des Bedarfs wurde dem Meer abgerungen oder importiert. Das Lehen gehörte aufgrund seiner Kargheit zu den ärmsten Regionen Souvagnes, war nur dünn besiedelt und stellte somit einen guten Standort für das geheime Kinderheim des Stählernen Lotos dar.


    Noel sah durch das Fenster die Karawane der Jäger auf ihren hochbeinigen Pferden im Morgennebel verschwinden, begleitet von einer Meute Windhunde. Die einzige große Stadt des Lehens war La Grange, in deren Randbezirk das Heim lag. Offiziell war es ein normales Kinderheim, inoffiziell nahm es jedoch keine Kinder von außerhalb auf, angeblich wegen ausgeschöpfter Kapazitäten. Versuchte jemand ihnen ein fremdes Kind aufzudrücken, und ließ nicht locker, wurde dieses angenommen und dann sofort in ein anderes Heim gebracht, ohne je die Schwelle des Ordensheimes übertreten zu haben. Den Schützlingen des Stählernen Lotos mangelte es hier an nichts, denn dem Orden standen genügend finanzielle Mittel zur Verfügung. Auch waren die Kinder keine Waisen, sondern wurden hier abgegeben, damit sie bestmöglich auf ihr späteres Leben als stählerner Lotos vorbereitet werden konnten.
    Noel wurde manchmal von seinen Eltern Yann Vandeau und Myriam Blanchet besucht, die freundlich zu ihm wahren. Doch herrschte eine gewisse Distanz und sie blieben nur selten länger bei ihm. Meist schauten sie nur, ob es ihrem Sohn gut ging, fragten ihn, was er so mache und gingen wieder. Sie kamen stets allein zu Besuch, denn sie waren weder verheiratet noch ein Paar. Noel freute sich zu ihren Besuchszeiten vor allem auf die Süßigkeiten, die sie mitbrachten. Wenn seine Mutter ihn umarmen wollte, entwand er sich und ging spielen.


    Die Halbwüstenlandschaft war der Spielplatz der Kinder zu jenen Zeiten, in denen sie unter freiem Himmel spielen durften. Man ließ sie völlig allein herumstromern, denn sie sollten früh lernen, ohne Hilfe und ohne Gesellschaft zurechtzukommen. Menschen, die den Kindern gefährlich werden konnten, gab es in dieser entlegenen Gegend nicht. Nur selten geschah es, dass man eines von ihnen in suchen musste, das sich verirrt hatte. Das Haar vom Ostwind zerzaust erkundete Noel am liebsten einen besonders windigen Bereich, wo sich ein Labyrinth aus sandig-weichen Senken zwischen den von vergilbtem Gras bewachsenen Dünen gebildet hatte. Dort spielte er in Gesellschaft von Schlangen, Skorpionen und Spinnen, vergrub Schätze aus Knochen und Steinen und merkte sich jedes Einzelne seiner Verstecke. Er kontrollierte sie regelmäßig, denn irgendetwas musste er tun, wenn er allein da draußen spielte. Sich selbst zu genügen, hatte er von Anfang an lernen müssen, indem man ihn nur ohne seine Spielgefährten hinausgehen ließ.
    War er im Heim, lernte Noel Arbeiten, die sonst weibliche Bedienstete ausübten, wie Wäsche waschen, kochen, putzen und sich um die jüngeren Kinder kümmern. Er konnte Schuhe flicken und Möbel reparieren, beherrschte das Nähen, Stricken und Häkeln und wusste, wie man ein Kleinkind versorgt. Nichts davon konnte er sonderlich gut, dafür beherrschte er von allem die Grundlagen. Man bereitete ihn darauf vor, völlig ohne Diener, Knechte und Mägde zurechtzukommen. Ihn erwarteten, abgesehen von der Hausarbeit, viele geleitete Spiele, die eine Pflichtveranstaltung waren. Damals wusste er noch nicht, dass auch sie bereits Bestandteil seiner Ausbildung waren.
    Theaterstücke einzustudieren und Rollenspiele zu improvisieren war Alltag. Neben Puppen und Marionetten nannte jedes Kind einen umfangreichen Verkleidungskoffer mit unterschiedlichen Kostümen sein Eigen. Auch Perücken und Schminke gehörten dazu, so dass sie sich gegenseitig oder allein verkleiden konnten. Im Gegensatz zu anderen Haushalten durften die Jungen des Stählernen Lotos mit Puppen spielen, sie wurden sogar dazu ermutigt. Sie sollten sich Märchen um diese Figuren ausdenken, um sie zum Leben zu erwecken. Die Kinder für Tagträumereien zu rügen, kam hier niemandem in den Sinn.


    Und in einer weiteren Besonderheit unterschied sich die Erziehung der Ordenskinder in der von anderen Kindern. Lügen wurde nicht bestraft, sondern durch reichhaltige Verlockungen herausgefordert. Man sorgte dafür, dass es sich lohnte, wenn man die Kinder nicht erwischte. Mit dem Lügen aufzuhören kam ihm nicht in den Sinn, denn er erlebte, dass jeder in diesem Heim den anderen andauernd belog. Die Ammen logen genau so wie die Erzieher. Es schien, als taten sie es absichtlich in einer Weise, dass die Kinder herausfinden konnten, ob jemand ihnen eine Unwahrheit auftischte. Es gehörte zum Alltag dazu, Lügengeschichten zum Besten zu geben und wenn Noel von der Klapperschlange erzählte, mit der er sich in der Sundhi angefreundet hatte, tat sein Erzieher so, als würde er es glauben - nicht wissend, dass der Junge unter dem Geräteschuppen tatsächlich eine Klapperschlange hielt, die er mit selbst gefangenen Mäusen fütterte. Und nicht ahnend, dass Noel die Geschichte bewusst so erzählte, dass sie wie erfunden klang, damit man ihm sein Haustier nicht erschlug.


    Mit sechs Jahren wurde jedes Kind des Heimes von einem Mitglied des Ordens adoptiert, das war etwas, worauf Noel sich freute. Er würde reiten und kämpfen lernen. Die Hausarbeiten und die Schauspielerei langweilten ihn immer mehr, je älter er wurde und er sehnte sich nach Spielen, die wilder waren und gefährlicher. Neben der Klapperschlange unter dem Geräteschuppen hielt Noel verschiedene Giftspinnen und Skorpione in hölzernen Dosen, die er unter seinem Bett versteckte, bis sie starben. Nur seine Klapperschlange, die nach wie vor frei wohnte, überlebte seine Fürsorge.


    So vertrieb er sich seine Freizeit bis zu dem Tag, an dem er seinen Mentor kennenlernen würde. Man sagte Noel, er würde bei dem Mann, der ihn einst adoptierte, Dinge lernen, mit denen er später sehr viel Geld verdienen konnte, ohne dass man ihm offenbarte, welche dies sein würden. Noel wollte von seinem Geld eine Meute der braunen, stehohrigen Windhunde kaufen und mit ihnen in der Sundhi jagen gehen. Er wusste damals noch nicht, dass diese edlen Geschöpfe dem Adel vorbehalten waren, genau wie die Hochwildjagd und dass er in seinem Leben nie auch nur einen einzigen Windhund besitzen würde.

  • Der Mentor
    Souvagne, Jahr 183 nach der Asche. Lehen la Grange.


    An seinem sechsten Geburtstag bekam Noel einen seiner sehnlichsten Wünsche erfüllt. Er hatte die Nacht kaum schlafen können und sich in Vorfreude in seinem Bettzeug hin und her gewälzt. Als endlich die ersten Sonnenstrahlen durch die Luftschlitze der hölzernen Fensterläden fielen, stand er auf, wusch sich und zog sich an. Als sein Erzieher in wecken wollte, war Noel bereits fertig angezogen. Im Speiseraum gab es ein großes Geburtstagsfrühstück mit frischem Brot, gekochten Eiern, einer großen Schüssel Weintrauben und exotischen Früchten, die es auf keinem Markt zu kaufen gab. Das beste war die große Schokoladentorte, denn Schokolade war ein Luxus, den sich sonst nur Adlige leisten konnten. Als Noel durch die Tür trat, sangen die Kinder im Chor. Ihr Gesang wurde untermalt von den Musikinstrumenten der Erzieher und Ammen, von denen jeder mehrere Instrumente beherrschte. Danach wurde zusammen gegessen und jedes Kind erhielt einen Sahnekakao. Es war nicht nur eine Geburtstagsfeier, sondern auch ein Abschied. Es flossen keine Tränen, es wurde gescherzt und gelacht, denn alle wussten, dass sie sich wieder sehen würden.


    Timothée Mauchelin wartete bereits im Arbeitszimmer des Heimleiters. Noel war die Treppe hinaufgerannt, weil er es nicht mehr aushalten konnte, den Mann zu sehen, bei dem er fortan wohnen würde. Bei dem er reiten und kämpfen lernte. Er stellte ihn sich vor als einen edlen Recken, so wie die Chevaliers, die durch den Morgennebel auf die Jagd ritten in ihren schicken Jagdröcken. Als Noel in den Raum stürmte, saß sein Mentor auf einem Stuhl und wartete auf ihn. Der Heimleiter Valentin Rignon erhob sich hinter seinem Schreibtisch.


    »Ich lasse euch beide allein, damit ihr euch in Ruhe kennenlernen könnt. Wenn alles passt, setzen wir nachher den Ausbildungsvertrag auf und die Adoptionsurkunde.« Er nickte beiden freundlich zu und verließ das Arbeitszimmer.


    Noel schaute sich seinen Mentor an - und war enttäuscht. Hätte er ihn auf der Straße getroffen, wäre er vermutlich an ihm vorbeigegangen, ohne ihn eines zweiten Blickes zu würdigen. Der Mann war etwa 30 Jahre alt, sein Haar unter einem Hut verborgen. Er besaß ein ebenmäßiges, aber nichtssagendes Gesicht mit großen grauen Augen. Seine Kleidung war ordentlich und unauffällig, so wie man sie von einem Buchhalter erwarten würde. Auf dem Schoß hatte er eine Ledertasche für Akten, die mit einer Schnalle verschlossen wurde. Und das, wo sie doch während ihrer Ausbildung derart fantasiereiche Rollenspiele durchführten. Sollte das seine Zukunft sein, als Zögling eines Buchhalters in einer muffigen Schreibstube zu versauern? War es das, worauf sie ihn vorbereitet hatten?


    »Hallo Noel. Ich bin Timothée Mauchelin. Du kannst Timo zu mir sagen und mich mit Du ansprechen.« Der langweilige Mann reichte dem Jungen die Hand. Der nahm sie und drückte sie. Sie fühlte sich weich und kalt an, wie seine Klapperschlange.


