Prolog - Der Duca ist tot, lang lebe der Duca

  • Der Duca ist tot, lang lebe der Duca

    3.1.203 nach der Asche, Ebene vor Festung Dunkelbruch


    "Cassio ... hilf mir!"

    Tazio hielt mit geschlossenen Augen inne, doch er hörte nur das eisige Pfeifen des Sturms, der aus der Steppe wehte. Die Rakshaner hatten sich zurückgezogen, als der Schneesturm aufgezogen war. Als wieder keine Antwort kam, wankte er weiter, ohne die Augen zu öffnen. Er spürte seine Füße nicht mehr, als er durch die Leichen seiner Männer und herumliegende Waffen, Schilde und Tiere stolperte. Vielleicht war es eine Gnade, dass Eisklumpen seine Wimpern untrennbar miteinander verbunden hatten. So blieb ihm der Anblick des Schlachtfelds erspart. Die Niederlage seiner Truppen war vernichtend gewesen. Ihm waren die Augen zugefroren, die Füße abgestorben und als er noch hatte sehen können, hatte ihm eine grässliche Fratze mit schwarzen Frostflecken auf den Wangen vom Helm eines Gefallenen entgegengeblickt. Wie auf starren, unbelebten Holzbeinen wankte Tazio weiter durch die Reste. Er hörte nichts als sich selbst und den Sturm.


    Seit drei Stunden war Tazio Ferdinando di Ledvico das Staatsoberhaupt von Ledwick. Träger des Weißen Pelzes und der Schwarzen Korallenkrone. Beides lag vermutlich irgendwo in einem der Trümmerhaufen, die einstmals die Zelte der Ledvigiani gewesen waren. Es war seine letzte Aufgabe, die Insignien seiner Macht nicht als Rümpelhaufen enden zu lassen, sondern sie als sein Totengewand zu tragen. Die Rakshaner wussten nicht, was sie zerstört hatten, sie konnten mit dergleichen nichts anfangen. Seine Hoffnung war, dass sie die Kiste, in der sein Vater alles verwahrt hatte, bevor er sich für die Schlacht gerüstet hatte, nicht geraubt worden war. Und dass die Richtung stimmte, in die er sich vorwärtskämpfte.


    "Cassio", versuchte er noch einmal, seinen Leibdiener zu rufen.


    "Majestät", antwortete Cassios heisere Stimme. Das Wort war kaum verständlich, vermutlich waren ihm die Lippen in der Kälte abgestorben.


    Trotz seines erbarmungswürdigen Zustands spürte Tazio für einen Moment so etwas wie Freude, als er die vertraute Stimme hörte. "Bring mich zum Zelt."


    "Dies ist die falsche Richtung, Herr, Ihr bewegt Euch zum Fluss. Kommt." Er griff ihm unter den Arm und langsam, sehr langsam brachte er Tazio an den Ort, wo der junge Duca zu sterben wünschte. Bald würde er wieder bei seinem Vater sein und in die Geschichte eingehen als der Duca mit der kürzesten Amtszeit. Als sie die Reste des großherzoglichen Zeltes erreicht hatten, wühlte Cassio für ihn nach der Kiste. Er half Tazio, den weißen Pelz um die Schultern zu legen.


    "Nimm ... mir ... die ... Mütze ... ab."


    "Herr, nein. Die Kälte ist euer Tod."


    "Die Zwerge sind mein Tod", blaffte Tazio mit letzter Kraft. "Es ist vorbei, Cassio. Vergeude meine letzten Augenblicke bitte nicht mit dem Versuch, mich zu retten. Ich habe keine Füße mehr und kein Gesicht."


    Cassio musste schlucken. "Verzeiht."


    Und endlich nahm er ihm die Mütze ab und drückte ihm die Korallenkrone auf das Haupt. Er half Tazio, sich hinzulegen und drappierte seine Kleider vernünftig. Er drückte ihm den Stab aus Narwalhorn in die steifen Finger, ehe er ihm die Hände auf der Brust faltete.


    "An meine Seite", bat Tazio. "Als mein Freund."


