Grauzonen - Jaros NaNoWriMo 2023 aus einer fremden Welt

  • Prolog


    Das Meer unterliegt dem ständigen Wechsel von Ebbe und Flut. Es kommt und geht, verbirgt und offenbart, schützt und stellt bloß.

    Ganze Landstriche verschwinden und tauchen auf.

    Verborgene Orte.

    Geheimnisse.

    Tückische Wege.

    Der Mond ist der Herr des Meeres, Meister des ewigen Kreislaufs, dem das Wasser unterworfen ist.

    Oder ist es darin aufgehoben? Umschlossen in seiner Umarmung?

    Ist der Mond weniger Herr, sondern viel mehr Geliebter? Den wiederzusehen es harrt, nur um erneut verstoßen zu werden, in ewige Sehnsucht gebannt?





    I


    Es war hektisch wie immer vor einer Reise.

    Jan und die Kinder saßen schon im Wagen und ich kramte eilig meine letzten Sachen zusammen, kontrollierte, ob der Herd ausgeschaltet war, nichts Verderbliches im Kühlschrank, die Lieblingskuscheltiere der Mädchen nicht mehr in ihren Betten.

    Als letztes schnappte ich mir den Wälzer von der Sofalehne. So lange schon lag er dort aufgeschlagen auf derselben Seite. In diesem Urlaub würde ich ihn endlich lesen. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass wir kein Haus im Strandpark bekommen hatten.

    „Mama kommt auch schon“, hörte ich Jan den Kindern sagen, als ich auf die offenstehende Beifahrertür zuging. Ich beschloss es zu ignorieren, zu sehr freute ich mich auf die Auszeit.

    Nachdem wir die ersten Kilometer hinter uns gelassen hatten, fiel auch die letzte Anspannung von mir ab. Unter uns flog der Asphalt vorbei, neben uns Bäume und Sträucher, Felder und Wiesen. Ich mochte dieses Gefühl, losgelöst zu sein. Es war eine Art von Freiheit und von Aufbruch. Ich lächelte Jan an und legte meine Hand auf seine auf den Schaltknüppel. Er drehte mir den Kopf zu und lächelte zurück. Hinter uns waren Hanna und Jana bereits am Wegdösen, sodass zumindest der erste Teil der Strecke entspannt sein würde. In Gedanken war ich schon bei dem einsamen Haus hinter der Düne.

    Ich war bereit für dieses Abenteuer.


    Je weiter wir nördlich kamen, desto grauer wurde der Himmel.

    „Bald wird es regnen“, sagte Jan.

    Die Mädchen hatten Hunger und wir hielten, um uns noch im Trockenen die Beine ein wenig vertreten zu können.

    Über uns schoben sich graue Wolken übereinander. Der Wind frischte auf, ein Vorgeschmack auf die Küste. „Hoffentlich bessert sich das Wetter noch.“

    Jan sah von seinem Becher auf. „Laut Wetterbericht ab Mittwoch. Aber vielleicht haben wir Glück. Wir hatten schon alles da oben.“

    Nur dieses Mal keine Sauna, dachte ich, sprach es aber nicht aus, um Jan nicht herauszufordern. Er hatte mich überredet, dass wir auch ohne auskämen, doch bei all seiner Outdoor-Erfahrung von früher, war ich mir sicher, dass im Grunde er der Weichling von uns war. Was er niemals zugeben wollte.

    „Wir müssten fast am Strandpark vorbeikommen“, sagte ich stattdessen. „Und dann links weg. Am Deich, glaube ich.“

    „Da oben heißt jede Straße „Am Deich“. Hast du den Plan ausgedruckt?“

    Ich nickte, obwohl ich nicht der Meinung gewesen war, dass es nötig war. Wir waren schon so oft in Friedrichskoog gewesen. Bestimmt waren wir schon an unserem Ferienhaus vorbeispaziert, ohne es zu merken.


    Nach der Pause begann der anstrengende Teil der Fahrt. Ich setzte mich hinten zwischen die Mädchen, damit sie aufhörten zu streiten.

    „Es ist nicht mehr weit“, versicherte ich ihnen. „Bald sehen wir das Meer wieder.“

    Wie wir die Autobahn verließen, klatschen die ersten Tropfen auf die Windschutzscheibe. Ich fand es schön, das Geprassel und die Frische, die sogar über die Belüftung im Innenraum sofort spürbar war, doch Jan, der von der langen Fahrt erschöpft war, brummelte vor sich hin.

    Die langgezogene Allee führte uns vorbei an Feldern und Windrädern in Richtung Spitze, wo der Strandpark war. In diesem Jahr bogen wir vorher links ab in den Ortskern.

    „Sollen wir noch etwas einkaufen?“ Ich musste mich nach vorne beugen und beinahe schreien, dass Jan mich über das Trommeln auf dem Dach verstehen konnte.

    „Jetzt nicht“, kam nur als Antwort.

    Entgegen der mürrischen Laune im Auto, stieg in mir die Vorfreude. Ich erkannte einige der Häuser und konnte es kaum erwarten, die salzige Luft zu atmen. Wir passierten den Hafen, und bogen ab in Richtung Deich.

    „Ist das nicht ein Parkplatz?“, fragte ich, doch Jan winkte ab. Ich zog den Zettel hervor und versuchte, etwas Bekanntes darauf zu erkennen.

    „Sackgasse.“ Jan seufzte.

    „Ich glaube, wir müssen auf die andere Seite des Hafenbeckens.“

    Jan wendete den Wagen. Er war genervt. Ich sah, wie er sich beherrschte, mich nicht für meine mangelnde Unterstützung anzufahren. Dabei war nicht ich diejenige, die sich weigerte, ein Navigationsgerät zu benutzen.

    „Da vorne ist die Robbenaufzucht“, erklärte ich Hanna und Jana. „Da waren wir schon.“

    „Jetzt Robben anschauen!“, rief Jana und reckte sich zum Fenster.

    „Es ist schon zu spät, wir machen das diese Woche, in Ordnung?“

    „Nein jetzt!“, beharrte Jana und zog eine Schnute.

    „Die machen schon bald zu“, versuchte ich sie abzuwimmeln.

    „Wohin jetzt?“, unterbrach uns Jan. Er hatte den Scheibenwischer auf höchster Stufe und lehnte sich über das Lenkrad, in der Hoffnung besser zu sehen.

    „Ich würde sagen, bis zum Deich.“

    „Was steht denn auf dem Zettel?“

    Ich strich das Papier glatt und setzte an, zu erklären.

    „Gib mal. Bitte.“

    Jan nahm den Zettel. „Tolle Beschreibung“, brummte er. „Ganz toll.“

    Schließlich fuhr er einfach weiter geradeaus. Die Straße machte einen Knick nach rechts.

    „Seedeich!“ Ich zeigte hinaus auf ein Straßenschild.

    Jan blieb stehen. „Auf dem Zettel steht „Elbdeich“, Vanessa. Hast du ihn dir überhaupt angeschaut?“

    Er schüttelte den Kopf und studierte nochmals den Plan. Dann stöhnte er auf und schlug mit der Hand auf das Lenkrad.

    „Natürlich müssen wir auf die andere Seite. Ich wusste es doch.“

    „Wann sind wir da, Mama?“ Jana zupfte an meinem Ärmel.

    „Da?“, wiederholte Hanna.

    „Gleich, Schatz.“ Ich lächelte beiden zu, wurde dann aber zur Seite geschleudert.

    „Jan!“

    „Was? Ich muss wenden!“, fuhr er mich an und preschte zurück auf die Hauptstraße. Schlagartig herrschte betretene Stille im Auto. Umso lauter prasselte der Regen.

    „Da! Ich bin zu früh abgebogen“, sagte Jan zu niemand Bestimmtem.

    Weder die Mädchen noch ich wagten etwas zu entgegnen.

    Tatsächlich aber führte die Straße nun am Parkplatz vorbei und weiter in Richtung Deich. Wo der Seedeich rechts abgezweigt hatte, ging es hier nach links. „Elbdeich“, stand auf dem Schild, aber ich erwähnte es dieses Mal nicht.

    „So. Jetzt brauchen wir nur noch die richtige Nummer.“

    Ich hörte Jans Erleichterung. So schnell er hochkochte, so schnell beruhigte er sich auch wieder. Trotzdem überließ ich den Rest der Suche ihm.

    Neben uns lag der Deich im Dunst. Ein paar Schafe grasten dem Wetter zum Trotz und ich zeigte sie Hanna und Jana.

    „Hier gibt es keine Häuser“, murmelte Jan. Bis auf ein paar vereinzelte Schuppen erstreckten sich linker Hand bloß Felder.

    „Es stand ja da, dass es ganz einsam steht“, wagte ich mich nun wieder hervor.

    „Hauptsache, es steht.“ Jan grinste. Sein Ausraster von vorher tat ihm leid.

    „Wann sind wir da?“

    „Gleich, Schatz“, wiederholte ich und legte meine Hand auf Janas Oberschenkel. „Gleich.“

    Jan fuhr langsam über die schmale Straße. Niemand war bei diesem Wetter unterwegs, weder hier unten, noch oben auf dem Deich, wo das Gras sich dem Wind beugte. Stetig flogen die Scheibenwischer hin und her. „Ich glaube da vorne ist etwas.“

    Alle sahen wir angestrengt durch die verwaschene Scheibe.

    „Nur ein Schuppen.“

    „Das ist doch aufregend, hm?“ Verschwörerisch grinste ich die Mädchen an.

    „Ja“, entgegnete Jana zögerlich.

    „Ja“, sagte Hanna.

    „Das vielleicht.“ Wieder schälten sich die Umrisse eines Gebäudes aus dem Dunst.

    „Das sind sogar mehrere Häuser.“ Jan hielt den Wagen an.

    Ein Kiesweg führte auf einen kleinen, leeren Parkplatz. Dahinter stand umringt von Wiese ein altes Haus mit Klinkerfassade und dem typischen Walmdach, daneben eine alte Scheune und weiter hinten ein Schuppen.

    „Ist es das?“, fragte ich.

    Jan zuckte mit den Schultern. „Wir werden fragen müssen. Aber es brennt zumindest Licht. Ich sehe nach.“

    Ich reichte Jan seine Regenjacke.

    „Sind wir da?“, fragte Jana abermals.

    „Das wissen wir noch nicht genau.“

    Durch die Windschutzscheibe sah ich Jan auf das Haus zu rennen. Er rettete sich unter das Vordach und schien eine Klinge zu suchen. Schließlich klopfte er. Nach einer Weile öffnete eine Frau die Türe. Sie war groß, beinahe so groß wie Jan, und blond, soweit ich das erkennen konnte. Ihr Haar war zu einem Dutt zusammengebunden und sie trug einen Kapuzenpullover. Nach einem kurzen Gespräch drehte Jan sich um und zeigte uns Daumen hoch. Er sagte noch etwas zu der Frau und kam zum Auto zurück.

    Es war, als hätte der Regen den letzten Rest Anspannung von Jan abgespült.

    „Alles klar, hier sind wir.“, verkündete er grinsend, als er Janas Tür geöffnet hatte. „Das war Marie, bei ihr habe ich gebucht. Ich würde sagen, wir nehmen erst mal Nötigste mit rein. Den Rest holen wir später.“

    Wir versuchten die Mädchen mit Schirmen einigermaßen trocken zum Haus zu bringen. Während Jan zurückging, um die Koffer zu holen, schob ich die beiden durch die Bogentür in den Flur. Eine Lampe auf einem Beistelltisch sorgte für Licht. Auf dem hölzernen Fußboden lag ein bunter Teppich entlang der Treppe, die hinter der Türe nach oben führte.

    „Willkommen. Da habt ihr aber ein Wetter mitgebracht.“

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Mein Blick fand Marie, die seitlich neben der Tür wartete. Hinter ihr musste der Raum liegen, in dem zuvor schon Licht gebrannt hatte, wahrscheinlich das Wohnzimmer. Ich hatte richtig gesehen: sie war blond und trug die Art von Dutt, die mir immer zu perfekt unperfekt erschien, als beiläufig gebunden worden zu sein. Auf ihrem grauen Pullover war eine Möwe aufgedruckt und ihr Gesicht war sonnengebräunt.

    „Oder die Nordsee empfängt uns von ihrer liebsten Seite“, entgegnete ich und erwiderte Maries Lächeln. „Ich bin Vanessa, schön, dass wir hier wohnen können.“

    Marie schob die Hände in die Taschen einer löchrigen Jeans. Sie wandte den Blick von mir ab und ließ ihn stattdessen durch den Flur streifen. „Ich freue mich auch. Dieses Jahr habe ich nicht so viele Gäste. Ihr seid die einzigen diese Woche.“ Sie zuckte die Schultern. „Und ihr beiden?“, wandte sie sich an Jana und Hanna und ging vor ihnen in die Hocke. „Wie heißt ihr?“

    Schüchtern, aber artig nannten die Mädchen ihre Namen, da kam Jan mit unseren beiden Koffern ins Haus geeilt.

    „Keine Ahnung, ob da alles drin ist, was wir brauchen, aber so schnell gehe ich nicht mehr raus.“ Mit der Hand fuhr er über sein nasses Haar und grinste in die Runde. Er hatte seine typische „jetzt wird alles gut – gute Laune“. Es gefiel ihm hier, oder zumindest wollte er, dass es ihm gefiel und dass es uns gefiel.

    „Wollt ihr eine Tasse Tee?“, bot Marie an.

    „Vielleicht sehen wir uns erst die Zimmer an?“ Ich sah zu Jan, der nickte.

    „Unten ist das Wohnzimmer und die Küche. Beides könnt ihr nutzen, wie ihr mögt. Oben habt ihr zwei Schlafzimmer, wie besprochen. Ich schlafe im Schuppen, solange ihr hier seid. Eigentlich schlafe ich den ganzen Sommer dort.“

    Die Stufen knarzten unter unseren Schritten. Geländer und Wandverkleidung waren weiß gestrichen und Bilder von Sand und Meer begleiteten uns den Weg hinauf. Auch oben führte der Flur zu beiden Seiten ab und auch hier lag ein bunter Teppichläufer aus.

    „Es ist schön hier“, sprach ich meinen Gedanken aus und wunderte mich umso mehr über die wenigen Bilder auf der Homepage. Vor meinem geistigen Auge entstand sofort eine bessere Website. Bohème-Chic mit Küstencharme…

    „Eure Zimmer sind auf dieser Seite.“, wies uns Marie nach links den Gang entlang. Leider waren es nur Doppelzimmer, doch letztlich hatten wir unsere Ansprüche generell weit zurückgeschraubt, um überhaupt noch etwas zu finden. Die Räume waren schlicht eingerichtet, aber einladend. In jedem Zimmer stand ein großes Bett unter der Dachschräge, auf der anderen Seite ein Schrank und ein kleiner Schreibtisch. Durch die Fenster konnte ich die verregneten Wiesen und Felder sehen. Kein Deichblick also, aber im Idealfall würden wir die meiste Zeit ohnehin draußen verbringen.

    „Das Bad ist gegenüber. Wenn ihr etwas braucht, kommt einfach runter oder ruft mich.“ Damit ließ Marie uns allein.

    Hanna und Jana diskutierten bereits eifrig, wo sie schlafen würden. Wir hatten vorgehabt, sie aufzuteilen, doch ich war mir fast sicher, dass sie am Ende beide bei mir schlafen würden. Die Betten waren mit Leinenwäsche bezogen und rochen frisch. Am liebsten hätte ich mich selbst direkt hinein gelegt nach der langen Fahrt. Es konnte kaum später als fünf sein, doch das Regenwetter war so düster, dass jedes Zeitgefühl verloren ging.

    Wir richteten uns ein, während die Mädchen in den Betten herumsprangen. Für den Anfang konnten wir Jana überreden bei Jan mit einzuziehen.

    Unten fanden wir Marie in der Küche. Auf dem runden Holztisch stand eine Kanne Tee und vier Tassen, allesamt aus weißem Porzellan mit blauen Verzierungen.

    „Fühlt euch wie zu Hause“, begrüßte sie uns. „Ihr könnt hier Kochen und euch aufhalten. Es ist ein offenes Haus.“ Sie lächelte uns an, obwohl ich fand, dass ihre Worte ein bisschen einsam klangen. Jan lächelte zurück.

    „Danke!“, sagte er. „Hast du hier viele Gäste?“

    „Mal so, mal so“, antwortete Marie. „Manchmal ist das ganze Haus voll und die Leute campen noch auf der Wiese, manchmal kommt lange niemand. Wahrscheinlich liegt es vor allem daran, wie ausgebucht die Nachbarschaft ist.“

    Wieder dachte ich an die verbesserungswürdige Homepage, doch es war Jan, der antwortete.

    „Du solltest mehr Werbung machen. „Stille statt Trubel“, oder sowas.“

    „Vielleicht. Ich bin noch im Aufbau.“ Dann stand Marie schon wieder auf. „Ich muss noch etwas erledigen. Wie gesagt, fühlt euch wie zu Hause. Wir sehen uns morgen.“

    Wir verabschiedeten uns und sahen zu, wie Marie trotz des Regens mit dem Fahrrad davonfuhr. Da wurde mir bewusst, dass kein Auto auf dem Gelände gestanden hatte.

    „Ob wir sie hätten fahren sollen?“, fragte ich Jan.

    Er sah mich an. „Ich glaube, das hätte sie nicht gewollt.“

    Wir nahmen uns von dem Tee und kundschafteten den Rest des Hauses aus. Im Wohnzimmer entdeckten die Mädchen sofort den Fernseher und wir schalteten ihnen eine Kindersendung ein. Sie lümmelten vor der Lehncouch auf dem Teppichboden, auf die Art, wie nur Kinder fernsehen können. Es war angenehm warm in diesem Raum. Neben Couch und Fernsehbank gab es einen großen Esstisch mit sechs Stühlen, ein Bücherregal mit Büchern und ein paar Gesellschaftsspielen und einen stillgelegten Kamin, in dem große Kerzen bereitstanden. Jan legte seine Arme um mich.

    „Ich glaube, hier können wir es doch aushalten, oder?“

    Ich griff nach seinen Armen und zog mich fester in die Umarmung. „Ja, hast du gut gemacht.“

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Am nächsten Morgen war Hanna früh auf. Eine Weile konnte ich sie in unserem Zimmer beschäftigen, doch dann drängte es sie nach draußen. Auf leisen Sohlen schlichen wir die Treppe hinunter.

    Es war kühl im Haus und die Welt außen war verhüllt von Nebel. Von Maria gab es keine Spur, doch in der Küche standen zwei Kannen auf dem Tisch, daneben ein Korb mit braunen Brötchen und Croissants, selbst gemachte Marmelade, Butter und Honig, eine Schale mit Eiern. Ich entdeckte einen Zettel. Wurst und Käse ist im Kühlschrank. Auf dem Herd steht Kakao.

    "Malade!" Freudig rannte Hanna zum Tisch und versuchte auf einen der krummen Holzstühle zu klettern. Ich half ihr und schob ihr den Teller hin, nach dem sie sich streckte.

