Das vergessene Volk II - Stille Stürme (Jaros NaNoWriMo 2024)

  • Was bisher geschah…


    Nur wenige Monde nach dem Abschluss seiner Ausbildung zum Leibgardisten, erhält Triborin von Xyrius, Lord der Dunkelelfen, höchstpersönlich einen Auftrag: er soll das verschwundene Volk der Aviare aufspüren. Doch wie die Elementarmagie selbst, sind die Luftwandler zu Mythen verkommen. Der letzte Anhaltspunkt für ihre Existenz befindet sich im Albenreich Mildir. Über den Umweg durch das westliche Menschenreich Vesperion macht sich Triborin auf, in das Land der verfeindeten Alben einzudringen. Um jeden Preis möchte er seinen Lord zufriedenstellen, und so seinem Ziel, in die persönliche Leibgarde berufen zu werden, ein Stück näherkommen.


    In Vesperion findet Triborin nicht nur verlassene Ortschaften und Bürgerkriegsartige Zustände vor, sondern auch eine Delegation der Alben. Nur mit Hilfe der Albe Liena kann Triborin fliehen. Auch Liena ist jetzt eine Gejagte und auch sie sucht nach den Aviaren. Sie führt Triborin nach Mildir in eine zu Ruinen verfallene und von Pflanzen überwucherte Stadt, die einst Hauptstadt der Aviare gewesen war. Alles deutet darauf hin, dass die Aviare vor langer Zeit ausgelöscht wurden. Während Triborin und Liena in den Ruinen forschen und sich näherkommen, erreichen die milsari, albische Elitekrieger, die Himmelsstadt. Abermals muss Triborin fliehen. Mit einem Pfeil im Bein entkommt er auf dem Rücken seines Pferdes. Halb im Delirium irrt er durch fremdes Land und wird von einem Orden albischer Naturpriester gefunden. Nicht nur die Schmerzen quälen Triborin. Schon für den kleinsten Kontakt zu den verhassten Alben lässt Lord Xyrius Dunkelelfen hinrichten. Als Leibgardist hatte Triborin sich zudem einem Leben in Einsamkeit verpflichtet und nie damit gehadert. Nun aber schnürt eine fremde Sehnsucht ihm die Brust zu und hält ihn in ihrem Bann. Die Naturpriesterinnen pflegen Triborin gesund und unwillkürlich beginnt Triborin seine Meinung von den Alben zu hinterfragen. Die Naturpriesterinnen haben Veränderungen in der Natur bemerkt, deren Ursache sie in einem steigenden Ungleichgewicht der Elemente vermuten. Als Triborin genug Vertrauen gefasst hat, fragt er nach den Aviaren, doch die Priesterinnen gehen ebenfalls davon aus, dass das Volk nicht mehr existiert. Gleichzeitig erfährt Triborin, dass Liena eine Naturpriesterin dieses Ordens ist, die schon lange zurückerwartet wird. Obwohl Triborin weiß, dass er Lord Xyrius Bericht erstatten muss, harrt er im Tempel aus, bis eines Tages die Priesterinnen von albischen Kriegern angegriffen werden. Triborin hilft den Frauen bei der Verteidigung und reitet schließlich nach Norden in Richtung seiner Heimat.


    Unterdessen, auf einer Inselgruppe weit im südlichen Ozean, trainiert das Aviarenmädchen Milou ihre Flugkünste. Entgegen der Meinung all der Erwachsenen in den Dörfern ist sie überzeugt: es muss mehr auf dieser Welt geben als die winzigen Inseln und die immer gleichen langweiligen Tage.


    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

    [imgk]Bitte melde dich an, um diesen Link zu sehen.[/imgk]

  • Das vergessene Volk 2


    Stille Stürme


    Prolog


    Liena erwachte von der Kälte. Es war eine Kälte, die bis ins Mark kroch, die ihr den Atem nahm und Hände und Füße verbrannte. Sie kauerte in der Mitte des Raumes, möglichst weit weg von den Wänden, die sie für schwarzes Eis gehalten hätte, hätte sie es nicht besser gewusst. Sie zog die dünne Decke noch höher, doch bereute es sogleich, da ihre Füße jetzt hinausragten. Ein Schaudern nach dem anderen erschütterte ihren Körper. Zeitgefühl hatte sie längst nicht mehr. Die Dunkelheit war allgegenwärtig und immerdar und den einzigen Rhythmus, das einzige Indiz dafür, dass ein Tag vergangen war, boten die Mahlzeiten. Lauwarme Suppe. Liena wusste, dass sie gerade das Nötigste taten, damit sie nicht erfror. Noch nicht.

    Eine Träne floss ihr die Wange hinab und noch bevor sie auf den Boden tropfte, war sie ebenso eisig wie ihre Haut. "Warum?" Ihre Gedanken kreisten um diese Frage, unermüdlich, in dem verzweifelten Glauben, die Antwort wäre irgendwo in ihrem Geist verborgen.

    Metall kratzte über Stein und Wind fegte über ihren Körper, als jemand den Raum betrat. Das Pochen schwerer Stiefel näherte sich, gefolgt vom dumpfen Scheppern der Schüssel, die neben ihr auf den Boden gestellt wurde. Flüssigkeit schwappte hinaus. Liena zwang ihre Augen auf und sah gerade noch, wie sich der Schemen einer hellen Hand aus ihrem Blickfeld entfernte.

    "Bitte", krächzte sie.

    "Iss." Die Stimme zerschnitt die Luft wie Stahl. "Er kommt bald und dann musst du kräftig sein, Albenweib."