    "Danke ... Tazio." Es war das erste Mal, dass er ihn beim Vornamen nannte. In diesen letzten Momenten seines Lebens wollte Tazio einen Freund an seiner Seite haben und keinen Diener.


    Und so bettete sein treuer Leibdiener sich neben ihm zur ewigen Ruh, wo sie gemeinsam auf den Tod warteten. Es war Tradition, dass der Leibdiener gemeinsam mit seinem Herrn diese Sphäre verließ, um ihm auch auf den ewigen Inseln im Jenseits dienen zu können. Tazio spürte keine Kälte mehr und hatte aufgehört zu zittern. Es schien ihm sogar, als würde ihm warm werden. Als die Nacht hereinbrach, wich das Leben aus seinem Körper. Die Sonne des nächsten Morgens schien auf ein Ledwick ohne Duca und ohne Thronerben. Ein herrenloses Land, über dem bereits die Aasgeier kreisten.

  • Ein Geschöpf wie es bestenfalls sich die Frostalben vorstellen konnten, reiste durch den Dubis. Kalt war der Fluss, das Land und die Luft und ebenso eisig war es im Herzen dieses uralten Geschöpfs. Es gab zu dieser Zeit keine Bezeichnung für dieses Schiff. Die Frostalben nannten ganz ähnliche Schiffe Relikte. Ein Relikt war Thabit auch, aber keines der Frostalben.


    Seine Art war etwas anderes, etwas das sich dem Verständnis der heutigen Welt entzog. Er war uralt, seine Technik hingegen so hochmodern, dass es sie gar nicht geben dürfte. Doch es gab ihn und er fuhr knapp unter der eisigen Wasseroberfläche den Dubis hoch. Eine Maschine und ein Lebenwesen zugleich, mit einer Seele die einst ein Mensch gewesen war.


    Wurde er von anderen erblickt auf hoher See, hielt man ihn für einen gigantischen Fisch. Einen Hai. Einen außergewöhnlichen Hai. Riesig, groß, mächtig, überirdisch. Eine Hai-Wesenheit die Blitze beschwören konnte. Sahen sie hingegen Thabits Manifestation als Geist, erblickte man einfach die durchscheinende, glühende Gestalt des Menschen, die er zu Lebzeiten gewesen war.


    Da er im Wasser lebte und sich von Seelen ernährt, glaubten die Seeleute er wäre Davy. Er verkörperte die Legende von Davy, der Seemänner in die Tiefe riss und sie verschlang. Nur kamen sie bei ihm nicht in seine Seemannskiste, sondern in den Leib des Schiffes.


    Bevor er aus den Fluten auftauchte, entluden sich statische Ladungen, Blitze die manche Masten in Elmsfeuer brennen ließen. Etwas das zusätzlich dazu beitrug, dass man ihn für jene Sagengestalt der Meere hielt. Manchmal sprach er zu den Seeleuten, er benötige Informationen genauso wie er Seelen zum Überleben benötigte. Beides war sein Treibstoff, die Essenz die ihn körperlich und seelisch nährte.


    Da wo bei anderen Kreaturen ein Herz schlug, hämmerten in Thabit Hochleistungsreaktoren. Seine Seele hingegen hatte nichts von ihrer Magie, ihrer Macht noch von ihrem Herzen eingebüßt. Er lebte und er fühlte...


    Es war etwas Grauenhaftes an Land geschehen. Ein Schmerz hatte ihn innerlich erschüttert und mit absoluter Gewissheit wusste er, dass eine Person gestorben war. Jemand der das Blut seiner Familie in sich trug, jemand der nicht sterben durfte.


    Thabit war ein Ältester, ein Ur-Lich.


    Die Existenz als Ur-Lich war ein ganz eigner Zustand und hatte nichts mehr mit der weltbekannten Nekromantie an sich gemein. Wo sich andere Nekromanten in den Vordergrund spielten, Leichen zu Untoten wiederbelebten, Geister beschworen oder Knochen befehligten, da wandte sich der Ur-Lich nach innen.