    „Möchtest du ein Brötchen?“

    Sie nickte eifrig und ich nahm eines, schnitt es auf und bestrich es mit Butter und ein wenig Marmelade. Der wunderbare Duft noch warmen Brotes stieg mir in die Nase. Dann schaute ich in die Kannen. Eine enthielt den starken Kräutertee, den wir abends getrunken hatten, in der anderen war Kaffee. In Gedanken knutschte ich Marie und schenkte mir ein. Im Kühlschrank fand ich Milch und die angekündigte Käse- und Wurstplatte.

    „Aufff“, presste Hanna neben einem halben Brötchen hervor und zeigte auf meine Tasse. Ich gab ihr Milch und setzte mich zu ihr.

    „Lecker?“, fragte ich, während ich mir selbst die andere Brötchenhälfte mit Butter bestrich.

    „Lecker!“, bestätigte sie und grinste mich an.

    Während wir aßen, betrachtete ich durch das Fenster den Nebel. Für mich hatte Nebel immer etwas Beruhigendes. Ich fürchtete nicht, was sich darin verbergen mochte. Eher fühlte ich mich darin geborgen. Vor allem, wenn ich in einem gemütlichen Haus, an einem gemütlichen Tisch saß, Kaffee trinken und warme Brötchen essen konnte. Außerdem brachte Nebel meist die Hoffnung auf Sonnenschein mit sich. Wenn es so kalt war, wie es aussah, konnte wir das gut gebrauchen. Wir waren nicht das erste Mal im Juni an der Nordsee. Tage mit zehn Grad, Wind und Regen von der Seite kannte wir bereits. Trotzdem hofften wir natürlich das Beste, vor allem, seit wir Jana und Hanna dabeihatten.

    „Esst nicht alles allein auf“, riss Jan mich aus meinen Gedanken. Lächelnd kam er mit Jana im Schlepptau in die Küche und küsste erst Hanna, dann mich auf den Scheitel.

    „Gut geschlafen?“, fragte ich und er bejahte.

    „Wo ist Marie?“

    „Das weiß ich nicht. Wir haben auch nur das Frühstück vorgefunden.“

    „Na gut.“ Jan zuckte mit den Schultern und bediente sich ebenfalls. Nach einer Weile entdeckte er den Zettel und las ihn mit hoch gezogenen Brauen. „Nicht schlecht“, betitelte er und schenkte sich Kaffee nach.

    Nach dem Frühstück hatte sich der Nebel immer noch nicht verzogen. Wir beschlossen die restlichen Sachen aus dem Auto zu holen und erst einmal zumindest den Garten und die Scheune mit den Mädchen anzuschauen. Ich konnte es kaum erwarten, endlich richtig Nordseeluft zu atmen. Am Abend waren Jan und ich so müde gewesen, dass wir fast mit den Mädchen schlafen gegangen waren.

    Nach und nach trugen wir unser restliches Gepäck ins Haus. Spielzeug für drinnen und draußen, Verpflegung, Regenkleidung, feste Schuhe, Notfallkissen und Decken, und unser Gastgeschenk.

    „Das wird auch immer mehr“, murrte Jan, als er die letzte Fuhre ins Haus schleppte.

    „Für die Kinder habe ich…“

    „… lieber zu viel als zu wenig dabei, ich weiß“, beendete er den Satz für mich, nahm seinen Worten aber mit einem Lächeln die Schärfe.

    Noch immer gab es kein Zeichen von Marie und noch immer hing der Nebel schwer über dem Boden. Hanna und Jana hatten ihre Freude darin herumzurennen und sich zu verstecken. In der Scheune gab es einen alten Kickertisch und eine Sitzecke, im Garten fand ich einen Grillplatz und eine Feuerstelle. Ich konnte mir gut vorstellen, dass eine größere Gruppe hier Urlaub machte, dass sie abends beisammensaßen, spielten, lachten und Wein tranken. Wenn Marie all das allein auf die Beine gestellt hatte, hatte sie ganze Arbeit geleistet.

    Ich kam auch an Maries Schuppen vorbei und konnte nicht anders, als verstohlen durch ein Fenster zu linsen. Leider waren die Vorhänge zugezogen und durch den kleinen Spalt am Rand konnte ich so gut wie nichts erkennen.

    „Was meint ihr“, schlug ich vor, „sollen wir mal zur Spitze fahren?“

    „Ja!“, riefen die Mädchen im Chor, obwohl ich mir nicht sicher war, ob wussten, was ich damit meinte.

    Als wir ankamen, erkannte Jana den Spielplatz am Strandpark indes sofort. Es waren schon einige Familien da. Nach meinem Morgen im Nebel kam es mir fast unnormal voll vor. Ich wollte am liebsten gleich über den Deich gehen, um erst einmal das Meer zu sehen, doch die Mädchen waren nicht zu überzeugen. Schließlich erbarmte sich Jan und schickte mich allein los.

    Ich hatte nicht nachgesehen, wie die Gezeiten aktuell lagen und machte mir auf dem Weg die Treppe hinauf einen Spaß daraus zu raten. Bestimmt war Ebbe. In meiner Erinnerung war häufiger Ebbe gewesen als Flut, oder zumindest war dieser Anblick mir mehr geblieben. Oben auf dem Deich begrüßte mich sofort der Wind und ich atmete tief die salzige Luft ein. Auf der abfallenden Wiese standen die bunten Strandkörbe, links streckte sich der Trischendamm hinaus in die See. Es war Flut, oder zumindest nahe dran.

    Am liebsten wäre ich den Damm sofort hinausgelaufen. Bei Flut war das am schönsten, doch ich wollte nicht zu lange fort sein, ohne zumindest Bescheid zu geben. Es war so schön, wieder hier zu sein. Ich erinnerte mich an die Abende, an denen Jan und ich abends eingekuschelt in einem der Strandkörbe saßen. An einem davon hatte er mich gefragt, ob ich seine Frau werden wollte. An einem anderen hatte ich ihm verraten, dass wir nicht mehr nur zu zweit waren. Ich seufzte. So oft waren wir schon hierhergekommen, so oft waren wir aufs Neue überrascht gewesen, wie viel Kraft der Wind hatte, und so oft hatten wir erst zu Hause gemerkt, wie tiefenentspannt wir zurückgekommen waren.

    Wir hatten noch Zeit. Heute war erst der erste Tag. Ich würde das Meer noch oft genug ansehen, mit meiner Familie den Damm hinausspazieren, die Vögel beobachten und nach Muscheln Ausschau halten. Für jetzt machte ich mich wieder auf den Weg nach unten. Schon im Auto hatte Jana gesagt, dass sie im Restaurant wieder die guten Waffeln essen wollte, und das wollte ich auch nicht verpassen.

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    Laotse

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  • Schon von oben sah ich, wie die Mädchen auf einem der Klettergerüste spielten. Jan fand ich nicht gleich, dann sah ich, dass er sich etwas Abseits unterhielt. Erst als ich näher herankam, erkannte ich Marie. Sie trug den gelben Regenmantel, mit dem sie tags zuvor losgeradelt war und schwarze, knöchelfreie Jeans.

    Ich beobachtete die beiden den ganzen Weg nach unten, und wurde mir dessen erst auf halber Strecke bewusst, wie wenn man sich nach einer Weile ertappt, dass man jemanden gedankenverloren anstarrt. Jan lachte viel. Er hatte die Arme verschränkt, eine Haltung, die ich gut kannte. Er machte das, wenn er nicht wusste, was er sonst mit seinen Händen anstellen sollte. Marie hatte ihre Hände in den Taschen des Regenmantels verbragen. Sie stand sehr aufrecht. Bestimmt machte sie viel Sport. Und war viel draußen an der Luft, ein Outdoorfreak – wie Jan.

    Ich ging nicht zu ihnen, sondern zu dem Klettergerüst, auf dem die Mädchen spielten. Hanna folgte Jana eine schmale Treppe ganz nach oben. Unwillkürlich ärgerte ich mich darüber, dass Jan nicht aufpasste.

    „Warte, Schatz!“, rief ich.

    „Wir rutschen zusammen“, verkündete Jana stolz. „Das haben wir schon ganz oft gemacht, Mama.“

    Schon sausten sie die Tunnelrutsche hinunter und landeten lachend im Sand.

    „Lutsche!“ Mit weit aufgerissenen, bedeutungsschweren Augen zeigte Hanna auf die Rutsche.

    „Ja, ganz toll.“ Ich strich ihr über ihr dunkles Haar und sah wieder zu Jan und Marie, die noch immer in ihr Gespräch vertieft waren. Worüber redeten sie wohl?

    „Mama, komm!“ Jana zog an meinem Arm. „Schau, das Piratenschiff.“ Sie führte mich zu dem zweiten Klettergerüst, weiter weg von Jan und Marie. Während ich mit den beiden spielte, blickte ich mich immer wieder verstohlen um. Jan hatte mich entdeckt und zugewunken, aber sie blieben an Ort und Stelle stehen. Immer wenn ich hinsah, redete Jan. Marie sah ich hauptsächlich nicken und von Zeit zu Zeit lächeln.

    Schließlich hielt ich es nicht mehr aus.

    „Ich schaue mal kurz zu Papa.“ Die Mädchen protestierten und das nervte mich. Zuvor hatte es sie offensichtlich auch nicht gestört, allein zu spielen. „Bin gleich zurück!“

    Als ich mich näherte, die Hände in den Jackentaschen vergraben, verstummte Jan und lächelte mir zu.

    „Vanessa, schau, Marie ist hier.“

    Als hätte ich das nicht gesehen.

    „Hi“, sagte ich bloß. „Ich wäre beinahe den Damm hinausgelaufen.“

    Jan zuckte mit den Schultern. „Warum nicht?“

    Marie schaute mich nur mit unleserlicher Mine an.

    „Sollen wir heute hier Mittagessen?“, ignorierte ich Jans Frage.

    „Klar. Marie arbeitet im Spitze, stell dir vor! Sie besorgt uns einen guten Tisch.“ Er grinste triumphierend.

    „Super.“ Ich lächelte so gut es ging. Ich konnte nicht einmal sagen, warum mich all das so nervte. Glaubte ich wirklich, dass Jan mit Marie flirtete?

    „Mama!“

    „Mamaaaaa!“

    Hanna und Jana winkten mir vom Deck des Piratenschiffs zu. Ich winkte zurück.

    Marie hatte noch immer nichts gesagt. Als ich mich umdrehte, sah sie einen Moment zu spät weg und ich wusste, dass sie mich gemustert hatte. Einige Augenblicke standen wir stumm beisammen, ehe ich versuchte, wieder ein Gespräch in Gang zu bringen.

    „Das ist bestimmt stressig. Mit dem Job neben dem Ferienhaus.“

    „Was muss, das muss.“, entgegnete Marie bloß. „Meine Pause ist auch gleich vorbei. Wir sehen uns dann ja vielleicht drinnen. Oder später.“

    Sie hob eine Hand zur Verabschiedung und ging.

    Jan und ich blieben allein zurück und sahen den Mädchen zu.

    „Und? Ist es noch da?“, fragte Jan nach einer Weile.

    Ich verstand nicht gleich.

    „Das Meer!“ Er lachte. Wie vorhin bei Marie. Aber Jan lachte oft in Gesprächen, nichts Ungewöhnliches also, rief ich mich zur Ordnung. Ich zwinkerte ihm zu, in der Hoffnung, er würde meine Anspannung nicht bemerken. „Noch.“

    „Oh?“ Er sah mich gespielt entsetzt an. „Es ist Flut? Komisch, in meiner Erinnerung war fast immer Ebbe, wenn wir unten waren.“

    Marie hatte uns einen großen Tisch mit Eckbank freigehalten. Tisch, Stühle und Bank waren aus demselben dunklen Holz, mit dem auch der untere Teil der Wände verkleidet war. Wir kamen gerne und oft hierher. Ich konnte mich nicht erinnern, Marie schon einmal gesehen zu haben. Wäre sie mir aufgefallen? Vermutlich nicht. Auch heute bediente uns jemand anderes, obwohl ich Marie mit einem Tablett herumlaufen sah.

    Obwohl erst Mittag war, bestellte ich Wein.

    Die Mädchen wollten Waffeln, Jan und ich aßen Fisch.

    Einmal fing ich Maries Blick, doch sie sah sofort wieder weg. Worüber hatte sie so lange mit Jan gesprochen? Ich hätte fragen können, kam mir aber blöd dabei vor. Der Wein schlug schnell an und ich hätte am liebsten einen zweiten bestellt, traute mich aber nicht vor meiner Familie.

    Draußen brachen die ersten Sonnenstrahlen hervor und Hanna und Jana wurden ungeduldig. Also zahlten wir und gingen wieder nach draußen.

    „Komm, wir begrüßen das Meer“, ergriff ich die Initiative und dieses Mal stürmten beide freudig die Treppe hinauf auf den Deich. Lachend rannten sie auf der anderen Seite die Wiese hinab. Die Sonne glitzerte auf dem nassen Watt und den vielen kleinen Wasserwegen, die noch zurückgeblieben waren. Weiter außen hing noch Dunst, golden beschienen von der frühen Nachmittagssonne.

    „Ach dieser Duft“, seufzte Jan und legte seinen Arm um mich, während wir nach unten gingen. Hanna und Jana rannten von Strandkorb zu Strandkorb, kletterten hinein und hinaus, hinein und hinaus. Am Rand des unteren Weges wiegten sich die Gräser im Wind. Ich fühlte mich leicht und angenehm losgelöst durch den Wein und hielt den Blick in die Ferne gerichtet. Über uns kreisten Möwen und andere Seevögel. Von links drang deren endloses Zwiegespräch aus den Salzwiesen.

    „Kommt, wir laufen raus.“ Jan winkte die Mädchen heran, die sofort angerannt kamen.

    „Haben wir auch einen Drachen dabei?“, fragte Jana und zeigte auf einen, der ein Stück entfernt in der Luft stand und ruhig vor sich hin flatterte.

    „Klar, aber im Haus. Wir lassen ihn später steigen. Komm, wir finden bestimmt Muscheln.“

    Hintereinander liefen wir den Trischendamm hinaus. Mit den Mädchen würden wir vermutlich nicht den ganzen Weg schaffen, außer wir trugen sie. Jeder Meter aber war es schon wert. Rechts kam das Watt immer mehr hervor, während sich das Wasser kaum sichtbar, aber doch merklich zurückzog. Der typische Nordseegeruch war intensiver bei Ebbe. Auf der anderen Seite des Damms erstreckten sich die Salzwiesen. Ich hatte alle Informationstafeln auf dem Weg bereits mehrfach gelesen. Das Biotop faszinierte mich trotzdem noch immer. Verschiedenste Pflanzen wuchsen dort unter widrigsten Bedingungen, lila Blüten neben Gräsern und Tümpeln. Vögel zogen ihre Bahnen, landeten und hoben von neuem ab. Es war ein Zufluchtsort und schützte zugleich das Land vor dem Meer, und das so unscheinbar, dass ich immer wieder aufs Neue Ehrfurcht verspürte.

    Der Damm führte kerzengerade hinaus, ungefähr zwei Kilometer lang. Wo das Wasser schwand, blieb nicht nur Watt zurück, sondern auch grobe Muschelreste, die sich Stück für Stück weiter zersetzten, bis auch sie ein Teil des Ganzen werden würden. Erst weiter draußen konnte man noch ganze Muscheln finden, doch Hanna wurde müde und auch Jana wollte nicht mehr laufen und wir beschlossen, für heute zurückzugehen, damit Hanna ihren Mittagsschlaf machen konnte.

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    Laotse

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  • Als Hanna schlief, schnappte ich mir mein Buch und machte es mir auf der Couch bequem. Der Idiot von Dostojewski. Es war das Lieblingsbuch einer Freundin, die mich schon ewig drängte, es zu lesen. Sie meinte, es wäre genau das richtige für mich und ich hatte noch nicht genug gelesen, um zu entscheiden, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung war.

    Jan schaute in sein Handy und Jana machte ein Puzzle auf dem Boden. Mein Lesezeichen war scheinbar in meiner Tasche verloren gegangen, doch Dostojewski hatte sich gut gemerkt, an welcher Stelle ich stehen geblieben war, fast ein wenig trotzig, ob meiner mangelnden Begeisterung. Ich strich mit der Hand über die Seiten und las ein paar Zeilen. Erst als die Buchstaben vor meinen Augen verschwammen, merkte ich, dass ich schon wieder gedanklich abgeschweift war. Ich seufzte und begann von vorne.

    Worüber hatte Jan so lange mit Marie gesprochen?

    Ich sah zu ihm hinüber. Er scrollte weiter durch irgendetwas auf seinem Handy.

    „Hart, dass Marie zusätzlich noch dort arbeiten muss, oder?“

    „Hm?“ Er sah schläfrig vom Display auf.

    „Marie. Dass sie noch kellnern muss nebenbei.“

    „Achso, ja. Ich glaube, sie macht es auch nicht gerne.“ Jan sah zurück auf sein Handy.

    „Habt ihr darüber geredet vorhin?“ Wie von selbst schlug mein Herz schneller, wofür ich mich innerlich belächelte. Ich hatte mich getraut diese riskante Frage zu stellen!

    „Fertig!“, rief Jana und sprang grinsend auf die Beine. „Schau, Mama, schau!“

    „Jana, ich spreche gerade mit Papa. Gleich, ok?“

    „Schau, ganz allein geschafft.“, beharrte sie.

    Ich seufzte, schloss die Augen, legte mein Buch aufgeschlagen auf die Sofalehne und schaute mir das Puzzle an.

    „Das hast du sehr gut gemacht“, lobte ich.

    Dann sah ich zu Jan. Er lächelte uns zu. „Super, mein Schatz“, sagte er, und dann nichts mehr.

    Mein Herz klopfte noch immer. Ich konnte die Frage jetzt kaum ein zweites Mal stellen. Es hätte ihr zu viel Gewicht verliehen.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Als Hanna wach wurde, aßen wir eine Kleinigkeit und beschlossen einkaufen zu gehen. Es war ein typischer erster Tag, wo man noch nicht so richtig weiß, was man unternehmen soll, oder es irgendwann einfach zu spät ist, noch große Pläne anzustellen.

    Ich verstaute unsere Einkäufe und machte ich es mir mit einem Kaffee in der Scheune bequem, ehe ich das Abendessen vorbereiten wollte. Jan ließ mit den Mädchen im Garten Drachen steigen. Der Himmel war wieder zugezogen, doch es war immer noch trocken. Wir hatten Glück. Die Scheune war wirklich schön gemacht. Im Gebälk hingen Lichterketten, und es roch wunderbar nach altem Holz und einem Hauch von Heu, als wäre der Duft auf ewig in den Balken gespeichert.

    Ein Lächeln schlich auf meine Lippen, wie ich die Mädchen mit Jan herumtollen und lachen sah. Warum machte ich mir so viele Gedanken über heute Morgen? Es war ein Moment wie Hunderte im Jahr. Jan war ein geselliger Mensch, darin hatte ich mich damals verliebt und liebte es noch immer.