    "Bitte", flehte Liena, doch mehr Worte wollten ihr nicht über die Lippen kommen. Die Schritte entfernten sich und die Tür fiel schwer und unwiederbringlich ins Schloss. Lange Stunden hatte Liena versucht, sie aufzubrechen, hatte dagegen gehämmert, bis ihre Fingerknöchel bluteten, hatte gerufen und schließlich geschrien, doch die Türe war verschlossen geblieben und kein Geräusch drang je von außen zu ihr herein.

    Liena ließ sich zurück auf den Boden sinken. Ihr Körper zuckte nicht länger nur vor Kälte, sondern auch von tiefen, tränenlosen Schluchzern, die ihr beinahe die letzte Kraft entzogen. Es brauchte all ihren Willen, um sie zu stoppen. Sie setzte sich auf und tastete nach der Schale. Sie musste die Suppe essen, solange sie warm war.

    Mit jedem Schluck wurde Lienas Geist klarer und ihr Kampfeswillen flammte leise auf. Sie durfte nicht aufgeben. Sie hatte eine Verantwortung. Sie stand unter Narmas Schutz und sie musste auf die Göttin vertrauen. Stumm schickte sie ein weiteres Gebet hinauf. Wie gewöhnlich blieb es unbeantwortet. Selbst wenn die Göttin sie hörte, selbst wenn sie ihr ein Zeichen senden wollte, wie sollte es sie hier erreichen?

    "Er kommt bald", hatte der Gardist gesagt. Wenn es stimmte, war es immerhin etwas, das die qualvolle Monotonie durchschnitt. Allerdings war es im Grunde egal, wer kam, auch wenn Xyrius selbst sich zu einem Besuch in Xarchavas' Kerkern herablassen würde. Es gab keinen Dunkelelfen auf der Welt, der ihr helfen würde. Es war mehr als töricht gewesen, her zu kommen. Es war fahrlässig. Es war dumm. Was hatte sie erwartet? Liena seufzte und stellte die Schale ab, noch immer hungrig, noch immer frierend. Sie verstand nicht, wieso sie nicht hingerichtet wurde, zur Schau gestellt und bei lebendigem Leibe verbrannt, wie die Dunkelelfen es so gerne taten. Was nutzte sie lebend? Es sei denn... nein. Liena schüttelte vehement den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Es war unmöglich. Abermals seufzte sie. Die spärliche Wärme der Suppe war fort und mit ihr drohte auch Lienas Wille wieder zu einzubrechen, wurde nur aufrecht erhalten von ihrem Stolz. So lag sie zumindest nicht wieder kümmerlich auf dem Boden, als die Tür sich öffnete.

    Dieses Mal kam außer dem Luftzug auch Licht hinein. Liena hob den Kopf und stand leise stöhnend vom Boden auf. Die zerschlissene Decke rutschte ihr von den Schultern.

    „Xyrius“, presste sie hervor und nahm ihren ganzen Mut zusammen, gestärkt von der Mahlzeit.

    „Lasst uns allein“, befahl Xyrius und die beiden Gardisten hängten ihre Fackeln in die Halterungen und schlossen die Tür. Nach Tagen, wenn nicht Wochen in dem eisigen Verlies spürte Liena die Wärme der Flammen sofort. Umso kälter lag Xyrius‘ Blick aus diesen kalten, violetten Augen auf ihr. Er musterte sie regungslos und sie hielt seinem Blick stand so gut es ging.

    „Woher habt Ihr dieses Buch?“, fragte er schließlich.

    „Ich habe es gestohlen.“

    „Von wem?“

    Liena schluckte. Wenn es eine Chance auf Freiheit gab, was sollte sie sagen, was sollte sie tun, um sie zu wahren?

    „Aus der Bibliothek. In Salisir.“

    Xyrius schüttelte langsam den Kopf. „Lüge.“

    Abermals schluckte Liena. Er wusste es. Nur deshalb war er persönlich gekommen. Die kalten Obsidianwände schienen näher zu kommen, die Wärme der Fackeln zu weichen.

    „Was plant Sinklar?“

    Xyrius trat näher an sie heran. Er überragte sie um zwei Köpfe oder mehr und blickte aus seinen purpurnen Augen auf sie herab. Liena spannte alles in sich an, zwang sich den Blick zu erwidern.

    „Was plant Euer Lord wirklich?“ Die Augenbrauen des Dunkelelfen hatten sich zu einer Linie zusammengezogen, seine Nasenflügel bebten und seine Worte waren hart. „Was plant er?“

    „SAGT ES MIR!“, brüllte Xyrius. Er packte Liena am Kinn und zog sie nach oben. Liena wimmerte.

    „Ich habe Euch schon alles gesagt!“, presste sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor.

    „Ihr werdet reden“, flüsterte Xyrius. Kaum spürbar glitt eine Klinge über die kalte Haut ihres Halses. „Ich werde Euch nach und nach Teile Eures schönen Albenkörpers abschneiden, so lange bis Ihr mir meine Frage beantwortet, oder bis nichts mehr übrig ist. Mit den Ohren fangen wir an.“

    „Nein“, keuchte Liena unwillkürlich. Die weit ausgeformten Spitzen ihrer Ohren waren den Alben ebenso heilig wie den Dunkelelfen. Ohne dieses Merkmal waren sie kaum mehr wert als ein Mensch.

    „Mein Herr.“ Die Türe öffnete sich einen Spalt und eine Stimme drang herein. Kurz darauf erschien das Gesicht eines Gardisten in der Türöffnung. „Ihr werdet im großen Saal erwartet.“

    Xyrius knurrte. Er öffnete die Hand und Liena fiel zu Boden.

    „Verschließ die Tür, bis ich wieder komme“, befahl er dem Gardisten barsch und stürmte hinaus. Das letzte, das Liena sah, war Xyrius‘ wehender Umhang. Dann umhüllte sie wieder die eisige Finsternis.



