Prolog
Das Meer unterliegt dem ständigen Wechsel von Ebbe und Flut. Es kommt und geht, verbirgt und offenbart, schützt und stellt bloß.
Ganze Landstriche verschwinden und tauchen auf.
Verborgene Orte.
Geheimnisse.
Tückische Wege.
Der Mond ist der Herr des Meeres, Meister des ewigen Kreislaufs, dem das Wasser unterworfen ist.
Oder ist es darin aufgehoben? Umschlossen in seiner Umarmung?
Ist der Mond weniger Herr, sondern viel mehr Geliebter? Den wiederzusehen es harrt, nur um erneut verstoßen zu werden, in ewige Sehnsucht gebannt?
I
Es war hektisch wie immer vor einer Reise.
Jan und die Kinder saßen schon im Wagen und ich kramte eilig meine letzten Sachen zusammen, kontrollierte, ob der Herd ausgeschaltet war, nichts Verderbliches im Kühlschrank, die Lieblingskuscheltiere der Mädchen nicht mehr in ihren Betten.
Als letztes schnappte ich mir den Wälzer von der Sofalehne. So lange schon lag er dort aufgeschlagen auf derselben Seite. In diesem Urlaub würde ich ihn endlich lesen. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass wir kein Haus im Strandpark bekommen hatten.
„Mama kommt auch schon“, hörte ich Jan den Kindern sagen, als ich auf die offenstehende Beifahrertür zuging. Ich beschloss es zu ignorieren, zu sehr freute ich mich auf die Auszeit.
Nachdem wir die ersten Kilometer hinter uns gelassen hatten, fiel auch die letzte Anspannung von mir ab. Unter uns flog der Asphalt vorbei, neben uns Bäume und Sträucher, Felder und Wiesen. Ich mochte dieses Gefühl, losgelöst zu sein. Es war eine Art von Freiheit und von Aufbruch. Ich lächelte Jan an und legte meine Hand auf seine auf den Schaltknüppel. Er drehte mir den Kopf zu und lächelte zurück. Hinter uns waren Hanna und Jana bereits am Wegdösen, sodass zumindest der erste Teil der Strecke entspannt sein würde. In Gedanken war ich schon bei dem einsamen Haus hinter der Düne.
Ich war bereit für dieses Abenteuer.
Je weiter wir nördlich kamen, desto grauer wurde der Himmel.
„Bald wird es regnen“, sagte Jan.
Die Mädchen hatten Hunger und wir hielten, um uns noch im Trockenen die Beine ein wenig vertreten zu können.
Über uns schoben sich graue Wolken übereinander. Der Wind frischte auf, ein Vorgeschmack auf die Küste. „Hoffentlich bessert sich das Wetter noch.“
Jan sah von seinem Becher auf. „Laut Wetterbericht ab Mittwoch. Aber vielleicht haben wir Glück. Wir hatten schon alles da oben.“
Nur dieses Mal keine Sauna, dachte ich, sprach es aber nicht aus, um Jan nicht herauszufordern. Er hatte mich überredet, dass wir auch ohne auskämen, doch bei all seiner Outdoor-Erfahrung von früher, war ich mir sicher, dass im Grunde er der Weichling von uns war. Was er niemals zugeben wollte.
„Wir müssten fast am Strandpark vorbeikommen“, sagte ich stattdessen. „Und dann links weg. Am Deich, glaube ich.“
„Da oben heißt jede Straße „Am Deich“. Hast du den Plan ausgedruckt?“
Ich nickte, obwohl ich nicht der Meinung gewesen war, dass es nötig war. Wir waren schon so oft in Friedrichskoog gewesen. Bestimmt waren wir schon an unserem Ferienhaus vorbeispaziert, ohne es zu merken.
Nach der Pause begann der anstrengende Teil der Fahrt. Ich setzte mich hinten zwischen die Mädchen, damit sie aufhörten zu streiten.
