[Almanien] Der Bruch von Almanien

  • Der Bruch von Almanien


    Ich, Garlyn, Sohn des Felix Reinhard von Almanien, schreibe diese Chronik in der Verbannung, fern von meinen angestammten Landen und unter einem fremden Namen. Ich sitze in der Schreibstube des Söldnerlagers der Eisenfalken. Heute ist der zwölfte Tag des Jägermondes, im Jahr 209 des Dritten Zeitalters der Asche.


    Vor fast genau vierundzwanzig Wintern, fiel mein Vater durch Verrat und Blutvergießen. Mit seinem Tod brach sein Land auseinander. Es war der zwanzigste Tage des Windmondes im Jahr 185, als Almanien aufhörte, Königreich zu sein. Diese Chronik ist mein Versuch, die Zerstörung dieses uralten Menschenreiches zu begreifen und die Erinnerung zu wahren, bevor die naridischen Lügen sie endgültig zerstören.


    Das, was ich hier schreibe, ist die Geschichte des Königs ohne Krone, genannt Garlyn Meqdarhan, meine Geschichte, und sie beginnt nicht in Almanien, wie man anzunehmen verleitet sein könnte, sondern in Naridien.



    Ich wuchs in einem Waisenhaus in der Hauptstadt Daijian auf, mit einem naridischen Familiennamen, den sie mir dort gegeben hatten. Ich sah die Handelsflotte mit ihren riesigen roten Segeln im Hafen einlaufen, ich erlebte Hunger und Elend und musste von klein auf bei den Zuckerrohrplantagen arbeiten, um mir meinen Platz im Kinderheim zu verdienen.

    Die Naridische Handelsrepublik, wie der offizielle Name lautet, liegt jenseits der Kandoren, deren Gipfel einen natürlichen Grenzwall nach Südosten bilden, so dass die Halbinsel gut geschützt liegt, an deren Ufern die Handelsrepublik zahllose Häfen besitzt. Naridien wurde reich durch die Eisenminen in den Kandoren, durch das Handelsnetz der Salzstraße, welches sich über den halben Nordkontinent erstreckt und nicht zuletzt durch seine Handelsflotte, die jeden Hafen der Welt bereist. Es ist die Heimat gerissener Händler und herzloser Bürokraten, wo sowohl die reichsten als auch die ärmsten Menschen der Welt leben, das Land riesiger Märkte, deren Stände sich unter der Last exotischer Waren biegen, wo es jede Ware der Welt zu kaufen gibt, fremdartige Früchte und duftende Gewürze, glänzenden Goldschmuck für die feinen Damen und Herren, aber auch silberne Geschmeide voll farbenfroher Halbedelsteine für den kleinen Geldbeutel, Stoffe in allen nur erdenklichen Farben und Mustern, schlicht oder luxuriös, aus Seide, Wolle oder Flachs, aber es ist auch das Land der Hochgerichte mit ihren grauen Sälen, getragen von eckigen Betonsäulen, wo im Namen des Gesetzes berufliche Existenzen vernichtet und ganze Familien zerstört werden. Kein anderes Land vereint solche Widersprüche in sich wie Naridien. Man kann im Luxus ertrinken oder vor Armut verhungern.


    Den Umbruch in Almanien bekam ich damals nur von den Herolden mit, die jeden Morgen auf den Märkten für alle die Tageszeitung vorlasen. Schulbildung war für den gemeinen Mann zu teuer und so wurden die Nachrichten mündlich verlautbart. Wir vernahmen als Kinder, dass Felix Reinhard von Almanien, der sich großspurig König nannte, in Wahrheit ein Tyrann sei, der sein Volk unterdrückte. Mit der altmodischen Ständegesellschaft sicherte er die Macht des Adels in Almanien und hielt die bedauernswerte Bevölkerung als Leibeigene gefangen. Wie froh konnten wir doch sein, im freien Naridien zu leben, wo jeder selbst seines Glückes Schmied ist! Doch es gab almanische Freiheitskämpfer, vor allem in der Hohen Mark, die sich dagegen wehrten. Die Naridische Handelsrepublik machte es sich zur selbstlosen Aufgabe, die Freiheitskämpfer finanziell zu unterstützen. Hin und wieder mischten sich wohl auch naridische Söldner darunter, Helden, die freiwillig Leib und Leben für die unterdrückten Almanen riskierten. Und am Ende geschah das Unfassbare: Die Freiheitskämpfer bekamen König Felix Reinhard von Almanien zu fassen. Sie packten ihn auf der Flucht und rissen ihn aus seiner Sommerresidenz in der Salzmarsch von Ehveros. Am zwanzigsten Tag des Windmondes endete sein Leben auf dem Marktplatz seiner eigenen Hauptstadt durch hundert Pfeilschüsse, die gleichzeitig auf ihn abgefeuert wurden.