    Keuchend fuhr Liena hoch. Sie japste nach Luft. Schweiß bedeckte ihren Körper. Anstelle von einer dunklen Zelle, fand sie sich in ihrem eigenen Gemach wieder.

    Ich bin in Salisir. Es war nur ein Traum, sagte sie sich im Geiste. In der Aufregung der vergangenen Wochen hatte sie die Qualen der Gefangenschaft in der Festung Xarchavas beinahe verdrängt gehabt, doch dieser Traum hatte gezeigt, dass sie noch da waren, so klar, als wäre sie wieder dort gewesen. Bis heute konnte sie kaum glauben, dass sie hatte entkommen können. Dass alles ein Riesenfehler gewesen war, stand indes außer Frage. Seit sie dem Verließ entkommen war, versuchte sie wieder gut zu machen, was sie angerichtet hatte, doch es schien, dass jede Tat nur noch größeres Unglück brachte. Sie war losgezogen, um einen Krieg zu verhindern, doch mehr und mehr wurde deutlich, dass sie die Steine erst so richtig ins Rollen gebracht hatte. Ihre Wut hatte sie blind gemacht. Wie hatte sie nur glauben können, das Oberhaupt der Dunkelelfen überzeugen zu können?

    Liena stieg aus dem Bett und sah aus dem Fenster. Der Morgentau glitzerte auf den Wiesen, die Bäume dampften im zarten Licht. Selbst hier oben und durch die Scheiben hindurch hörte sie das stete Rauschen des Mangal. Alles war so friedlich. Die Welt ahnte nicht, was auf sie zukam.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

    [imgk]Bitte melde dich an, um diesen Link zu sehen.[/imgk]

  • Teil 1

    Luft


    Beschütze nicht,

    behüte.

    Ralons Maxime


    Kapitel 1 - Der Fremde

    Endlose Dunkelheit umfing sie. Alles war dumpf und fern, wie betäubt. Umso deutlicher war der drückende Schmerz in ihrer Brust.

    Milou riss die Augen auf, doch nichts änderte sich. Sie hörte ein Dröhnen, ein Rauschen, kaum lauter als ihr Herzschlag. Ansonsten war da nur der Schmerz.

    Schmerz... und ein Drang - sie holte tief Luft, doch ihr Mund, ihre Nase waren wie verschlossen. Ihr Körper gehorchte nicht.

    Sie ertastete ihr Gesicht. Sie war in Menschengestalt, sie spürte ihre Nase, ihren Mund. Alles war da, doch sie bekam keine Luft. Panik überfiel sie. Sie versuchte aufzuspringen, doch es gelang ihr nur, sich auf einen Ellbogen zu stützen. Unter ihrer Hand war Sand... dann, endlich, erwachten ihre Lungen zum Leben.

    Milou hustete und keuchte, erbrach Wasser, wollte Luft schnappen, erbrach noch mehr Wasser. Sie setzte sich weiter auf, krümmte sich zusammen, sog zitternd Luft ein, wann immer inmitten der Hustenanfälle genug Zeit blieb. Ihre Brust brannte wie Feuer.

    Schluchzend fiel Milou zurück in den Sand.


    Irgendwann hatte sich ihr Atem beruhigt. Die Dunkelheit war geblieben, doch sie war nicht mehr unmittelbar, und Milou verstand, dass es Nacht war. Die Sonne war lange schon untergegangen. Erneut stieg Panik in ihr hoch. Vater würde außer sich sein! Dann wurde ihr klar, dass sie überhaupt nicht wusste, wo sie sich befand. Mühevoll kämpfte sich Milou auf die Beine. Ihr ganzer Körper schmerzte, doch sie schien nicht verletzt zu sein. Wenn sie sich konzentrierte, hörte sie das Rauschen des Meeres. Es war so sehr ein Teil von ihr, dass sie es normalerweise nicht aktiv wahrnahm. Nicht, dass es ihr half. Fast überall in Caertol hörte man das Meer. Auf wackeligen Beinen ging sie ein paar Schritte. Durch die wenigen Lücken in der Wolkendecke drang Sternenlicht herunter und Milou konnte vereinzelte dunkle Schemen auf dem Sand ausmachen. Sie drehte sich um. Trotz der Düsternis konnte Milou erkennen, dass sie sich auf einer der vielen kleinen Inseln befand, die wie Nadeln aus dem Meer emporragten. Dunkel hob sich die schmale Felswand vom Nachthimmel ab. Sie war definitiv nicht auf Caeron, wo die Klippen sich weit zu beiden Richtungen am Strand entlangzogen. Erinnerungsfetzen blitzten in Milous Geist auf.

    Ihr Flugversuch.

    Der Sturm.

    Sie war abgestürzt. Und irgendwo gelandet. Auf irgendetwas. Und dann? Nichts.

    Milou drehte sich um, kniff die Augen zusammen und dachte endlich daran, sich zu verwandeln. Im Nu hatte sie ihre Vogelgestalt angenommen und sofort war ihr Blick klarer, die Welt um sie herum heller. Sie stieß sich vom Boden ab und flog nach oben. In einer Richtung setzte sich vage eine helle Linie vom Horizont ab.

    Die Sonne geht auf.