„Es ist nicht mehr weit“, versicherte ich ihnen. „Bald sehen wir das Meer wieder.“
Wie wir die Autobahn verließen, klatschen die ersten Tropfen auf die Windschutzscheibe. Ich fand es schön, das Geprassel und die Frische, die sogar über die Belüftung im Innenraum sofort spürbar war, doch Jan, der von der langen Fahrt erschöpft war, brummelte vor sich hin.
Die langgezogene Allee führte uns vorbei an Feldern und Windrädern in Richtung Spitze, wo der Strandpark war. In diesem Jahr bogen wir vorher links ab in den Ortskern.
„Sollen wir noch etwas einkaufen?“ Ich musste mich nach vorne beugen und beinahe schreien, dass Jan mich über das Trommeln auf dem Dach verstehen konnte.
„Jetzt nicht“, kam nur als Antwort.
Entgegen der mürrischen Laune im Auto, stieg in mir die Vorfreude. Ich erkannte einige der Häuser und konnte es kaum erwarten, die salzige Luft zu atmen. Wir passierten den Hafen, und bogen ab in Richtung Deich.
„Ist das nicht ein Parkplatz?“, fragte ich, doch Jan winkte ab. Ich zog den Zettel hervor und versuchte, etwas Bekanntes darauf zu erkennen.
„Sackgasse.“ Jan seufzte.
„Ich glaube, wir müssen auf die andere Seite des Hafenbeckens.“
Jan wendete den Wagen. Er war genervt. Ich sah, wie er sich beherrschte, mich nicht für meine mangelnde Unterstützung anzufahren. Dabei war nicht ich diejenige, die sich weigerte, ein Navigationsgerät zu benutzen.
„Da vorne ist die Robbenaufzucht“, erklärte ich Hanna und Jana. „Da waren wir schon.“
„Jetzt Robben anschauen!“, rief Jana und reckte sich zum Fenster.
„Es ist schon zu spät, wir machen das diese Woche, in Ordnung?“
„Nein jetzt!“, beharrte Jana und zog eine Schnute.
„Die machen schon bald zu“, versuchte ich sie abzuwimmeln.
„Wohin jetzt?“, unterbrach uns Jan. Er hatte den Scheibenwischer auf höchster Stufe und lehnte sich über das Lenkrad, in der Hoffnung besser zu sehen.
„Ich würde sagen, bis zum Deich.“
„Was steht denn auf dem Zettel?“
Ich strich das Papier glatt und setzte an, zu erklären.
„Gib mal. Bitte.“
Jan nahm den Zettel. „Tolle Beschreibung“, brummte er. „Ganz toll.“
Schließlich fuhr er einfach weiter geradeaus. Die Straße machte einen Knick nach rechts.
„Seedeich!“ Ich zeigte hinaus auf ein Straßenschild.
Jan blieb stehen. „Auf dem Zettel steht „Elbdeich“, Vanessa. Hast du ihn dir überhaupt angeschaut?“
Er schüttelte den Kopf und studierte nochmals den Plan. Dann stöhnte er auf und schlug mit der Hand auf das Lenkrad.
„Natürlich müssen wir auf die andere Seite. Ich wusste es doch.“
„Wann sind wir da, Mama?“ Jana zupfte an meinem Ärmel.
„Da?“, wiederholte Hanna.
„Gleich, Schatz.“ Ich lächelte beiden zu, wurde dann aber zur Seite geschleudert.
„Jan!“
„Was? Ich muss wenden!“, fuhr er mich an und preschte zurück auf die Hauptstraße. Schlagartig herrschte betretene Stille im Auto. Umso lauter prasselte der Regen.
„Da! Ich bin zu früh abgebogen“, sagte Jan zu niemand Bestimmtem.
Weder die Mädchen noch ich wagten etwas zu entgegnen.