    Die Ältesten waren Geschöpfe, die ihre eigene Seele derart manipuliert hatten um ihr Leben unvorstellbar zu verlängern und eine Macht zu erlangen, von der selbst der machthungrigste Magier nicht zu träumen wagte.


    Ein Ur-Lich verlängerte nicht einfach die Lebensspanne seiner Geburtshülle. Oh nein, er verließ sie, streifte sie ab wie eine Schlange ihre uralten Häute. Dann presste er seine Seele samt ihrer Essenz durch den Schleier des Nexus und verankerte sie in der Trias. Damit war er ewiglich.


    Erhaben über den Nexus, fest verankert vor dem Taudis. Aber dieses Unterfangen war nicht ohne Risiko und jeder der es wagte spielte auf eigenes Risiko.


    Sich selbst die Seele aus dem eigenen Leib zu reißen, anstatt den Leib zu erhalten, verursachte Schmerzen bis hinein in die letzte Essenzfaser. Lebenslange Studien, ein ungeheurer eiserner Wille und die Bereitschaft Schmerzen zu ertragen, die jedes geistige Fassungsvermögen überstiegen waren die Grundvoraussetzungen um ein Ur-Lich, ein Ältester werden zu können.


    Man spaltete sich, zerriss sich selbst in Fetzen, trennte sogar seine Seele auf. Seelen waren mächtig, Macht die auch das Denken und Fühlen in die Form des dazugehörigen Lebens presste.


    Hob man diese Trennung auf, zerriss man die natürlichen Grenzen die Körper, Geist und Seele auferlegt waren und zerriss man sogar einen Teil seiner Seele erhielt man als Belohnung für diese ungeheuerliche Tat einen fast unbegrenzten magischen Horizont.


    Man wandelte fortan zwischen drei Ebenen, ausgestattet mit genau jener Macht. Körperlosigkeit und Körper, es war die freie Entscheidung eines Ältesten.


    Sie waren nur eine Stufe von einem Gott entfernt.

    Wer wusste schon, wie groß oder klein dieser letzte Schritt war?

    Einen Schritt weiter, da lauerte der Abgrund.

    Und von ihrem Ankerplatz aus konnte man den Abgrund sehen...


    Jener Abgrund, der sich so manchen Fast-Ältesten geholt und verschlungen hatte. Man hatte einen Versuch. Einen einzigen Versuch, sich zu einem Halbgott zu erheben.


    Der Weg dahin war gepflastert damit sich die Psyche zu zerfetzen, die Seele zu zerreißen und sie aufzutrennen. Niemand konnte einen Teil von seiner Seele auf Dauer abtrennen ohne davon nicht wenigstens wahnsinnig zu werden.


    Er war mehrere Tode gestorben.


    Bevor er ein Ältester wurde, war er vergangen und als ein Biomechanoid wiedergeboren worden. Leid, Schmerz und Pain waren seine ständigen Begleiter, wie seit diesem Tag Irving. Sein Mann, seine ewige Liebe. Er hatte sich selbstlos geopfert um ihn zurück ins Leben zu holen. In neuer immerwährender Form.


    Und mit dieser selbstlosen Tat voller grenzenloser Liebe, wurde auch er wiedergeboren und zwar in den Tiefen von Thabits neuem Körper selbst. Heute nach all der Zeit, nach all den Wandlungen, nach all den Veränderungen an Körper und Geist, wusste er nicht mehr wie es sich anfühlte einst ein Mensch gewesen zu sein.


    Die Liebeserinnerungen seines Mannes waren der Anker seiner Erinnerungen, wie der Trias der Anker seiner Macht.


    Eines hatte Thabit niemals vergessen, dass er ein Teil einer großen Sippe war und dass er eine Familie zu beschützen hatte. Blut war dicker als Wasser. Und so schob er sich durch das eisige Wasser an den Mann von seinem Blute heran um zu retten, was eigentlich nicht mehr zu retten war.


    Thabit erhöhte die Geschwindigkeit als ihm seine Sensoren sagen, dass sich der Mann ganz in der Nähe befinden musste. Der Leviathan schoss durch das Wasser, so dass an den Ufern Gischt aufschäumte. Zielstrebig hielt er genau auf den Punkt zu, den er lokalisiert hatte.