    Es war nicht nur ihre verbesserte Sicht. Es wurde heller. Milou flog noch ein Stück weiter hinauf und sah nach unten auf den Streifen Strand, der die Insel umspann. Überall waren dunkle Flecken verstreut, manche kleiner, manche größer. Milou hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Das Meer spülte kaum etwas an und die Strände glichen meist makellosen, goldgelben Teppichen. Milou ließ sich etwas absinken und flog um die Insel herum. Wenn ihr Auge oder das Dämmerlicht sie nicht täuschten, lag dort jede Menge Holz. Milou flog aufgeregt weiter. Selbst, wenn ein Sturm ein Haus oben auf Caeron abgedeckt hatte, oder durch den großen, verbotenen Wald getobt war, nie waren so viele Überreste an den Stränden gelegen. Was bei Ralons Schwingen war das? An einer Stelle mit besonders viel Treibgut landete Milou und verwandelte sich zurück. Die Dunkelheit war endgültig der Dämmerung gewichen und Milou ging zwischen den Trümmern umher. Die Neugierde hatte sie gepackt und verdrängte einmal mehr die Furcht vor ihrem Vater. Ich bin sowieso schon zu spät. Lieber warte ich, bis es richtig hell ist und ich mich besser orientieren kann.

    Milou fand Holzreste, die sie an Bettplanken erinnerten, und andere an Balken aus dem Dach. Dann waren da aber auch ungewöhnliche Stücke, dünne Platten, glatte, runde Stücke, wie perfekte, unwirkliche Baumstämme; und so viel. Der ganze Strand war übersäht. Nicht nur Holz lag da, auch dicke Schnüre, Stofffetzen und sogar eine zerbrochene Schale. Ein Stück entfernt erspähte Milou etwas Helles, heller als der Sand, wenn ihre Augen sie nicht täuschten. Rasch ging sie hin und kniete ab. Noch nie hatte Milou so ein großes Stück Stoff gesehen. Es war teilweise zerfetzt und löchrig, doch es mochte so groß sein, wie alle Bettlaken aus dem Dorf zusammen. Milou zog es Stück für Stück auseinander und staunte abermals als in der Mitte eine Art Gemälde sichtbar wurde. Hinter ihr ging die Sonne auf und vor ihr leuchte in roter Farbe das Abbild eines merkwürdigen, hohen Gebäudes. Das muss Taal sehen, schoss es ihr in den Sinn. Was mochte es noch für Schätze geben? Vielleicht konnte sie mit ihrem besten Freund eine kleine, geheime Hütte bauen, wo sie all ihre Fundstücke versteckten. Wenn sie nur gewusst hätte, wie weit entfernt von der Hauptinsel sie sich befand… Da erinnerte sie sich an ihren Vater. Sie musste zurück. Früher oder später musste sie sich ihm stellen.

    Mutter wird umkommen vor Sorge.

    Milou seufzte. Es wurde heller und heller. Wenn sie hoch genug flog, würde sie Caeron bald ausmachen können. Ich komme später zurück, dachte sie und wollte sich gerade verwandeln, als ein Glitzern in der jungen Morgensonne ihre Aufmerksamkeit erregte. Milou beugte sich hinunter. Halb auf einem Stück Holz, halb im Sand lag eine Kette, wie Milou noch nie eine gesehen hatte. Sie kannte Ketten aus Muscheln, oder aus Holzperlen, auf grobe Schnüre gefädelt, doch diese hier leuchtete wie Sand in der Mittagssonne, hatte ein filigranes, hartes Band und einen Anhänger in der Form eines wunderschönen Baumes. Staunend hob Milou die Kette auf.

    „So schön“, flüsterte sie. Der Anhänger schaukelte leicht hin und her und reflektierte das Morgenlicht. Er schien seinerseits zu leuchten und zu funkeln. Milou legte sich die Kette über den Kopf und stecke den Anhänger unter ihre Weste. Dann erhob sie sich schweren Herzens. Zeit zu gehen. Wieder wollte sie sich verwandeln, und wieder erregte etwas ihre Aufmerksamkeit.

    Sofort begann Milous Herz schneller zu schlagen. Da liegt jemand.

    Dieses Mal ging sie langsamer.

    Der Mann – es musste sich um einen Mann handeln, denn obwohl sein Haar lang war, hatte er eine flache Brust – lag regungslos auf dem Rücken. Seine Kleider waren löchrig und so merkwürdig, dass Milou ihre Furcht vergaß und neben ihm auf die Knie ging.

    Wie soll man sich verwandeln, wenn die Arme in Stoff stecken?

    Außerdem trug der Mann lange Hosen und an einem Fuß einen komischen Überzieher. Ansonsten sah er nicht weiter ungewöhnlich aus. Er hatte hellbraunes Haar und ebenmäßige Gesichtszüge. Brust, Arme und Beine sahen kräftig aus, wie die von Vater.

    Vielleicht ist er auch Schreiner, dachte Milou und streckte eine Hand aus, verharrte jedoch, bevor sie den Arm des Mannes berührte.

    Zwischen seinen Haaren lugte ein Ohr hervor. Es war spitz. Milou stand auf. Das ist kein Aviare, dachte sie und ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Das hieß… das bedeutete…

    „Es gibt wirklich andere Orte auf der Welt“, flüsterte sie. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Sie hatte es gewusst. Und sie hatte Recht gehabt! Neugierig musterte sie den Mann im Sand. Ob er tot war? Nein. Wenn sie genau hinsah, konnte sie erkennen, dass sich seine Brust sachte hob und senkte. Wieder streckte sie eine Hand aus, langsam, Stück für Stück, bis sie seinen Oberarm mit dem Finger anstupsen konnte.

    Nichts geschah.

    Milou versuchte er erneut, ein wenig fester, dann noch einmal und noch einmal, und begann schließlich ihn mit beiden Händen zu rütteln.

    „Hallo“, sagte sie. „Hörst du mich?“ Dann noch einmal lauter: „Hallo!“

    Mit einem Husten erwachter der Fremde.

    Milou sprang zurück, in Lauerstellung und bereit sich zu verwandeln.

    Der Mann drehte sich auf die Seite und hustete und spuckte Wasser, wie Milou zuvor. Erst nachdem mehrere Anfälle durch seinen Körper gezuckt waren, hob er langsam den Kopf.

