Der Duca ist tot, lang lebe der Duca
3.1.203 nach der Asche, Ebene vor Festung Dunkelbruch
"Cassio ... hilf mir!"
Tazio hielt mit geschlossenen Augen inne, doch er hörte nur das eisige Pfeifen des Sturms, der aus der Steppe wehte. Die Rakshaner hatten sich zurückgezogen, als der Schneesturm aufgezogen war. Als wieder keine Antwort kam, wankte er weiter, ohne die Augen zu öffnen. Er spürte seine Füße nicht mehr, als er durch die Leichen seiner Männer und herumliegende Waffen, Schilde und Tiere stolperte. Vielleicht war es eine Gnade, dass Eisklumpen seine Wimpern untrennbar miteinander verbunden hatten. So blieb ihm der Anblick des Schlachtfelds erspart. Die Niederlage seiner Truppen war vernichtend gewesen. Ihm waren die Augen zugefroren, die Füße abgestorben und als er noch hatte sehen können, hatte ihm eine grässliche Fratze mit schwarzen Frostflecken auf den Wangen vom Helm eines Gefallenen entgegengeblickt. Wie auf starren, unbelebten Holzbeinen wankte Tazio weiter durch die Reste. Er hörte nichts als sich selbst und den Sturm.
Seit drei Stunden war Tazio Ferdinando di Ledvico das Staatsoberhaupt von Ledwick. Träger des Weißen Pelzes und der Schwarzen Korallenkrone. Beides lag vermutlich irgendwo in einem der Trümmerhaufen, die einstmals die Zelte der Ledvigiani gewesen waren. Es war seine letzte Aufgabe, die Insignien seiner Macht nicht als Rümpelhaufen enden zu lassen, sondern sie als sein Totengewand zu tragen. Die Rakshaner wussten nicht, was sie zerstört hatten, sie konnten mit dergleichen nichts anfangen. Seine Hoffnung war, dass sie die Kiste, in der sein Vater alles verwahrt hatte, bevor er sich für die Schlacht gerüstet hatte, nicht geraubt worden war. Und dass die Richtung stimmte, in die er sich vorwärtskämpfte.
"Cassio", versuchte er noch einmal, seinen Leibdiener zu rufen.
"Majestät", antwortete Cassios heisere Stimme. Das Wort war kaum verständlich, vermutlich waren ihm die Lippen in der Kälte abgestorben.
Trotz seines erbarmungswürdigen Zustands spürte Tazio für einen Moment so etwas wie Freude, als er die vertraute Stimme hörte. "Bring mich zum Zelt."
"Dies ist die falsche Richtung, Herr, Ihr bewegt Euch zum Fluss. Kommt." Er griff ihm unter den Arm und langsam, sehr langsam brachte er Tazio an den Ort, wo der junge Duca zu sterben wünschte. Bald würde er wieder bei seinem Vater sein und in die Geschichte eingehen als der Duca mit der kürzesten Amtszeit. Als sie die Reste des großherzoglichen Zeltes erreicht hatten, wühlte Cassio für ihn nach der Kiste. Er half Tazio, den weißen Pelz um die Schultern zu legen.
"Nimm ... mir ... die ... Mütze ... ab."
"Herr, nein. Die Kälte ist euer Tod."
"Die Zwerge sind mein Tod", blaffte Tazio mit letzter Kraft. "Es ist vorbei, Cassio. Vergeude meine letzten Augenblicke bitte nicht mit dem Versuch, mich zu retten. Ich habe keine Füße mehr und kein Gesicht."
Cassio musste schlucken. "Verzeiht."
Und endlich nahm er ihm die Mütze ab und drückte ihm die Korallenkrone auf das Haupt. Er half Tazio, sich hinzulegen und drappierte seine Kleider vernünftig. Er drückte ihm den Stab aus Narwalhorn in die steifen Finger, ehe er ihm die Hände auf der Brust faltete.
"An meine Seite", bat Tazio. "Als mein Freund."
"Danke ... Tazio." Es war das erste Mal, dass er ihn beim Vornamen nannte. In diesen letzten Momenten seines Lebens wollte Tazio einen Freund an seiner Seite haben und keinen Diener.
Und so bettete sein treuer Leibdiener sich neben ihm zur ewigen Ruh, wo sie gemeinsam auf den Tod warteten. Es war Tradition, dass der Leibdiener gemeinsam mit seinem Herrn diese Sphäre verließ, um ihm auch auf den ewigen Inseln im Jenseits dienen zu können. Tazio spürte keine Kälte mehr und hatte aufgehört zu zittern. Es schien ihm sogar, als würde ihm warm werden. Als die Nacht hereinbrach, wich das Leben aus seinem Körper. Die Sonne des nächsten Morgens schien auf ein Ledwick ohne Duca und ohne Thronerben. Ein herrenloses Land, über dem bereits die Aasgeier kreisten.