Sirio
Unterwegs mit dem Heereszug
Der Heereszug bewegte sich langsam auf ihr Ziel zu. Die Salzstraße war an vielen Stellen versandet, da die Ledvigiani lieber über den Seeweg handelten. Die Gegend war im Vorfeld im Hinblick auf ihre Eignung für den Tross ausgekundschaften worden, so dass das Heer trotz des auf diesem Abschnitts schlechten Zustands der Handelsstraße gut voran kam. Momentan blickte niemand nach unten, die Augen waren nach oben gerichtet, wo der Stolz des Duca prangte.
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Die Felsenburg ragte schroff hinauf in den Himmel. Sie bildete den höchsten Punkt so weit das Auge reichte. Die Ausläufer des Hochgebirges trugen mit dieser Feste eine steinerne Krone, die mehr als nur ein Bollwerk war. Arx Sirio war eine Demonstration von Macht und verdeutlichte den Anspruch auf dieses Gebiet. Für Ledvigiani waren Felsenburgen ungewöhnlich, insbesondere welche von diesem Ausmaß. Doch auch hier im kaum bewohnten kargen Nordosten des Landes galt die Herrschaft des Duca.
»Na, wie gefällt dir Arx Sirio?«, fragte Duca Ernesto Sirio di Ledvico. »Hier wurde ich geboren und so erhielt sie meinen Namen. Und hier möchte ich eines Tages sterben.«
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Der jugendliche Tazio ritt neben seinem Vater. Beide saßen auf weißen, reich geschmückten Wasserbüffeln mit versilberten Hörnern und trugen Reisekleider. Die Büffel waren gutmütige Tiere und nicht für den Krieg geeignet, sie dienten allein der Fortbewegung. Die Soldaten gingen zu Fuß, während etliche weitere Wasserbüffel ihre Ausrüstung und die Vorräte trugen. Das Muhen gehörte zur ständigen Geräuschkulisse. Wagen gab es keine; dazu war das Gelände nicht geeignet.
»Wenn Ihr sie so preist, muss ich mich wohl anschließen, Vater«, antwortete Tazio schmunzelnd. »Sie ist beeindruckend, doch ich ziehe die Seefestung Fortezza vor.«
»Das verstehe ich, jeder bevorzugt den Ort, an dem er seine ersten Atemzüge tat. Und Fortezza birgt ihre eigene Schönheit. Ich könnte mir hingegen Arx Sirio eines Tages als Altersruhesitz vorstellen, wenn du mein Amt übernommen hast«, fuhr Sirio fort.
»Aber so weit weg vom Wasser?« Tazio konnte sich das nicht so recht vorstellen. »Hier gibt es nichts, nur Berge und die Wüste ist nah. Dies ist die wasserärmste Region des Landes.«
»Richtig, Arx Sirio liegt weit weg vom Meer«, antwortete Sirio schmunzelnd, ohne auf die Gründe näher einzugehen.
Aus irgendeinem für Tazio unbekannten Grund war sein Vater der einzige wasserscheue Ledvigiano von ganz Asamura. Er war Nichtschwimmer, hasste Regen und betrat Schiffe nur dann, wenn es sich aufgrund seiner Pflichten nicht vermeiden ließ. Selbst Fisch wollte er nicht essen. Stattdessen zog es ihn hinauf in die Berge, die ihm nicht hoch, karg und schroff genug sein konnten. Doch die Truppenverlegung folgte keinen persönlichen Vorlieben, sondern den Umständen, welche die Rakshaner ihm aufzwangen. Die Wüstensöhne standen bereits an der nördlichen Grenze von Souvagne und falls das nordliche Großherzogtum fiel, war Ledwick als nächstes an der Reihe.
»Ich verstehe nicht, warum wir die Truppen ausgerechnet hier zusammenziehen.« Es war keine Kritik von Tazio, sondern er bemühte sich, die Handlungen und Entscheidungen seines Vaters nachzuvollziehen.
»Was würdest du an meiner Stelle tun?«, fragte Sirio retour.