    Rammgeschwindigkeit.


    Was das bedeutete war Irving bewusst. Thabit schoss auf das Ufer zu und mit tosendem Donnern und gewaltigem Knirschen schob sich das Schiff aus dem Wasser des Flusses und landete mit Nase und Kopf auf dem Land.


    Wasser floß in Sturzbächen den blau grauen Körper hinab und vereiste noch während es zu Boden fiel, während statische Ladungen den Koloss umzuckten. Die Turbinen leisteten Höchstarbeit, bevor sie herunterfuhren und ganz verstummten.


    Da lag er, der Leviathan, der Riesenhai, die Legende Davy... oder einfach nur Thabit.

    Thabit von Wigberg, einst ein Essenzmagier aus fernen Landen.


    Ein helles Leuchten materialisierte sich um die riesige pfeilspitze Nase des Schiffs, dann wehte sie davon, als wäre sie nur eine Einbildung gewesen. In einem frostigen Zelt, sammelte sich das Leuchten und nahm wieder Gestalt an.


    In den wärmenden Pelz des Leone gehüllt, mit der Korallenkrone auf dem Haupt lag der junge Duca di Ledvico tot auf dem Boden. Neben ihm ein Mann, der ihm bis zuletzt die Treue gehalten hatte.


    Thabit schlang die Arme um seinen dürren Leib, als sich schwarze Tentakelartige Fäden zu einer Gestalt in dem Zelt zusammenbrauten. Argentocoxos schaute nicht auf, sondern sein Blick ruhte weiterhin auf dem verstorbenen Verwandten.


    "So hätte es nicht enden sollen. Er ist jung und er ist von unserem Blut", sagte er leise. Er war stets ein Mann leiser Worte gewesen, wer Macht hatte musste die Stimme nicht erheben.

    "Nein das hätte es nicht...", antwortete die Dunkelheit, die an im Wind wehende schwarze Haare erinnerte.


    "Er ist ein Geschöpf des Wassers, so wie ich", sagte Thabit voller Trauer.

    "Dann rufe ihn... geleite ihn heim...", antwortete die Finsternis, aus der sich stahlbaue Augen und monströse Reißzähne schälten.


    "Deshalb bin ich hier, Du hast keinen Anspruch auf ihn", antwortete der Leviathan.

    "Niemand hatte das... zu viele haben diese Seele betrogen... vor allem um sein Leben...", antwortete der Älteste und die Tentakeln verwehten im Wind.


    Thabit beugtes ich zu Tazio herab, eine geisterhafte Hand auf die frostige Stirn des jungen Mannes gelegt, die andere tief im Boden vergraben. Wer hier noch über den Boden stolperte, wer noch Leben in den Knochen hatte und keiner von Tazios Mannen war, verlor augenblicklich seine Seele. Herausgerissen durch eine Wesenheit die Güte und Gnadenlosigkeit in einem war, so wie die See selbst.


    Mit einem Keuchen schnappte Tazio nach Luft, als er sich wie aus einer grauenvollen, schmerzgepeinigten Ohnmacht erhob. Der junge Mann setzte sich auf, während die Erscheinung von Thabit vor ihm schwebte.


    "Lebe Tazio di Ledvico! Und merke Dir meine Worte, so vergelten die Feinde Deines Blutes Hilfsbereitschaft! Folge dem Licht, es führt Dich zu Deinen Männern und dann Tazio kehre Heim! Ledvico und die Welt braucht Dich, vor allem die Deines Blutes!", sagte der Mann.


    Die Gestalt des Magiers in Robe verwehte. Zurück blieb eine gleißende Kugel blaugrünen Lichts, dass Tazio den Weg zu seinen Männern leitete. Als die Nacht hereinbrach war der junge Duca wieder bei seinen überlebenden Männern, die Erscheinung jedoch war verschwunden.