Tatsächlich aber führte die Straße nun am Parkplatz vorbei und weiter in Richtung Deich. Wo der Seedeich rechts abgezweigt hatte, ging es hier nach links. „Elbdeich“, stand auf dem Schild, aber ich erwähnte es dieses Mal nicht.
„So. Jetzt brauchen wir nur noch die richtige Nummer.“
Ich hörte Jans Erleichterung. So schnell er hochkochte, so schnell beruhigte er sich auch wieder. Trotzdem überließ ich den Rest der Suche ihm.
Neben uns lag der Deich im Dunst. Ein paar Schafe grasten dem Wetter zum Trotz und ich zeigte sie Hanna und Jana.
„Hier gibt es keine Häuser“, murmelte Jan. Bis auf ein paar vereinzelte Schuppen erstreckten sich linker Hand bloß Felder.
„Es stand ja da, dass es ganz einsam steht“, wagte ich mich nun wieder hervor.
„Hauptsache, es steht.“ Jan grinste. Sein Ausraster von vorher tat ihm leid.
„Wann sind wir da?“
„Gleich, Schatz“, wiederholte ich und legte meine Hand auf Janas Oberschenkel. „Gleich.“
Jan fuhr langsam über die schmale Straße. Niemand war bei diesem Wetter unterwegs, weder hier unten, noch oben auf dem Deich, wo das Gras sich dem Wind beugte. Stetig flogen die Scheibenwischer hin und her. „Ich glaube da vorne ist etwas.“
Alle sahen wir angestrengt durch die verwaschene Scheibe.
„Nur ein Schuppen.“
„Das ist doch aufregend, hm?“ Verschwörerisch grinste ich die Mädchen an.
„Ja“, entgegnete Jana zögerlich.
„Ja“, sagte Hanna.
„Das vielleicht.“ Wieder schälten sich die Umrisse eines Gebäudes aus dem Dunst.
„Das sind sogar mehrere Häuser.“ Jan hielt den Wagen an.
Ein Kiesweg führte auf einen kleinen, leeren Parkplatz. Dahinter stand umringt von Wiese ein altes Haus mit Klinkerfassade und dem typischen Walmdach, daneben eine alte Scheune und weiter hinten ein Schuppen.
„Ist es das?“, fragte ich.
Jan zuckte mit den Schultern. „Wir werden fragen müssen. Aber es brennt zumindest Licht. Ich sehe nach.“
Ich reichte Jan seine Regenjacke.
„Sind wir da?“, fragte Jana abermals.
„Das wissen wir noch nicht genau.“
Durch die Windschutzscheibe sah ich Jan auf das Haus zu rennen. Er rettete sich unter das Vordach und schien eine Klinge zu suchen. Schließlich klopfte er. Nach einer Weile öffnete eine Frau die Türe. Sie war groß, beinahe so groß wie Jan, und blond, soweit ich das erkennen konnte. Ihr Haar war zu einem Dutt zusammengebunden und sie trug einen Kapuzenpullover. Nach einem kurzen Gespräch drehte Jan sich um und zeigte uns Daumen hoch. Er sagte noch etwas zu der Frau und kam zum Auto zurück.
Es war, als hätte der Regen den letzten Rest Anspannung von Jan abgespült.
„Alles klar, hier sind wir.“, verkündete er grinsend, als er Janas Tür geöffnet hatte. „Das war Marie, bei ihr habe ich gebucht. Ich würde sagen, wir nehmen erst mal Nötigste mit rein. Den Rest holen wir später.“
Wir versuchten die Mädchen mit Schirmen einigermaßen trocken zum Haus zu bringen. Während Jan zurückging, um die Koffer zu holen, schob ich die beiden durch die Bogentür in den Flur. Eine Lampe auf einem Beistelltisch sorgte für Licht. Auf dem hölzernen Fußboden lag ein bunter Teppich entlang der Treppe, die hinter der Türe nach oben führte.
„Willkommen. Da habt ihr aber ein Wetter mitgebracht.“