    »Hallo Timo«, sagte Noel.


    Es klopfte, die Haushälterin stellte ihnen ein Tablett mit Tee hin, schenkte ihnen ein Lächeln und ließ sie wieder allein. Timothèe wartete, bis sie das Arbeitszimmer verlassen hatte, ehe er das sich gerade anbahnende Gespräch fortsetzte.


    »Dein Heimleiter Monsieur Rignon hat mir berichtet, dass du ein guter Lügner wärst.« Weder seiner Stimme seinem Blick war zu entnehmen, was er von dieser Information hielt.


    Noel nickte. »Das stimmt«, sagte er stolz.


    »Warum gibst du das so freimütig zu? Nun weiß ich es und du wirst es künftig schwer haben, mich an der Nase herumzuführen. Du hast dir damit keinen Gefallen erwiesen.«


    Der Junge zuckte mit den Schultern. »Du hast es ja sowieso schon gewusst. Du hast nur gefragt, um zu schauen, was ich sage. Hätte ich gelogen, hättest du es mir ja doch nicht geglaubt.«


    Sein Mentor nickte kaum merklich. »Ich möchte, dass du es trotzdem weiterhin versuchst. Es ist wichtig. Was bedeutet Lügen für dich?«


    »Es ist nützlich«, antwortete Noel, nachdem er eine Weile überlegt hatte.


    »Mehr als das«, antwortete Timothèe ernst. »Lügen ist die wichtigste Fähigkeit eines Stählernen Lotos. Das wird künftig mehr sein als nur ein Spiel, um Süßigkeiten zu ergaunern oder sich vor der Hausarbeit zu drücken. Lügen sind Grundlage deiner Arbeit als erwachsener Mann und deine spätere Lebensversicherung. Wie gut du es beherrschst, wird darüber entscheiden, ob du lebst oder stirbst. Wenn man dich beim Lügen erwischt, wird das in einigen Jahren in deinem Tod enden. Darum werde ich sehr streng mit dir sein. Ich werde es dir viel schwerer machen, als du es bisher gewohnt bist. Wenn ich dich beim Lügen erwische, werde ich dich hart bestrafen. Also sorge dafür, dass du nicht erwischt wirst.«


    Noel besah sich seinen Mentor. Er fand nicht, dass Timothèe aussah, als würde er einer gefährlichen Arbeit nachgehen. Er nickte. »Ich habe keine Angst«, sprach er mit seiner piepsigen Kinderstimme.


    »Ich werde dafür sorgen, dass sich das ändert, Noel«, sprach sein Mentor kühl. »Nicht sofort, du darfst dich erst einmal eingewöhnen, aber bald. Du musst lernen, in Furcht zu leben und trotzdem klar zu denken. Immer handlungsfähig zu bleiben und nie in kopflose Panik zu verfallen. Denn der Tag wird kommen, da Angst dein Leben bestimmt.«


    »Kannst du kämpfen?«, fragte Noel, der das, was sein Mentor erzählte, weder verstand noch sonderlich ernst nahm.


    »Ja«, antwortete Timothèe. »Und du wirst es auch lernen. Du hast die beste Veranlagung dazu. Der Heiler hat dich untersucht, du bist gesund, schnell und stark. Auch bist du bereits in der Lage, die unterschiedlichsten Personas darzustellen. Du bist ein guter Schauspieler. Nur die Abgrenzung deiner Rollen voneinander muss noch schärfer werden, habe ich deiner Akte entnommen. Einige Personas ähneln sich zu sehr, das solltest du vermeiden. Insgesamt stehen jedoch die Chancen gut für dich, dass du später als Stählerner Lotos in vorderster Front arbeiten wirst.«


    »Heißt das, ich darf kämpfen?«, fragte Noel mit kindlicher Begeisterung.


    »Mein lieber Noel«, antwortete Timothèe. »Als Krieger kämpfen zu wollen bedeutet, jemanden töten zu wollen. Ist dir das bewusst? Weißt du, was die Chevaliers im Kampf tun, von denen ich weiß, dass du gern einer von ihnen wärst? Weißt du, wofür sie ausgebildet werden? Dafür, Menschen zu töten, um unser Land zu beschützen. Familien ihre Männer zu rauben, ihre geliebten Söhne, Brüder oder Onkel. Die Kunst eines Chevaliers ist die Kunst eines professionellen Mörders, ist dir das klar?«


    »Die Chevaliers lernen noch viele andere Dinge«, wandte Noel spitzfindig ein, der immer gern die Rolle eines Chevaliers in ihren Theaterstücken übernommen hatte. Seinem Erzieher hatte er dazu Löcher in den Bauch gefragt. »Sie sind auch Gelehrte und beherrschen die schönen Künste. Sie haben einen Kodex, damit sie keine Mörder werden, sondern Chevaliers bleiben. Und sie kenne sich mit Büchern aus, mit Rechnen und Schreiben.«


    Timothèes strenger Blick verwandelte sich in Zufriedenheit, er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte das erste Mal.
    »Schau einer an. Monsieur Rignon hat nicht übertrieben. Du bist schlau und lässt dich nicht so leicht aus der Fassung bringen. Du hast dich gut über deine Lieblingsrolle informiert. Zu allererst muss ich dir sagen, dass du nie ein Chevalier sein wirst. Es sei denn, der Duc beschließt, dich zu adeln, was sehr selten vorkommt, oder ein Chevalier möchte dich aus irgendeinem Grund heiraten. Ansonsten ist man in seinen Stand hineingeboren und bleibt dort bis zu seinem Tod. Wir vom Orden des Stählernen Lotos sind dem Stand nach Freie und tragen damit mehr Verantwortung für uns als ein Leibeigener, genießen andere Privilegien, haben aber auch andere Verpflichtungen. Dem Adel, wie die Chevaliers, gehören wir aber nicht an. Ein Freier wirst du bleiben, wenn du keinen fatalen Fehltritt begehst, doch ein Chevalier wirst du niemals werden. Das musst du realistisch sehen und ich mache dir keine falschen Hoffnungen.
    Aber ich wäre nicht hier, wäre mir nicht ein Zögling angeboten worden, der das Zeug zu einem Krieger hat. Auch als Freier kannst du dich im Kampf verdient machen. Du könntest zum Beispiel Büttel werden und für die Sicherheit in den Städten sorgen, Soldat oder Gardist. Das wäre eine Persona, die zu dir passen würde. Doch zu allererst möchte ich dir etwas Grundlegendes über das Kämpfen erklären, damit wir uns nicht falsch verstehen. Hörst du mir zu?«


    Noel nickte eifrig und Timothèe fuhr fort.


    »Der beste Kampf ist der, den du vermeiden kannst. Du weißt noch nicht, welche Besonderheit in dir schlummert, die dich so wertvoll macht, dass du die Ausbildung zu einem Stählernen Lotos der vordersten Front genießen darfst. Es ist auch noch nicht an der Zeit, dich darüber in Kenntnis zu setzen, das wäre zu viel auf einmal. Aber ich verrate dir, wie deine Taktik künftig funktionieren wird. Weißt du, was ein Lotos ist?«


    »Eine rosa Blume«, antwortete Noel.


    »Es ist genau genommen eine Wasserpflanze mit herrlichen Blüten. Sie lädt zum Pflücken ein, doch sollte man genau hinschauen, bevor man das tut. Denn in einigen Blüten lauert der Tod. Die Lotosspinne ist wunderschön, mit einem glatten, rosa schimmernden Körper. Sie duftet sogar, weil sie sich ihr Leben lang in Blüten aufhält. Sie kann Netze bauen, tut dies jedoch nur zum Formen eines Nestes für den Nachwuchs. Darüber hinaus ist sie eine schnelle Lauerjägerin, die ihre Beute mit einem Sprung aus dem Verborgenen heraus packt. Sogar ihre Ausscheidungen sehen aus wie Nektar und riechen süßlich und sie setzt sie dorthin, wo es ihr passend erscheint. Alles an diesem Tier ist perfekt. Sie bewegt sich wippend, wenn der Wind die Blätter ihrer Blüte bewegt, so dass man sie nur sieht, wenn man gezielt nach ihr sucht. Wenn sich Falter und Schmetterlinge in der Blüte niederlassen, um vom falschen Nektar zu naschen, zeigt die Spinne ihre wahre Natur. Sie gehört zu den gefährlichsten Giftspinnen überhaupt. Ihr Biss tötet kleine Tiere augenblicklich und einen Menschen innerhalb von Minuten. Wir nehmen uns dieses wunderbare Tier zum Vorbild.
    Nach außen hin zeigen wir eine harmlos wirkende Fassade, in der unerkannt der Tod lauert. Wir bewegen uns unter den Menschen, als wären wir einer von ihnen, so wie die Lotosspinne sich als Teil einer Blüte ausgibt. Mimikry nennt man das. Wir beobachten, was sie tun, lernen ihre Stärken und Schwächen kennen, ihre Ängste und Sehnsüchte, gaukeln Freundschaften vor und nutzen diese aus, um noch mehr herauszufinden. Und wenn das, was wir herausfinden, uns geeignet erscheint, einen Menschen als Beute zu betrachten, halten wir zunächst alles wie immer. Wir spielen das Schauspiel weiter. Tun so, als seien wir Buchhalter, Schneider oder, wie es dir gefallen würde, ein Krieger. Jedoch ist dein wahrer Gegner nicht auf der anderen Seite der Schlachtlinie zu finden, sondern auf deiner eigenen. Wir warten geduldig, manchmal Monate, auf einen günstigen Augenblick, bis es so weit ist, zuzuschlagen. Der Zeitpunkt, zu dem jemand begreift, wer wir wirklich sind, ist der Augenblick seines Todes.
    Das ist die Art wie wir kämpfen - die Form des Kampfes, die ich dich lehren werde. Wir spielen unsere Rollen, lügen und lächeln. Das ist die Natur eines Stählernen Lotos. Aber«, Thimothèe lächelte, »den Kampf mit Schild und Schwert wirst du dennoch erlernen, genau wie den Umgang mit weiteren Waffen zu Fuß und zu Pferd. Denn vielleicht werden die Umstände es einmal erfordern, dass du eine Persona anlegst, welche diese Kunst beherrscht. Momentan spricht ja alles dafür, dass du eine solche Persona erwählen wirst. Bist du bereit, deine richtige Ausbildung anzutreten?«


    Das war sehr viel auf einmal und Noel war traurig, dass er kein Chevalier sein konnte. Auch verstand er nur einen Teil von den vielen Erklärungen. Aber er würde zu kämpfen lernen und zu reiten, so wie er es sich immer gewünscht hatte. Und darauf freute er sich. Er nickte eifrig.