  • Tazio verstand nicht, als er dem Licht nacheilte, doch er fühlte. Fühlte, dass er lebte, dass er als Mensch auf Asamura wandelte. Er war kein Ghul, kein Zombie, er war der Duca. Fortgewischt waren Trauer, Angst und Schmerz, als hätte er sie drüben auf den Ewigen Inseln zurückgelassen. Sein Schiff war wieder umgekehrt, bevor es die Ufer erreicht hatte. Mit geblähten Segeln war es zurückgerauscht, während das Schiff seines Vaters weiterfuhr. Tazios Aufgabe als Duca war noch nicht zu Ende. Vor ihm lag Großes. Sein Land brauchte den Leone di Marino und niemand außer einem Ledvico konnte den weißen Pelz anlegen.


    Er blinzelte, als der Schneesturm nachließ. Das Licht, von dem er gegblaubt hatte, dass es vor ihm herfliegen würde, erwies sich als Feuer.

    In vollem Ornat stand Tazio vor seinen überlebenden Männern. Seine Rüstung war überzogen von gefrorenem Blut, doch Krone und Pelz waren sauber, mit glitzernden Schneekristallen bedeckt wie winzige Diamanten. Die schwarzen Bisse des Winters waren von seinen Wangen und seiner Nase verschwunden, sein Gesicht war bleich und ebenmäßig wie das einer beinernen Adelsmaske.


    Als die Männer ihn erkannten, erhoben sie sich von ihrem Lager. Tazio sah, dass sie einen notdürftigen Wall aus Karren, Schilden und Speeren errichtet hatten, in dessen Mitte mehrere Feuer brannten. Vor dem vordersten stand er. Diese Feuer am Leben zu halten, das war unter diesen Bedingungen ein Kunststück für sich, doch seine Krieger hatten es bewerkstelligt. Irgendjemand hier hatte sich während seiner Abwesenheit gewissenhaft um alles gekümmert und für Ordnung im Chaos des Krieges gesorgt.


    "Wer ist der Mann, der all das organisiert hat?", wollte er wissen.

  • Ein alter Soldat schälte sich aus der Kälte. Sein Gesicht war so blass, wie das aller anderen Umstehenden. Langsam, fast bedächtig kam er näher. Dabei starrte er Tazio an, als handelte es sich um eine Erscheinung. Knapp vor ihm blieb der alte Soldat stehen, der Atem zwischen ihnen gefror zu winzigen Wolken.


    Mantel und Krone, das Ornat Ledvicos, in fremden Landen.


    Gefrorene Tränen glitzerten auf den Wangen des Mannes, ehe er auf die Knie sank. Die anderen Soldaten folgten seinem Beispiel. Einer nach dem anderen ging auf die Knie und mitten in der trostlosesten Nacht erklang das Lied der Hoffnung. Die Soldaten stimmten die Hymne Ledvicos an, um ihren zu ihnen zurückgekehrten Duca zu ehren und willkommen zu heißen. Als die letzte Strophe verklungen war, legte sich die Stille wieder über das Lager.


    "Der Duca ist tot, lang lebe der Duca!", rief Vianello.

    "Il Duca e morto, lunga vita al Duca!", riefen die Soldaten im Chor.


    Die klare Luft trug den Hall meilenweit, so dass das Lied und der Ausruf wie in einem geisterhaften Canons gesungen und zurückgeworfen wurde. Ebbe und Flut, Diesseits und Jenseits vereint durch die Hymne des Landes das sie Heimat nannten, das Land das sie liebten. Gepriesen die Rückkehr ihres Duca.


    Und so wie wie sich die See bei Flut ausbreitete und bei Ebbe zurückzog, so zog sich Thabit in die Tiefen des Flusses zurück. Der Duca hatte zurück an das Feuer des Lebens gefunden.


    "Herr wir hielten Euch für tot", sagte Vianello und entgegen jedem Protokoll nahm er den jungen Mann einfach in die Arme, "Willkommen daheim".