    Seine Augen waren von strahlendem Grün. Er starrte Milou ein paar Atemzüge lang an. „Nein“, flüsterte er.

    Dann sank er zurück in den Sand und regte sich nicht mehr.

    Milou wartete ein paar Augenblicke, dann wagte sie sich wieder näher heran. Sie sprach und stupste ihn an, doch er hatte wieder das Bewusstsein verloren.

    Er braucht Hilfe.

    Milou fasste einen Entschluss, nickte sich selbst bestätigend zu, verwandelte sich und flog hinauf in den Himmel, um Hilfe zu holen.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

    [imgk]Bitte melde dich an, um diesen Link zu sehen.[/imgk]

  • Als sie ausreichend Flughöhe erreicht hatte, erkannte sie, dass sie ganz im Osten der Inselgruppe gelandet war. In der Ferne konnte sie den Vulkan und den Urwald von Caeron ausmachen, umrahmt von der großen Ebene, auf der die Aviare ihre Siedlungen und Felder hatten.

    Vater wird außer sich sein, doch er hat gesagt, wenn jemand Hilfe braucht, dann muss man helfen. Das ist doch so. Das hat er gesagt, das sagt er immer.

    Milous Gedanken rasten.

    Ein Aviare in Leid hat immer Vorrang.

    Das waren seine Worte, oder so ähnlich. Gut, der Mann war wahrscheinlich kein Aviare, aber das war bestimmt nicht entscheidend.

    Milou erreichte die nadelförmigen Inseln, die Caeron am nächsten lagen. Jede einzelne Insel hatte einen Namen und all diese Namen mussten sie in der Schule lernen, doch Milou konnte sich gerade einmal die der Hauptinsel am nächsten gelegenen Inseln merken. Sie verstand nicht, wie ihr dieses Wissen helfen sollte. Besser wäre es, endlich den Urwald zu erforschen, oder den Vulkan; oder noch besser, die ganze Welt. Milou war sich sicher, dass es noch mehr geben musste, jetzt mehr als je zuvor.

    Sie passierte Ralons Krallen, vier nah beieinanderstehende kleinere Felsnadeln, deren Einzelnamen sie vergessen hatte, es folgte Croenos und Cartos, und die etwas breitere Insel Alessa, eine der wenigen, die nicht der generellen Namensgebung folgten. Sie war nach Ralons Geliebter benannt, die dem großen Mythus zufolge eine Menschenfrau gewesen war.

    Milou hatte Caeron erreicht und passierte die ersten Siedlungen. Es war nicht mehr weit, bis zu ihrem Dorf, nicht mehr weit, bis sie sich Aalon würde erklären müssen. Sie erreichte die ersten Häuser, flog über den Markplatz, an der Schule und Pater Rens Kapelle vorbei, am Haus von Taal und Flinn und landete schließlich vor ihrem eigenen. Milou verwandelte sich zurück. Ihre Arme schmerzten. Der weite Flug des Vortages – Milou hoffte, dass sie nur eine Nacht fort gewesen war – steckte ihr noch in den Gliedern.

    Schwer schluckend ging sie den schmalen Pfad auf das Haus zu. Sie sah hinauf zu dem kleinen, runden Fenster im Giebel, hinter dem ihr Bett stand und dann hinab zur Tür und dem Fenster zu Küche und Wohnraum. Sie ging zum Haus, griff nach dem Knauf, atmete tief durch und öffnete die Tür mit deren typischen Knarzen.

    Es kam keine Reaktion. Bestimmt waren Vater und Mutter bei der Arbeit. Oder sie suchen mich, schoss es Milou in den Kopf und das schlechte Gewissen regte sich.

    Sie ging ein paar Schritte in das Haus und sah nach links in den Wohnraum. Auf einem der Stühle saß ihr Vater, in Vogelgestalt, den Kopf gesenkt, und davor kniete ihre Mutter und behandelte sein Gefieder. Milou verstand und schluckte den Klos in ihrem Hals hinunter.

    „Hallo“, flüsterte sie und sofort hoben ihre Eltern die Köpfe.

    „Mein Kind!“, brach es aus Lynn hervor. Sie sprang auf und auf Milou zu und riss sie in eine feste Umarmung. Milou ließ es dankbar geschehen und drückte sich an ihre Mutter.

    „Oh mein liebes Kind. Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Wo warst du? Dein Vater hat die ganze Nacht nach dir gesucht! Geht es dir gut? Wo bist du nur gewesen?“ Sie löste sich von Milou, um ihr in die Augen zu sehen, was ihren Redeschwall aber nur kurz unterband. Weitere Fragen hämmerten auf Milou ein, doch Milou antwortete nicht und sah zu ihrem Vater. Langsam erhob er sich und nahm seine Menschengestalt an, was nichts an seinem Raubvogelblick änderte.

    „Es geht mir gut, Mutter“, sagte Milou sanft und löste sich endgültig von Lynn. Sie lächelte sie an und wandte den Blick dann wieder Aalon zu. „Vater“, setzte sie an, doch Lynn unterbrach sie.

    „Aalon!“, rief sie mit plötzlicher Strenge in der Stimme. „Wer hat gesagt, dass du dich zurückwandeln sollst? Ich war noch nicht fertig! Willst du dein Gefieder verlieren?“

    „Es geht mir gut“, unterbrach Aalon seine Frau in seinem üblichen, ruhigen Tonfall. Milou hatte noch nie erlebt, dass er die Stimme erhob, und das brauchte er auch nicht.

    „Da war ein Sturm, letzte Nacht. Wo bist du gewesen?“

    Milou schrumpfte unter seinem Blick zusammen. Was nutzte es zu lügen, zu behaupten, sie habe es nicht rechtzeitig nach Hause geschafft und sich einen Unterschlupf gesucht? Was nutzte das, wenn sie Vater brauchte, um dem Fremden zu helfen?