  • Das Ende von Noel


    Valentin Rignon war zurückgekehrt und bereitete die Dokumente auf seinem Arbeitstisch vor.
    »Hast du dir einen Namen für dich überlegt?«, fragte Timothèe währenddessen. »Es ist üblich, dass der Lotos ihn selbst wählt, um eine reibungslose Immersion zu gewährleisten. Ich kann ihn dir darum nicht geben. Es muss sich auch im Herzen wie dein Name anfühlen.«
    Der Junge blickte ihn verständnislos an. »Na, ich heiße doch Noel.«
    »Aha«, gab sein Mentor von sich.
    »Oder nicht?«, fragte der Junge nach.
    Timothèe sah ihn mit einem schwer zu deutenden Blick an. Noel konnte Mimik sehr gut deuten, doch nicht die dieses Mannes, es sei denn, dieser ließ es zu und das war momentan nicht der Fall. Das Gesicht war so ausdruckslos wie das eines Fisches und die grauen Augen wirkten wie leblose Steine. Dann lächelte er unvermittelt. »Du trittst nun einen neuen Lebensabschnitt an, mein Kleiner. Du bist kein Kleinkind mehr, sondern ein großer Junge. Deine Ausbildung als Stählerner Lotos beginnt. Das, was du hier intuitiv an Schauspielkunst und Manipulationstechniken erlernt hast, war nur Vorgeplänkel, damit es dir von Anfang an in Fleisch und Blut übergeht, fest in deinem Sein verankert ist und du später keine Hemmungen hast, das Gelernte umzusetzen. Nun aber erfolgt die bewusste Aneignung dieser Techniken auf Basis der Verhaltenslehre. Hinzu kommt eine medizinische Ausbildung, damit du lernst, einen Organismus präzise auszuschalten. Du erhältst bald die ersten einfachen Aufträge, mit denen du dir Taschengeld verdienen kannst. Ich werde deine Fortschritte überwachen, dich zur Perfektion bringen und ich bilde dich nicht nur aus, sondern ich habe dich adoptiert. Du bist rechtlich mein Sohn, wir gehören zusammen. Ist das nicht Anlass genug, die alte Haut abzustreifen und zu schauen, welche neue, glänzende Hülle sich darunter verbirgt?«
    »Aber ich bin doch immer noch ich?«, wandte Noel ein.
    »Nein. Ab heute bist du ein völlig anderer Mensch, mit einem anderen zu Hause, einem neuen Vater. Ein neuer Name gehört auch dazu. Noel ist Geschichte, es gibt ihn nicht mehr, verstehst du das?«
    Noel nickte, damit Timothèe zufrieden war. »Noel gibt es nicht mehr«, bestätigte er. »Und ich bin bald ein Krieger.«
    »Und der junge Krieger braucht einen Namen«, fuhr Timothèe fort. »Irgendetwas muss schließlich in die Adoptionsurkunde eingetragen werden.«
    »Steht da nicht Noel?«, fragte der Junge irritiert.
    Timothèe gab ein verächtliches Geräusch von sich. »Ich adoptiere kein Kleinkind, das mit Püppchen spielt und die Babys des Ordens bespaßt. Das sind Tugenden, die jemand wie du nun wahrlich nicht braucht. Das mögen die schlafenden Lotos übernehmen, die sich nie entfalten werden. Für dich wäre es nichts anderes als Vergeudung und wenn es nach mir ginge, wärst du viel eher schon in deinen wahren Stärken gefördert worden. Es gibt keine Puppen mehr, keine Kindereien, sondern ich bereite dich schrittweise auf das Leben als erwachsener Mann im Einsatz für die Krone vor. Du bist nicht mehr Noel, keine Knospe mehr, sondern der Lotos, der seine Blätter zu entfalten beginnt. Und eines Tages wird sich die Spinne darin offenbaren. Was ich adoptiere, ist ein Werkzeug des Todes. Ein junger Todbringer.«
    Noel fand das übertrieben. Außerdem mochte er seinen Namen. Er verstand nicht, warum Timothèe dermaßen darauf pochte. Aus seiner Sicht war er immer noch der Selbe. Warum durfte er seinen Namen nicht behalten?
    »Wenn ich ein junger Todbringer bin«, sprach der Junge, »dann will ich Pascal heißen.«
    Timothèe zuckte zusammen. Er erschrak dermaßen, dass sein Gesicht kreidebleich wurde. Dann verzogen sich seine Brauen. »Oh, das findest du witzig?«, fragte er böse.
    Noel fragte sich, woher sein Adoptivvater von der Klapperschlange wusste, die so hieß. Er hatte geglaubt, niemand wäre dahintergekommen, welch Haustier er sich unter dem Geräteschuppen hielt. Den Namen hatte er schön gefunden für die Schlange und wenn er sich schon umbenennen musste, dann wollte er genau so heißen wie sie.
    »Was stimmt nicht mit dem Namen?«, fragte er vorsichtig zurück.
    Timothèe funkelte ihn an. »Für solche Spielchen bist du eigentlich zu jung und wenn du sie schon beginnst, dann mit Gegnern deiner Kragenweite. Aber gut. Wenn du spielen willst, sei es so. Ich nehme die Herausforderung an. Aber überlege dir gut, wie weit du es treibst. Denn ich werde das Spiel bis zum bitteren Ende mit dir mitspielen, Pascal.« Er sprach den Namen voller Ironie aus, spie ihn regelrecht in das Gesicht des Jungen. »Valentin, darf ich bitten.«
    Monsieur Rignon griff nach der Feder und trug den Namen in die Adoptionsurkunde ein. Der Junge las mit. Pascal Mauchelin. Auch der Heimleiter schien wenig begeistert von seiner Wahl, sagte jedoch nichts dazu. Da ohnehin scheinbar jeder von seinem Haustier wusste, obwohl er niemandem davon erzählt hatte, fragte er: »Darf ich meine Klapperschlange mitnehmen?«
    »Was, eine echte?«, wollte Timothèe wissen.
    »Ja. Sie wohnt unter dem Geräteschuppen. Ich habe sie immer gefüttert und weiß, was sie gerne isst. Ich würde mich gut um sie kümmern.«
    Pascal rechnete mit einem Nein und einer langen Moralpredigt. Mit noch mehr Schimpfe. Stattdessen legte sein neuer Vater die Maske der Feindseligkeit ab und grinste. »Wenn du sie allein in einen Transportbehälter verfrachten kannst, sei sie dein. Du hast dich oft genug mit ihr beschäftigt, du wirst wissen, wie du mit ihr umzugehen hast, ohne dass ihr Biss dich trifft.«
    Das hatte Pascal nicht erwartet. So unangenehm Thimothèe im ersten Moment gewesen war, diese Geste fand er sehr nett von ihm. Vielleicht würden sie sich doch noch miteinander anfreunden und nicht nur auf dem Papier Vater und Sohn sein, sondern eine richtige Familie bilden. Während die beiden Männer die Unterlagen fertig ausfüllten, begab der Junge sich mit zwei gegabelten Stöcken und einem geflochtenen Transportkorb für Hühner auf die Jagd nach seinem geschuppten Namensvettern. Es dauerte nicht lange, und der Korb mit der Klapperschlange war transportfertig. Timothèe sah nun richtig glücklich aus, seinen Schützling zu sich nach Hause holen zu dürfen und fand dessen geheimes Haustier offenbar witzig. Sein Zorn war verflogen. Er strich ihm mit seiner kalten, weichen Hand durch das wuschelige Haar, als sie sich vor der Schreibstube trafen.
    »Nun sind wir offiziell Vater und Sohn. Du wirst ein guter Lotos, mein Kleiner. Bevor wir fahren, möchte ich dir etwas zeigen, damit du mich besser verstehst. Folge mir noch ein letztes Mal hinein.«
    Der Heimleiter war noch dabei, die Papiere einzuräumen. Timothèe nahm eines der Dokumente und hielt es Pascal hin, der schon lesen konnte. Es war eine Sterbeurkunde, fertig ausgefüllt mit Datum und mehreren Unterschriften. Eine davon erkannte er als die des Heilers, bei dem er manchmal gewesen war. In der Zeile mit dem Namen stand ›Noel Blanchet‹ eingetragen. Als Sterbeursache Typhus, weswegen der Leichnam zur Verbrennung vorgesehen war. Pascal sah seinen Vater entsetzt an.
    Timothèe drückte seine Schulter. »Siehst du, Noel ist tot. In meinem Koffer trage ich alle Dokumente von Pascal, der als Waisenjunge auf der Straße aufgegriffen und an mich vermittelt wurde, da ich, selbst kinderlos, schon lange darauf warte, ein Kind aus dem Heim zu mir nehmen zu dürfen.«
    Gemeinsam gingen sie zu der wartenden Kutsche. Pascals Klapperschlange wurde zusammen mit seinem Koffer eingeladen und dann stiegen sie in das Innere. Die Fensterscheiben waren aufgeraut, so dass er nicht hinausschauen konnte. Die Peitsche knallte und das Gefährt setzte sich in Bewegung. Das Klappern der Pferdehufe drang gedämpft hinein.
    »Nun beginnt das Leben, dass du dir immer gewünscht hast. Die Ausbildung zu einem Krieger. Freust du dich?«, fragte Timothèe, der seinem Sohn im Inneren der Kutsche gegenüber saß.
    »Und wie ich mich freue«, antwortete Pascal glücklich und umklammerte den Korb mit der Klapperschlange, über dem ein Tuch hing, damit das Tier sich nicht unnötig aufregte. Er hielt sie ganz fest, so als ob er sie beschützen würde. Ein Rasseln drang unter dem Tuch hervor.