    „Wir schauen mal zu den Schafen!“, rief er mir nach einer Weile zu. Hanna und Jana rannten schon in Richtung Deich. Ich nickte und winkte. Den Idiot hatte ich im Wohnzimmer liegen lassen, also konnte ich genauso gut rein gehen.

    Unschlüssig, was ich mit der freien Zeit anfangen sollte, wechselte ich vom Wohnzimmer in die Küche, dann nach oben, um mir etwas Gemütlicheres anzuziehen. Ich ging zurück, harrte jedoch am Treppenabsatz aus. Eine plötzliche Neugierde packte mich. Mit einer Hand über das Geländer streichend, ging ich den Gang entlang auf die andere Seite des Hauses. Hier gab es ebenfalls ein Bad wie gespiegelt zu unserem, gegenüber allerdings bloß eine Tür. Sie war verschlossen. Verstohlen sah ich mich um und lauschte auf Geräusche, ehe ich durch das Schlüsselloch spähte. Viel sah ich nicht, doch das Zimmer sah definitiv bewohnter aus als unsere Gästezimmer. Es war auch größer. Maries Zimmer? Im Winter vielleicht, oder wenn sie keine Gäste hatte? Ich drücke nochmals die Klinke herunter, ohne Erfolg. Seufzend wandte ich mich ab und wollte zurückgehen. Da bemerkte ich, dass am Ende des Ganges eine andere Treppe weiter nach oben zum Dachboden führte. Auf leisen Sohlen ging ich darauf zu. Es kam mir kindisch vor, als täte ich etwas Verbotenes und ich fürchtete, jeden Moment entdeckt zu werden. Die erste Stufe knarzte laut und abrupt blieb ich stehen, lauschte angestrengt. War da ein Kinderrufen gewesen? Schritte unten?

    Ich schüttelte den Kopf über mich selbst und ging schnell die restlichen Stufen hoch. Die Treppe endete an einer niedrigen alten Holztür. Obwohl ich das Ergebnis schon kannte, griff ich auch hier zur Klinke.

    Im selben Moment fiel unten die Haustüre ins Schloss.

    Sofort ließ ich los und eilte so schnell und im Versuch kein Geräusch zu machen die Treppe hinunter, dass ich beinahe fiel. Ich dachte zum Glück noch daran, die unterste Stufe auszulassen und schlich geduckt auf unsere Seite des Hauses.

    In der Küche klimperten Schlüssel auf dem Tisch, dann lief Wasser und schließlich der Wasserkocher. Ich atmete tief durch, und ging nach unten.

    Marie beugte sich in den Kühlschrank. Wegen des Wasserkochers hörte sie mich nicht kommen und erschrak, als sie sich mit einem Glas Oliven umdrehte. Sie legte sich die freie Hand auf die Brust und seufzte. Sie trug noch die schwarzen Sachen vom Kellnern.

    „Puh… also hab‘ ich doch richtig gehört, dass jemand oben ist.“

    Sofort war ich alarmiert und konnte nur hoffen, dass man es mir nicht ansah. „Ja, entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken.“

    „Alles gut.“ Sie schenkte mir dieses kleine Lächeln. „Willst du…“, sie gestikulierte zur Arbeitsplatte. „Ich kann dir Platz machen.“

    Ich schüttele den Kopf. „Nein, bleib ruhig. Ich brauche nicht viel Platz. Willst du mit uns essen?“

    Sie schien abzuwägen. Fühlte auch sie diese merkwürdige Anspannung? Oder war das allein mein Hirngespinst, nur weil Jan in einem Gespräch zu oft gelächelt, und mir noch immer nicht verraten hatte, um was es gegangen war? Wir hatten Marie bislang nur wenige Minuten gesehen, und doch kam es mir vor, als kannten wir uns und, als stünde etwas zwischen uns. Schon immer hatte Jan mich gescholten, dass ich zu viel in das Verhalten von anderen Menschen hineininterpretierte. Oft genug hatte er recht behalten, wenn ich uns einmal mehr in eine unangenehme Situation manövriert hatte.

    „Es wird nichts Besonderes, eher eine Brotzeit“, fügte ich an, um die unangenehme Stille zu brechen.

    Ich konnte Marie nicht lange in die Augen schauen. Nicht nur, weil sie dann ohnehin schnell wegsah, sondern auch, weil ich in ihrem Blick einen Zwiespalt erkannte. Versuchte sie, nur höflich zu sein, und wollte mich eigentlich so schnell wie möglich wieder loswerden? Immerhin war das hier ihr Haus, auch wenn sie es uns größtenteils überließ für die Dauer unseres Aufenthalts.

    „Du musst nicht.“

    „Doch. Ich… entschuldige, es war ein langer Tag. Ich esse gerne mit euch.“

    Sie bot ihre Hilfe an und wir schnipselten gemeinsam Gemüse, machten Salat, und deckten den Tisch. Die meiste Zeit schwiegen wir und arbeiteten still nebeneinanderher. Maries Hände waren schlank und gebräunt. Es waren schöne Hände. Sie arbeitete ruhig und genau. Unter dem Geruch der Gaststätte nahm ich ganz zart ein frisches Parfum wahr.

    Draußen begann es zu regnen und ich spähte aus dem Fenster. Noch nichts zu sehen von Jan und den Mädchen. Ein paar Augenblicke sah ich zu, wie vereinzelte Tropfen gegen die Scheibe prasselten und daran hinunterglitten, dann drehte ich mich um. Beinahe wäre ich mit Marie zusammengestoßen, die noch etwas im Kühlschrank suchte.

    „Entschuldigung“, sagten wir gleichzeitig und wichen zurück.

    „Sie kommen bestimmt gleich“, fügte ich an, wollte damit aber wohl eher mir selbst Hoffnung machen, dass die merkwürdige Situation bald vorüber wäre.

    „Bestimmt. Bei dem Wetter.“ Das kleine Lächeln. „Ich komme dann zum Essen.“ Marie stellte zwei Aufstriche auf den Tisch und ging aus der Küche und die Treppe hoch. Ich hörte, wie sie ihre Zimmertür aufschloss.

    Wieder sah ich aus dem Fenster, prüfte, ob alles vorbereitet war und füllte die Gläser für Hanna und Jana mit Wasser. Mir selbst öffnete ich eine Flasche Weißwein, die wir heute besorgt hatten, da fiel mir unser Gastgeschenk ein. Ich holte es aus Jans Zimmer, eine Flasche Spätburgunder aus der Heimat und ein Duftkerzenset. Gerade hatte ich es auf dem gedeckten Tisch drapiert, als es an der Türe klopfte. Triefend nass und lachend polterten Jan, Jana und Hanna ins Haus.

    „Da hat es uns aber erwischt, was?“, lachte Jan.

    „Wir sind ganz nass geworden!“, berichtete mir Jana.

    „Das sehe ich.“ Ich half ihnen aus ihren Jacken und Schuhen und nahm beide mit hoch, um ihnen frische, trockene Sachen anzuziehen. Kurz darauf saßen wir alle bei Tisch, nur Maries Platz war noch leer. Jan und ich wechselten einen Blick.

    „Ist Marie hier?“, fragte er und ich nickte.

    „Vielleicht fangen wir aber einfach schon mal an.“

    Wir waren fast fertig, als Marie doch noch herunterkam. Hanna und Jana waren schon aufgestanden und schauten sich Bücher an.

    „Tut mir leid, es hat doch länger gedauert.“

    „Macht nichts, wir sind trotzdem satt geworden“, scherzte Jan. „Glas Wein?“ Er bot Marie unsere offene Flasche an, doch sie lehnte ab und schenkte sich stattdessen Tee in eine Tasse.

    „Trinkst du keinen Wein?“, fragte Jan geradeheraus. „Wir haben dir nämlich eine Kleinigkeit mitgebracht und das wäre jetzt ungünstig.“ Er lachte.

    Maries Blick fiel auf unser Geschenk. „Achso, nein, doch, das ist super. Echt. Richtig nett. Wann anders trinke ich ihn gerne. Hättet ihr aber nicht gebraucht, wirklich.“

    Sie zögerte kurz, nahm sich dann das Geschenk und las durch die Folie das Etikett der Flasche.

    „Ahr. Kommt ihr von da?“

    Wir bejahten. „Es ist mein Lieblingswein“, ergänzte ich.

    „Vielen Dank. Er wird mir bestimmt auch schmecken.“ Marie stellte das Geschenk auf die Küchentheke.

    Während wir zu Ende aßen, fragte Jan Marie aus, was wir noch alles unternehmen konnten, neben dem, was wir durch unsere vielen Urlaube schon kannten. Ein lockeres Gespräch entwickelte sich, wenn Marie uns auch nicht richtig mit etwas Neuem überraschen konnte. Meine Anspannung fiel ab. Wahrscheinlich hatten Jan und Marie heute Morgen eine ähnlich banale Unterhaltung geführt.

    Später, als die Mädchen schliefen und Marie in den Schuppen gegangen war, saßen Jan und ich im Wohnzimmer und sahen fern.

    „Ich glaube, Marie mag dich“, sagte ich irgendwann. „Wenn du da bist, spricht sie viel mehr.“

    „Wundert es dich? Wie soll man mich nicht mögen?“

    „Idiot.“ Ich warf ein Sofakissen auf ihn.

    „Keine Ahnung. Ich unterhalte mich einfach gern und wieso auch nicht? Sie kennt sich gut hier aus und wir können uns ja nicht eine ganze Woche lang anschweigen, wenn wir beinahe zusammenwohnen, oder? Außerdem glaube ich, sie mag dich auch. Zumindest schaut sie oft zu dir.“

    „Wundert es dich?“, konterte ich schlagfertig, obwohl seine Worte mich überraschten. Aber vielleicht war etwas dran. Oft genug hatte ich Marie schnell wegschauen sehen.

    Wir lachten beide über meinen Konter und Jan beugte zur mir hinüber.

    „Natürlich nicht.“ Er küsste mich.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Am nächsten Morgen erwachte ich vom Regen und dem Sausen des Windes. Beide Mädchen lagen bei mir im Bett und ich kuschelte mich an ihre kleinen, warmen Körper. Ich hätte stundenlang so liegen können und dem Unwetter zuhören, das das Bett nur noch wärmer und gemütlicher machte. Jetzt noch eine Tasse Kaffee und ich hätte mich endlich auch Dostojewski hingegeben. Leider war beides außer Reichweite und meine kleinen Energiebündel wollten selbstverständlich schneller aufstehen, als mir lieb war. In der Küche fanden wir wieder den gedeckten Frühstückstisch und keine Marie. In Striemen schlug der Regen gegen das Küchenfenster und die dürren Bäume am Straßenrand bogen sich im Wind.

    „Das schaut nach Indoorspielplatz aus.“ Gedankenverloren starrte ich aus dem Fenster. Hanna und Jana waren sofort Feuer und Flamme und ich bereute meine Worte schon wieder.

    „Aber noch nicht jetzt, ihr beiden! Wir frühstücken erst in Ruhe und packen uns ein bisschen was ein.“

    Ihren Protest ließ ich gar nicht erst aufkommen und lenkte sie mit Brötchen und – ausnahmsweise – Kakao ab. Jan schlief noch, oder war zumindest noch im Bett und ich fühlte mich mit einem Mal ein bisschen einsam in der kühlen Küche. Ich stand auf und drehte die Heizung hoch, falls sie denn funktionierte. Als ich zurück zum Tisch gehen wollte, entdeckte ich Marie im Türrahmen. Mit der Schulter lehnte sie am Holz und betrachtete mich. Dieses Mal sah sie nicht weg und unwillkürlich blieb ich stehen, wo ich war. Es war eine merkwürdige Situation, ich fühlte mich gebannt und durchschaut.

    „Marie!“ Janas Ausruf zerschnitt das unsichtbare Band. Sie sah mich an und zeigte zur Tür.

    „Ja, Schatz“, ich musste mich räuspern, „Marie ist hier. Guten Morgen.“ Ich lächelte sie an. Noch immer lag ihr Blick auf mir. Dann endlich löste sie sich vom Türrahmen und kam in die Küche. Sie lächelte die Mädchen an. „Guten Morgen.“

    „Heute keine Arbeit?“, fragte ich und sie schüttelte den Kopf. „Ich bin bloß Springer.“

    Sie nahm sich Kaffee und setzte sich zu uns auf den Tisch. Sie hielt ihre Tasse nicht am Henkel, sondern umschloss sie mit der ganzen Hand.

    „Schmeckt es euch?“, fragte sie die Mädchen, die schüchtern erstarrt waren, wie immer zu Beginn im Beisein einer unbekannten Person. Artig nickten sie, zogen dann beide simultan das Kinn zur Brust und grinsten verlegen.

    „Das freut mich.“ Maries Blick wanderte zu mir. Sie schien abzuwägen.

    „Es ist wirklich toll, dass du das für uns vorbereitest“, sagte ich, während ich versuchte aus ihr schlau zu werden. Sie war eine hübsche Frau, sah sportlich und aktiv aus, jemand, den ich mir gut im Kreis von Freunden vorstellen konnte. Wieso lebte sie hier oben? Allein?

    „Bist du das ganze Jahr hier?“

    Sie nickte.

    „Und kommst du von hier, aus dem Norden? Du klingst nicht so.“

    Dieses Mal schüttelte sie den Kopf. Sie stellte ihre Tasse ab und verschränkte die Finger.

    „Nein. Ich stamme aus Bayern.“

    Mir entging die ungenaue Angabe nicht. „Dann bist du ja quasi ausgewandert.“, zwinkerte ich, im Versuch das Gespräch aufzulockern, wie Jan das so gut konnte.

    „Kann man so ausdrücken.“ Sie nickte in Richtung Fenster. „Das Wetter lässt euch im Stich.“

    „Leider“ seufzte ich. „Heute wird es wohl Wal Willi.“

    „Lilli?“, fragte Hanna neugierig.

    „Indoorspielplatz heute?“, fragte Jan. Verschlafen fuhr er sich durch die Haare, als er in die Küche kam.

    Wie er sich an den Tisch setzte, stand Marie auf. „Ich muss auch los. Viel Spaß.“, wandte sie sich an die Mädchen und ging hinaus.

    Jan sah ihr nach. „Das war schnell.“ Irritiert schüttelte er den Kopf, widmete sich dann aber seinem Frühstück.

    Hanna und Jana hatten natürlich einen Riesenspaß in dem großen Wal am Hafen und wir blieben den ganzen Tag dort, obwohl es zwischenzeitlich aufhörte zu regnen. Wir beschlossen, unser Abendessen zum Mitnehmen zu bestellen und Jan rief im Ferienhaus an, falls wir Marie etwas mitbringen sollten. Sie hob nicht ab und als wir mit unseren duftenden Boxen voller Fisch, Pommes und Salzkartoffeln ankamen, war sie nicht zu Hause.

    Von dem Lärm und der stickigen Luft in der Spielhalle hatte ich Kopfschmerzen und ließ Jan allein im Wohnzimmer zurück, um mich zeitig hinzulegen.

    Ich erwachte vom Regen. Es war noch dunkel draußen und mein Handy zeigte 4h 20. Wieder lagen beide Mädchen bei mir. Eine Weile lauschte ich ihrem Atem, der immer wieder vom Prasseln an der Scheibe übertönt wurde. Ich ließ mich tiefer in das Kissen sinken und dachte über Marie nach. Es hatte schon etwas Verlockendes, sich ein Grundstück am Meer zu kaufen, es herzurichten und zu vermieten. Selbst hatte ich solche Gedanken schon oft für ein Café gehabt. Ein solches Vorhaben war aber meistens nur in Tagträumen schön, wenn man die ganze Arbeit damit nicht hatte, und die Geldsorgen. Warum gingen manche Menschen diesen Schritt trotzdem? Erfüllung eines Traums? Um sich etwas anderes zu ermöglichen, etwas, dass nur an diesem einen bestimmten Ort möglich war? Vielleicht machte Marie irgendeinen Wassersport. Oder sie war Naturschützerin und erforschte das Wattenmeer. Oder war es ein Neuanfang? Ein Erbe? Mir fielen mehr Möglichkeiten ein, als ich selbst erwartet hatte. Ich konnte unmöglich erraten, was Marie hierhergeführt hatte. Langsam wurde es draußen heller, als der Tag anbrach, grau in grau. Leise arbeitete ich mich Stück für Stück aus dem Bett, ohne die Mädchen aufzuwecken. Ich schlich den Flur entlang und war kurz versucht, noch einmal die kleine Treppe auf der anderen Seite hinaufzugehen, wagte es aber nicht. Stattdessen ging ich nach unten, um mir Kaffee zu kochen und mich auf dem Sofa in eine Decke zu hüllen und zu lesen.

    Im Wohnzimmer brannte Licht. Erst dachte ich, Jan wäre vielleicht dort eingeschlafen, wie es ihm häufiger passierte. Auf der Couch aber saß Marie. Mit beiden Händen hielt sie eine dampfende Tasse und schaute in die Flammen der Kerzen im stillgelegten Kamin. Unschlüssig blieb ich im Türrahmen stehen, wusste nicht, ob ich mich bemerkbar machen sollte oder nicht. Draußen warf der Wind den Regen gegen das Haus, mal auf der einen, dann auf der anderen Seite. Drinnen rührte sich ein paar Augenblicke nichts. Dann drehte Marie den Kopf. Ich wusste nicht, ob ich versehentlich ein Geräusch gemacht hatte, ob es Zufall war, oder sie irgendwie gespürt hatte, dass sie nicht länger allein war.

    „Das ist ein bisschen gruselig“, begrüßte sie mich. „Kannst du auch nicht schlafen?“

    Ich schüttelte den Kopf. „Nicht mehr. Ich bin wahrscheinlich zu früh ins Bett.“

    „In der Küche ist Tee.“ Sie drehte den Kopf wieder zu den Kerzen. Ihre Beine steckten unter der dunkelgrünen Wolldecke und sie trug ein gelbes Sweatshirt, dass ihre Haut noch gebräunter aussehen ließ. Die Kerzen verströmten warmes Licht.

    „Ich wollte Kaffee kochen.“

    „Klar.“

    Kurz darauf kam ich mit meiner eigenen dampfenden Tasse zurück. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee verstärkte das Gefühl von Gemütlichkeit und ich ließ mich ein Stück von Marie entfernt auf das Sofa sinken. Draußen schälten sich die ersten Umrisse von Bäumen und den anderen Gebäude aus dem Dämmerlicht. Eine Weile saßen wir schweigend. Mein Buch lag auf dem Couchtisch. Neben Marie lag ebenfalls eines auf der Sofalehne, doch ich konnte den Titel nicht lesen.

    „Wieso konntest du nicht mehr schlafen?“, fragte ich irgendwann.

    Sie zuckte mit den Schultern, ohne mich anzusehen.

    „Das kommt manchmal vor.“

    „Ist es, weil wir hier sind?“

    „Quatsch. Ich habe doch ständig Gäste.“

    Wir schwiegen wieder.