    „Ich weiß“, murmelte sie. „Ich bin in den Sturm geraten.“

    Kaum merklich schoben sich Aalons Brauen zusammen.

    „Wieso… bist du in den Sturm geraten?“, fragte er leise, doch jedes Wort wog schwer und Milou wusste, dass die Luft dünn wurde.

    „Ich…“ Milou wusste nicht, was sie sagen sollte.

    „Der Sturm ist erst zur fünften Mondstunde auf Caertol getroffen. Wie konntest du in den Sturm geraten?“

    Milou sah auf den Boden. Es brauchte keine Worte. Aalon wusste, dass sie wieder auf das Meer hinausgeflogen war. Innerlich stählte sie sich für die Standpauke, für die Aufzählung all der Gefahren, was ihr alles passieren konnte, wie töricht und stur sie war, dass sie Himmel und See nicht ausreichend gut lesen konnte, wofür ihr Vater jetzt auch noch einen handfesten Beweis hatte.

    Schlimmer noch, um ihretwillen war auch Aalon war in den Sturm geflogen. Er hatte sich und seine Flugfähigkeit in Gefahr gebracht, um sie zu suchen. Er hatte von Anfang an gewusst, dass sie auf das Meer hinausgeflogen war.

    „Hast du nichts dazu zu sagen?“

    Endlich fiel Milou der Fremde ein. Sie hob den Kopf, sah ihren Vater prüfend an und nahm ihren Mut zusammen.

    „Da ist jemand, der unsere Hilfe braucht.“

    Ein alarmierter Ausdruck trat in Aalons Gesicht. „Hast du jemanden in Gefahr gebracht? Hast du Taal überredet…“

    „Nein Vater“, unterbrach Milou ihn, ermutigt von seiner Unterstellung. „Es ist ein Fremder. Er… ich weiß nicht, was er ist. Er liegt am Strand von…“, Milou hatte keine Ahnung, wie die Insel hieß, „irgendwo im Osten. Er kann nicht aufstehen.“

    Einige Augenblicke sah Aalon sie an. Ihm stand in das Gesicht geschrieben, wie viel er ihr entgegenwerfen wollte, doch als er den Mund öffnete, sagte er bloß: „Zeig ihn mir.“

    Wie Milou es erwartet hatte. Aalon würde immer zuerst helfen. Hinterher war Zeit für alles andere.

    „Aalon“, warf Lynn ein. „Du kannst nicht schon wieder…“, doch Aalon winkte sie ab.

    „Das muss warten. Begleite uns, wenn du willst. Und nimm ein Seil mit.“

    Mit diesen Worten ging er an Milou vorbei zur Tür hinaus. Milou und ihrer Mutter blieb nichts, als ihm zu folgen.


    Als sie die Insel erreichten, lag der Fremde immer noch an Ort und Stelle. Jetzt da es richtig hell war, konnte Milou erst das ganze Ausmaß ihres Fundes erkennen. Der Strand war über und über mit Treibgut bedeckt. Den ganzen Flug hatten sie nicht gesprochen und auch jetzt sagte Aalon nichts. Mit strengem Blick und zusammengezogenen Brauen besah er den übersäten Strand.

    „Diese Insel heißt Creste“, sagte er, nachdem sie gelandet waren und sich verwandelt hatten. Milou wusste, dass er ihren Lernfortschritt fortan vermutlich strenger überwachen würde.

    Lynn schulterte das Seil und sah sich furchtsam um. „Was ist das, Aalon?“, fragte sie.

    „Ich weiß es nicht.“ Auch Aalons Stimme klang beunruhigt.

    Keiner von beiden teilte die freudige Aufregung, die Milou bei ihrem Fund verspürt hatte.

    Aalon kniete neben dem Mann ab. Er legte zwei Finger auf seinen Hals und nickte. „Gib mir das Seil. Wir fixieren ihn und tragen ihn zu zweit. Milou wird unter uns fliegen und die Knoten im Auge behalten.“

    Auch das war typisch für ihren Vater. Er handelte. Zeit für Fragen war später. Mit geübten Handgriffen band er eine Schlinge um die Brust und eine um die Oberschenkel des Mannes. An jeder Schlinge befestigte er je zwei Seile und nickte Lynn zu. „Denkst du, du schaffst das?“, fragte er und als sie nickte, bat er Milou die Seilenden um seinen und Lynns Körper zu binden. Sie verwandelten sich und waren kurz darauf bereit, loszufliegen. Die ganze Zeit über wachte der Fremde nicht auf und auch während des Fluges zurück nicht.

    Milou sah zu, wie ihre Eltern die Knoten lösten und den Mann in die Stube trugen. Lynn bereitete ihm ein provisorisches Lager auf der Eckbank und legte ihm ein feuchtes Tuch auf die Stirn. Immer noch wachte der Fremde nicht auf.

    Aalon trat neben Milou. „Du wirst nicht wieder nach Creste fliegen. Du wirst nicht mit diesem Mann sprechen. Du wirst keinem von deinem kleinen Abenteuer erzählen. Ich will kein Wort darüber hören.“

    Milou ließ die Schultern hängen.

    „Die nächsten drei Mondzyklen kommst du nach der Schule zu mir in die Schreinerei. Dort arbeitest du bis Abend und wir gehen gemeinsam nach Hause.“

    Empört öffnete Milou den Mund.