  • Beaufort


    Die Kutschfahrt dauerte mehrere Tage. Pascal und Timothèe übernachteten in guten Gasthäusern, wobei dem Jungen auffiel, dass sein Vater einen völlig anderen Namen angab, als er die Zimmer mietete.
    »Alte Gewohnheit«, antwortete er, als sein Zögling nachfragte und blinzelte ihm zu.
    »Wohin fahren wir überhaupt?«, wollte Pascal wissen.
    »Nach Beaufort, in die Hauptstadt von Souvagne. Dort habe ich Arbeit und eine Wohnung.«
    Pascal fiel auf, dass Timothèe nicht von einem zu Hause, sondern nur von einer Wohnung gesprochen hatte. Er fragte sich, ob das eine willkürliche Wortwahl war oder ob mehr dahinter steckte.
    Beaufort kündigte sich schon lange vor der Stadtmauer an. Die Gehöfte standen in immer kürzeren Abständen zueinander. Wenn Pascal zum Fluss hinab blickte, war dieser von Feldern gesäumt wie von einem Kachelmuster. Auf den Hügeln, die er aus dem anderen Fenster der Kutsche erblickte, sah er Weinberge und Obsthaine, zu denen mit flachen Mauern begrenzte Wege führten. Pascal, der aus der Halbwüste des Lehens La Grange stammte, war begeistert von so vielen Pflanzen. Ackerbau gab es in La Grange so gut wie gar nicht, nur die kargen Gärten für den Eigenbedarf um die Gehöfte herum. Es war zu mühsam, der Sundhi das Nötige abzuringen, damit die Pflanzen gut gediehen und ertragreicher waren die Jagd und der Fischfang an der Küste.
    »Wie eine riesige Oase«, schmachtete Pascal, während er sein Gesicht durch das offene Kutschenfenster hinaus streckte. Die Luft duftete nach Frühling. Und was für ein frischer und süßer Frühlingsduft es war!
    »Beaufort ist eine Oase der Fruchtbarkeit, aber auch der Bildung und Zivilisation. Sie ist nur leicht befestigt, das wirst du bald sehen. Der Fluss trägt die fruchtbare Erde aus den Bärenbergen hinab zu uns ins Tal«, erklärte Timothèe. »Es ist der Draken. Im Frühling und Herbst tritt er über die Ufer und hinterlässt fruchtbaren Schlamm. Nahe seiner Quelle liegt die berühmte Stadt Drakenstein. Vielleicht hast du schon von ihr gehört. Innerhalb ihrer Mauern steht die größte Magierakademie von Souvagne.«
    »Kann ich dort auch lernen?«, fragte Pascal, während er sich den Wind um die Nase wehen ließ.
    Timothèe lachte. Warum er das tat, verstand Pascal nicht. »Nein«, antwortete sein Vater. »Unsereins beherrscht keine Magie.«
    »Könnten wir es nicht lernen, wenn wir uns genug anstrengen?«, bohrte Pascal nach, der immer alles ganz genau wissen wollte, damit er verstand, wie die Welt funktionierte.
    »Also schön«, antwortete Timothèe. »Ich wollte es dir erst später erklären, aber wenn du so neugierig bist, warum nicht gleich? Du bist etwas Besonderes, Pascal. In dir schlummert eine Gabe, die dich sehr viel wertvoller macht als einen Magier - von denen gibt es ungefähr 10% der Bevölkerung, jene mitgerechnet, die nichts davon wissen, dass sie überhaupt den Funken in sich tragen. Sagen wir, 5% der Bevölkerung sind aktive Magier, 10% könnten es sein, wenn sie ausgebildet werden würden. Du und ich aber - wir sind Menschen, die nicht in das Schema von Magier und Nichtmagiern hineinpassen.«
    Er ließ eine bedeutungsschwere Pause, damit Pascal sich vom Fenster losriss und wieder ordentlich hinsetzte, den Blick aufmerksam auf seinen Mentor gerichtet.
    »Was ich dir nun sage, unterliegt absoluter Geheimhaltung. Dass du niemandem von der Existenz des Stählernen Lotos erzählen darfst, weißt du bereits. Im Heim war das einfach, nun aber gehen wir unter Menschen. Wenn dir auch nur ein falsches Wort herausrutscht, dass auf die Existenz unseres Ordens verweist, wirst du in ein Sanatorium gebracht, einer Heilanstalt für Geisteskranke. Und dort wirst du nicht geheilt, sondern du wirst sterben. Den Orden zu verraten, bedeutet deinen Tod. Und nun verrate ich dir auch, warum.«
    Pascal nickte aufgeregt. Angst hatte er keine, er verspürte nur unendliche Neugier, um zu verstehen, warum er dieses Leben führte, was sich so von dem Leben anderer Kinder unterschied.
    »Unser Orden heißt nicht nur wegen der Giftspinne, die in der Blüte lauert, Stählerner Lotos«, fuhr Timothèe fort, »sondern auch wegen der Eigenschaft der Laubblätter, Wasser und Schmutz von sich abperlen zu lassen. Nichts bleibt daran haften. Und das ist der entscheidende Punkt. Nicht nur, dass wir keine Magie beherrschen, wie sie jedem normalen Menschen verschlossen bleibt, uns hat es noch viel besser getroffen: Wir sind gegen Magie vollkommen immun. Sie perlt von uns ab, ohne unser Inneres zu erreichen. Kein Magier kann uns beeinflussen. Und das macht uns zur effektivsten Waffe gegen die Verseuchten. Wir sind Antimagier. Wir bringen Magiern den Tod. Wir sind die Spinnen des Duc, die sich im Gewand gewöhnlicher Menschen verbergen, um ihn vor der magischen Brut zu schützen, auf die deren Dienste er angewiesen ist. Der Stählerne Lotos ist vor ihm die letzte Instanz. Wir sind jene, die über die Wächter wachen - über uns wacht niemand mehr, als Duc Maximilien Rivenet de Souvagne Höchstselbst. Der Tag wird kommen, da du vor ihm kniest und ihm deine Treue schwörst.«
    Pascal dachte eine Weile darüber nach, während ein blühender Apfelhain an dem Fenster der Kutsche vorbeizog. Er warf einen verstohlenen Blick nach draußen. Ein Meer von duftendem Rosa und Weiß. Unter den Kronen standen Bienenstöcke und überall summte und brummte es.
    Timothèe schlug das Kutschenfenster zu. »Du hast gefragt, jetzt höre mir auch zu!«
    »Ja, Timo«, antwortete Pascal versöhnlich. »Darf ich dich was fragen? Sind alle Stählernen Lotosse Antimagier?«
    »Zunächst eine Korrektur deiner Sprache. Ich will nicht, dass du sprichst wie ein Bauer. Die Mehrzahl heißt nicht Lotosse, sondern Lotos. Ein Lotos - viele Lotos. Ganz einfach zu merken. Nun zu deiner Frage. Nur ein Drittel aus unserem Orden sind Antimagier. Die anderen sind Träger dieser wunderbaren Eigenschaft, ohne dass sie sich in ihnen entfaltet. Sie sind die Frauen und Männer, mit denen wir Nachwuchs zeugen. Denn wenn zwei Antimagier ein Kind bekommen, stirbt dieses noch im Mutterleib, spätestens aber nach der Geburt. Zu verhindern, dass wir aussterben, ist ein schwieriges Unterfangen. Das aber ist nichts, womit du dich schon beschäftigen musst. Es ist ein Thema für Erwachsene.«
    Er öffnete das Fenster wieder, was wohl bedeutete, dass der geheime Teil des Gesprächs vorüber war. Die Fassaden mehrgeschossiger Stadthäuser zogen vorbei. Nun waren sie wirklich in Beaufort angelangt. Pascal streckte erneut den Kopf hinaus. Der Untergrund war überall mit viereckigen Steinen gepflastert, auf dem die Räder der Kutsche ratterten und die Pferdehufe unangenehm laut klapperten. Er sah weder Gras noch Erde. Die Fachwerkhäuser standen eng beieinander, die Dächer waren mit roten Dachschindeln gedeckt und ragten wie spitze Zacken in den Himmel.
    »Die Dächer sind so steil, damit der Schnee im Winter herunter rutschen kann. Sonst würde sein Gewicht den Dachstuhl eindrücken. In La Grange fällt auch im Winter nur wenig Schnee, so dass die Dächer flacher gebaut werden können, so dass die obere Etage besser nutzbar ist«, erklärte Timothèe.
    Er zeigte Pascal auch den Palast des Ducs, dessen weiße Mauern sie im Vorbeifahren von weitem sahen, den botanischen Garten, den Stadtpark und benannte seinem Zögling die wichtigsten Straßennamen.
    »Wir folgen gerade der Hauptstraße nach Norden. Würden wir sie in entgegengesetzter Richtung fahren, würden wir Beaufort wieder verlassen und irgendwann auf die Salzstraße stoßen. Die Salzstraße ist die weltweit größte und längste Handelsstraße. Sie führt quer durch gesamt Asamura. Sie reicht von Naridien über Almanien bis nach Rakshanistan. Wenn du dich irgendwann einmal verirrst, wo auf der Welt du auch sein wirst, frage nach dem Weg zur Salzstraße und du wirst den Weg nach Hause finden - egal, wo der Ort sein wird, den du einst zu Hause nennst. Souvagne selbst hat keinen direkten Anschluss an die Salzstraße, aber im Süden von Almanien führt sie durch Drakenstein und das Großherzogtum Ledwick, von wo aus sie in die Wüste Rakshanistans führt.«
    »Ledwick kenne ich«, rief Pascal stolz. »Das liegt auf der Karte unter La Grange.«
    »Du bist ein schlauer Kopf und sehr wissbegierig. Es wird Spaß machen, dich auszubilden.«
    Die Kutsche hielt. Timothèe bedankte sich beim Kutscher, bezahlte ihn und sie trugen ihr Gepäck eigenhändig noch einige Nebenstraßen weiter.
    »Er muss nicht die genaue Adresse wissen«, beantwortete Timothèe die unausgesprochene Frage. Vor einem Haus, das Pascal zwischen den Baumkronen einer verwilderten Hecke und dem wuchernden Efeu fast übersehen hätte, kramte sein Mentor den Schlüssel heraus. Der Garten war vollständig zugewuchert wie ein kleines Stück Wald. Als sie eintraten, quietschte die Tür. Das Haus war eng und dunkel, mit sehr alten Möbeln bestückt und das Haus verschwand hinter dem ganzen Grün. Pascal gefiel es. Als er zum Fenster in den Hinterhof blickte, erspähte er hinter der Gartenmauer den Friedhof. Jetzt bei Tag sah er aus wie ein Park, mit alten Bäumen, im Schatten verborgenen Steinbänken und vielen Blumen.
    »Hier stört uns niemand, die meisten halten das Haus für verlassen. Das ist Absicht, darum ist der Garten auch so verwildert. Achte darauf, dass die Fensterläden vorn zur Straße hin stets verschlossen bleiben. Nach hinten zum Friedhof hin kannst du sie auch mal öffnen, aber nur bei Nacht, wenn niemand mehr auf dem Friedhof unterwegs ist. Heute machen wir eine Ausnahme, damit du alles gut siehst.«
    Timothèe führte ihn herum. Der Boden war bedeckt von einem dicken, braun gemusterten Teppich, der die Schritte dämpfte. Darunter knarrten alte Dielen.
    »Hier ist meine Schreibstube.«
    Eine Vielzahl von Kerzen sorgte für Licht, wenn die Fensterläden geschlossen waren. Momentan waren sie natürlich nicht entzündet. Auf dem Schreibtisch stand eine Öllampe mit einem drehbaren Helligkeitsregler, der die Dochtlänge einstellte. An der Wand prangte ein Ölgemälde. Es zeigte einen Mann in Kettenhemd, der ein breites Gesicht besaß, das trotz des jungen Alters schon zerbeult und vernarbt wirkte. Ein Krieger, stellte Pascal begeistert fest. Das Kettenhemd war nicht nur Zier. Der weiße Wappenrock zeigte auf seiner Brust eine stilisierte Lotosblüte, die mit Silbergarn gestickt war.
    »Wer ist das?«, wollte der Junge wissen und musste sich zusammenreißen, das Bild nicht anzufassen. Gemälde litten, wenn man sie berührte, das wusste er von den kleinen Landschaftsbildern im Heim.
    »Das«, antwortete Timothèe, während er seinen Koffer vor dem Schrank abstellte und die Kleider einzuräumen begann, »ist Pascal. Dein Zimmer ist ganz oben im Dachstuhl. Der Schlüssel steckt in der Tür.«
    Pascal stutzte, traute sich aber im Moment nicht, weiterzufragen. Er fühlte sich abserviert, wollte aber nicht mit seinem Meister streiten. Er wuchtete den Koffer mit seinen Habseligkeiten in den Spitzboden, wo er seine Kammer hatte. Dann holte er auch seine Schlange hinauf. Sie hatte sich zu einem festen Knoten zusammengedrückt und war mit Ausscheidungen beschmiert. In dem Korb konnte sie nicht ewig bleiben. Pascal würde morgen nach einem Versteck im Garten Ausschau halten, wo sie künftig wohnen konnte. Sein Namensvetter auf dem Gemälde ging ihm in all der Zeit nicht aus dem Kopf.