  • Die Begrüßung war ergreifend. Hier um die Feuerinseln voll schufen die Anwesenden in diesem Moment ein kleines Stück Ledwick, während um sie herum die Felder des Chaos nur den Tod bargen. Hier aber fanden sie Schutz, Licht und Wärme und ein merkwürdiges Gefühl von Geborgenheit. Ein Stück zu Hause war es, das sie hier errichtet hatten. Der Mann, der die Reste seiner Streitmacht durch den Schneesturm gebracht hatte, war Tazio bekannt. Er erkannte ihn sofort, auch wenn drei klaffende Schnittwunden sein Gesicht zeichneten. Und dann verschwand das Gesicht auch schon aus seinem Blickfeld, weil Vianello ihn umarmte und seinen Kopf gegen den seines Ducas drückte.


    Tazio konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal umarmt worden war. Vermutlich vor vielen Jahren als Kind von seinem Vater. Hier und heute war es keine Anmaßung, sondern eine Geste des Willkommenseins. Vianello war froh und so war es Tazio. Langsam hob er die behandschuhten Hände und legte sie auf den breiten Rücken des Soldaten.


    "Ich weiß nicht, warum du noch lebst, anstatt meinen Vater auf die Ewigen Inseln zu begleiten. Aber ich bin froh, dass du hier bist und nicht dort. Cassio wird sich in der Ewigkeit gut um Ernesto Sirio kümmern. Es wird meinem Vater an nichts fehlen und Cassio auch nicht. Du aber sollst fortan Cassios Platz als mein Leibdiener einnehmen. Danke, dass du hier bist. Danke, dass du unsere Krieger zusammengehalten und gerettet hast."

  • Vianello sah Tazio an und nickte ergriffen.


    "Eure Majestät, ich hatte keine Zeit Eurem Vater zu folgen. Schaut Euch um, dass sind die Männer die uns geblieben sind. Ob es noch andere geschafft haben, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich musste sie retten, wir mussten uns beistehen und jede Hand zählte die anpacken kann. Ein guter Leibdiener kann seinem Herrn auch nachreisen, wenn er vorab für alles gesorgt hat. Genau dass wollte ich tun, sobald unsere Männer wieder Sumpf oder Sand zwischen den Zehen haben.


    Ich Danke Euch von Herzen, dass Ihr mich annehmt. Cassio wird sich genauso aufopferungsvoll um Euren Vater kümmern, wie ich es getan habe. Und ich werde Euch so dienen, wie es Euer Vater gewünscht hätte. Mein Dienst und mein Schwert gehören Euch. Kommt, wärmt Euch am Feuer. Wir haben nichts zu essen, aber wir haben etwas Schnee geschmolzen. Warmes Wasser mit Flechten, Tee mit viel Vorstellungskraft", antwortete der alte Soldat und führte Tazio an das Lagerfeuer.


    Ein Stück Helm, dass wohl mal eine Spitze gewesen war, war zum Becher umfunktioniert worden. In dem heißen Wasser schwammen Flechten, die erstaunlicherweise appetitlich rochen. Vielleicht war es auch nur der Hunger und der Durst. Vianello schloss die Hände des Duca um den wärmenden Becher.


    "Nehmt, trinkt, wärmt Euch auf. Gepriesen sei Ainuwar, dass er uns den Leone di Marino an diese fremden Gestanden gespült hat. Ihr habt schon einmal den Weg aus der Dunkelheit ans Licht gefunden. Am heimatlichen Strand habt Ihr Euren Pelz abgelegt Majestät. Ihr seid das Zeichen unserer Hoffnung, das Leuchtfeuer dass uns im Sturm auf hoher See nach Hause führen wird. Warum sonst tragt Ihr den Pelz, sogar das ganze Ornat? Majestät wir flehen Euch an, führt Eure Männer heim!", bat Vianello inständig.


    Alle Augen ruhten auf dem jungen Duca, was seine Männer sahen, konnte er nicht wissen. Aber der weißes Pelz schien im Lichtschein der Lagerfeuer seltsam kräftig zu strahlen und zu glänzen.