    Das nächste Mal eröffnete Marie das Gespräch. „Ich fürchte, es wird heute wieder den ganzen Tag nicht besser mit dem Regen. Wisst ihr schon, was ihr machen werdet?“

    Ich seufzte. „Nein. Ich hatte darauf gebaut, dass es vielleicht besser wird. So nah am Meer stimmt der Wetterbericht ja nicht immer unbedingt.“ Obwohl wir uns auf schlechtes Wetter eingestellt hatten, hatte ich insgeheim doch gehofft, dass es besser werden würde, als gemeldet und begann schon wieder, mich davon runterziehen zu lassen.

    „Ich muss Eier und Milch holen. Ich habe schon mal Familien mit zu dem Bauernhof genommen. Sie sind sehr kinderfreundlich. Vielleicht wäre das was für euch.“

    „Das klingt toll. Hanna und Jana lieben Tiere.“

    „Die meisten Kinder“, entgegnete sie, immer noch, ohne mich anzusehen.

    Wie oft, wenn ich sehr früh wach geworden bin, wurde ich nach einer Weile noch einmal richtig schläfrig, dem Kaffee zum Trotz. Ich sank tiefer in die Couch, legte den Kopf ab und hörte dem Regen zu. Schließlich musste ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich Jan und die Kinder auf der Treppe hörte, war es draußen hell, Marie war fort und ich lag unter der grünen Wolldecke. Sie roch nach Maries Parfum.

    „Wo ist Mama?“, hörte ich aus der Küche.

    „Ich weiß es nicht.“ Deutlich hörte ich Jans Unmut über diese Tatsache. So gern und liebevoll er sich um die Kinder kümmerte, gab es doch Momente, in denen er einfach erwartete, dass ich da war. Zum Beispiel am Morgen, wenn er gerne ganz in Ruhe frühstückte, ohne noch jemand anderen versorgen zu müssen.

    Ich sank noch mal tiefer in die Couch und verhielt mich still. Es war wunderbar warm unter der Decke und ich war noch angenehm schläfrig.

    „Mama?“, fragte jetzt auch Hanna.

    „Kommt schon.“

    Ich hörte Geklapper von Besteck und Tellern und bekam ein schlechtes Gewissen. Seufzend schälte ich mich aus der Decke.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • „Morgen ihr Lieben. Sorry, ich war früh wach und bin noch mal auf dem Sofa eingeschlafen.“ Ich küsste beide Mädchen auf die Stirn und strich über Jans Rücken.

    „Es regnet, Mama“, sagte Jana. „Gehen wir wieder in den Wal?“

    „Heute nicht, ok?“

    „Warum nicht? Das war so schön!“

    Ich lächelte ihr zu. „Wir könnten uns einen Bauernhof anschauen. Vielleicht könnt ihr Tiere füttern oder streicheln.“

    „Ja!“, rief Jana und Hanna stimmte sofort mit ein.

    „Bauernhof?“ Jan sah mich über den Rand seiner Tasse hinweg an.

    „Maries Idee“, gab ich schulterzuckend zurück.

    „Wann habt ihr das besprochen?“, wollte Jan wissen.

    „Sie war auch früh auf. Da hat sie es vorgeschlagen, wegen dem Wetter draußen.“

    „Na gut. Dann machen wir das. Wo ist sie eigentlich?“

    Darauf wusste ich keine Antwort. „Sie wird schon auftauchen. Wir packen einfach schon mal ein paar Sachen zusammen.“

    Marie tauchte auf, als wir die Mädchen gerade überredet hatten, noch ein Puzzle zu machen, ehe es losgehen würde.

    „Sorry“, sagte sie bloß und streifte ihren nassen Regenmantel herunter.

    „Bauernhof!“ Jana war sofort auf die Füße gesprungen.

    „Nur einen Moment, ich ziehe mich kurz um. Ich kann euch auch die Adresse sagen, dann könnt ihr schon vorfahren.“

    „Und du?“, fragte ich und dachte an das fehlende Auto.

    „Ich komme mit dem Rad.“

    „Auf keinen Fall“, mischte sich nun Jan ein. „Du fährst bei uns mit. Bei diesem Wetter…“

    Sie sah ihn ein paar Momente lang an. „Es gibt Dinge, an die gewöhnt man sich.“

    Trotzdem beharrte sie nicht darauf, selbst zu fahren, sondern zog sich um und saß kurze Zeit später neben Jan auf dem Beifahrersitz. Weit war es nicht und die Mädchen konnten sich vor Aufregung kaum halten.

    Der Bauer begrüßte uns auf dem Hof und führte uns gleich in den großen Kuhstall, damit wir dem Regen entfliehen konnten. Er erklärte den Mädchen mit typisch norddeutschem Einschlag wie sie das abgeladene Heu näher an die Gitter schieben mussten, damit die Kühe rankamen, dann ließ er uns allein.

    Die Mädchen waren begeistert. Wenn ich sie doch nur so zum Aufräumen motivieren hätte können. Fuhre um Fuhre hievten sie mit den kleinen Rechen von Seite zu Seite. Anstrengung und Bedeutsamkeit mischte sich in ihre Bewegungen. Alle drei beobachteten wir sie dabei. Es hat etwas Heilsames und Meditatives Kindern dabei zu zusehen, wie sie vollkommen in eine Tätigkeit vertieft sind.

    Ich sah, wie Marie still vor sich hinlächelte. Es war das erste Mal, dass sie aktiv auf die Mädchen zuging und ihnen ihre Hilfe anbot. Später nahm sie sie sogar an die Hand, um ihnen die Kaninchen zu zeigen. Es gab Nachwuchs. Spätestens jetzt war das Eis zwischen ihr und meinen Kleinen gebrochen, dass sah ich eindeutig in ihren leuchtenden Kinderaugen.

    Der Bauernhof hatte einen kleinen Hofladen, wo man auch Kaffee und Kuchen bekommen konnte. Wir kauften frische Eier, Milch und Mehl, aßen Streuselkuchen und tranken Kaffee und Tee. Das Regenwetter war uns so fern in der warmen Stube, dass erst der Wind auf dem Weg zum Auto uns schmerzlich erinnerte, wie ungemütlich es eigentlich war.

    „Das war sehr schön“, sagte ich auf dem Nachhauseweg. Hanna war augenblicklich in ihrem Sitz eingeschlafen und auch Jana kämpfte mit der Müdigkeit.

    „Aber ich glaube morgen möchte ich das Meer wieder sehen. Egal bei welchem Wetter.“ Kämpferisch schwang ich die Faust in Richtung Fenster.

    Marie sah über ihre Schulter zu mir nach hinten und lächelte.


    Das schlimmste Wetter hatten wir tatsächlich überstanden. Zwar war auch der folgende Tag wolkenverhangen, doch es regnete immerhin bloß noch abschnittsweise und wir konnten ein Stück den Deich entlang spazieren. Es wurde wärmer, wenn die Sonne sich auch noch nicht ganz zeigen mochte. Nachmittags fuhren wir nach Büsum an den Hafen und zur Lagune. Während in Friedrichskoog die Welt auf diesen kleinen Flecken komprimiert schien, spürte man am Strand von Büsum die schiere Endlosigkeit der See. Beides rückte einen auf verschiedene Arten wieder zurecht, ließ einen den eigenen Platz erkennen und wertschätzen. Zu viert standen wir auf der Aussichtsterrasse jenseits der Familienlagune und betrachteten den Horizont und die Kite-Surfer, die davor ihre Bahnen zogen. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass Marie fehlte. Im Verlauf der letzten Tage war sie mehr als unsere Vermieterin geworden. Es kam es mir so vor, als würden wir sie schon ewig kennen. Sie tobte mit Jan, Hanna und Jana durch den Garten, zeigte den Kindern den alten Heuboden in der Scheune, den sie zu einem Matratzenlager verwandeln konnte, machte ihnen Waffeln und Tee, puzzelte und spielte Brettspiele mit ihnen. Nur abends, wenn die Kinder im Bett waren, zog sie sich meistens zurück und ließ Jan und mich allein im Wohnzimmer. Mir fehlte dann plötzlich etwas, und auch Jan war ungewöhnlich in Gedanken versunken und still.

    Etwas geschah mit uns, wir spürten es beide, obwohl keiner wusste, was genau, und keiner sprach es an. Der Augenblick, der schließlich alles veränderte, dauerte nicht länger als einen Atemzug und war so nichtig, dass ich noch immer nicht ganz verstehe, was geschehen ist.

    Ich bereitete das Abendessen vor und Jan und Marie spielten mit den Kindern im Wohnzimmer. Während ich Karotten würfelte und über Marie nachdachte, betrat jemand hinter mir die Küche.

    „Vorsicht kurz“, erklang ihre Stimme und sie schob sich an mir vorbei. Ihre Hand strich über meinen Rücken und ich erstarrte wie von einem elektrischen Schlag getroffen. Marie holte einen Topf aus einem der Schränke. „Wir kochen drüben auch“, erklärte sie, während ich sie nach eigenem Empfingen fassungslos anstarrte. Noch immer spürte ich ihre Berührung am Rücken und auch Stunden später, als ich schlaflos im Bett lag, war das Gefühl noch so präsent, dass es mir ein leichtes war, es wieder und wieder wachzurufen.

    Ich musste etwas antworten, aufhören so zu starren, irgendetwas tun, dass normal wirkte. Aber Marie war schon umgedreht und ging aus der Küche hinaus.

    Das Messer untätig in der Hand, rang ich mit der Erkenntnis, die sich erbarmungslos nach oben drängte. Die vielen Grübeleien, die Bedeutung, die ich Jans Worten, Marie sähe oft zu mir, beimaß; wie genau ich sie beobachtete, wie mir etwas fehlte, wenn sie nicht mit uns unterwegs war. Wie ich überall den Geruch ihres Parfums wahrnahm. Wie ich mich am liebsten an sie herangeschmiegt hätte, mit ihrem sonnengelben Sweatshirt und der Wolldecke, früh am Morgen, bevor die Welt aus dem Schutz des Zwielichts auftauchte.

    Vielleicht war all das nur ein Resultat meiner Faszination für Marie und ihr Leben hier oben im Norden. Es konnte nichts anderes sein. Eine temporäre Anziehung, mehr nicht.

    Das Fiese an solchen Situationen ist, dass der Verstand, der zuvor nicht im Ansatz in diese Richtung gedacht hat, und nur durch die körperliche Reaktion überhaupt auf die Idee gebracht wurde, fortan nur noch darüber nachdenkt. Jede Situation analysierte ich, versuchte aus Blicken und Gesten zu lesen, lechzte nach gemeinsamen Augenblicken mit Marie. Abends vor dem Einschlafen stellte ich mir die verschiedensten Momente vor, voll von heimlichen Berührungen, subtilen Annäherungen und einer Dynamitladung im Bauch, die jeden Augenblick hochgehen konnte.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Die Hälfte unseres Urlaubs war schon vorbei, als endlich abends die Sonne durchbrach und der Himmel aufklarte. Wo es hätte dunkel werden sollen, erstrahlte die Welt auf einmal golden und in der Wiese auf dem Deich leuchtete überall der Löwenzahn mit seinen Pusteblumen. Der Anblick war so magisch, dass ich Jan nach den Ins-Bett-Bringen fragte, ob ich mir den Sonnenuntergang am Trischendamm anschauen durfte. Ich hätte ihn genauso gut ohne Autofahrt bei uns oder vorne im Hafen betrachten können, doch ich vermutete, dass Marie arbeitete und fuhr an die Spitze. Viele Leute waren auf dem Deichweg unterwegs, um im Licht der goldenen Stunde zu baden. Auch ich stand oben, sah zu, wie die Sonne immer tiefer sank und ihren Schein auf dem Wasser verteilte. Gräser und Blumen wiegten im Wind. Endlich wieder Sonnenlicht, schienen sie zu sagen. In Gedanken war ich bei Marie und stellte mir vor, dass wir den Moment gemeinsam genossen.

    Langsam wurde ich rastlos, hielt mich in der Nähe des Aufgangs auf, sodass ich das Restaurant im Blick haben konnte. Ich wusste noch nicht einmal, ob Marie dort war. Die Sonne versank im Meer, Stück für Stück, und gnadenlos. Was für eine kindische Träumerei, dass ich wirklich geglaubt hatte, Marie würde pünktlich zum Sonnenaufgang ihre Arbeit beenden und auf den Deich gehen, wo sie rein zufällig mich fand und in ihre Arme schloss. Enttäuscht vom Ausgang des Abends ebenso wie von meinen eigenen, unrealistischen Erwartungen trat ich den Heimweg an.

    Als ich zurückkam, fand ich Jan und Marie im Wohnzimmer. Sie spielten Scrabble und auf dem Tisch stand eine halb leere Flasche Wein. Unvernünftiger Groll machte sich in mir breit und ich grüßte sie nur knapp, ehe ich in der Küche verschwand und mir selbst eine Flasche Wein öffnete. Das erste Glas kippte ich in einem Zug hinunter und verzog das Gesicht. Ich schenkte mir nach. Mein Herz klopfte schnell und meine Gedanken flogen so wild umher, dass ich sie kaum zuordnen konnte. Es gab keinen Grund, mich zu ärgern. Ich sollte überhaupt nicht so denken. All das durfte nicht sein.

    Doch ich sehnte mich nach ihr.

    Und ich wollte nicht, dass sie Zeit allein mit Jan verbrachte.

    Jan. Der gute Jan. Der lustige, nette, gesellige Jan.

    Plötzlich schossen mir Tränen in die Augen und ich biss mir auf die Zähne, um sie im Zaum zu halten. Ich hörte Schritte und drehte mich schnell zur Arbeitsplatte.

    „Alles gut?“, fragte Jan.

    Ich nickte.

    „Alles klar.“ Er klang wenig überzeugt. „Kommst du dann auch noch rüber?“

    Wieder nickte ich. „Ja. Sofort“, fügte ich mit Mühe noch an, während ich noch immer kämpfte, mich zu sammeln.

    Ich leerte noch ein Glas Wein, der mir schon in den Kopf schoss und meinen Geist angenehm umwölkte. Ein paar Mal noch atmete ich tief durch, füllte mein Glas und ging hinüber zu den beiden.

    Sie hatten aufgehört zu spielen, saßen aber noch am Tisch und unterhielten sich über das Kitesurfen. Schnell schloss ich, dass Marie deshalb nicht da gewesen war. Sie hatte nicht etwa gearbeitet, sondern hatte den Sonnenuntergang auf dem Wasser verbracht. Jetzt trug sie wieder ihren gelben Pullover und ihr noch nasses Haar war in dem üblichen Dutt gefangen. Jan, neugierig wie immer, fragte sie über alles Mögliche aus. Mir fiel auf, dass nur er ein Weinglas hatte. Vor Marie stand die typische Teetasse. Das wiederum hieß, dass er alles allein getrunken hatte. All das wurmte mich noch mehr, so sehr ich es auch verhindern und als nichtig erklären wollte.

    „Nessa, Marie macht wirklich Kitesurfen“, strahlte Jan mich an. „Ich wollte das doch auch schon immer mal probieren. Sie würde es mir die nächsten Tage mal zeigen, in Büsum oben.“

    Stets hatte ich ihn ermutigt, es einfach zu machen, da konnte ich jetzt schlecht dagegen argumentieren.

    „Ist doch klasse.“ Ich rang mir ein Lächeln ab. Ich spürte, dass Marie mich musterte und sah extra nicht hin. Stattdessen versenkte ich meinen Blick im Weinglas. Reiß dich zusammen, schrie ich mich in Gedanken an. Ich hörte Jan an, dass auch er den Wein merkte. Er war in Plauderstimmung, was ich im Augenblick nicht gut ertragen konnte, und ich entschuldigte mich auf die Toilette. Tief in Gedanken versunken stieg ich die Treppe hinauf. Was passierte hier nur? Die Schönheit des Sonnenuntergangs verblasste bereits, versank unter allem, was ich vielleicht verpasst haben könnte. Auf dem Treppenabsatz blieb ich unentschlossen stehen. Ob ich jetzt noch einmal die kleine Treppe nach oben gehen sollte? Trunkener Leichtsinn lenkte meine Schritte hinüber auf die andere Seite. Ich achtete auf jeden Schritt, damit man unten ja nicht hörte, wohin ich ging. Zuerst probierte ich die Tür von Maries Zimmer.

    Dieses Mal war sie nicht verschlossen.

    Augenblicklich schlug mein Herz höher. Ich blickte mich um, schluckte schwer und ging hinein. Sofort umfing mich Maries Geruch. Unter der Schräge stand ihr Bett, unberührt, immerhin schlief sie ja im Schuppen, auch wenn ich immer weniger verstand, warum, wo wir unsere Tage doch sonst schon ziemlich teilten. Dann waren da ein Schrank und ein Schreibtisch, ein Klavier und ein paar Sportgeräte, Hanteln, eine Matte und Bänder. Mehr nicht. Ich war versucht, in den Schrank zu schauen, oder in die Schubladen vom Schreibtisch, lauschte aber gleichzeitig auf jedes Geräusch von unten. Ich seufze und schüttelte den Kopf über mich. Fing ich denn jetzt schon an, in fremden Sachen herumzuwühlen? Nach einem letzten Blick in den Raum, schloss ich die Türe wieder. Am Ende des Ganges lag die schmale Treppe im Dunkeln. Wenn das Schlafzimmer unverschlossen war, würde es der kleine Raum oben dann vielleicht auch sein? Ich tat ein paar Schritte darauf zu, blieb stehen, ging doch weiter. Am Fuß der Treppe zögerte ich, atmete tief durch. Dann setzte ich den Fuß auf die erste Stufe.

    Das Knarzen hallte durch den dunklen Gang.

    Ich riss den Fuß zurück und schlich so schnell es ging den Gang entlang. An der Treppe nach unten verharrte ich und lauschte. Mein Herzschlag hämmerte in meinen Ohren. Von unten hörte ich nur gedämpft Jans Stimme. Ich warte noch ein paar Atemzüge. Wie hatte ich diese Stufe nur vergessen können? Jetzt war ich schon viel zu lange fort, um nur kurz auf die Toilette zu gehen. Verärgert ging ich ins Bad, um alibimäßig die Spülung laufen zu lassen. Dann ging ich zurück nach unten.

    Das Gesprächsthema hatte sich vom Kitesurfen zu anderen Outdooraktivitäten bewegt. Ich setzte mich zu den beiden an den Tisch, hörte aber nur halb zu. Zu laut dröhnten die Stimmen meiner Gedanken. Ich war an dem Punkt, da der Wein mich nicht mehr weich in Watte packte, sondern reizbar und verletzlich machte. Trotzdem schenkte ich mir nach. Insgeheim hoffte ich, dass Jan bald ins Bett gehen würde und ich mit Marie allein zurückbleiben würde. Er aber war in Erzähllaune und ich wusste, dass das nicht so schnell vergehen würde. Schließlich war es Marie, die sich verabschiedete und ich blieb mit Jan zurück. Es dauerte nicht lange, eher er zu mir hinüberkam und einen Versuch startete. Er stellte sich hinter mich und massierte meine Schultern, beugte sich dann hinab und küsste meinen Hals. Kurz versuchte ich es über mich ergehen zu lassen, doch dann musste ich ihn einfach zurückweisen.