  • Das Ende der Kindheit


    Seine weitere Kindheit verbrachte Pascal zu gleichen Teilen als Gehilfe in Timothèes Schreibstube und in dessen Unterricht. Sein Mentor brachte ihm alles bei, was er als Lotos wissen musste. Das betraf nicht nur das Beobachten aus dem Verborgenen, sondern beinhaltete auch alle wissenschaftlichen und künstlerischen Lehren, so dass sein Schüler im Laufe der Jahre ein enormes Allgemeinwissen anhäufte. Pascal hatte Zugriff auf Karten in einem Detailgrad, wie sie sonst nur Generäle und Admiräle besaßen. Bald konnte er die Hauptstädte und Staatsoberhäupter aller bekannten Länder benennen, ebenso die Regierungsform, die Religion und Besonderheiten aller möglichen Kulturen aufzählen. Die Flüsse von Asamura offenbarten ihm auf den Karten ihre Namen, ebenso wie die Seen und die Weltmeere. Alles war bennant, auch die Gebirge, Wüsten, Steppen, Wälder und Sümpfe. Pascal merkte sich jeden einzelnen Namen. Timothèe lobte sein außerordentliches Gedächtnis sowie seine Fähigkeit, logische Zusammenhänge zu begreifen und nahm sein Desinteresse in den künstlerischen Disziplinen ohne einen Tadel hin. Den Versuch, ihm das Spielen auf der Lyra beizubringen, brachen sie nach einigen Wochen ab. Timothèe half seinem Schüler, die Schauspielerei an den Rand der Perfektion zu treiben, so dass Pascal in alle möglichen und unmöglichen Rollen schlüpfen konnte und dafür immer weniger Zeit für den flüssigen Übergang benötigte. Bald konnte er von einem Augenblick zum Nächsten ein anderer sein, etwas, das sie oft übten. Timothèe unterrichtete ihn auch in der Alchemie, wo Pascal sich als überaus talentiert erwies, was den Umgang mit Formeln betraf.
    Doch in einer Disziplin weigerte Timothèe sich, seinen Schüler in zu unterweisen: Die Kunst des Kampfes. Pascal musste als Lotos eigentlich hundert Weisen beherrschen, jemanden um sein Leben zu bringen, sei es mit Giften, verschiedenen Fallen, Todesstößen mit dem Dolch oder den Umgang mit dem Würgedraht, doch er konnte noch nichts davon. Von der Kampfkunst eines Kriegers Mann gegen Mann ganz zu schweigen.
    »Ich bin nicht gut darin«, erklärte Timothèe. »Es ist wichtig, dass du es richtig lernst und sich keine Fehler einschleichen. Du wünschst dir, später eine Persona als Krieger anzunehmen. Wenn du nicht als Schwertfutter an der Front enden willst, und das möchte ich nicht, musst du richtig gut werden, ja, hervorragend. Dann kommst du vielleicht bei einem Adligen in der Leibgarde unter. Und darum wirst du es bei einem der besten Lotos in diesem Bereich lernen.«
    Pascal hatte gehofft, nun dürfte er eine Kaserne besuchen, wo es auch Unterrichtsstunden für Kinder gab, doch er wurde enttäuscht. Stattdessen kam jemand zu Besuch, der fortan in ihrem Haus wohnte: Ein stählerner Lotos aus Ledwick, der ihm unter dem Namen Vittorio Pollarotti vorgestellt wurde.
    Vittorio arbeitete als einfacher Soldat, doch seine Fähigkeiten gingen weit darüber hinaus. Wäre er adlig gewesen, hätte er es als Offizier zu Großem bringen können. Narben durchfurchten sein gerötetes Gesicht und von einem Hieb auf den Mund fehlte ihm die Hälfte seiner Zähne. Sein kurzes Stoppelhaar war weiß. Er sprach nicht viel und wenn, dann bellte er kurz angebunden herum. Im Sprechen war er schlecht, sehr schlecht. Seine Stärken lagen im körperlichen Bereich und dort machte ihm so schnell niemand etwas vor. Pascal war begeistert, bei einem echten Soldaten Unterricht nehmen zu dürfen, der im Krieg gegen die Naridier gewesen war.
    Die Kampfausbildung war sehr hart. Im Keller des Hauses lag ein großes Trainingsareal, wo Pascal täglich etliche Male über einen Hindernisparcours laufen musste. Der Kampf erfolgte zunächst gegen Übungspuppen, doch sehr bald schon auch mit Holzschwertern und Rüstung im Vollkontakt. Vittorio schonte seinen Schüler nicht, sondern schlug ihn während der Übungsstunden grün und blau.
    »Der Schmied härtet das Schwert mit den Schlägen seines Hammers«, erklärte er mit hoher Stimme, die an ein wütendes Hündchen erinnerte. »Harter Stahl ist guter Stahl!« Oder: »Schmerz adelt!«
    Derlei Weisheiten waren lange Zeit das Einzige, was er Pascal an verbalen Erläuterungen zukommen ließ. Alles andere sollte der Junge durch praktische Übungen erlernen. Nach manchen Übungsstunden konnte Pascal nicht mehr gehen, sondern schleppte sich auf allen vieren seine Treppe hinauf.
    »Ich schmeiß den Kerl hochkant raus«, knurrte Timothèe, als es ihm zu bunt wurde.
    »Mach das nicht«, bat Pascal. »Ich halt das aus! Du hast gesagt, er ist einer der Besten. Und ich muss es lernen!«
    »Ein guter Soldat, aber ein schlechter Lehrer.«
    Dennoch durfte Vittorio vorerst bleiben und Pascal weiter mit Holzwaffen durch den Keller prügeln, bis es seinem Schüler endlich gelang, seinerseits die ersten Treffer zu landen. Das machte Pascal unwahrscheinlich stolz. Danach aber erhielt er eine dermaßen schlimme Tracht Prügel, dass Pascal eine Woche lang nicht mehr zur Arbeit gehen konnte. Er sah aus, als wäre er unter einen Ochsenkarren gekommen.
    Einen Tag hütete er artig das Bett. Als zwei Tage rum waren, wollte er trotz der Schmerzen das Training erneut aufnehmen. Er dachte sich, dass es im Feldeinsatz schließlich auch hart zur Sache ging und wenn er dann nicht durchhielt, starb er. Drum musste er sich durchbeißen und weitermachen. Vielleicht keinen Vollkontaktkampf mit Vittorio, aber er konnte seine Bewegungsabläufe im Schattenkampf trainieren oder einfach ein wenig seine Muskeln stärken.
    Die Tür stand unten offen, aber es war still. Keine Schritte, kein Keuchen, kein Klacken und Knallen. Zaghaft folgte Pascal dem schmalen Gang, der wie ein unterirdisches Labyrinth unter dem Hause entlang führte. Als er in den Übungskeller trat, fand er Vittorio. Mit gespreizten Armen und Beinen hing er nackt an eine Maschine geschnallt, die zum Trainieren der Muskelkraft diente. Die Gewichte zogen ihn in alle Richtungen auseinander und in seinem Hinterteil steckte das Holzschwert, mit dem er Pascal verprügelt hatte. Seine blassen Augen starrten ihn an, doch er bewegte sich nicht.
    Entsetzt wich Pascal zurück. Er keuchte und wusste einen Moment nicht, was er machen sollte, trat hilflos an der Stelle und stürmte dann aus dem Raum. Die Backsteinwände flogen an ihm vorbei, hastig erklomm er die Kellertreppe, die ihm endlos erschien.