»Das Gleiche, was unsere Vorfahren durch die Jahrhunderte gerettet hat. Ich würde eine großangelegte Evakuierung vorbereiten, indem von der zu erwartenden Frontlinie aus im Vorfeld alle Nahrungsmittel und alles Vieh, überhaupt alles, was für die Rakshaner zu verwerten ist, in Richtung Meer geschafft wird. Die Bewohner sollten nur das Minimum behalten, um nichts zurücklassen zu müssen, sollte eine tatsächliche Evakuierung nötig sein. So würde im Falle des Falles alles sehr schnell gehen. Dann würde ich sämtliche Ledvigiani rechtzeitig auf die Inseln verbringen, noch bevor die Rakshaner uns erreichen, und das Ganze aussitzen. Sie haben keine Schiffe, sie können uns nicht folgen.«
Sirio nickte zum Zeichen, dass er die Idee anerkannte. »Was du vorhättest, würde ich ebenfalls tun, jedoch erst im größten Notfall, wenn für nichts anderes mehr Zeit bleibt oder uns die Mittel fehlen würden. Doch noch ist der Feind fern, wir können das Ganze langsamer angehen lassen. Momentan treffen wir nur Vorkehrungen, eine Evakuierung ist noch nicht vorgesehen. Das Schwierigste, was es im Krieg im Auge behalten werden muss, sind nicht die Gefechte, sondern die Logistik. Kein Heer kann endlose Vorräte mit sich führen und ohne Trinkwasser ist jede noch so gute Einheit innerhalb kürzester Zeit verloren. Bei einer Evakuierung bricht schlagartig die Wirtschaft in den entvölkerten Regionen zusammen. Und jene Regionen, in welchen die Evakuierten Zuflucht finden, sind einer vervielfachten Belastung ausgesetzt. Das geht nicht lange ohne Nachteile gut. Darum gilt es, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten und ihn so weit wie möglich nach hinten hinauszuzögern. Dafür sind wir hier.«
Sirio wies mit einer umfassenden Geste auf das Heer, das vor ihnen und hinter ihnen zog.
»Diese Soldaten werden unser Land auf einen möglichen Chaossturm vorbereiten. Hier ist der bestmögliche Sammelpunkt für eine große Landstreitmacht, denn wie du weißt, wollen Soldaten ernährt und untergebracht werden, ebenso benötigen sie eine medizinische Versorgung. All das bietet uns die Feste, dafür wurde sie konzipiert, sie kann zahlreiche Truppen fassen und sie auch versorgen. Von Arx Sirio aus leiten wir die künftigen Missionen. Die Wassergräben werden verlegt, Dämme errichtet oder durchbrochen, um möglichen Feinden das Vordringen zu erschweren. Der Sumpf, den wir hier und da einst trocken gelegt haben, wird uns erneut dienlich sein, indem wir die Wasser wieder entfesseln. Da wir Ledvigiani kein Getreide anbauen, sondern unsere Bauern vor allem Schilfwurzeln und Wasserbüffel produzieren, sowie unser Volk in Stelzenhäusern haust, wird der Schaden durch die zielgerichteten Überschwemmungen sich in Grenzen halten. Das Gros der Ernährung wird weiterhin vom Dhunik im Süden gewährleistet mit seinen reichen Fischgründen und Kokospalmen.«
Sirio trotzte auch Dingen, die er fürchtete. Es war ihm durchaus möglich, seine Wasserscheu zeitweise zu ignorieren, wenn er es für notwendig erachtete und ihm war der strategische Wert ihres feuchten Landes bewusst. Doch wenn es nicht sein musste so hielt er sich fern. Der Duca hob die Hand zum Zeichen, dass sie halten würden. Der Befehl wurde von seinen Offizieren weitergeleitet. Er blickte zurück in Richtung der Sonne, die sich bereits rot färbte, wenngleich sie den Horizont noch längst nicht berührte. »Alvashek beginnt zu bluten. Unter diesem Licht sollen die Männer rasten und Ainuwar opfern. Wir haben keine Eile. Für heute ruhen wir noch einmal unter freiem Himmel, bevor wir Arx Sirio erreichen.«
Damit war es entschieden, auch wenn manch einer sicher bedauerte, so kurz vor Erreichen des Ziels nicht in der Burg nächtigen zu dürfen. Trotz seiner ruhigen Worte wirkte Sirio besorgt darüber, dass die Sonne sich so früh am Nachmittag schon rot färbte. Während sein Zelt aufgebaut wurde, betrachtete er all die Zeit über nervös die Umgebung. Tazio fragte sich, warum er nach Süden blickte und nicht in Richtung der Sonne oder nach Norden, von wo die Rakshaner zu erwarten waren, bis es ihm wieder einfiel - im Süden lag das Meer.