    Ich weiß noch, dass ganz Naridien an diesem Tag jubelte und feierte, während sie in Almanien seinen Kopf auf einer Lanze durch die Straßen trugen. Es gab kostenloses Essen, das von den Richtern und Geschäftsleuten gespendet wurde, ein Gastwirt erfand so genannte Königsspieße, die auf dem Grill geröstet wurden, und bei während alle den Tag des Thronstoßes feierten, wurde gemeinsam mit den almanischen Herzögen eine neue Währung eingeführt, die fortan für ganz Asamura gelten sollte. Anstelle des naridischen Handelstalers und der almanischen Krone trat der Tsheldy, auf den ein Schild geprägt war.


    Das waren die ersten politischen Ereignisse, die ich bewusst erlebte.


    Als junger Mann trat ich der naridischen Armee bei, der Radhora, und verpflichtete mich für zehn Jahre Dienst in Trux, um die entlegene Eisenmine gegen Überfälle zu sichern. Doch das Schicksal führte mich bald in almanische Kriegsgefangenschaft. Dort wurde ich in die souvagnische Strafkompanie eingegliedert, fristete meine Strafe ab und blieb dann freiwillig, denn aufgrund meiner guten Führung wurde mir nach einigen Jahren angeboten, diese Kompanie als freier Mann zu leiten.


    Ich nahm die Herausforderung an, weil ich den Sträflingen helfen und sie zurück in die Freiheit führen wollte. Als unsere Strafkompanie bei einem Sturmangriff fast vollständig vernichtet wurde, verlor ich den Willen, dort weiter zu dienen. So zog es mich in die Freie Stadt Obenza, wo ich als Söldner im Sicherheitsdienst mein Brot verdiente und ansonsten meine Freiheit genoss. Später gründete ich meine eigene Söldnerkompanie, deren Name „Die Eisenfalken“ an meinen alten Kampfnamen anknüpft.


    Und dort, in meinem eigenen Söldnerlager als Kommandant in meiner Schreibstube sitzend, nahm ich mal wieder einen gewissen Brief zur Hand, das einzige Erbstück meines Vaters. Zum vielleicht hundertsten Mal las ich ihn, ohne die Worte zu verstehen. Dieser Brief war nicht nur ein bloßes Schreiben, sondern eine verschlüsselte Botschaft, so viel war mir mittlerweile klar. Ich vermutete, mein Vater wollte den Inhalt vor den falschen Blicken schützen.


    Da ich allein nicht weiterkam, bat ich Serak den Lügner um Hilfe, ein Halbork und alter Bekannter, der viel herumgekommen war. Früher war er Söldner unter meinem Kommando in der Kompanie der Eisenfalken gewesen, daher kannte ich ihn. Mittlerweile verdingte er sich als Reliktjäger. Er fand heraus, dass es sich bei dem Brief um eine Wegbeschreibung handelte. Doch dieses Vermächtnis lag an einem so schwierigen Ort verborgen, dass ich es nicht ohne professionelle Hilfe bergen und seine letzten Geheimnisse ergründen konnte. Daher beauftragte ich Serak mit der Suche und Bergung jenes Schatzes.


    Getrieben von seinem rauen Mut und motiviert von der Belohnung, die ich ihm versprach, stieg er hinab in den gefährlichen Taudis, jene gefürchtete und düstere Unterwelt, die Reliktjägern als Hort verlorener Schätze und tödlicher Fallen gilt. Dort, wo Schatten tief in die Felswände kriechen und kalter Nebel die engen Gänge durchdringt, suchte er unermüdlich, durchquerte Labyrinthe aus zerfallenen Ruinen und überwand zahllose teuflische Fallen. Nach langer und beschwerlicher Suche gelang es ihm, eine versiegelte Truhe zu bergen, in der die königlichen Insignien ruhen: die Krone, das Schwert und die Amtskette von Almanien. Zunächst hielt ich es für bloßen Reichtum. Doch mehr noch: In dieser Truhe fand sich auch der Stammbaum meiner Ahnen, der mich als rechtmäßigen König von Almanien ausweist.


    Ich vermutete, mein Vater wollte den Inhalt nicht nur vor fremden Augen schützen, sondern auch vor meinen. Ich sollte das Geheimnis meiner Herkunft erst verstehen, wenn ich reif genug wäre, die Zeichen zu deuten und die Pfade zu finden. Doch auch jetzt wusste ich damit nicht umzugehen. Lange dachte ich darüber nach, was das Vermächtnis für mich und für Almanien bedeutete. Auf einmal war ich kein Naridier mehr, sondern Almane – der Almane, der das Land sogar im Namen trug. Derjenige, der die Geschicke dieses mir fremden Landes mit Güte und Weitsicht lenken sollte, dabei empfand ich schon das Leiten des Söldnerlagers an manchen Tagen als eine zu große Last.