    In der Schreibstube saß derweil Timothèe, mit einem weißen Hemd, das um den Hals mit einer langen schwarzen Schleife zusammengehalten wurde. Auf dem Schreibtisch dampfte eine Tasse Tee. Er war damit beschäftigt, seine Unterlagen abzuheften. Er hatte sich freigenommen für die Zeit, in der sein Schützling krankgeschrieben war.
    »Na, du warst wohl im Keller?«, fragte er belustigt, als ihn Pascal mit offenem Mund anstarrte, unfähig, ein Wort herauszubringen.
    Pascal riss sich zusammen. »Warst du das?«, fragte er voller Entsetzen.
    »Ich? Aber nein. Du weißt doch, dass ich nur ein einfacher Buchhalter bin.« Er zwinkerte ihm zu.
    »Ist Vittorio ... tot?« Pascals Herz schlug ihm bis zum Hals. Das erste Mal in seinem Leben spürte er eine Ahnung dessen, was Angst wirklich bedeuten konnte. Seine Augen wurden heiß und zwei Tränen bahnten sich ihren Weg über seine Wangen.
    Timothèe lochte einen Stapel Blätter. »Finde es heraus. Ein regloser Körper darf dich nicht schrecken. Lebt er noch, so verarzte ihn. Tut er es nicht, bette ihn in Würde. Beides musst du beherrschen. Rufe mich dann herzu, damit ich sehe, wie du deiner Aufgabe nachgekommen bist.«
    »Aber ich habe Angst«, wimmerte Pascal und weitere Tränen liefen über seine Wangen, woraufhin Timothèe mit den Schultern zuckte.
    »Wovor? Vittorio ist vollfixiert. Selbst wenn er noch leben sollte, wäre er ungefährlich. Schalte deinen Kopf ein, dann erkennst du, dass es für dich keinen Grund gibt, sich zu fürchten. Es ist ein stinknormaler Keller.«
    »Bitte hilf mir«, flehte Pascal und noch mehr Tränen rannen seine Wangen hinab.
    Timothèe klopfte den Stapel Blätter zurecht, so dass sie ordentlich übereinanderlagen. »Du siehst doch, ich habe zu tun. Ich werde dich allerdings nicht zwingen, hinabzusteigen. Es ist deine Entscheidung. Tust du es nicht, musst du mit deinem Gewissen zurechtkommen, dass du einen Lotos vielleicht hast sterben lassen, weil du zu feige warst, ihm zu helfen. Dann solltest du deinen Berufswunsch noch einmal gründlich überdenken.«
    Vittorio saß einige Stunden später gewaschen und bekleidet bei ihnen in der Küche und trank Tee, den Timothèe ihm eingeschenkt hatte. Der Soldat sah ein wenig blass aus, wirkte aber gefasst. Zu Pascals Verblüffung unterhielten die beiden Erwachsenen sich miteinander, als sei nichts geschehen. Der einzige Unterschied bestand in Vittorios plötzlich ausgesprochen respektvoller Art und Weise gegenüber den beiden Gastgebern. Was auch immer er in Timothèe gesehen hatte - er hatte sich getäuscht. Und auch Pascal war neugierig, was genau sich da unten abgespielt hatte und wie. Der Denkzettel hatte jedenfalls gesessen.
    Das Training verlief fortan sehr viel weniger destruktiv. Pascals Fortschritte waren rasant, denn er liebte es, die Kampfkunst zu üben. Wie der Schatten des alten Soldaten tänzelte er neben ihm. Ihre Drehungen erfolgten fast zeitgleich. Hieb und Stich. Schritt, Finte, Riposte. Hieb, Drehung, drei schnelle Schritte, Ausgangsstellung. Es war wie ein Tanz, als Pascal endlich jede Bewegung flüssig und ohne Zeitverzögerung beherrschte. Im Laufe der Zeit verformte sich sein Körper. Muskeln wölbten sich unter der Haut, sein Kreuz wurde breiter. Tagsüber war Pascal weiterhin der Gehilfe des bescheidenen Buchhalters Timothèe Mauchelin. Abends wurde abwechselnd gelernt oder gekämpft. Aus den Monaten wurden Jahre und alles Kindliche wich aus Pascals Körper. Er bekam Halsweh und das Sprechen fiel ihm schwer, als seine Stimme sich veränderte. Vittorio zeigte ihm, wie man sich rasierte und erklärte, dass ein Soldat immer ordentlich aussehen müsse. Alles in allem war es eine glückliche Zeit und auch wenn sie nicht miteinander verwandt waren, fühlte es sich für ihn an, als seien sie eine Familie. Dass er die beiden Erwachsenen einmal beim Küssen in der Küche erwischte, trug sein Übriges dazu bei. Pascal tat, als hätte er es nicht gesehen und ging auf sein Zimmer.
    Freizeit hatte er nur selten, doch Timothèe hatte eine Art, seinen Unterricht so zu gestalten, dass es Pascal kaum erschöpfte. Es gab viele Pausen und da sein Schüler von sich aus großen Ehrgeiz an den Tag legte, musste Timothèe ihn öfter ausbremsen als zum Fleiß ermahnen.
    »Deine Jugend rauscht an dir vorbei, Pascal«, sprach er besorgt. »Geh raus und triff dich mit Gleichaltrigen. Geh tanzen, es ist Kirmes. Du bist alt genug dafür und es ist ein anderer junger Lotos hier in der Stadt, mit dem du zusammen hingehen könntest. Ihr kennt euch doch schon.«
    »Ach, nö. Caillou ist dumm. Ich rede lieber mit dir.«
    Viattoro, der gerade an der Feuerstelle ein Abendessen für sie briet, feixte. Timothèe hingegen war nicht zum Lachen zumute. Er stützte sich auf dem Küchentisch auf und musterte seinen Schüler besorgt. »Ich freue mich über deinen Fleiß. Aber du kannst dich nicht nur mit der Lehre von der Zusammensetzung der Stoffe und mit Mathematik beschäftigen in deinem Alter. Meinetwegen hole deine Puppen wieder aus der Kiste.«
    »Timo, ich bin fast 14«, lachte Pascal. »Ich kann nicht mehr mit Puppen spielen und Volksfeste langweilen mich. Ich will mit dir reden oder mit Vittorio kämpfen.«
    »Und abends unter der Bettdecke heimlich Matheaufgaben lösen«, klagte Timothèe. »Junge, deine Zeit als Junglotos endet noch früh genug! Dann beginnt der Ernst des Lebens.«
    »Kindheit ist langweilig«, fand Pascal. »Ich will endlich erwachsen sein.«
    Nun wurde Timothèe böse. »Zieh jetzt deine Schuhe und deine Jacke an! Rauche, betrink dich bis du kotzt und klau mein Geld, damit du ein Mädchen bezahlen kannst«, schimpfte Timothèe. »Und das ist kein Vorschlag und keine Bitte. Geh zur Kirmes!«
    »Na schön«, murrte Pascal, zog sich oben an, packte ›Formeln und Tabellen‹ in den Rucksack - ein Nachschlagewerk der höheren Alchemie - dazu ein Notizbuch und einen Bleistift. Als er gehen wollte, fing Timothèe ihn an der Haustür ab, durchwühlte seinen Rucksack und nahm die Unterrichtsmaterialien heraus. Stattdessen stopfte er ihm eine Flasche mit Schnaps, eine pralle lederne Tabaktasche und eine gefüllte Geldkatze hinein.
    »So. Das hätten wir. Passe nicht auf dich auf. Treibe Unfug. Lebe, Pascal, genieße die letzten Wochen, bevor du volljährig wirst«, flehte er. »Denn dann wird man dich deinem ersten Ziel zuweisen.« Mit den Fingern brachte er Pascals Haare durcheinander, zerriss seinen Ärmel und schmierte ihm Eigelb aus der Pfanne auf die Jacke.
    Pascal guckte ihn böse an, sagte aber nichts. Missmutig stapfte er davon, während die Flasche ihm bei jedem Schritt gegen den Rücken schlug.