  • Tazio trank einen Schluck des wärmenden Tees. Er schmeckte erdig, aber in diesem Moment allein aufgrund der Wärme köstlich. Fortan würde Tazio nicht mehr in der Ich-Form von sich sprechen, wenn er in Amt und Würden auftrat. Er war nicht länger der Thronerbe, der Arciduca, er war der Duca selbst. Ganz ohne Krönungszeremoniell. Ihm wurde bewusst, dass der Tod es war, der ihn gekrönt hatte.


    "Danke euch allen für diesen herzerwärmenden Empfang. Wir sind froh, wieder unter euch wandeln zu dürfen. Der Tod hatte uns im Griff, doch wir wurden zurückgerufen. Wir sahen eine Erscheinung", sinnierte er. "Ein Mann aus blaugrünem Licht, wie leuchtendes Meeresgrün, aber er war nicht unser Vater. Wir vermuten einen Ahnen, vielleicht Lazzaro Fedele, denn er sprach in sehr vertraulichem Ton mit uns. Und seine Gegenwart erfüllte uns mit neuer Zuversicht. Er sagte: Merke Dir meine Worte, so vergelten die Feinde Deines Blutes Hilfsbereitschaft! Folge dem Licht, es führt Dich zu Deinen Männern und dann Tazio kehre Heim! Ledvico und die Welt braucht Dich, vor allem die Deines Blutes! - Und das tat er. Er führte mich hierher.


    Die Warnung war deutlich, die Weisung auch. Seht, der Sturm ist abgeflaut, das werden auch die Rakshaner nutzen. Wir brechen so schnell wie möglich auf und nehmen so viele Überlebende mit, wie wir nur finden können und an Verletzten so viele, wie wir tragen können. Wir werden versuchen, durch Souvagne zu reisen und schnellstmöglich Hilfe hierher zurückschicken, um die verbleibenden Männer nach Hause zu holen."

  • Die Truppe versammelte sich um ihren Duca, oder besser dass was davon übrig war. Männer und sogar einige Frauen, zerlumpt, abgemagert und halb erfroren die sich dicht um ihn drängten. Vianello schaute über die Gruppe, viele waren sie nicht mehr. Der Weg war weit und Vianello hoffte unterwegs noch Überlebende zu finden.


    Viel zu viele waren dem Hilferuf der Zwerge gefolgt, die Almanischen Länder mit Ausnahme der Souvagne, die Goblins und sogar die Lichtalben. Alle hatten eine Schlacht geschlagen die sie weder verschuldet hatten, noch gewinnen konnten. Und dann in der größten Not, als ihr aller Leben auf Messers Schneide stand, schlossen sich die Tore der Festung.


    Ohne ein Wort hatten die Zwerge damit der Welt gesagt, wie sie über alle anderen Völker dachten. Die Tore vor der Nase zugeschlagen, von jenen die herbeigeeilt waren, ihnen zu helfen. Die Fassungslosigkeit in den Gesichtern seiner Kameraden war greifbar gewesen.


    Verrat.

    Verrat an Verbündeten.

    Verrat kannte nur eine Antwort in Almanien, jedes Großherzogtum kannte sie - den Tod.


    Aber der Tod hatte nicht die Zwerge ereilt, sondern jenen die ihnen zur Hilfe geeilt waren. Wie zum Hohn wärmten sich die Zwerge in ihrer Feste die kleinen pelzigen Ärsche, während jene die für sie gekämpft, geblutet und gestorben waren draußen vom Frost geholt wurden. Vianello konnte nicht in Worte fassen, welche Abscheu er für diese ehrlosen Kreaturen der Unterwelt empfand.


    "Merke Dir meine Worte, so vergelten die Feinde Deines Blutes Hilfsbereitschaft!

    Folge dem Licht, es führt Dich zu Deinen Männern und dann Tazio kehre Heim!

    Ledvico und die Welt braucht Dich, vor allem die Deines Blutes!


    Ihr hattet vermutlich eine Offenbarung Herr und wer immer dieser ehrwürdige Ahne gewesen sein mag, er rettete Euch und rettete uns. Wie Ihr wünscht, wir gehen. Der Sturm hat sich just gelegt, als Ihr erschienen seid. Mehr Zeichen können wir nicht verlangen, mehr wird es nicht geben", rief Vianello und ein Raunen ging durch die Menge.