    „Keine Widerrede.“, kam ihr Aalon zuvor. „Nicht ein Wort. Und jetzt ab in dein Zimmer, bevor ich mir eine echte Strafe überlege.“

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

    [imgk]Bitte melde dich an, um diesen Link zu sehen.[/imgk]

  • Milou warf sich auf ihr Bett und drückte das Gesicht in die Kissen. Drei Mondzyklen! Drei! Den halben Tag unter Aufsicht von Pater Ren, den anderen unter der ihres Vaters. Selbst ein neuerlicher Hausarrest wäre besser gewesen. Und was war mit ihrem Fund? Wollte Aalon einfach totschweigen, was sie entdeckt hatte? Warum begab sie sich denn in Gefahr? Weil niemand sonst es tat. Weil niemand sie ernst nahm. Jetzt verbot Vater ihr das Wort. Wieso? Wieso?

    „Wieso?“, knurrte Milou in ihre Kissen. Heiße Tränen füllten ihre Augen und das machte Milou nur noch wütender. Sie biss die Zähne zusammen.

    Fang jetzt nicht an zu heulen.

    Nach und nach beruhigte sich ihr Atem und sie entspannte sich. Der Fremde lag unter ihr im Wohnraum. Ihn konnte Aalon nicht so einfach ignorieren. Wenn der Mann erst erwachte, würde er erzählen, woher er kam. Zuversicht kehrte in Milou zurück. Das konnten sie nicht einfach beiseite wischen. Nicht ihr Vater, nicht Pater Ren, nicht der Dorfrat.

    Milou setzte sich auf und seufzte. Sie war erschöpft, doch zu aufgewühlt, um an Schlaf zu denken. Gedankenverloren schälte sie sich aus ihrer schmutzigen und beschädigten Kleidung und nahm sich frische aus dem Regal neben der Tür. Ihre Finger strichen über die Kette um ihren Hals. Vorsichtig zog sie sie über den Kopf und legte den Anhänger in ihre Hand. Ein strahlender Baum. Gab es so etwas dort, wo der Mann herkam? Bäume in der Farbe von leuchtendem Sand? Mehr Schmuck wie diesen? Sie strich über den Anhänger und drückte ihre Nägel hinein. Das Material war hart und hatte die Wärme ihres Körpers angenommen. Nie hatte sie etwas Vergleichbares gesehen. Sie legte die Kette wieder an und zog eine frische Weste über.

    Wenn ich nicht reden darf, werde ich über die Kette auch nicht reden. Sie bleibt mein Geheimnis.

    Nachdem sie angezogen war, öffnete Milou vorsichtig ihre Zimmertüre und setzte sich auf den Treppenansatz. Sie konnte nicht hinunterblicken, doch sie hörte das Klappern von Geschirr aus der Küche, dann Schritte unter ihr und das Schaben eines Stuhls auf dem Boden.

    „Er schläft jetzt“, hörte sie ihre Mutter sagen. Also musste der Fremde wach gewesen sein. Hatte er schon etwas gesagt? Die Unwissenheit ließ Milou die Hände zu Fäusten ballen. Wieso durfte sie nicht dabei sein? Sie hatte den Mann doch gefunden. Sie hatte ihn gerettet.

    „Was denkst du?“ Wieder ihre Mutter.

    „Ich weiß es nicht.“, entgegnete Aalon. „Wir müssen mit Pater Ren sprechen. Mit dem Dorfrat gar.“

    Stille.

    „Ich habe ihm das hier abgenommen, bevor er aufgewacht ist“, sagte Aalon nach einer Weile.

    „Was ist das?“

    Er seufzte. „Nichts Gutes.“

    „Oh Aalon…“ Wieder schwiegen ihre Eltern.

    Milou zermartere sich den Kopf, ob sie irgendetwas an dem Fremden gesehen hatte, musste aber feststellen, dass sie sich selbst an seine Kleidung kaum mehr erinnern konnte. Nur seine grünen Augen sah sie noch deutlich vor sich. Die Augen, und das spitze Ohr.

    Immerhin würde ihr Vater mit Pater Ren sprechen. Wenn sie nur mitkommen könnte…

    „Ich bringe Milou eine Suppe“, erklang da Lynns Stimme. Sofort schlich Milou zurück in ihr Zimmer und schloss so leise wie möglich die Tür. Kaum lag sie im Bett, hörte sie Schritte auf der Treppe. Es klopfte, doch Milou sagte nichts. Langsam ging die Tür auf.

    „Milou?“, flüsterte Lynn.

    Als könnte ich jetzt schlafen!

    „Milou? Ich habe Suppe für dich.“

    Milou seufzte und setzte sich auf. Ihre Mutter kam zu ihr und setzte sich neben sie. „Hier.“

    Milou nahm die Schüssel entgegen.

    „Ich weiß, du bist wütend“, begann Lynn. „Aber du musst auch uns verstehen. Wir hätten dich verlieren können. Ich hätte euch beide verlieren können.“

    Noch immer sagte Milou nichts. Sie hielt die Schüssel in beiden Händen, begann aber nicht zu essen. Natürlich wusste sie, dass ihre Mutter Recht hatte, wollte es aber nicht hören. Es war eben einmal mehr nichts passiert. Es ging ihr gut. Und Vater auch. Nichts war gesehen, außer, dass sie, Milou, einen entscheidenden Fund gemacht hatte. Sie wollte nicht so leben wie all die anderen Aviare, für die jeder Tag so war wie der vorherige. Schon seit sie denken konnte, hatte sie diese Unruhe im Bauch. Jetzt war sie Dreizehn und nahm die Dinge selbst in die Hand. Ihre Eltern konnten sie noch so lange einsperren, das würde nichts ändern. Stur starrte sie in die Schüssel und konnte sich nicht dazu bringen, etwas zu sagen.

    Mutter drängte sie nicht. Sie seufzte, strich Milou über den Rücken, stand auf und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um.