  • Caillou


    Pascal konnte die Kirmes schon von weitem hören. Die Trommeln und Flöten tönten durch die Straßen, der Geruch von Feuer drang in die Nase. Der Festplatz von Beaufort lag am Stadtrand. Außerhalb der Festzeiten lag die Wiese brach, damit das Gras nachwachsen konnte, beweidet von einer kleinen Gruppe von Schafen. Heute drängten sich die Wagen des fahrenden Volkes und die Buden der Schausteller zu einer eigenen Stadt aus bunten, flatternden Zeltplanen. Mit zunehmender Dämmerung mehrten sich die Besucher. Zwischen dem gemeinen Volk leuchteten hier und da wie Farbtupfer die schmucken Gewänder von abenteuerlustigen Adligen. Pascal erspähte die Hofgarde des Palasts, die eine Gruppe Menschen abschirmte und mit Hellebarden darauf achtgab, dass sich ihnen niemand näherte. In Anbetracht der Menge schaulustigen Volks war das kein leichtes Unterfangen gelegentlich schlugen sie mit dem langen Griff der Waffe nach Leuten oder drängten sie damit zurück. Pascal wollte stehenbleiben und die Gardisten bei der Arbeit beobachten, doch der Strom der Gäste schob ihn weiter.
    Er kam an einer Bude vorbei, vor der ein Mann mit einem dressierten Äffchen seine exotischen Tiere anpries, die man im Zelt bewundern konnte. Es war eines der größten Zelte, die Pascal bislang gesehen hatte, breit und tief wie ein Haus.
    »Ihr werdet entzückt sein von dressierten Äffchen, die am Trapez und auf dem Hochseil ihre Kunststücke vorführen. Sprechende Papageien in allen Farben und Größen! Seht die gestreiften Pferde aus der fernen Tamjara und den goldenen König der Katzen!«
    Die Tiere wollte Pascal sich später auf jeden Fall ansehen. Aber erst, wenn das Gedränge sich etwas aufgelöst hatte. Er mochte es nicht, von allen Seiten von fremden Menschen berührt zu werden und beneidete den Hofadel, der sich von der mitgebrachten Garde abschirmen ließ.
    Eine kleinere Bude bot ein Sammelsurium von Glücksbringern aus den Sümpfen von Alkena an, mit garantierter Wirksamkeit. Von der Decke des Zeltes baumelte ein Vorhang von getrockneten Vogelfüßen, kleinen Tierschädeln, winzigen Fläschchen zum Umhängen oder eine Kombination dieser Dinge. In manchen schwammen Augen oder Käfer. Pascal ging weiter, ohne stehenzubleiben. Er vertraute in solchen Dingen lieber der Alchemie, das war eine exakte Wissenschaft.
    Bald stieß er auf einen Süßigkeitenstand, der sein Interesse weckte. Das Angebot war interessant. Er kaufte einen roten Lutscher, in dem ein toter Skorpion eingeschmolzen war. So etwas kannte er noch nicht. Es gab auch welche mit Spinnen, die ihm zu haarig waren und kleine Schlangen, die zu essen sich von selber verbot, wenn er an seinen schuppigen Freund dachte, der den Sommer über im Garten unter dem Brennholzstapel lebte, ganz wie in La Grange und im Winter den Keller von Mäusen freihielt.
    Der Strom schob ihn einmal quer durch das Fest und entließ ihn am anderen Ende wieder in die Freiheit. Endlich hatte er mehr Raum zum Atmen. Mit seinem Lutscher setzte er sich an eines der großen Feuer, das außerhalb brannte. Im aufkommenden Dunkel war es hier gemütlich und Pascal beschloss, hierzubleiben, bis Timothèe ihn wieder ins Haus ließ. Das Knistern der Flammen übertönte die meisten anderen Geräusche, wenn man nah dran saß. Heiß legte sich die erhitzte Luft auf seine Wangen. Gestapelte Strohballen bildeten einen Kreis von Sitzgelegenheiten. Er suchte sich eine, bei der er sich anlehnen konnte, machte es sich im Stroh bequem und genoss seine ungewöhnliche Delikatesse. Ob er sich trauen würde, den Skorpion mitzuessen, würde sich zeigen, wenn er ihn freigelegt hatte. Manche Dinge musste man einfach ausprobieren. Er nahm die Süßigkeit in den Mund.
    Ganz in der Nähe des Feuers befand sich der Verladeplatz, wo die Händler ihre Fuhrwerke abstellten und die Waren in Empfang genommen wurden. Auch ein Löschwagen der Feuerwehr stand dazwischen, beladen mit einem Wasserfass und etlichen Ledereimern. Diese waren billiger herzustellen als Holzeimer und leichter zu transportieren. Einer der Feuerwehrmänner kam mit offenen Schnürsenkeln nähergeschlendert. Seine Kleidung bestand aus Leder, damit sie kein Feuer fangen konnte. Er nahm die Lederkappe vom Kopf, die sein Haar schützte. In braunen, verschwitzten Stacheln stand es nach oben und er kämmte einmal mit den Fingern hindurch, so dass es aussah wie ein Igel. Vom Tragen der Kappe waren seine abstehenden Ohren knallrot. Er war nur wenig älter als Pascal und grinste frech.
    »Abend, Calli«, grüßte er und setzte sich neben ihn. Er zog seinen Tabakbeutel aus der Tasche und drehte sich eine Rauchstange, die er genüsslich qualmte.
    Pascal äugte ihn von der Seite an. »Louis«, korrigierte er. Es war der Name, unter dem er als Gehilfe in der Schreibstube arbeitete.
    Der andere winkte ab und entzündete sich eine Rauchstange. »Wer soll uns hier hören? Lass uns einfach normal reden. Ich kann Lionel nicht mehr hören und dir geht Louis garantiert auch auf den Sack.«
    Pascals Augenbrauen verzogen sich. Er mochte diese derbe Sprechweise nicht. Viel lieber war ihm Timothèes förmliche Art zu sprechen.
    »Caillou und Calli«, fuhr Caillou unbeirrt fort. »Klingt auch viel schöner und passt sogar zusammen. Regeln gut und schön, aber man kann es auch übertreiben. Entspann dich, du hast Feierabend und ich Pause. Sag mal, was ist das für ein widerlicher Lutscher?«
    Pascal hielt ihn Caillou hin, damit der ihn sich anschauen konnte. Der nahm ihn in den Mund und lutschte einmal komplett drüber. »Hagebuttengeschmack«, stellte er fest.
    »Ja, danke! Du solltest nur schauen! Behalte ihn, ich hol mir dann einen neuen.«
    Vermutlich war das Caillous Absicht gewesen. Zufrieden schob er sich den Lutscher in den Mund, löschte die angefangene Rauchstange an der Schuhsohle und steckte den Rest zurück in seinen Tabakbeutel für später.
    »Ein rauchender Feuerwehrmann«, sinnierte Pascal.
    »Hey, besser als Buchhaltergehilfe, oder? Ich würde an Langeweile zugrunde gehen.«
    »Es ist eigentlich ganz entspannt mit Timo«, fand Pascal. »Der ist ganz locker drauf, auch wenn er nicht so aussieht.«
    »Tse, da hast du es besser getroffen als ich. Ich bin froh, dass ich den vierzehnten Geburtstag hinter mir habe. Endlich kann ich alleine mein Ding machen.«
    »Und bei der Feuerwehr macht es dir Spaß?«
    Caillou grinste sehr breit, so dass seine abstehenden Ohren sich bewegten. »Reich wird man damit nicht, aber darum müssen wir zwei uns ja keine Gedanken machen. Es ist ehrlich verdientes Geld und man tut etwas Gutes.«
    Pascal beobachtete er das Gesicht des Feuerwehrmannes. Er fand, dass das Grinsen nicht zu dem passte, was er danach gesagt hatte.
    Caillou bemerkte es nicht. »Und was machst du, wenn du volljährig bist?«, fragte er unbeschwert.
    »Hast du die Hofgardisten gesehen?«
    »Ja klar. Mit denen hatte ich vorhin das Vergnügen. Sie wollten, dass wir den Löschwagen umparken, damit die Kutsche von den Herrschaften auf den Platz passt. Ich hab ihnen die Brandschutzverordnung runtergebetet, da wurden sie ungehalten. Die meinen, für sie gelten die Gesetze nicht. Kommen ja vom Hof. Sind was Besseres, haben was zu melden - glauben sie. Hab dem Typen gesagt, wo er sich seine Kutsche hinparken kann.«
    »Und dann?«
    Caillou lachte. »Hab die Hellebarde in den Bauch bekommen. Zum Glück nur die Stange.« Er rieb sich eben jenen. »Umgeparkt hab ich trotzdem nicht, das haben die anderen Feuerwehrleute dann gemacht. Aber wie sind wir jetzt eigentlich gerade auf die Hofgarde gekommen?«
    »Du hattest mich gefragt, was ich machen will.«
    »Ach so, stimmt. Du willst zu denen?«
    Pascal nickte ernst.
    Caillou zuckte mit den Schultern. »Irgendwie überrascht mich das nicht. Na ja, da kannst du mich dann mit der Hellebarde vermöbeln.«
    »Du könntest auch einfach gehorchen. Die machen auch nur ihre Arbeit.«
    Caillou spuckte aus. Der Batzen landete auf einem Stück Holzkohle und begann zu kochen. Der Feuerwehrmann starrte in die Flammen. Die Dämmerung senkte ihren schwarzen Schleier über Beaufort. Die zwei jungen Lotos schwiegen und betrachteten das orange leuchtende Lodern. Die Minuten vergingen und wurden zu einer Stunde. Caillou lutschte an der ergaunerten Süßigkeit, Pascal kaufte sich bei einem herumgehenden Händler ein Stück Teig aus einem Eimer, das er auf einen Spieß steckte und grillte. Schicht für Schicht röstete und knabberte er das Stockbrot. Lange Zeit beobachteten sie das Treiben um sie herum, lauschten der Musik und Caillou plauderte mit den vorbeigehenden Leuten, da Pascal deutlich zeigte, dass er mit ihm nicht weiter reden wollte. Irgendwann kam jemand vorbei, den Caillou kannte. Pascal roch ihn schon, bevor er ihn sah. Der Mann, der offensichtlich obdachlos war, wie Pascal anhand seiner Lumpen und des Pflegezustandes vermutete, war etwa zehn Jahre älter als sie. Haar und Bart waren blond, das Gesicht von der Sonne gebräunt. Untypisch für so hellblonde Menschen hatte er braune Augen.
    »Louis, das ist Antoine«, stellte Caillou den Mann vor. »Toni, das ist Louis, ein Freund.«
    Der Kerl streckte eine schmutzige Hand aus und lächelte, ohne dabei die Zähne zu zeigen, die vermutlich nicht gut waren. Pascal griff zu und nickte mit kühlem Lächeln zurück. Er spürte, wie die Persona den Platz an der Front einnahm. Pascal hätte nicht gelächelt. Der Wechsel war etwas, dass er körperlich spürte. Er war Louis. Louis war eine Kopie von Timothèe, verfeinert mit einigen Abwandlungen, Spiegel seiner Verehrung für diesen Mann. Er hatte Louis zusammen mit seinem Mentor entworfen. Timothèe hatte ihn darauf hingewiesen, dass es Personae realistisch machte, wenn man sie für den Anfang nach realen Vorbildern gestaltete. Eine Persona völlig frei zu erfinden, war eine größere Herausforderung, die Pascal sich für später aufsparen sollte. Dass er selbst allerdings die Referenz bilden sollte, hatte seinem Mentor nicht so gut gefallen und es war einiges Zureden nötig, um ihn von der Idee zu überzeugen. Louis war etwas offenherziger als Pascal. Verschlossen waren allerdings die meisten Lotos, das brachte die Mitgliedschaft in diesem Orden mit sich. Die einzige ihm bekannte Ausnahme war Caillou - und der übertrieb es mit seiner Offenheit bisweilen maßlos.
    Während Caillou und Antoine miteinander plauderten, plagte Pascal die Langeweile. Antoine erzählte von seinem Leben auf der Straße, von dem es nicht viel zu erzählen gab, außer, dass er den nahenden Winter fürchtete, wer von seinen Obdachlosenfreunden sich zu Tode gesoffen hatte oder einfach verschwunden war und wie unfair das Leben ihm mitspielte. Pascal kramte in seinem Rucksack herum.
    »Hilft dir das?«, fragte er und hielt Antoine die Flasche vor die braungebrannte Nase.