    „Tut mir leid.“ Ich legte meine Hand auf seine. „Ich bin müde.“

    Er richtete sich auf. „Na gut.“

    Ich hörte die Enttäuschung. Er war es nicht gewohnt, von mir abgewiesen zu werden und im schlechtesten Fall würde es noch ein Nachspiel geben. Im Augenblick war Jan aber auch ziemlich angetrunken und wurde dadurch schnell müde. „Dann leg ich mich auch hin.“, bestätigte er meine Vermutung und ließ mich allein.

    Mit stierem Blick blieb ich im Wohnzimmer zurück. Ich fühlte mich seltsam entfernt von meinem eigenen Körper, was zum Teil am Wein liegen konnte, vor allem aber daran, dass ich nicht im Ansatz verstand, was mit mir geschah.

    Ich leerte mein Glas.

    Und wünschte, Marie wäre noch hier.

    Bevor ich es mir anders überlegen konnte, stand ich auf und ging zur Haustüre. Mein Herz klopfte wild, als ich in die kalte Nachtluft trat. Mechanisch setzte ich einen Fuß vor den anderen. In Maries Schuppen brannte noch Licht. Vor der Tür blieb ich stehen, zögerte.

    Was sollte ich sagen?

    Was würde Marie sagen?

    Ich hob die Faust, um zu klopfen. Innen erlosch das Licht. Langsam ließ ich die Faust sinken. Enttäuschung durchflutete mich. Doch der Moment war vorbei. Ich hatte zu lange gewartet, und jetzt traute ich mich nicht mehr. Gebeugt ging ich zurück zum Haus. Im Wohnzimmer merkte ich, wie sehr ich den Wein wirklich spürte. Ich ging nach oben, wusch mich und putzte meine Zähne, dann legte ich mich zu Hanna ins Bett. Mir war schwindelig, doch das war nicht der Grund, warum ich nicht einschlafen konnte. Mein Gedanken schwappten hin und her, wie die Wellen am Ufer, kamen und gingen, wie Ebbe und Flut, um ein Zentrum kreisend, ohne Ausweg. Irgendwann tapste Jana zu uns ins Zimmer. Es war beruhigend ihre kleinen Körper zu spüren. Sie gaben mir Halt und verbanden mich mit meinem Leben, in dem doch eigentlich alles stimmte, alles nach Plan lief.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Schon am nächsten Tag wollte Jan mit Marie nach Büsum fahren, auch wenn wir gerade erst dort gewesen waren. Immerhin war das Wetter besser, sodass ich mit Hanna und Jana die Zeit gut am Strand verbringen konnte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Jan am Verleih die passende Ausrüstung zusammen hatte. Ich wartete mit den Mädchen am Kiosk daneben, wo ich ihnen Pommes zu Mittag erlaubt hatte. Ständig liefen gutaussehende Männer und Frauen an uns vorbei, in Neoprenanzügen, oder in lässigen Surferklamotten, alle braun gebrannt und athletisch.

    Wie Marie.

    Schon jetzt, am späten Vormittag, lief elektronische Musik und ich hätte einen Drink kriegen können, den ich zur Bekämpfung meines Katers sogar gut hätte gebrauchen können.

    Endlich hatte Jan alles, was er brauchte und wir gingen gemeinsam hinunter an den Strand, wo Marie ihm die Handhabung des Kites erklärte. Ich suchte mit den Mädchen nach Muscheln und wir bauten eine Sandburg. Immer wieder wanderte mein Blick zu Marie und Jan und weiter in den endlosen Horizont hinaus. Vielleicht hoffte ich dort Antworten auf die Fragen zu finden, die ich mich nicht einmal zu stellen traute.

    Jan kämpfte mit dem Kite und ich sah Marie immer wieder lachen, während sie ihren eigenen mit beeindruckender Leichtigkeit in der Luft hielt.

    „Mama, Biebats.“ Hanna zog an meinem Ärmel und zeigte hinter in Richtung Lagune zum Piratenspielplatz. Ich seufzte, willigte aber ein, auch wenn das bedeutete, dass ich Jan und Marie nicht länger im Blick hatte. Viel zu sehen gab es dort ohnehin nicht, zumindest nicht viel Fortschritt.

    Auf der Rückfahrt und den ganzen Abend über war Jan hingegen Feuer und Flamme. Marie war ins Restaurant zum Arbeiten gegangen und wir waren allein im Haus. Freudig erzählte Jan von seinen Pannen und Erfolgen und was für eine gute Lehrerin Marie doch war. Der giftige Stachel der Eifersucht bohrte sich in meinen Bauch und legte mir bissige Antworten auf die Zunge, die ich nur mühsam hinunterschluckte.

    „Danke, dass ich das probieren darf.“ Jan strahlte mich an, kam dann um den Tisch herum, streichelte den Mädchen über die Köpfe und umarmte mich fest von hinten. Normalerweise liebte ich, wie leicht er zu begeistern war und wie er sich freuen konnte, wie ein kleines Kind. Heute aber konnte ich es kaum ertragen.

    „Wir könnten morgen noch einmal hin. Wenn das in Ordnung ist.“ Er sagte das beiläufig und etwas verlegen, da wusste ich sofort, dass er schon lange beschlossen hatte, wieder hinzugehen und beleidigt wäre, wenn ich es verböte.

    „Jaaa! Piratenspielplatz!“, rief Jana und zerschlug mein einziges Gegenargument in tausend Scherben.

    „Morgen hat Marie noch einmal Zeit, danach nicht mehr“, erklärte sich Jan. „Ich verspreche, dass ich dafür einen anderen Tag auf die Mädchen aufpasse, und du kannst etwas für dich machen, in Ordnung?“

    Und was?, wollte ich fragen, verbiss es mir aber.

    „Also, was sagst du?“

    „Piraten! Piraten! Piraten!“ Jana klatschte in die Hände und Hanna fiel mit ein. „Laten! Laten! Laten!“

    „Hört schon auf.“ Ich versuchte meinen Unmut gespielt wirken zu lassen. „Vielleicht sollten wir uns nächstes Mal gleich eine Unterkunft in Büsum suchen.“

    „Ja!“, riefen die Mädchen, die wahrscheinlich nur die Hälfte verstanden.

    Jan zog eine Braue hoch. Immerhin fuhren wir schon immer absichtlich nicht in einer der größeren Städte, beschränkten uns lieber auf Tagesausflüge. Es war die Abgeschiedenheit und Ruhe, die uns hierherlockte, die uns erlaubte, ganz bei uns zu sein.

    „Das war ein Scherz“, fügte ich schwach an.

    Jan beließ es dabei. Immerhin hatte er erreicht, was er wollte. Er drückte mich noch einmal.

    „Du bist die Beste!“

    Daran begann ich ernsthaft zu zweifeln.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Marie fuhr dieses Mal nicht mit uns, sondern erwartete uns bereits am Verleih in Büsum. Sie trug ihren Neoprenanzug und ihr Haar war nass. Während Jan sich umzog, wartete ich mit den Kindern und Marie vor den Containern. Marie zeigte Jana und Hanna ihr Board. Ein junger, blonder Mann kam vorbei und klopft Marie auf die Schulter. „Geile Session, Marie“, sagte er und ging weiter.

    „Danke, John!“, rief sie ihm nach.

    Ich fand Marie passte viel besser hierher als in das einsame Ferienhaus; viel besser zu diesen jungen, hippen Leuten als zu uns.

    Jan war bester Laune, als er aus dem Container kam.

    „Heute geht es ins Wasser“, kündigte Marie an und zwinkerte ihm zu. Ich fragte mich, ob ihre Blicke auf ihn die gleiche Wirkung hatten, wie auf mich. Eigentlich hätte sie genau sein Typ sein sollen. Sportlich, abenteuerlustig und draußen zu Hause. Stattdessen hatte er jemanden wie mich gewählt, für die Radfahren oder Joggen schon das höchste der Gefühle war.

    „Das schauen wir uns an, oder?“, wandte ich mich an die Mädchen. Lieber wären sie direkt auf den Spielplatz gegangen, doch ich konnte sie überreden, erst mit runter an den Strand zu kommen. Es war deutlich wärmer heute und es gab nur wenige Wolken am blauen Himmel. Trotzdem war es noch weit entfernt von Badewetter.

    Wir sahen zu, wie Jan und Marie ins Wasser wateten. Marie erklärte Jan etwas und zeigte ihm ein paar Bewegungen, ehe sie sich auf ihr Brett stellte, und von ihrem Kite erst auf die Beine, dann über das Wasser davonziehen ließ. Es sah so einfach bei ihr aus, doch selbst ich wusste, dass es das nicht war.

    „Oh!“, rief Jana aus und zeigte auf Marie. Beide Mädchen lachten begeistert. Auch ich konnte nicht anders, als fasziniert zu zusehen. Marie fuhr ein paar Mal hin und her, ehe sie zu Jan zurückkehrte. Jetzt war Jan an der Reihe. Natürlich funktionierte es bei ihm nicht sofort. Er kam nicht auf die Beine und wenn es ihm doch gelang, fiel er sofort vorn über wieder ins Wasser. Marie gab ihm Tipps, doch die beiden waren zu weit weg, als dass ich etwas verstehen konnte. Jan lachte und hatte Spaß, trotz seines Kampfes mit Brett und Kite. Als Hanna und Jana ihr Recht auf den Spielplatz einklagten, hatte Jan es noch immer nicht auf die Beine geschafft. Freudig rannten die beiden Mädchen über das Watt. Ich liebte es, sie so zu sehen, glücklich und zufrieden, auch wenn ich aktuell vielleicht nicht die aufmerksamste Mutter war. Sie brauchten mich auch auf dem Spielplatz nicht wirklich, vertieften sich sofort wieder in ihr Spiel vom Vortag und trafen sogar ein paar Kinder wieder, mit denen sie gestern gespielt hatten. Meine Neugierde nahm überhand und ich ging die paar Schritte den Hügel hoch, von dem ich den Spielplatz noch im Blick behalten, auf der anderen Seite Jan und Marie zumindest noch erahnen konnte. Dachte ich. Mittlerweile waren noch einige andere Surfer ins Wasser gekommen. Ich kniff die Augen zusammen suchte nach einem, der hauptsächlich auf dem Boden saß. Vielleicht drehte Marie selber auch wieder ein paar Runden. Ich dachte daran, wie leicht sie auf die Beine gekommen und über das Wasser geschossen war. Gibt es etwas Anziehenderes, als wenn ein Mensch etwas gut kann?

    Plötzlich stand Marie neben mir.

    „Er macht das wirklich gut.“

    Ich erwachte aus meinen Tagträumen. „Ja… er hat Talent für solche Dinge.“

    Meine Schulter berührte Maries Oberarm und sofort knisterte es in meinem Bauch. Ich spürte meinen Herzschlag, wie das Kommen und Gehen der Wellen. Das Sonnenlicht glitzerte auf dem Wasser und verklärte die Sicht und der Wind zog sanft, wenn auch stetig an meinen Kleidern und pfiff in meinen Ohren, sodass alles andere gedämpft schien.

    Ich befeuchtete meine Lippen und bewegte meine Finger. Nur ein Stück bis zu Maries Hand. Ich ärgerte mich über die Idee wie meine Feigheit gleichermaßen, trieb mich in Gedanken an und streckte den kleinen Finger aus.

    Haut berührte Haut.

    Marie wich nicht zurück.

    Beide starrten wir weiter gerade aus.

    Noch immer donnerte mein Herz in meinen Ohren. Ich konnte am Rande meines Blickfeldes sehen, wie sich meine Brust hob und senkte. Mein ganzer Körper schien zu vibrieren.

    Es war berauschend.

    Ich hatte schon eine ganze Weile nicht nach den Mädchen gesehen, doch ich wagte nicht, mich zu rühren.

    Ich verschränkte meine Finger mit Maries und hielt den Atem an.

    „Nein“, rief sie plötzlich und ich zuckte zurück.

    „Nein! Jan! Nicht so!“ Dann rannte sie los und ließ mich zurück, der endlosen Weite meines Innenlebens ausgeliefert.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Der Tag wurde lang und länger und ich war betäubt von einer Mischung aus Sehnsucht und Scham. Was musste Marie jetzt von mir denken! Ich war so blöd.

    Von oben auf der Plattform erklang Harry Styles und ich lehnte mich in das Lied hinein, als wäre es mein ganz persönlicher Soundtrack.

    I just wanna taste it.

    I just wanna taste it.

    Über dem Meer bildeten sich mehr und mehr Wolken, die vorüber zogen wie im Zeitraffer. Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Den Mädchen kaufte ich Eis und Limonade, außer Stande nein zu sagen, und froh, dass sie zufrieden waren. Endlich kam Jan zu uns. Allein. Er sah so erfüllt aus, dass es mich schmerzte.

    „Ich hab‘ es geschafft.“ Er strahlte wie ein Kind an Weihnachten. „Es war der Wahnsinn.“

    Während wir nach Hause fuhren, schoben sich die Wolken immer mehr zusammen, düster und grau. Auf halber Strecke klatschen die ersten dicken Tropfen auf das Auto.

    „Oh weh.“ Jan lehnte sich über das Lenkrad und spähte in den Himmel. „Marie ist vorhin mit dem Fahrrad losgefahren. Ich hoffe, sie ist bald da.“

    Auch wenn ich nicht wusste, was „vorhin“ hieß, konnte ich es mir kaum vorstellen.

    „Es gibt Dinge, an die gewöhnt man sich.“, murmelte ich und sah im Augenwinkel, dass Jan den Kopf zu mir drehte. Hinter uns waren die Mädchen eingeschlafen, was den Abend komplett durcheinanderbringen würde. Jans Problem. Wegen ihm waren wir jetzt im Auto. Er durfte die Abendschicht übernehmen. Das schwor ich mir.

    Haus und Schuppen waren verlassen, als wir ankamen. Wir eilten vom Auto ins Haus. Ich kochte uns Nudeln und wir aßen schweigend, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt oder im Fall der Mädchen wahrscheinlich einfach sehr hungrig.

    Wir waren schon fertig, Jan mit den Kindern nach oben gegangen ins Bad und ich am Abräumen, als Marie tropfnass in den Flur gerannt kam.

    „Ich muss die Wäsche reinholen“, sagte sie atemlos, vielleicht mehr zu sich, als zu mir und schon rannte sie wieder hinaus in den Platzregen. Ohne nachzudenken, folgte ich ihr. Gemeinsam rissen wir die Laken und Handtücher in Windeseile von den Leinen, obwohl alles bereits vollkommen durchnässt war. Die Arme voll nassem Stoff rannten wir zurück. Marie warf ihre Last auf den Boden im Flur und seufzte. „Mist.“ Ich ließ meine Ladung ebenfalls fallen, drehte mich um und fand mich Marie direkt gegenüber wieder. Sie stand mit dem Rücken am Treppengeländer. Ein paar Strähnen hatten sich aus ihrem Dutt gelöst und hingen ihr in das Gesicht. Tropfen fielen ihr auf die Wangen und ihr Atem dampfte in der Luft. Wir sahen uns in die Augen und ich wusste abermals nicht, was mit mir geschah. Mein Körper reagierte wieder, bevor mein Verstand auch nur merkte, dass es etwas zu bemerken gab. Ein Feuerwerk brannte in meinem Inneren ab, Blitz und Donner. Ihr Blick bannte mich, ähnlich wie an dem einen Morgen in der Küche, nur dass ich jetzt mehr darin erkennen konnte. Ich machte einen Schritt auf sie zu. Wie lange hatte ich so etwas nicht mehr gefühlt? Ich setzte an, den Arm zu heben, um ihr eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen. Ein Hauch von Panik mischte sich in ihren Blick, zumindest meinte ich das, und ich ließ die Hand wieder sinken. Ich dachte an heute Nachmittag und der Mut verließ mich.

    Ich bin verknallt, dachte ich. Scheiße, ich bin verknallt.

    Doch das konnte einfach nicht sein, nicht jetzt, vor allem nicht in eine Frau.

    Und doch kannte ich das Gefühl gut genug. Zu Beginn von Jans und meiner Beziehung hatte ich mich einmal fremdverliebt, ehe es unverrichteter Dinge vorüber ging. Es war eine bittersüße Erfahrung gewesen, voll von verheißungsvoller Sehnsucht.

    Aber Marie war eine Frau.

    Und ich war nicht mehr Anfang zwanzig.

    Ich war erwachsen, verheiratet und hatte eine Familie.

    Oben badete mein Mann meine Kinder. Ich konnte sogar hören, wie das Wasser lief.

    Ich rührte mich nicht. Marie schloss die Augen. Ich hätte sie jetzt zu mir hinunterziehen können, ihre Lippen auf meine, wagte es jedoch nicht. Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Noch immer hielt sie die Augen geschlossen, zog die Brauen zusammen, wie in einen inneren Kampf verwickelt. Dann öffnete sie die Lider und sah mich fest an. Ich erkannte eine tiefe Traurigkeit in ihrem Blick, die ich vorher nicht wahrgenommen hatte. Langsam hob nun Marie ihre Hände und legte sie mir links und rechts auf die Taille. Ich konnte ein leises Seufzen nicht verhindern, als die nächste Sturmböe durch meinen Unterleib fegte.

    Jetzt passierte es gleich.

    Ich war mir sicher, dass ich jeden Augenblick ihre Lippen auf meinen spüren würde. Ich schluckte schwer.

    „Nessa!“, drang Jans Rufen zu uns hinunter und wir wichen schlagartig auseinander.

    „Nessa!“

    Ich räusperte mich. „Ja?“, rief ich zurück.

    „Kannst du das Kindershampoo aus dem Koffer holen?“

    „Moment“, rief ich mit brüchiger Stimme und zu Marie ganz leise: „Geh nicht weg.“

    Ich eilte die Treppe hoch in mein Zimmer, riss den Koffer unter dem Bett hervor, fummelte die Shampooflasche heraus und brachte sie ins Bad.

    „Schau mal, Mami, Schaum!“ Jana hob stolz eine Ladung hoch, dann zog sie die Brauen zusammen. „Warum bist du so nass?“

    „Das… erzähle ich euch später. Es riecht toll hier. Endlich werdet ihr sauber.“ Ich fürchtete, dass ich gehetzt klang, konnte es aber nicht verhindern. „Bis gleich“, hauchte ich und machte die Türe wieder zu. Ich rannte die Treppe beinahe hinunter, hoffte und flehte.

    Marie war noch da.

    Ich fiel ihr in die Arme und wir küssten uns.

    Das Dynamit in mir ging hoch. Ich presste mich an sie, warf mich in den Kuss. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Mir war schwindelig vor Erregung. Ich glaube nicht, dass ich jemals so gefühlt habe. Ich war wie in der Brandung gefangen, im Hin und Her der Wellen, losgelöst und verloren und es war nur Maries Berührung, die mir Halt gab. Meine Hand wanderte unter ihre Jacke, unter ihren Pullover, bis ich warme Haut spürte. Marie schob mir eine Hand in den Nacken, zog mich näher zu sich heran. Sie seufzte, als ich meine Hand über ihren schlanken Bauch und ihre Taille streichen ließ.

