Sturmseher

  • Sturmseher

    In Rakshanistan verwendete man einen anderen Kalender als in den almanischen Ländern. Schuld daran trug vor allem die Witterung, die sich beträchtlich vom gemäßigten Herzland unterschied. So kannten die Rakshaner keine Begriffe für Frühling und Herbst, denn diese Jahreszeiten existierten nicht in der Steppe. Die Übergänge zwischen Sommer und Winter glichen einem Wimpernschlag, einer leisen Ahnung, die keinen Mond andauerten. Schwere Gewitterwolken rollten zu dieser Zeit über die Steppe und weil es bis dahin oft noch nicht geregnet hatte, setzten die Blitze das verdorrte Gras in Brand. Der Sturm riss an den Zelten. Danach schüttete es aus Kannen und die Flammen wurden ertränkt, die Asche vermischte sich mit dem anschwellenden Schlamm. Der Dubis trat über die Ufer und verwandelte die Ebene in einen braunen See. Die ausgetrockneten Wasserlöcher füllten sich bis zum Rand. Das Wasser musste für den Rest der Jahreszeit reichen, denn was im Sommer oder Winter an Niederschlag fiel, war kaum der Rede wert.


    Während der Regenmonde waren die Rakshaner schwer beschäftigt. Sie mussten den Feuern ausweichen und den Springfluten, mussten ihre Zelte, Familien, Rudel und Herden in Sicherheit bringen. Von besonderer Bedeutung waren bei der Rettung die Sturmseher. Sie kannten die Gesetze des Windes, lasen den Tanz der Wolken und den Flug der Geier. Aus ausgebreiteten Innereien vernahmen sie Rakshors Willen und in Trance hörten sie den Chaosgott selbst mit ihnen sprechen. Da die Sturmseher für das Überleben eines Stammes eine wichtige Rolle spielten, genossen sie eine Sonderstellung und waren bei Plünderungen die rechte Hand des Ferriks oder sogar des Tarriks. Ihr Wort hatte beträchtlichen Einfluss auf militärische Entscheidungen. Oft hatten die Sturmseher eine Macht inne, die dem des Anführers nur wenig nachstand und zu dieser einen Ausgleich bildete. Ein Ferrik oder Tarrik konnte sich nicht über seinen Sturmseher hinwegsetzen, ohne dass die Truppe in Aufruhr geriet. Umgekehrt war der Sturmseher nicht dazu befugt, irgendwem Befehle zu erteilen, er konnte lediglich den Zeigefinger erheben und bedeutungsschwer gen Himmel weisen. Im äußersten Fall verhinderte er damit jedoch einen Plünderzug und der Ferrik oder Tarrik musste sich mit den entstehenden Problemen herumschlagen.


    Unterm Strich betrachteten die militärischen Anführer die Sturmseher oft als notwendiges Übel, während diese ihre Anführer meist als sturmblinde Narren betrachteten. Doch war dies ein Spiel mit dem Feuer, denn allzu lästige Sturmseher neigten zu dem Schicksal, tragischen Unfällen zum Opfer zu fallen.


    Nun war es im Fall von Khawa so, dass er Sturmseher und Anführer in einem war und sich mit derlei Problemen nicht mehr herumzuschlagen brauchte. Und darum nannte man ihn Khawa Steppensturm. Er las die Winde und entwickelte dazu passend seine Pläne, ohne dass ihm jemand ins Handwerk pfuschte. Da war kein anderer Ferrik, der ihm vorwarf, die Winde zum eigenen Vorteil umgedeutet zu haben, und auch kein anderer Windseher, der ihm vorschreiben wollte, wann der beste Zeitpunkt eines Plünderzuges war. Khawa selbst war in seinen Entscheidungen frei wie der Wind. Und weil er sowohl das Kriegshandwerk als auch die Kunst des Wetterlesens solide beherrschte, sich obendrein großer Beliebtheit bei seinen Männern erfreute und sie ihm durch Sturm und Feuer folgten, wurde er die schlimmste Geißel Souvagnes seit dem Ende der Chaoskriege.


    Als Khawa raschen Schrittes vorbeiging, lächelte Sherkal ihm verführerisch zu. Doch der tat, als würde er es nicht sehen.


    „Voshid, ruf Skiran und Eskir zur Besprechung in mein Zelt.“


    Wenig später fanden sich die drei Krieger bei Khawa in dessen winzigem Zelt ein. Der Sturm riss an den Lederplanen, doch die extrem flache Bauweise sorgte dafür, dass es gegenwärtig noch hielt und einen gewissen Schutz vor der Witterung bot. Während die Männer sich berieten, lag Sherkal uneingeladen in Khawas Einzelbett.


    „Meine erste Vorhersage hat sich durch die Innereienschau bestätigt", verkündete Khawa. „Der Sturm wird diesen Regenmond konstant aus Nordwesten wehen. Der Steppenbrand wird also in etwa zwei Wochen ans Ufer des Azursees gedrängt worden sein und dann erlöschen. Er wandert genau zwischen uns und den Stämmen hindurch. Das gibt uns die Gelegenheit, uns weiterhin auf den Feldzug zu konzentrieren.“


    „Soll das heißen, wir kehren diesen Regenmond nicht zu unseren Familien zurück?“ Voshids stimme klang besorgt. Er hatte eine Frau und zahlreiche Kinder.


    Khawa nickte. „So ist es. Wir werden unsere Plünderungen fortsetzen und mit so reicher Beute heimkehren wie nie zuvor. Unsere Angehörigen werden dieses Mal allein mit dem Steppenbrand fertig werden müssen und das schaffen sie auch. Alles, was sie zu tun brauchen, ist, nicht in den Weg des Feuers zu geraten. Ein wenig mehr Sicherheitsabstand nach Norden hin kann sicher nicht schaden, darüber hinaus gibt es für sie nichts zu tun. Skiran wird zu ihnen reiten und ihnen Bescheid geben, damit sie nicht vergebens auf uns warten.“


    Voshid widersprach nicht, doch sein Blick verriet höchste Besorgnis. Noch nie hatten die Krieger den Regenmond ohne ihre Familien verbracht. Noch nie hatten sie ihre Eltern, Frauen und Kinder während des Steppenbrandes sich selbst überlassen.


    „Ist es das Risiko denn Wert?“, fragte nun auch Eskir. „Ohne die Hilfe der Krieger und die Kraft der Hyänen können sie die Zelte und Habseligkeiten nicht fortschaffen. Wenn sie das Feuer am Horizont sehen, ist es zu spät. Bedenke: Der Wind könnte doch noch seine Richtung wechseln. “


    Khawa schwieg einen Moment, ehe er langsam antwortete. „Nein, Eskir. Das könnte der Wind nicht.“ Khawa hob den Zeigefinger und wies bedeutungsschwer gen Himmel.

    "Guter Kaffee ist schwarz wie die Nacht, heiß wie die Liebe und bitter wie das Leben."