    "Ihr habt den Duca gehört! Abrücken, nehmt nur das mit, was wir wirklich benötigen. Aber ein jeder nimmt einen Stoß Feuerholz mit!", befahl der alte Haudegen.


    Und so wurde das Lager abgebaut, die Feuer wurden gelöscht und der Treck setzte sich in Bewegung. Der Duca di Ledvico führte seine Mannen von den Feldern des Todes. Schweigend wanderten sie, aber es war keine Totenstille mehr, es war die Ruhe der Hoffnung die sie begleitete. Tage vergingen, die Sonne kämpfte sich an einem grauen Horizont empor und versank im faden Licht der Abenddämmerung.


    Genauso wie das Gestirn am Himmel, kämpften sich die Ledvico voran. So manch einer stürzte in den harten Schnee um nie wieder aufzustehen. Für Tränen hatten sie keine Zeit, ebenso wenig um die Kameraden zu begraben. Der Boden war gefroren und so zogen sie weiter, stets ihrem Duca folgend. Die einen fielen der Kälte zum Opfer, die anderen schälten sich aus der Landschaft, als hätte sie diese ausgespuckt.


    Der Treck der Tazio di Ledvico und seinem treuen Leibdiener folgte wurde länger und länger. Das Knirschen im Schnee ihrer stapfenden Beine wurde ihre Marschlied. Ledwicker, Markler, Ehverosser, sogar einige Souvagner waren unter jenen die das Feindesland wieder preisgab. Almanen vereint im Angesicht des Todes. Die Gefallenen nährten und kleideten die Überlebenden.


    Und dann urplötzlich, standen sie vor einem gewaltigen Tor.

    Vianello hob die Hand, der Treck kam zum stehen.


    Der Leibdiener des Duca klopfte.

  • Tazio blickte nicht auf das Tor, sondern auf die schwarze Wolkenwand am Horizont, die in der flachen Steppe ungebremst näherwalzte. Hier draußen gab es keinen Unterschlupf, keine Deckung und keinen Schutz. Er hatte die Ledvigiani nach Hause führen wollen und die übrigen Almanen in Sicherheit, doch gegen die Macht des Winters war jede weltliche Macht vergebens. Dieser zweite Schneesturm würde ihrer aller Tod sein. Die Gnade der Rakshaner war das Einzige, was sie jetzt noch retten konnte. Tazio wandte den Blick wieder nach vorn, doch er sah in sein Inneres, wo er erneut das Licht der Erscheinung spürte, die ihn gerettet hatte. Der Ahn hatte ihn nicht zurückgebracht, damit er hier starb, sondern weil er noch eine Aufgabe auf Asamura zu erledigen hatte. Darum war er zuversichtlich, dass dieses Tor geöffnet werden würde.


    Und in der Tat. Zuerst erschienen oben auf den Zinnen Köpfe, die in dicke Tücher gewickelt waren, so dass nur die Augen herausschauten. Sie betrachteten die Almanen und dann den schwarz werdenden Himmel. Der Wind hatte an Schärfe zugenommen, der Frost biss durch die Kleidung tief ins Fleisch. Kurz darauf ging das Tor auf. Keinen Spalt breit, sondern vollständig.


    Und zu ihrer großen Überraschung war das Innere von Dunkelbruch bereits voller Almanen.


    "Wir hatten nicht damit gerechnet, dass es noch weitere Überlebende gibt. Ich bin Zickidul Raman, der Stellvertreter von Tarrik Tarkan", stellte der Rakshaner sich vor. "Wenn ihr in Frieden kommt, obgleich noch Krieg herrscht, tretet ein. Die Waffen schweigen auf unserer Seite, da Tarkan momentan mit Almanien verhandelt. Seid unsere Gäste, das Gastrecht bindet uns, habt keine Furcht. Und falls ihr euch dennoch fürchtet, tretet trotzdem ein. Dort draußen holt ihr euch nur den Tod."


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