    Schritte auf dem Flur ließen uns abermals auseinanderspringen.

    „Mama!“, rief Jana.

    Marie und ich sahen uns in die Augen. Ich war mir sicher, meine glühten vor Verlangen. Marie sah einfach müde aus.

    Sie räusperte sich. „Wir sollten uns umziehen.“

    Ich nickte, unfähig auch nur ein Wort zu sagen.

    Marie ging um mich herum, bückte sich und hob die Wäsche auf. Dann ging sie die Treppe nach oben. „Na du?“, grüßte sie Jana und verschwand in ihrem Bad.

    Ich konnte mich nicht bewegen. Ich spürte Maries Lippen auf meinen, ihre Hand auf meiner Hüfte, in meinem Nacken; meine Hand auf ihrer Haut. Alles in mir pochte.

    „Maaaaama!“, rief Jana erneut.

    „Vanessa, kommst du mal?“, kam Jans Stimme aus dem Bad.

    Augenblicklich wurde ich zornig. Zwei Tage lang konnte er sich am Strand herumtreiben und mich mit den Mädchen dort stehen lassen, und jetzt schaffte er nicht mal beide zu baden und wieder anzuziehen?

    Ich wusste, dass ich unfair war. Immerhin war ich diejenige, die gerade fremdgeküsst hatte. Und wie. Trotzdem ballte ich die Fäuste. Mit Mühe riss ich mich aus meiner Starre und ging die Treppe hoch.

    „Bin schon da. He Schatz, wir müssen dich anziehen!“ Ich schnappte mir die nackte Jana und ging mit ihr in Jans Zimmer, ihren Schlafanzug zu holen. Kurz darauf kam Jan mit Hanna dazu.

    „Du bist ja wirklich klatschnass“, stellte er fest.

    „Ich habe Marie geholfen, die Wäsche reinzuholen“, erklärte ich.

    „Willst du dann zuerst duschen, oder soll ich?“

    Das wäre ihm recht, sich jetzt unter die warme Dusche zu stellen und mir die Kinder zum Bettfertigmachen zu lassen.

    „Ich“, sagte ich bloß. „Mir ist kalt.“

    Während ich mich im Bad entkleidete, hörte ich wie nebenan schon Wasser lief. Sofort schoss eine neue Welle der Erregung in mir hoch. Marie stand keine paar Meter entfernt unter der Dusche. Ich schloss die Augen, während ich mich wusch und stellte mir vor, wir wären zusammen. Als ich herauskam, sprangen die Mädchen in Jans Bett herum. So viel dazu. Ich zog mich an und Jan verschwand im Bad. Am Ende musste ich Hanna doch wieder ins Bett bringen. Sie brauchte ewig, bis sie eingeschlafen war.

    Jan saß schon im Wohnzimmer, als ich endlich fertig war. Er war allein und trank ein Bier. Unter dem Vorwand, den Regen zu prüfen, sah ich aus dem Fenster. Im Schuppen brannte kein Licht.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Es war mein Glück, dass Jan viel zu begeistert von seinem Tag war, um meine geistige Abwesenheit zu bemerken. Er erzählte mir alles Mögliche von Board und Kite und Leinen, und von so und so vielen Sekunden, die er am Stück gefahren war, von missglückten Turns, von endlosen Versuchen. Seine Stimme schwappte über mich hinweg, ohne mich wirklich zu erreichen. Ich lächelte, nickte, zeigte Erstaunen oder Ungläubigkeit, und hoffte, dass ich es an den richtigen Stellen tat. Meine Gedanken tobten unterdessen in wildem Sturm durch meinen Geist. Ich fragte mich, wo Marie jetzt war. Was sie dachte. Was jetzt geschehen würde. Ich dachte an das nahende Ende unseres Urlaubs. An das danach. An den Kuss. An das Feuerwerk in mir. An die einzelnen Augenblicke, die zu diesem einen am Fuße der Treppe geführt hatte. Welche davon waren wirklich und welche entstammten meiner verklärten Fantasie?

    Maries Abwesenheit war so absolut, dass ich mir alles ebenso gut eingebildet haben könnte. Aber ich spürte ihre Hände noch auf mir, ihre Lippen auf meinen, ihre Zunge in meinem Mund. Schon der Gedanke daran trieb die Hitze wieder in mir hoch.

    Wie weit wäre ich gegangen, wenn wir nicht unterbrochen worden wären?

    Ich wusste es nicht. Ich war unzurechnungsfähig, wie in Trance, wusste nicht, ob ich mich bejubeln, schelten oder bemitleiden sollte.

    „Hörst du mir zu?“, durchdrang Jan irgendwann den Schleier und ich merkte erschrocken, dass ich endgültig abgedriftet war. „Sorry“, fügte er an und lächelte, „ich texte dich ohne Ende zu.“ Er stand vom Sofa auf und kam zu mir hinüber an den Tisch.

    Bitte nicht, flehte ich.

    „Ich höre jetzt auf, in Ordnung?“ Er ging vor mir in die Hocke und grinste mich an.

    Ich presste meinen Rücken gegen die Stuhllehne und zwang mich zu antworten. „Kein Problem. Ist doch schön, wenn es dir gefallen hat.“

    Jan legte mir eine Hand auf den Oberschenkel und strich mit dem Daumen hin und her. Am liebsten wäre ich aufgesprungen. Stattdessen legte ich meine Hand auf seine und stoppte die Bewegung. Leider verstand Jan es als Einladung. Er stand auf, beugte sich über mich, um mich zu küssen. Ich war ausgewichen, noch bevor ich wusste, was ich tat. Jan zuckte zurück. Verwirrung lag in seinem Gesicht und auch eine Spur Verletztheit.

    „Sorry“, setzte ich an und versuchte mich an einem lockeren Lachen. „Ich dachte irgendwie du willst…“ Ja, was dachte ich denn, dass er wollte?

    „… dich küssen?“ Mit zusammen gekniffenen Augen schüttelte Jan irritiert den Kopf.

    „Nein, was anderes. Ich weiß auch nicht mehr.“ Im Stillen ohrfeigte ich mich für diese schwache Ausrede. Ich musste etwas tun. Wider Willen packte ich sein Gesicht mit beiden Händen, zog ihn zu mir und küsste ihn mit geschlossenen Lippen auf den Mund.

    „Es ist nur… du erinnerst mich gerade eher an einen Schuljungen als an meinen Ehemann.“ Ich zwinkerte ihm zu und versuchte, ein verschmitztes Grinsen aufzulegen.

    Leider fasste Jan auch das als Einladung auf. Er küsste mich wieder, zog meinen Kopf zu sich heran und schob mir seine Zunge in den Mund. Die irrwitzige Frage, ob er auf meinen Lippen wohl Marie schmecken konnte, drängte sich mir in den Geist. Ich wusste nicht, ob ich heulen oder hysterisch lachen sollte.

    Meine offensichtliche Zurückhaltung spornte Jan nur noch mehr an. Er stand auf und zog mich mit sich, küsste mich weiter und griff mit einer Hand nach meiner Taille. Nach Maries zögerlicher Berührung kam mir seine übermäßig grob vor, obwohl er nicht anders war als sonst. Bisher hatte es mich nie gestört. Ich spürte seine Erregung an meinem Bauch, als er sich an mich drückte und kniff die Augen zusammen. Ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht.

    „Jan.“ Ich drehte meinen Kopf zur Seite. „Jan, bitte.“

    Er stöhnte genervt. „Was ist los, Vanessa?“

    „Das ist nicht unser Wohnzimmer.“

    „Als hätte dich das schon mal gestört.“ Er versuchte, mich wieder zu küssen, doch ich riss mich los.

    „Ich bin müde. Es tut mir leid.“ Ich drehte mich um und rannte aus dem Wohnzimmer, bevor mir die ersten Tränen die Wangen hinabliefen.

    „Bist du jetzt sauer wegen heute, oder was?“, rief mir Jan hinterher.

    Ich antwortete nicht. Sollte er das ruhig denken.


    Die halbe Nacht lag ich wach. Hauptsächlich dachte ich an Marie, und an den Kuss. Wo war sie nur hin? Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und schlich mich nach draußen. Es hatte aufgehört zu regnen, doch es war noch klamm und ich hörte, wie überall Wasser von den Dächern tropfte. Mit rasendem Herzen stand ich vor dem Schuppen. Schließlich klopfte ich an. Nichts geschah. Ich klopfte noch einmal, aber Marie machte nicht auf. Wenn sie überhaupt dort war. Ich versuchte durch das Fenster zu spähen, aber es war stockfinster. Geschlagen ging ich zurück ins Haus. Schon unten im Flur hörte ich Hannas Weinen.

    „Shit“, fluchte ich, rannte die Treppe hoch und kuschelte mich zu ihr, um sie zu beruhigen. Mein Handy zeigte halb vier.

    Mein Verstand wechselte zwischen traumlosem Schlummer und den wiederkehrenden Grübeleien. Ich fühlte mich einsam, trotz Hannas Körper neben mir. Wie leicht war es mir doch gefallen, Marie zu küssen. War das noch ich? War ich noch dieselbe Person, die vor ein paar Tagen (es kam mir vor wie eine Ewigkeit) zu Hause ins Auto gestiegen war, in der Hoffnung endlich ihren Roman lesen zu können?

    Mir graute vor dem Zusammentreffen mit Jan. Er würde eine Erklärung erwarten für meine Zurückweisung und meinen stummen Abgang. Was sollte ich ihm sagen?

    Schließlich musste ich wieder weggenickt sein, denn als Hanna mich weckte, lag die Welt außen in grauem Zwielicht. Ich konnte sie überreden noch liegenzubleiben, bis es richtig hell war. Der Himmel versprach einen sonnigen Tag, doch ich nahm es gleichgültig zur Kenntnis.

    Als ich mit Hanna in die Küche kam, war das erste Mal kein Frühstückstisch gedeckt. Es war, als wäre Marie komplett ausgelöscht, als wäre ihre Anwesenheit bloß ein Traum gewesen. Ich suchte zusammen, was ich finden konnte, kochte Kaffee und deckte den Tisch. Auf dem Tresen stand noch immer unser Gastgeschenk in Folie verpackt.

    Sehnsüchtig sah ich aus dem Fenster. Maries Fahrrad war fort.

    „Morgen“, grüßte Jan und folgte Jana in die Küche. Er musterte den Frühstückstisch, sagte aber nichts.

    Wir versorgten die Mädchen und sprachen leise mit ihnen, mieden dabei uns anzusehen.

    „Hör mal, Nessa“, sagte Jan schließlich, als Hanna und Jana schon aufgestanden waren und mit ihren Puppen auf dem Boden spielten. „Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht drängen.“

    Ich starrte ihn an. Mit vielem hatte ich gerechnet, doch nicht damit.

    „Schau nicht so. Ich weiß, ich war drüber“, deutete er meinen Blick falsch.

    Sofort fühlte ich mich furchtbar. Ich hatte nach Ausreden gesucht, nach weiteren Lügen und Vorwänden, um ein Verhalten zu rechtfertigen, dass allein in meinem Verrat an ihm begründet war. Und er entschuldigte sich bei mir. Bei mir.

    „Ach Jan“, brachte ich hervor und legte meine Hand auf seine. Mehr konnte ich nicht sagen, lächelte ihn nur schwach an.

    „Bist du ok?“, fragte er mit ernsthaftem Blick.

    Am liebsten hätte ich gelacht. Ich war alles andere als ok.

    Ich nickte tapfer. „Ja, ich bin ok.“

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    Laotse

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  • Nach dem Frühstück fuhren wir nach Spitze, um endlich den Trischendamm hinauszulaufen.

    „Das hast du dir doch so sehr gewünscht“, hatte Jan gesagt und es stimmte: ich hatte mir das gewünscht. Doch das war zu einem Zeitpunkt gewesen, wo ich noch wusste, was ich wollte und wer ich war. Jetzt setzte ich wie mechanisch einen Fuß vor den anderen und suchte nach der reinigen Kraft der See. Der Himmel war blau und es war beinahe windstill. Ich sehnte mich nach Regen und Sturm.

    Das Meer stand relativ hoch und kleine Wellen schwappten gegen die Steine, die den Damm bildeten. Das stete Schreien der Seevögel verschmolz zu einer neuen Stille, die der in meinem Geist ziemlich nahekam.

    Hanna saß auf Jans Schultern, doch Jana ging tapfer den ganzen Weg bis vorne an die Spitze. Dort standen wir gemeinsam und blickten hinaus auf das Meer. Die Mädchen begannen die Steine nach Muscheln und Krebsen abzusuchen. Ich stand regungslos da. Nur noch zwei Tage, dachte ich. Und so viele ungeklärte Fragen.


    Wir aßen zu Mittag im Restaurant zur Spitze und ich konnte nicht verhindern, dass mein Herz höherschlug. Immer wieder ließ ich meinen Blick durch den Gastraum und hinter zur Theke schweifen, konnte Marie aber nicht entdecken.

    Ich war nicht wirklich hungrig und teilte mir nur eine Portion mit Hanna und Jana. Da blieb sowieso immer genügend übrig. Ich trank Wein und dieses Mal war ich mir nicht zu schade, ein zweites Glas zu bestellen. Im Vergleich zu dem, was ich noch getan hatte, konnte das dem Wohl meiner Familie kaum schaden. Hanna und Jana bekamen ihre Waffeln als Nachtisch und Jan bestellte uns Aquavit. Ich mochte das Zeug eigentlich überhaupt nicht, doch irgendwie war es trotzdem zu unserer Tradition geworden, einmal im Urlaub Aquavit zu trinken.

    „Auf uns“, grinste Jan mich an.

    „Auf uns“, erwiderte ich und hoffte, mein verzogenes Gesicht komplett auf den Geschmack des Schnapses schieben zu können.

    Die Lautsprecher des Lokals spielten die ersten Töne von Watermelon Sugar und ich schloss die Augen im Versuch, die Fassung zu bewahren. Der Alkohol stieg mir in den Kopf und ich sehnte mich nach Marie. Ich wollte wissen, was all das zu bedeuten hatte.

    Wir fuhren zurück, damit Hanna endlich wieder einen ordentlichen Mittagschlaf bekam.


    Selbstzufrieden kam die Jan die Treppe herunter.

    „Schläft“, erklärte er stolz. „Wenn du magst, kannst du los. Ich passe auf die kleinen Engel auf.“ Er drückte Jana an sich heran und wuschelte ihr den Kopf.

    „Höhle bauen?“, fragte sie hoffnungsvoll.

    „Klar, wir bauen die beste Höhle der Welt!“

    Schon wieder lagen mir bissige Antworten auf der Zunge. Jans übertrieben gute Laune und Aufopferungsbereitschaft nervte mich. Wieso war er nicht gleich allein mit den Mädchen zum Haus zurückgefahren? Dann hätte ich an der Spitze bleiben können. Der Alkohol trug seinen Teil zu meiner schlechten Stimmung bei. Ich hatte so viel getrunken, dass ich entweder weitermachen oder etwas unternehmen musste, um nicht in ein ekliges Tief zu rutschen.

    Außerdem gab es nur eine Sache, die ich machen wollte. Ich musste mit Marie sprechen, wusste aber nicht, wie ich sie finden sollte.

    „Na gut“, brachte ich schließlich hervor. „Aber dann muss ich das Auto nehmen. Ich wollte mir drüben am Strandpark noch etwas ansehen.“

    „Klar.“ Jan zuckte mit den Schultern.

    Ich schnappte mir meine Jacke und Handtasche, verabschiedete mich von Jana und ging hinaus. Die Sonne strahlte am Himmel und verhöhnte meine miese Laune.

    Das Restaurant war mein bester Anhaltspunkt. Immerhin war ich Maries Mieterin, und hatte bloß eine Festnetznummer vom Haus. Da war es doch nachvollziehbar, dass ich nach ihr fragte. Am Tresen bekam ich dennoch weiche Knie und ich setzte mich erst einmal an einen Zweiertisch am Fenster und orderte Wein. Erst nachdem das Glas halb geleert war, traute ich mich, die Bedienung zu fragen.

    „Marie?“ Sie überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. „Die arbeitet heute nicht. Ich habe sie schon seit ein paar Tagen nicht gesehen.“

    Mit aufkeimender Enttäuschung im Bauch fragte ich nach einer Handynummer und sie ging, um hinten nachzusehen. Bevor sie zu mir zurückkam, bediente sie zwei andere Tische und ich hatte vor Nervosität mein Glas bereits ausgetrunken, als ich die Information endlich erhielt.

    „Keine Handynummer, nur Festnetz. Tut mir leid. Ich hoffe, ihr habt euch nicht ausgesperrt?“

    Ich winkte ab und bedankte mich. Schwer wie Blei hatte sie die Enttäuschung in meinen ganzen Körper ausgebreitet. Wir kamen vielleicht in das Haus, aber ausgesperrt fühlte ich mich trotzdem. Wieso lud Marie mich erst ein, um mich direkt danach wieder hinauszuschmeißen? Es ärgerte mich, dass sie sich so gar nicht blicken und mich in meinem Dilemma allein ließ.

    „Noch einen Wein? Kaffee?“

    Ich war vernünftig genug, abzulehnen, zahlte und ging. Tief in Gedanken versunken wanderte ich durch die Ferienhausanlage am Strandpark, wo wir so viele Jahre hintereinander gewohnt hatten. Glückliche Stunden hatten wir dort verbracht, sei es bei Sturm hinter den schützenden, bodentiefen Fenstern oder in der Hitze der Sauna, oder bei Sonne auf der Terrasse im Liegestuhl. Jetzt kam mir all das schmerzhaft banal und leer vor. Der Alkohol drückte mich unter einen Schleier düsterer Melancholie.

    Ich verließ den Park und stieg auf den Deich. Auf der abfallenden Wiese und in den Strandkörben saßen Paare und Familien in der Nachmittagssonne, andere spazierten oben oder an der Wasserkante entlang. Es war friedlich und ruhig, ein Abbild dessen, wie ich mir meinen eigenen Urlaub vorgestellt hatte; langweilig; gewöhnlich. Aber ich war damit zufrieden gewesen. Würde mein Leben je wieder sein, wie zuvor? An der Haupttreppe wanderte mein Blick über den Leitspruch von Friedrichskoog.

    Meer küst Land.

    Ich wandte den Blick ab und starrte einmal mehr hinaus in den Horizont. Es musste beinahe Ebbe sein. Das Wasser war fort.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Niedergeschlagen fuhr ich zurück. Im Auto war ich überrascht, wie fahrig ich war. Ich fand das Haus verlassen vor und prüfte mein Handy. „Sind spazieren. Lass dir Zeit.“

    Ich trat in den Flur, ließ mich mit dem Rücken gegen das Treppengeländer sinken und warf den Kopf in den Nacken. Ich stand fast da, wo wir gestern gestanden hatten. Die Erinnerung erwachte in meinem Körper und ich stellte mir vor, dass Marie genau jetzt nach Hause käme. Wollte sie sich etwa verkriechen, bis wir abgereist waren? Sollte das alles gewesen sein? Ich war nicht bereit, das hinzunehmen.