    „Ruhe dich aus. Wir können morgen sprechen, wenn du möchtest.“

    Aber Milou würde nicht wollen, das versprach sie sich selbst. Und schlafen konnte sie auch nicht. Sie hatte artig die Suppe gegessen, sich gewaschen und war in den frühen Abendstunden ins Bett gekrochen. Obwohl ihr Körper vor Erschöpfung brannte, fand ihr Geist keine Ruhe. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Sie warf das Laken zurück, setzte sich auf und legte das Gesicht in ihre Hände. Es war so ungerecht! Schließlich stand sie auf und öffnete leise ihre Zimmertür. Es war düster unten, keine Kerze brannte und Milou hörte auch kein Geräusch. Mit klopfendem Herzen schlich sie sich ein paar Stufen hinunter. Manche knarzten leise und jedes Mal hielt Milou erschrocken inne, doch weder Vater noch Mutter erschienen am Fuß der Treppe. Dort unten, nur wenige Schritte von ihr entfernt, lag der fremde Mann mit den grünen Augen und den spitzen Ohren. Milous Herz schlug schneller. Was, wenn er wach geworden und fort gegangen war? War es nicht nur richtig, dass sie nachsah, ob er noch da war? Milou schluckte. Sie hatte das Ende der Treppe erreicht. Ihre Eltern mussten ins Bett gegangen sein. Es war fast dunkel. Auf Zehenspitzen schlich Milou hinüber zu der Eckbank. Er lag noch da, auf dem Rücken, unter einer von Mutters bunten Decken. Seine Brust hob und senkte sich in tiefen Atemzügen. Was hatte Vater ihm abgenommen? Was mochte er noch für Geheimnisse bergen? Milou blieb neben der Bank stehen.

    „Wer bist du?“, flüsterte sie und streckte eine Hand aus, berührte ihn aber nicht. In diesem Moment schlug der Fremde die Augen auf und Milou unterdrückte einen Aufschrei.

    „Wo bin…“, setzte er an und verstummte. Sein Blick lag auf Milous Brust. Er drückte sich auf einen Ellbogen hoch und kniff die Augen zusammen.

    „Woher hast du das?“, fragte er. Noch immer starrte er auf dieselbe Stelle. Seine Augen schienen zu glühen. Sein Tonfall hatte etwas Bedrohliches an sich. Unwillkürlich legte Milou ihre Hand auf ihre Brust und spürte die Kette, die nicht länger unter der Weste verborgen war.

    „Woher hast du das?“, fragte er lauter und machte Anstalten aufzustehen.

    Milou wich zurück. „Nicht so laut“, flüsterte sie.

    „Die Kette“, beharrte er. „Wo hast du die her?“ Er kam auf die Beine, stöhnte auf und setzte sich, sein Knie betastend, wieder hin.

    „Was ist hier los?“, erklang Aalons Stimme und Milou schloss die Augen. „Milou…“ Milou hörte, wie ihr Vater mit sich rang.

    „In. Dein. Zimmer. Sofort.“

    Milou fuhr herum.

    „Das ist nicht fair, Vater. Ich habe ihn gefunden.“, platzte sie heraus.

    „Sofort.“

    „Vater.“

    „Ich sagte sofort!“

    Milou zuckte zusammen. Noch nie hatte sie ihren Vater schreien gehört. Wie fest gewurzelt stand sie da und sah ihn an. Seine gelben Augen funkelten ebenso wie die des Fremden, bloß dass Milou darin etwas Neues erkannte. Furcht.

    „Diese Kette gehört ihr nicht.“, sagte der Fremde hinter ihr. „Sie hat kein Recht, sie zu tragen.“

    „Gib mir diese Kette, Milou.“, sagte Aalon.

    „Nein“, entgegnete Milou trotzig. „Sie gehört mir. Ich habe sie gefunden!“ Sie trat zur Seite, dass sie den Fremden und ihren Vater im Auge behalten konnte.

    „Milou“, begann ihr Vater. „Wo?“, fragte zeitgleich der Fremde.

    Siehst du, was du anrichtest?, las Milou in Aalons Blick, als er näher kam.

    „Wo?“, beharrte der Fremde. Er versuchte nicht wieder aufzustehen, doch es war ihm anzusehen, dass er ihr das Schmuckstück am liebsten vom Hals gerissen hätte.

    Milou sah ihren Vater an. Der seufzte schwer und nickte.

    „Am Strand bei den ganzen Holzteilen. Wo ich auch dich gefunden habe.“

    „Bringt mich hin.“

    „Es ist Nacht.“ Aalon war neben Milou getreten und sah den Fremden mit festem Blick an.

    „Das ist nicht von Bedeutung.“ Ohne sein verletztes Bein zu belasten, stemmte der Mann sich hoch. Er war einen halben Kopf größer als ihr Vater.

    „Es ist zu gefährlich.“, beharrte Aalon.

    „Jeder Augenblick zählt!“

    Unwillkürlich wich Milou zurück, als der Fremde die Stimme hob. Aalon aber blieb an Ort und Stelle und hielt den Blickkontakt aufrecht. „Nein. Wir können morgen hinfliegen.“

    Der Gesichtsausdruck des Mannes veränderte sich. Seine Lippen formten stumm ein Wort. Milou war sich nicht sicher, welches. Sein Blick flog hin und her, als dächte er angestrengt nach. Sie rechnete damit, dass er widersprechen würde, doch schließlich nickte er. „Bei Tagesanbruch.“

    Milou spürte, dass sein forsches Auftreten ihren Vater verärgerte, doch er sagte nichts dazu. Ein Indiz mehr, wie beunruhigt er war. Auch er nickte, dann wandte er sich Milou zu. Ein Kopfnicken reichte, und sie eilte hinauf in ihr Zimmer.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

    [imgk]Bitte melde dich an, um diesen Link zu sehen.[/imgk]