    Antoine lächelte. »Behalte deine Flasche nur. Ich trinke nichts«, antwortete er zu Pascals Erstaunen. Er kannte nur Obdachlose, die andauernd betrunken waren.
    »Ich schenke sie dir trotzdem. Du könntest sie zum Tauschen verwenden«, schlug Pascal vor.
    »Ach nein. Wenn, dann verschenkt man was. Man tausch nix mit jemandem, der nichts hat«, erklärte er freundlich.
    Caillou streckte sich, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und mischte sich ein. »Obdachlose sind die freigiebigsten Menschen, die ich kenne. Je weniger einer hat, umso eher teilt er mit anderen. Umso reicher, umso geiziger. Naturgesetz.«
    »Das kann man so nicht sagen«, fand Pascal.
    »Doch, so ist das«, bestätigte Antoine. »Rate mal, wer beim Betteln am meisten in den Becher tut.«
    »Es gibt aber auch nette Adlige und nicht jeder von denen ist geizig.«
    Caillou schubste ihn leicht an der Schulter. »Ist ja auch nicht jeder Adliger reich, oder?«
    Pascal nervten solche Binsenweisheiten und darum sagte er nichts mehr dazu. Antoine würde seine Gründe haben, es so zu sehen und Caillou war einfach niemand, mit dem zu diskutieren ihm Spaß machte. Wie viel angenehmer waren die niveauvollen Gespräche mit Timothèe. Bei jeder einzelnen Diskussion lernte er etwas Neues und auch Timothèe war bereit, sich von seinem Schüler eines Besseren belehren zu lassen.
    »Wie kommt es eigentlich, dass du dich auf der Kirmes blicken lässt?«, fragte Caillou.
    Pascal schlucke einen Bissen Stockbrot herunter. »Timo und Vittorio haben mich rausgeschmissen.«
    Caillou sah den anderen Lotos neugierig an. »Wie, rausgeschmissen?«
    »Timo hat meine Jacke zerrissen, mir Ei drauf geschmiert, haufenweise Geld eingesteckt und mich vor die Tür gesetzt, obwohl ich nicht wollte.«
    »Das macht er doch sonst nicht«, überlegte Caillou. »Das ist irgendwie komisch.«
    Pascal schüttelte den Kopf. »Nein, so was macht er nie. Hat gesagt, ich soll mein Leben genießen und mich betrinken. Dabei weiß er, dass ich auf so was keine Lust habe.«
    Eine Weile sah ihn Caillou mit hochgezogener Augenbraue an. »Hast du mal daran gedacht«, fragte er langsam, »dass er dich loswerden wollte?«
    »Ja klar wollte er das«, murrte Pascal. »Vittorio läuft ihm dauernd hinterher und wenn sie denken, dass ich es nicht sehe, knutschen sie. Darum sollte ich raus.«
    »Sie knutschen?« Caillou grinste breit. »Denkst du echt, dass sie nur knutschen? Das sollten wir uns ansehen.«
    »Musst du nicht arbeiten?«, fragte Pascal.
    »Mach ich doch. Ich gehe herum und kläre jeden, der es nicht hören will, darüber auf, wie er mit den Lagerfeuern umzugehen hat.«
    Pascal sah ihn missmutig an. »Das kauft dir keiner ab, wenn man dich nicht auf der Kirmes sieht.«
    »Ich bin ja nur ganz kurz weg. Toni, du kannst leider nicht mit. Louis und ich müssen was klären.«
    Sie verabschiedeten sich. Pascal schenkte Antoine das gesamte Geld, was Timothèe im mitgegeben hatte. Der Obdachlose war dermaßen gerührt, dass er sich kaum wieder beruhigen konnte. Tränen glitzerten in seinen Augen, als er den Jungen drückte und klopfte. Caillou warf derweil den restlichen Skorpionlutscher ins Feuer. Er hängte seine Kappe an den Hüftgurt, damit er sie nicht tragen musste und begleitete Pascal zu seinem Haus. Dabei schlurfte er, denn seine Schnürsenkel waren noch immer offen, so dass die Stiefel auseinanderklafften und man seine gestrickten Ringelsocken sah. Für einen Feuerwehrmann war das sehr nachlässig. Inzwischen war es vollständig Nacht geworden und alle Fensterläden waren wie immer geschlossen.
    »Wo ist die Klapperschlange?«, fragte Caillou besorgt.
    »Im Keller, es wird nachts schon zu kalt.«
    Erst jetzt wagte der Feuerwehrmann es, den verwilderten Garten zu betreten. Pascal ging voran und versuchte, den Schlüssel in der Tür herumzudrehen. Nach einigem Probieren gab er es auf. »Timo hat von innen seinen Schlüssel reingesteckt und ihn umgedreht. So wird das nichts. Wir müssen klopfen.«
    »Du kapierst auch gar nichts«, motzte Caillou. »Das hier«, er machte eine umfassende Geste, »ist kein Verbot. Es ist eine Herausforderung. Du sollst dir etwas einfallen lassen.«
    »Glaubst du? Vielleicht will er einfach mit Vittorio allein sein.«
    »Blödsinn! Das Haus ist so was von riesig und verschachtelt. Es ist ja nicht so, als ob man da nicht seine Ruhe voreinander haben könnte, oder? Komm, wir schauen mal nach den Fenstern.« Sie schlichen um das Haus herum, doch wie zu erwarten waren alle Fensterläden von innen verriegelt.
    »Wieso willst du dich überhaupt anschleichen?«, wollte Pascal wissen.
    Caillou feixte. »Gönn mir den Spaß, ja? Leise jetzt.«
    Er verharrte vor jedem Fenster, um zu lauschen. Vor dem Küchenfenster hob er den Zeigefinger und nickte. Er holte ein ledernes Etui aus der Gürteltasche, wie auch Pascal eines besaß. So wusste er, dass sich darin eine große Zahl unterschiedlicher Miniaturwerkzeuge befand. Sie waren winzig, aber von hoher Qualität und oftmals sogar den großen Werkzeugen überlegen. Caillou arbeitete langsam, leise und konzentriert. Dann hatte er eine der Lamellen aus dem hölzernen Rahmen des Fensterladens gelöst. Der freigewordene Sehschlitz leuchtete einladend. Von innen würde man das Fehlen nicht bemerken, wenn man nicht genau auf diese Stelle schaute, da von draußen kein Licht hindurchfiel. Der Garten war stockfinster bei Nacht und die hohen Bäume verdeckten die Sterne und die beiden Monde.
    Caillou winkte Pascal zu sich heran und beide schauten durch den Spalt, die Köpfe dicht nebeneinander. Pascal konnte den Ledergeruch von Caillou riechen, gemischt mit ein wenig Schweiß und über allem den scharfen Geruch von Rauch, der sich in seiner Kleidung und seinem Haar festgesetzt hatte.
    In der Küche brannte der runde Kamin vor sich hin, auf dem gekocht wurde. Es war die einzige offene Feuerstelle im Haus, der Rest wurde mit Kachelöfen beheizt. In der Küche brannte das Feuer Tag und Nacht, so dass sie auch als Aufenthaltsraum genutzt wurde. Eine große Eckbank mit einem Holztisch diente als Sitzecke zum Essen oder gemütlichem Beisammensitzen. Pascal las dort gern, wenn ihm nach Gesellschaft war. Vittorio lebte mehr in der Küche als in seinem eigenen Zimmer, wenn er nicht gerade im Keller zugange war. Nie war ihre Küche so sauber und ordentlich gewesen und nie hatten sie so vielseitig und gut gegessen, seit der Soldat in ihrem Haus lebte. Momentan jedoch wurde der Küchentisch anders genutzt.
    Timothèe saß darauf und Vittorio stand zwischen seinen Beinen. Sie waren in einen tiefen Kuss versunken. Ganz langsam und ruhig bewegten sie sich, als Vittorio Timothèe das Haar hinter das Ohr strich und seine Ohrmuschel liebkoste.
    »Süß«, spottete Caillou. »Die küssen wie Mädchen.«
    »Sie mögen sich eben«, verteidigte Pascal die beiden. »Ist doch besser, als wenn sie streiten würden.«
    »Viel besser, das stimmt. Hoffentlich kommen die bald zur Sache.«
    Pascal war etwas nervös von dem, was er sah. Ihm gefiel, wie liebevoll Vittorio mit Timothèe umging. Es war so ganz anders, als wenn er seinen Schüler mit dem Holzschwert durch den Keller prügelte oder ihn so lange anbrüllte, bis er den Parcours auch das zehnte Mal hintereinander noch fehlerfrei schaffte, obwohl ihm die Muskeln brannten und die Finger zitterten. Jetzt war der alte Soldat ganz still, er sagte überhaupt nichts. Er strich mit der Nase über Timothèes Wange und tastete mit der Zunge nach seinen Lippen. Timothèe öffnete seinen Mund.
    Caillou öffnete seine Hose.
    Das leise, rhythmische Geraschel neben ihm begann Pascal ziemlich schnell zu stören. »Geh jetzt«, befahl er.
    »Was? Die haben ja noch gar nicht richtig angefangen«, murrte Caillou.
    »Ich will nicht, dass du ihnen zusiehst. Die lieben sich und du machst dich lustig.«
    Caillou brachte seine Kleidung in Ordnung und stützte sich mit der freigewordenen Hand an der Hauswand ab. Bedrohlich lehnte er sich über Pascal. Der blieb stehen, wo er war und sah ihm unbeirrt ins Gesicht.
    »Kleiner Pascal«, sprach Caillou, »das sind zwei Lotos. Sie lieben sich nicht. Wenn es so wirkt, dann weil sie wollen, dass der andere das glaubt. Es ist ein Rollenspiel. Ihre Personae mögen sich vielleicht, mehr aber auch nicht.«
    »Ihre ... Personae?«
    Caillou grinste mit nur einem Mundwinkel. Sein herablassender Blick traf Pascal bis aufs Mark. »Ihre Personae«, wiederholte er. »Du brauchst kein schlechtes Gewissen haben. Die zwei spielen miteinander. Es ist nur ein Spiel, was du da siehst, Pascal. Unser ganzes Leben ist es.« Er schob seine Hand hinter Pascals Hals und küsste ihn auf die Stirn. »Ich respektiere deinen Wunsch. Dein Revier, deine Regeln. Ich werde zurück zur Kirmes gehen.«
    »Du hältst dich freiwillig an meine Regeln?« Pascal lachte leise und wischte seine Stirn ab.
    »Die Regeln des Ordens sind eine Sache. Ich habe mir nie ausgesucht, ein Stählerner Lotos zu sein, habe nie irgendwas unterschrieben. Warum sollte ich das Spiel nach ihren Regeln spielen? Ich mache mir meine Eigenen, wenn sie mich schon zwingen, mitzuspielen. Und das andere sind die Regeln zwischen normalen Menschen. Zwischen dir und mir. An diese halte ich mich gern, denn meine Freunde suche ich mir selbst aus.«
    Caillou ließ von ihm ab, tippte sich zum Abschied an die Schläfe und schlurfte davon.
    Pascal sah ihm kurz nach und widmete sich dann wieder seinen Beobachtungen. Timothèe horchte gerade auf und blickte in Richtung der Tür. Vittorio wartete, um ihn nicht beim Lauschen zu stören, bis Timothèe sich wieder entspannte. Sie mussten Caillou gehört haben, der mit seinen offenen Stiefeln über die Pflasterstraße zurück zur Kirmes trottete. Der Weg war nicht weit, er würde in wenigen Minuten bereits dort sein.
    Die beiden Lotos versanken wieder in eine tiefe Umarmung. Timothèe hlegte seine Wange auf das kurze graue Haar von Vittorio. Beide hielten die Augen geschlossen. Es gefiel Pascal, sie so friedlich beieinander zu sehen. Sollte Caillou über andere Paare spotten und sich an denen vergnügen. Timothèe und Vittorio beschützt zu haben, gab Pascal ein gutes Gefühl. Er würde ihnen sagen, dass sie ihn nicht auszusperren brauchten, um ihre Ruhe zu haben, sondern dass es genügte, ihn auf sein Zimmer zu schicken oder einfach die Tür hinter sich zuzumachen. Er baute die Lamelle wieder ein.
    Ein Geräusch ließ ihn zusammenfahren, ähnlich einer Musik, doch angsteinflößend. Ein Rhythmus, tief und durchdringend, ein Klang, der noch das letzte Haus in Beaufort erreichte. Die Menschen rannten auf die Straße. Die Feuerglocke hallte durch die Nacht und von der Kirmes aus stieg ein heller Schein in den Nachthimmel.