    Seufzend löste ich mich von meinem Platz und ging in die Küche. Ohne echtes Ziel öffnete ich die Kühlschranktür. Mein Blick fiel auf die offene Flasche Weißwein, ich zögerte und zuckte dann die Schultern. „Was soll’s“, murmelte ich vor mich hin und schenkte mir ein Glas ein. Ich trank es stehend in der Küche und überlegte, was ich tun sollte. Sollte ich mit Jan sprechen? Würde er mich verstehen? Vielleicht… vielleicht würde er mir sogar verzeihen, doch ich war mir sicher, dass er versuchen würde, es kleinzureden. Dazu war ich nicht bereit. Alles war noch zu fantastisch, als dass ich es loslassen konnte. Und das wiederum würde Jan bemerken. Ich brauchte Marie. Mit ihr musste ich reden. Ich überlegte, ihr einen Brief zu schreiben, meine Handynummer zu hinterlassen und unter der Schuppentür hindurchzuschieben. Ich stieß mich von der Theke ab, um Stift und Papier zu suchen, da klickte ein Schlüssel im Schloss. Ich erstarrte.

    Die Tür ging auf und Maries Kopf erschien.

    Sie schaute nach links, dann nach rechts, und fand mich.

    Wo warst du, wollte ich fragen. Doch kein Laut kam über meine Lippen. Stattdessen ging ich langsam auf sie zu. Sie wirkte überrascht, mich zu sehen, und angespannt, ein bisschen wie ein Reh, unentschlossen, ob sie davonrennen sollte.

    „Marie“, brachte ich hervor, flehend und sehnsüchtig.

    Sie sagte nichts, richtete sich aber immerhin auf und stellte sich meinem Blick. Ich blieb vor ihr stehen. In ihren Augen schimmerte diese merkwürdige Traurigkeit. Noch immer sagte sie nichts. Ich sah sie hilfesuchend an, nahm dann meinen ganzen Mut zusammen und griff nach ihren Händen. Zu meiner Erleichterung ließ sie es geschehen, wenn sie die Hände auch nicht öffnete. Ich zog mich etwas näher und legte meinen Kopf auf ihren Brustkorb. Sofort hörte ich ihren Herzschlag, schnell und stark. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Nach einigen qualvollen Augenblicken legte Marie ihre Arme um mich und drückte mich an sich. In diesem Moment glaubte ich, nie etwas Besseres gefühlt zu haben – was natürlich Unsinn war, immerhin hatte ich erlebt, wie zwei kleine Menschen das Licht der Welt erblickt hatten. Jetzt aber war diese Umarmung alles, was für mich zählte. Ich wollte, dass sie niemals endete. Ich wollte darin versinken und Zuflucht finden, sodass ich mich dem Leben nicht stellen brauchte, keine Sehnsucht ertragen, keine Fragen beantworten, keine Normalität vorgaukeln, keine endlosen Stunden ausharren, ehe die Zeit in quälender Langsamkeit die Wogen meiner Gefühle geglättet hätte.

    Aber nach einer Weile löste sich Marie von mir. Aus ihrer Hand fiel ein alter Schlüssel, doch er war mit einer Schnur an ihrem Handgelenk festgemacht und schwang in der Luft. Sie griff nach meinen Oberarmen, hielt mich bei sich und doch auf Abstand. Schmerzvoll sah ich zu ihr hinauf. Mir wurde klar, dass der heutige Tag bestimmt auch für sie nicht einfach gewesen war, ob sie etwas für mich empfand, oder nicht. Ich musste es wissen. Ich befeuchtete meine Lippen und kam näher heran.

    Auf einmal wich Marie zurück.

    „Du hast getrunken.“

    „Was?“

    „Egal. Ich muss los.“ Damit drehte sich sie zur Tür und ging mit schnellen Schritten hinaus. Ich eilte hinterher.

    „Marie!“, rief ich. „Bleib stehen. Bitte.“

    Dann noch einmal. „Bleib stehen!“

    Aber Marie war schon aus dem Grundstück gerannt und über die Straße und kletterte gerade über den Viehzaun auf den Deich. Ich überlegte, ihr nachzueilen, wusste aber, dass ich sie nie einholen konnte. Frust und Zorn trieben mir Tränen in die Augen, da fiel mein Blick auf den Schuppen. Es brannte Licht. Wütend stapfte ich hinüber und rüttelte an der Klinke. Verschlossen. Dafür wohl der alte Schlüssel. Ich beugte mich hinab, um durch das Schlüsselloch zu schauen, doch da gab es nichts zum Hindurchschauen. Der Schuppen hatte eine moderne Tür, bloß einen Schlitz für einen schmalen Schlüssel.

    Der an Maries Handgelenk war definitiv grob und schwer gewesen.

    Ich richtete mich auf.

    Marie war mit dem Schlüssel in der Hand in das Haus geeilt.

    Sie hatte überrascht gewirkt, möglicherweise sogar ertappt? Hatte sie gehofft, sie wäre allein? Um was zu tun, etwas aufzuschließen?

    Oder ab?

    Ich rannte ins Haus.

    Von Rausch, Trauer, Wut und Neugierde angetrieben, hetzte ich die Treppe hinauf. Ich schwang mich um das Treppengeländer und folgte dem Gang bis zum Ende.

    Dann rannte ich die Stufen hoch und legte eine Hand auf die Klinke der alten, windschiefen Holztür mit dem großen Schlüsselloch. Ich atmete tief durch, und drückte.

    Die Tür öffnete sich quietschend.

    Ich schluckte schwer. Mein Herz hämmerte in meinen Ohren. Der niedrige Spitzboden lag in staubigem Zwielicht und hatte nur ein kleines Fenster am Giebel. Dort stand ein schmales Bett und unter die Dachschräge zwängte sich eine Kommode. Auf der Kommode standen Bilder. Vage erkannte ich Marie auf einem. Und die anderen…

    Hinter mir knarzte laut die unterste Stufe.

    Ich fuhr herum und sah Marie auf mich zustürmen. Blanker Zorn lag in ihrem Blick.

    „Raus, sofort!“ Sie schrie nicht, doch ihre Stimme bebte. „Verlasst mein Haus.“

    „Marie“, begann ich.

    „Ich sagte raus!“ Sie sackte auf den Stufen zusammen.

    „Marie.“

    „Raus!“ Sie schrie so sehr, dass ihre Stimme brach.

    Wie geohrfeigt wich ich zurück.

    Wir reisten noch in derselben Nacht ab.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Schwarz ist die Welt

    vor dem vielfarbigen Leuchten

    des Abendhimmels






    II




    Wind zerrt an meinen Kleidern.

    Die Bäume biegen sich hinab, und jedes Mal, wenn sie versuchen, sich wieder aufzurichten, werden sie nur noch tiefer hinuntergedrückt. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis sie brechen.

    Regen schlägt von allen Seiten auf mich ein.

    Ich stehe oben auf dem Deich, die Hände in den Taschen vergraben, die Füße fest im Boden verankert, den Blick starr geradeaus gerichtet.

    Das Meer tobt und wütet gegen die aufgeschütteten Steine, schwappt immer wieder auf den Weg. Weiter draußen zucken Blitze in die See.

    Die kalten Böen durchdringen alles und reichen bis in die Knochen.

    Genau dafür bin ich gekommen.

    Ich brauche etwas, dass alles aus mir herausreißt, bis zur letzten Wurzel, bis zum letzten Körnchen Staub.

    Ich übergebe mich dem Wintersturm.


    Ebbe und Flut.

    Das Meer kommt und geht. Ich bleibe.

    Es geht mir gut. Ich werde zum Mond, der über allem steht und in unscheinbarem Licht erstrahlt. Ein neues Leben beginnt.

    Wie hätte ich ahnen können?

    Selbst in dem Moment, in dem ich dich zum ersten Mal sah, konnte ich es kaum glauben. Jetzt noch ist der Augenblick so präsent, dass ich ihn abspielen lassen kann, wie einen Film. Ich hatte Glück, dass du dich erst im Flur umgesehen hast und ich Zeit hatte meine entgleisten Gesichtszüge wieder einzufangen. Ein besonders mieser Scherz des Schicksals. Ich wusste sofort, dass ich keinen Tag im selben Haus verbringen konnte.

    Wider besseres Wissen verließ ich meinen Platz oben zwischen den Sternen und wurde wieder zum Meer, hin und hergeworfen und doch nie ganz gebändigt.

    Du hast mir gezeigt, dass ich noch fühlen kann.

    Aber was ist es, das ich fühle?

    Gefühle sind tückisch. Sie sind der Mond, ich bin das Meer.

    Ich gehe auf und ab, Stunden lang, Tage lang.

    Dazwischen sinke ich immer wieder erschöpft nieder, und träume Erinnerungen. Unweigerlich wirfst du mich an einen Ort, den ich nie wieder sehen wollte.

    Du bist der Wintersturm. Du spülst mein wahres Selbst an den Strand.


    Ich wache auf.

    Es läuft Musik, laut und nah.

    Sie ist präsenter als alles andere.

    Ich weiß nicht, wo ich bin, wie viel Uhr es ist, welcher Tag.

    Was ich zuletzt gemacht habe.

    Aber ich höre die Musik.

    Und ich kenne das Lied.

    Zu oft bin ich zuletzt nachts davon wach geworden. Immer von dem gleichen Lied in der langen und länger werdenden Playlist.

    Langsam sickert die Wirklichkeit in mich ein.

    Die Musik ist so laut, dass ich mich frage, wie ich zuvor überhaupt schlafen konnte. Natürlich kenne ich die Antwort.

    Neben mir ertaste ich Phillips kleinen Körper. Er ist warm und ich höre seinen leisen Atem. Ich verspüre ein kurzes Anbranden von Reue, ehe ich zurück in einen unruhigen Schlaf sinke.


    Stück für Stück geht die Kontrolle verloren und die Tatsache, dass ich sie immer wieder an mich reißen kann, lässt mich in dem gefährlichen Glauben, ich hätte kein Problem. Aber es ist ein Problem.

    Ich habe ein Problem.

    Ich weiß es. Tief in meinem Innern.

    Die Grenzen verschwimmen.

    Es sind Grauzonen.


    Jeden Morgen nehme ich mir vor, es besser zu machen. Ich mache das nicht zum Schein. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass ich es durchziehe.

    Doch die Abende sind anders. Sie haben eine verführerische Kraft. Sie wissen, dass mein Tag lang und anstrengend gewesen ist, flüstern mir zu, locken mich.

    Bis ich ins Netz gehe.


    Ich will nicht aufhören.

    Ich sage mir, ich kann, ich könnte jederzeit. Aber ich will nicht. Und deshalb brauche ich auch keine Hilfe.

    Ich will nicht hören, was sie sagt.


    Wieder erwache ich nachts. Die Stöpsel sind mir aus den Ohren gerutscht, aber die Musik läuft noch. Ich höre sie metallern und fern. Neben mir liegt kein kleiner Körper. Ich bin allein.

    Der Gedanke ist wie ein Messerstich, präzise und gnadenlos.

    Ich krümme mich zusammen. Ich zittere und schluchze, doch ich habe keine Tränen mehr.


    Die Abende sind die schlimmsten. Unweigerlich senkt sich die Einsamkeit über mich wie die Dämmerung über die Welt. Ich fliehe vor ihr.

    Lichter blitzen aus allen Richtungen, Musik dröhnt durch meinen ganzen Körper. Ich habe längst keine Kontrolle mehr, aber ich bin nicht allein.

    Leider ist es nicht von Dauer. Die Einsamkeit wartet auf mich, auch in kalten und furchtbar grellen Morgenstunden.


    Vor mir auf dem Tisch steht eine Flasche Wein.

    Spätburgunder aus der Ahr-Region.

    Meine Ellenbogen sind aufgestützt, meine Hände vor meiner Brust verschränkt. Ich betrachte die Flasche wie ein Gegenüber bei einem Verhör.

    Wer wird zuerst nachgeben?

    Mit der Spitze des Korkenziehers kratze ich die Folie am Flaschenhals an. Im nächsten Moment werfe ich ihn von mir, als wäre er glühend heiß.

    Ich sollte die Flasche hinterherwerfen.

    Doch ich kann nicht.

    Fünf Jahre, drei Monate und elf Tage.

    46248 Stunden.

    2774880 Minuten.

    166492800 Sekunden.

    Ich schließe den Rechner, lege das Handy weg und trommele mit den Fingern auf den Tisch. Der Wein verspricht mir heilende Ruhe, verspricht alles auszulöschen, Gedanken, Erinnerungen, Träume, alles, was ich den Stürmen gegeben habe, um es für mich zu verwahren.

    Der Wein lügt. Ich weiß, dass er lügt.

    Ich stehe vom Tisch auf, fasse mir an die Stirn, fahre mir durch das Haar.

    Mein Kartenhaus erzittert im auffrischenden Wind.

    Du hast die Türe geöffnet.

    Du hast ihn hereingelassen.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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    Einmal editiert, zuletzt von Jaro Ballivòr ()

  • Die Stimmung im Auto war drückend. Selbst die Mädchen hatten gemerkt, dass etwas nicht stimmte, wenn sie auch nicht hatten sehen können, wie Marie zusammengekauert auf der kleinen Treppe zum Dachboden lag und darauf wartete, dass wir verschwanden.

    Mir war zum Heulen zumute und es kostete all meine Willenskraft nicht nachzugeben. Auf der Rücksitzbank schliefen Hanna und Jana friedlich in ihren Sitzen. Jan sah müde aus, doch er wollte sich nicht ablösen lassen.

    „Es ist etwas vorgefallen. Ich erzähle es dir später.“ Das war alles, was ich ihm gesagt hatte.

    Natürlich hatte er nicht einfach angefangen, seine Sachen zu packen. Er wollte mit Marie reden, fragte mich, wo sie jetzt war.

    Ich sagte, sie sei fort.

    Ich wollte nicht, dass er sie drüben auf der Treppe fand. Und ich fürchtete, was sie ihm vielleicht sagen würde.

    „Was ist los, Mama?“ Ich hörte Angst in Janas Stimme und schaute flehentlich zu Jan. Den Kindern zuliebe biss er sich auf die Zunge und wir packten unser Zeug.

    „Aber warum gehen wir?“, fragte Jana. Sie war den Tränen nah. „Morgen wollten wir doch die Robben anschauen.“

    „Vanessa“, Jan nahm meinen Arm und unterbrach mich dabei, wie ich hektisch Klamotten in den Koffer packte.

    „Jetzt nicht“, versuchte ich ihn abzuwimmeln, doch er blieb hart.

    „Vanessa. Hör mir zu.“ Er hielt meinen Arm fest und wartete, bis ich ihn ansah. „Lass uns wenigstens ein Hotel nehmen. Wir sind nicht mehr nur zu zweit.“

    Es versetzte mir einen Stich, dass er das Gefühl hatte, mich an meine Kinder erinnern zu müssen.

    „Wir nehmen ein Hotel, gehen morgen in die Robbenaufzuchtstation, und dann fahren wir in Ruhe nach Hause.“

    Ich wollte protestieren, darauf beharren, dass wir sofort fahren mussten, doch mir fehlte die Kraft dazu. Jan hatte die Rolle des Vernünftigen eingenommen, der für das Wohl der Familie einstand. Er würde nicht von seinem Standpunkt weichen.

    In Marne fanden wir ein Hotel mit freien Zimmern für eine Nacht.

    Nachdem Hanna eingeschlafen war, blieb ich bei ihr im Bett liegen. Heiße Tränen sickerten in das Bettlaken. Ich ärgerte mich so sehr über mich selbst. Marie war zurückgekommen. Wieso hatte ich nicht einfach gewartet?

    Die Aufzucht am Hafen lag so nahe an Maries Haus, das ich fast meinte, einen unsichtbaren Sog dorthin zu spüren. Aber es gab nichts, was ich Jan hätte sagen können, dass nicht merkwürdig gewirkt hätte und auf dass er mich einfach hätte gehen lassen. Ich sah die vielen Fragen hinter seiner Stirn, während wir verzweifelt versuchten die Begeisterung der Mädchen für die Tiere zu spiegeln.


    Jetzt saßen wir im Auto auf der dunklen Autobahn nach Süd-West.

    „Wirst du mir sagen, was vorgefallen ist?“, fragte Jan leise.

    Ich antwortete nicht gleich. Schon seit langen Minuten starrte ich aus der Windschutzscheibe und sah zu, wie das Scheinwerferlicht der anderen Autos vor meinen Augen zu unscharfen Kristallen verschwamm. Ich war hungrig, konnte mir aber nicht vorstellen zu essen. Ich war Jan dankbar, dass er an dem frühen Abend einen Tag zuvor keinen Aufstand gemacht, sondern still geholfen hatte, in kürzester Zeit unsere Sachen ins Auto zu laden. Damit hatte er nicht nur mein Gesicht vor den Kindern bewahrt, sondern mir auch einen Vertrauensbeweis geliefert, der mich schmerzte.

    „Ehrlich gesagt weiß ich das selbst nicht genau“, murmelte ich schließlich und es war noch nicht einmal gelogen. „Marie hat eine Nachricht erhalten, die sie komplett aus der Bahn geworfen hat. Sie wollte, dass wir sofort gehen.“

    Ich spürte Jans Zweifel förmlich.

    „Sie hat auf mich nicht so gewirkt, als könne man sie einfach aus der Bahn werfen“, entgegnete er.

    „Nein, eigentlich nicht“, flüsterte ich und dachte an den Zorn und die Verzweiflung in ihrem Gesicht, an die Art und Weise, wie sie mich angeschrien hatte. Ich verstand es noch immer nicht, und ich fürchtete mich auch wenig davor. Nur in Filmen hatte ich jemals solch rohen Schmerz gesehen.

    Das Gespräch zwischen Jan und mir verebbte und ich tat so, als sei ich eingeschlafen.

    In den frühen Morgenstunden kamen wir an.

    Unser Haus kam mir groß und fremd vor. Wie ein Geist aus einem anderen Leben wandelte ich durch die Zimmer.

    Wieso hatte ich nicht einfach auf Marie gewartet?

    Wieder und wieder schoss mir diese Frage wie ein feuriger Pfeil durch den Kopf. Manchmal schmerzt Reue mehr als Sehnsucht, und mich plagte beides.

    Ich fühlte mich so leer. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, dass ich alles vergessen hätte, sobald nur genügend Distanz zwischen Marie und mir lag? Die Unwissenheit und die Handlungsunfähigkeit lähmten mich noch mehr. Ich hatte keinen Appetit, ich war antriebslos, ich war eine Hülle, die funktionierte.

    Ohne Jan etwas davon zu sagen, meldete ich mich in der Arbeit krank. Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.

    Mehrfach wählte ich Maries Nummer, drückte aber nicht auf den grünen Hörer. Mein Finger schwebte manchmal minutenlang darüber.

    Allzu oft überlegte ich, mich Jan anzuvertrauen. Vielleicht konnte ich das Kapitel so abschließen und wieder zurückkehren nach Hause. Aber ich war nicht bereit dazu. Die Erinnerung an Marie brannte noch immer wieder ein Leuchtfeuer in mir. Und selbst, wenn ich darüber hinwegkommen würde, gab es eine Sache, die mich nicht losließ. Eine schmale Treppe, eine alte, niedrige Tür, ein Raum in grauem Zwielicht.

    Ich hatte nicht viel erkennen können in der Schnelle und aus der Entfernung. Mittlerweile wusste ich nicht einmal mehr, was meine Erinnerung hinzugedichtet hatte.

    Doch da waren Fotos auf der Kommode.

    Und auf dem einen Foto, da war ich.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • All die Jahre war ich gereinigt und ruhig von der Nordsee zurückgekehrt. Dieses Mal hatte ich noch mehr Ballast mit nach Hause genommen. Natürlich fiel Jan auf, dass etwas mit mir nicht stimmte. Als er das nächste Mal mit mir schlafen wollte, ließ ich es geschehen. Er brach mittendrin ab und ließ sich seufzend neben mich ins Bett fallen.

    Nachdem er ein paar Mal durchgeatmet hatte, drehte er sich auf die Seite und legte einen Arm um mich.

    „Was ist los, Nessa?“, fragte er mit Sorge in der Stimme.

    Ohne, dass ich es verhindern konnte, zitterte meine Unterlippe unkontrolliert, als ich gegen den plötzlichen Schwall Tränen kämpfte.

    „Ist schon gut, du kannst mir alles sagen.“ Jan umschloss mich mit seinen Armen und ich ließ mich hineinsinken. Das erste Mal seit der Nacht im Hotel ließ ich den Tränen freien Lauf.

    Ich vermisste Marie so sehr.

    Doch gerade das konnte ich ihm nicht sagen.


    In der Arbeit suchte ich erfolglos in den sozialen Medien nach einer Spur von Marie und rief immer wieder ihre rudimentäre Homepage auf. Ich suchte nach Neuerungen, studierte die wenigen Fotos. Wo hatte ich gestanden? Wo waren wir zusammen gewesen?

    Das Haus wurde zu einem Ort der Träume für mich. Ich wandelte durch die Zimmer, ließ meine Finger über die Wände streichen, badete in dem Duft, der durchzogen war von Maries Parfum und vom Geruch des Meeres. Ich dachte, wenn ich nur dort wäre, würde es mir gut gehen. Wenn ich nur dort wäre, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis Marie zu mir kam und ich sie in meine Arme schließen konnte.

    Ich verzehrte mich danach, sie zu spüren, meinen Kopf wieder auf ihre Brust zu legen und von ihr gehalten zu werden. Das war der Augenblick, der sich mir am stärksten in den Geist gebrannt hatte.

    Ich tippte ihre Nummer auswendig in mein Handy. Mein Finger schwebte über dem Display. Ob sie neue Gäste hatte? Selbst dieser Gedanke weckte die Eifersucht in mir. Bei dem Kontakt zu so vielen unterschiedlichen Menschen war es doch alles andere als unwahrscheinlich, dass Marie hin und wieder für den ein oder anderen interessant wurde. Oder die ein oder andere. War ich für Marie auch die erste Frau, die sie geküsste hatte?

    Ich wusste so wenig über sie. Wieso hatte ich nicht mehr gefragt?

    Der ganze Urlaub erschien mir jetzt wie eine Ansammlung verpasster Gelegenheiten.

    Ich drückte auf Wählen.

    Mit klopfendem Herzen lauschte ich dem Freiton.

    Ich presste mir das Handy ans Ohr, bis die Verbindung automatisch beendet wurde.

    Schon zwei Wochen waren seit unserer überstürzten Abreise vergangen. Während mein Geist an nichts anderes dachte, begann mein Körper bereits Maries Berührungen zu vergessen. Ich fing an, mir alle Momente regelmäßig vor das innere Auge zu rufen. Ich war nicht bereit loszulassen.

    Doch Jans Geduld mit mir neigte sich dem Ende zu. Noch hatte er nicht wieder gefragt, aber ich sah ihm an, wie es in ihm brodelte. Bislang war mir keine gute Antwort eingefallen und ich wusste, je länger ich wartete, desto schwieriger würde es werden, eine Ausrede zu finden.

    Ob die Mädchen etwas merkten, konnte ich nicht sagen. Ich war oft abwesend und tief in Gedanken versunken, wenn wir zu Hause spielten oder unterwegs waren. Meist überkam mich an den Abenden das schlechte Gewissen und ich drückte ihre kleinen Körper an mich, sagte ihn, dass ich sie so lieb hatte, dass sie das Wichtigste in meinem Leben waren. Oft kämpfte ich dann mit den Tränen.

    Wieso konnte ich keine Ruhe finden?


    Ich traf mich mit Saskia auf einen Kaffee. Wir kannten uns noch nicht allzu lange, doch in der kurzen Zeit war sie zu meiner engsten Vertrauten geworden. Leider entstammte sie ursprünglich Jans Freundeskreis. Ich wusste nicht, ob sie wirklich der richtige Gesprächspartner war.

    „Scheiße, was ist los?“, begrüßte sie mich und drückte mich.

    Ich stammelte irgendetwas.

    „Du siehst aus wie nach ‘ner Hungerkur. Ich dachte, ihr macht einen entspannten Urlaub.“ Sie setzte sich und hing ihre Handtasche über die Stuhllehne.

    „Das Wetter war nicht so toll“, antwortete ich.

    Sie zog eine Braue hoch. Es war klar, dass sie mir das nie und nimmer als Begründung durchgehen ließ. „Dafür ist es hier jetzt endlich richtig warm.“ Sie streckte die Arme der Nachmittagssonne entgegen, dann zündete sie sich eine Zigarette an.

    „Ihr seid aber nicht krank geworden, oder? Das ist das Schlimmste, wenn man im Urlaub krank wird!“

    „Nein, nein, das nicht. Aber die Jacken haben wir schon gebraucht.“ Die Bedienung kam und wir bestellten Kaffee.

    „Für mich bitte ein Stück von dem Apfelkuchen, ja? Nessa?“

    „Nein danke.“

    „Also doch Hungerkur.“ Sie zeigte mit den zwei Zigarettenfingern auf mich und sah mich eindringlich an.

    Jetzt wäre ein guter Punkt gewesen, es ihr zu erzählen. Automatisch begann mein Herz schneller zu schlagen.

    „Jan habe ich letzte Woche getroffen.“ Saskia zog nachdenklich die Brauen zusammen. „Er wirkte recht glücklich. Er meinte, er sei bald der nächste Kite-Surf Champion.“ Sie lachte und drückte ihre Zigarette aus.

    Mein Mut schwand. „Ja, er… er hat das wirklich gut gemacht. Soweit ich das beurteilen kann. Es sah schwierig aus.“

    „Lehrer oder Lehrerin?“ Saskia sah mich verschwörerisch an.

    „Was?“

    „Ach Vanessa. Hatte er einen Lehrer oder eine Lehrerin?“

    Ich räusperte mich. „Lehrerin.“

    „Uuuuh“, rief Saskia aus und schüttelte die Hand, ob dieser heiklen Neuigkeiten. „Ich hoffe du warst die ganze Zeit dabei. Du weißt doch, wie er immer alle anhimmelt.“

    Offenbar entgleisten meine Gesichtszüge, denn Saskia beendete ihren Scherz sofort. „Das war ein Witz, Maus.“

    Ich versuchte mich an einem Lachen.

    „Heieiei. Du musst mir echt erzählen, was los ist mit dir.“ Sie begann, eine neue Zigarette herauszufummeln, als die Kellnerin mit Kaffee und Kuchen kam.

    Ich bin verknallt.

    Das hätte ich jetzt sagen können.

    Oder: ich habe eine Frau geküsst.

    Oder: ich würde mein Leben am liebsten hinschmeißen und in den Norden abhauen.

    Der Satz blieb bitter in meinem Geist hängen. Hatte ich das wirklich gerade gedacht? Es war dermaßen unmöglich, dass der bloße Gedanke mich schon aufwühlte.

    „Ich weiß nicht. Ich habe das komische Gefühl, dass der Urlaub etwas mit Jan und mir verändert hat“, sagte ich stattdessen und löffelte von meinem Milchschaum. „Vielleicht weil er von vorneherein anders war als sonst.“

    „Heißt?“

    „Ich weiß es nicht.“

    Saskia musterte mich. „Ich glaube, du weißt es doch“, sagte sie und nahm ein Stück von ihrem Kuchen. „Und falls nicht, solltest du es schnell herausfinden. Jan ist ein guter Kerl, Vanessa. Was ich vorhin gesagt habe, war bloß Quatsch. Er liebt dich. Und eure Mädels.“

    „Ich weiß.“ Ich flüsterte fast. Mir war endgültig klar, dass ich es Saskia nicht erzählen konnte. Zum Teil war es aus Scham. Zum Teil befürchtete ich, dass sie mich drängen wurde, das Ganze zu vergessen.

    „Was ist mit dem Buch? Hast du das endlich mal gelesen?“

    „Hm?“

    „Na der Idiot, du Idiot!“ Sie lacht schallend. „Du stehst echt neben dir heute.“

    Ich erstarrte. Das Buch.

    Ich hatte es liegenlassen. Wie ich daran dachte, war ich mir sicher.

    „Was ist? Hast du es etwa dort liegenlassen?“

    Ich nickte.

    Sie stemmte gespielt empört die Hände in die Hüfte. „Du hättest mir auch einfach sagen können, dass es du es nicht lesen willst.“

    „Sorry. Ich kaufe dir ein Neues.“

    „Ach komm“, sie winkte ab. „Ist doch nicht schlimm. Aber das, was du offensichtlich sonst von dir da oben gelassen hast, das solltest du vielleicht holen.“

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Schon auf dem Weg nach Hause ärgerte ich mich, dass ich mich Saskia nicht hatte anvertrauen können. Es war, als wäre die Bürde meines Geheimnisses nach oben gewandert, um geteilt zu werden und lag nun noch schwerer und präsenter als zuvor auf meiner Seele.

    Und dann war da das Buch. Es war ein unsinniger Gedanke, doch allein die Tatsache, dass es dort oben lag, schien mich neu mit Marie zu verbinden. Sie hatte etwas, das mir gehörte, im weitesten Sinne zumindest. Wahrscheinlich war das bloß das Seil, an das ich mich in meiner Verzweiflung klammerte. Trotzdem hielt ich es fest. Ich malte mir aus, wie ich in den Norden fuhr, um es zu holen. Ich würde Jan sagen, Marie war einfach nicht zu erreichen gewesen und Saskia brauchte das Buch wieder. Es war ein Erbstück ihrer Großmutter, väterlicherseits. Wie anders sollten wir es kriegen, als es zu holen? Ich könnte mich ins Auto setzen und einfach losfahren.

    Aber natürlich konnte ich das nicht. Und das machte mich wahnsinnig, ließ es mich nur noch mehr wollen.


    Ich begann Pläne aufzustellen. Überstundenabbau in der Arbeit. Jan könnte ich erzählen, ich müsse auf Dienstreise. Oder dass eine alte Schulfreundin schwer erkrankt war, und ich sie noch einmal sehen musste, bevor es eventuell ganz vorbei war mit ihr. Es waren irrwitzige Gedankenspielereien, aber nur so konnte ich die Sehnsucht ertragen. Neugierde mischte sich mit ein. Was würde passieren, wenn ich auf einmal vor Marie stünde? Was würde sie tun?

    Es ließ mir keine Ruhe.

    Manchmal erlebte ich Momente, in denen mein ewiges Nachsinnen mir lächerlich und übertrieben vorkam. Ganz so, als wollte ich nicht, dass es aufhörte, und als befeuerte ich meine Gefühle mit Absicht mit unechtem Feuer.

    Ich verstand immer noch nicht, was mit mir los war, verknallt sein hin oder her. Ich glaube, zum Teil lag es daran, dass ich um das Wissen gebracht worden war, was dahintersteckte. Ich hatte schlicht nicht genug Zeit gehabt mit Marie. Ich träumte einem verpassten Leben hinterher, das ich niemals würde leben können.

    Ich hatte noch nie so gefühlt.

    Nicht bei Jan, nicht bei irgendeinem Liebhaber oder Freund zuvor.

    Es hatte solch eine Kraft in den Gefühlen gelegen, die Marie in mir ausgelöst hatte, dass ich wie geblendet war. Ich wollte es noch einmal spüren. Es war wie eine Sucht.


    „Vanessa, ich habe überlegt mit dem Mädchen über das Wochenende zu meinen Eltern zu fahren“, eröffnete mir Jan am nächsten Abend, als die Kinder schliefen. „Ich habe das Gefühl, du brauchst Zeit für dich.“

    Wie ein Leitstern leuchtete meine Möglichkeit vor mir auf und ich musste mich zwingen, ruhig zu bleiben.

    Jan sah mich eindringlich an. „Ich hoffe, du nutzt sie. Wir brauchen unsere Mama wieder hier bei uns.“

    Sofort war meine Aufregung wie fortgeblasen. „Wie meinst du das?“

    „Ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht. Du weichst mir aus. Und Jana und Hanna merken das auch. Die sind doch nicht doof.“

    Mein Herz klopfte schneller.

    „Aber…“

    Jan unterbrach mich. „Kein aber. Nutz das Wochenende. Überleg dir, was du mir zu sagen hast. Und dann sprechen wir in Ruhe.“

    Ich war zu verdutzt und fühlte mich zu ertappt, um zu protestieren. Hatte Jan vielleicht mit Saskia gesprochen? Oder ahnte er etwas? Auf einmal lag mir ein schwerer Stein in der Magengrube.

    „Ich möchte mitkommen“, sagte ich, bevor ich großartig darüber nachgedacht hatte. „Ich möchte bei den Mädchen sein.“

    Mehrere Atemzüge lang sah Jan mich an.

    „Bist du dir sicher?“

    Ich schluckte. „Ja“, log ich.

    Irgendwie hatte ich plötzlich Angst davor, allein zu sein. Ich hatte Angst vor dem, was ich tun würde, oder was ich nicht tun würde. Jetzt, wo ich die Möglichkeit hatte, zu Marie zu fahren, schienen mir das erste Mal all die Konsequenzen bewusst zu werden und die weiteren Entscheidungen, die ich dann zu treffen hätte.

    Wenn ich mich entschied, nicht zu fahren? Würde ich zu Hause sitzen und von Reue zerfressen werden?

    Und wenn ich doch fuhr, was würde ich denn bei ihr machen? Ein Wochenende mit ihr schlafen und dann wieder verschwinden? In meinen Träumen war alles so einfach gewesen, doch dort hatte ich meine Familie auch nie wirklich zurücklassen müssen. Ich war eingetaucht in Maries Leben, frei und ungezwungen, wie das Meer.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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    Einmal editiert, zuletzt von Jaro Ballivòr ()

  • Unter mir fliegt das Wasser vorbei. Es ist beinahe wie Fliegen, oder kommt zumindest nahe an das heran, was ich mir darunter vorstelle.

    Frei. Schnell. Und voller Energie.

    Ich wende scharf und springe über ein paar kleinere Wellen. Irgendwo höre ich einen Jubelschrei. Wir sind eine eigene Spezies, eine große Familie, in die ich nie ganz eingetreten bin. Ich hatte Angst, jemand könnte mir zu nahekommen.

    Wieso habe ich dich so nah herangelassen?

    Ist es Liebe, die in meinem Herzen tobt, oder ist es die verzweifelte Wut, mit der eine eingesperrte Vergangenheit nach außen drängt?


    Mein Leben liegt in Scherben, und ich halte den Hammer noch in der Hand.

    Lange schon habe ich diesen Satz nicht mehr gedacht, der mich wie ein Mantra immer tiefer hinabgestoßen hat, und zugleich der rettende Anker war. Eine Erinnerung. Eine Mahnung. Ein Stich ins Herz, der mich nie aufgeben ließ.

    Vielleicht auch der letzte Funken Hoffnung.

    Nein.

    Ich habe das Kapitel geschlossen.


    Das Wattenmeer fliegt vorbei. Ich trete gegen den Wind, doch auch das habe ich zu lieben gelernt.

    Es gibt Dinge, an die gewöhnt man sich.

    An andere niemals.

    Die ersten Funken im Bauch.

    Der Wunsch nach mehr.

    Die Erregung.

    Die Vorfreude.

    Der quälende Drang.

    Der Lockruf.

    Die verführerische Wahl, einfach stehenzubleiben.

    Aufzugeben.

    Endlich nicht mehr kämpfen zu müssen.

    Ich bleibe stehen und steige vom Fahrrad. Einen Moment starre ich einfach hinaus in die friedliche Weite.

    Der Sturm ist vorbei, die ersten Tage, in denen alles auf mich einprügelte, sodass ich nicht anders konnte, als mich einzurollen und die Erinnerungen und Gefühle Welle um Welle über mich hinwegspülen zu lassen.

    Ich habe es überstanden.

    Jetzt kommt der schwierige Teil. Die Ruhe nach dem Sturm, der so vieles freigelegt hat.

    Das Aushalten.


    Unweigerlich drängst auch du dich zurück in mein Gedächtnis.

    Nicht, dass du jemals ganz fort warst.

    Ich habe lediglich versucht dich hinauszuschmeißen, wie du es mit mir gemacht hast vor all der langen Zeit.

    Es fühlt sich an, wie aus einem anderen Leben.

    Es ist aus einem anderen Leben.

    Glaube nicht, dass all das irgendetwas mit dir zu tun hat. Du magst der Auslöser gewesen sein, aber mehr nicht.

    Zumindest hoffe ich das.


    Ich habe alle Reservierungen gecancelt. Ich kann jetzt nicht dort sein, wo überall noch ihre Spuren sind.

    Den Wein habe ich auch dort gelassen.

    Als wäre das alles, was nötig ist.


    Wünsche ich mir du wärst hier?

    Ja.

    Doch ich glaube nicht, dass es so sein sollte.

    Wie könnte ich verantworten, was das bedeutet?

    Trotzdem ertappe ich mich immer bei der Hoffnung, du kämst zurück.

    Ich kann nicht fassen, dass du einfach gehen konntest, und weitermachen.


    Du siehst in den Spiegel und siehst dich.

    Ich sehe in den Spiegel und sehe die Spuren, die du auf mir hinterlassen hast.

    Er ist wieder da, der Drang.

    Ich kündige meinen Kellnerjob.

    Ich kaufe nur noch beim Bauern ein.

    Ich fliehe und verstecke mich, obwohl ich das nie wieder tun wollte.


    Irgendwann muss ich wieder Gäste empfangen. Ich brauche Geld.

    Die Zeit steht still, doch das Leben geht weiter.

    Ich merke, wie mein Wille bröckelt.


    Ich überlege dir zu schreiben.

    Oder anzurufen.

    Aber ich kann nicht.

    Ich könnte mit der Enttäuschung nicht leben.

    Und auch nicht mit der Schuld, sollte mein Hammer auch deine Welt zerschlagen.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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