    In der Truhe war auch ein Brief gewesen, ein Liebesbrief meines Vaters an seine Heimat. Ich las mir diesen mehrmals durch und ließ die Worte auf mich wirken. Er beschrieb Almanien als ein stolzes Reich voller grüner Wälder, sanfter Hügel und klarer Flüsse, als ein Land der Tugend und des Friedens, so lange die alte Ordnung gewahrt worden war. Das Land blühte unter seiner Obhut in Fruchtbarkeit, Vögel sangen über goldenen Kornfeldern, die sich in der Sommersonne wiegten und die Menschen lebten ohne Mangel. Doch die Naridier fürchteten das Wachstum und die Stärke seines südlichen Nachbarn. Von Neid und Gier getrieben, woben sie Intrigen und verbreiteten Unmut. Die Verantwortlichen saßen wie Spinnen tief in den Schatten, um unsichtbar ihre Netze zu weben. Sie nutzten verschiedene Waffen, auch das Wort, um Almanien von innen zu zerreißen.


    Nach der Flucht des König wurden die Strukturen Almaniens zerhackt und das Reich zersplitterte wie zersprungenes Eis auf einem See. Die Herzöge der vier almanischen Herzogtümer erhoben sich zu Großherzögen, erklärten ihre Länder ab sofort zu eigenständigen Reichen. An diesem Tag zerbrach Almanien. Viele Getreuen der alten Ordnung starben am Galgen oder unter dem Richtschwert.


    Jetzt, als Erwachsener, sah ich die Ereignisse, die ich als Knabe bejubelte, mit anderen Augen, und schämte mich, so leichtgläubig gewesen zu sein. Der Mann, dessen Tod wir gefeiert hatten, war niemand anderes als mein Vater gewesen, dessen Brief ich nun in den Händen hielt. Ich erkannte, was verloren ging. In jedem Neuanfang liegt auch der Verlust von etwas Altem. Ich hätte seine Verantwortung übernehmen sollen, stattdessen saß ich in einem Söldnerlager und überließ den Großherzögen das Schicksal. Der Schmerz dieses Wissens ist wie das Heulen des Windes in verlassenen Tälern, das Klirren eines fallenden Schwertes auf blutbedecktem Marmorboden.


    Ich wünschte, es gäbe ein Ende, in dem ich dieses Schwert ergreife, meinen Mut sammle und den Thron erobere, der mir gebührt. Aber ich weiß mit schwerem Herzen: Es gibt kein Zurück. Dieas Rad der Geschichte hat sich zu weit gedreht, und jene, die nun auf den Thronen sitzen, haben sich zu bequem eingerichtet, als dass sie einen König über sich dulden würden. Heute regieren die Söhne der Großherzöge, die nie einen König über sich gekannt haben, und das Volk hat seine Identität verloren. Sie sind keine Almanen mehr, sondern Souvagner, Ehveroski, Ledvigiani – Namen, in denen Trennung liegt. In der Hohen Mark reicht die Zersplitterung noch tiefer, denn dort definieren sich die Menschen nach den Grenzen ihrer Grafschaften und Rittertümer, ziehen plündernd zu ihren Nachbarn und besetzen ihre Burg, so dass jegliches Heimatgefühl kaum noch zu finden ist. Die Hohe Mark wurde zu einem Teil von Alkena, der nördlichen Wildnis, in der Gesetzlose leben und nur das Recht des Stärkeren herrscht. Almanien, wie ich es kannte, ist nicht mehr als eine Erinnerung, die langsam verblasst.


    Wie ging es in den letzten Jahren weiter mit dem zebrochenen Almanien?


    Es verblieben die drei Großherzogtümer: die Souvagne, Ehveros und Ledvico. Die Souvagne, das größte, breitet sich aus wie ein Meer aus sanften Hügeln und reifen Obstgärten. Eine mächtige Mauer umschließt das Land, die wie ein stiller Wächter trotzig gegen die Zeit ankämpft.


    Ehveros, das wirtschaftliche Herz Almaniens, liegt im Gebirge und an der Küste, wo die Wellen unermüdlich gegen die felsigen Klippen schlagen. Seine Flotte mag klein sein im Vergleich zu den Naridiern, doch auf festem Land sind seine Truppen eine Kraft, die niemand unterschätzen darf.


    Ledwick, das sich selbst Ledvico nennt, ist ein Land des türkisgrünen Ozeans und weißer Strände, dessen Leben sich fast gänzlich auf das Wasser verlagert hat, wo die Menschen Pluderhosen und bunte Kopftücher tragen und kaum noch an andere Almanen erinnern.


    Mein Vater, ein edler Herrscher und unerschütterlicher Beschützer seines Volkes, sah am Ende seiner Tage die finstere Wolke am Horizont. Es gelang ihm nicht, sie aufzuhalten. In seinem Weitblick gab er mich, sein einziges Hoffen, in Sicherheit, indem er mich als Kleinkind unerkannt in ein schäbiges Waisenhaus nach Naridien verbringen ließ. Wer hätte mich ausgerechnet dort gesucht? Falls es jemand tat, so fand er mich nicht.


    Am zwanzigsten Tage des Windmondes, vor vierundzwanzig Wintern, fiel mein Vater durch Verrat. Die königlichen Hallen von Drakenstein, einst erfüllt vom Glanz und von Lichtern, wurden gestürmt; der Klang von Schwertern und Schreien hallte durch die Flure. Fremde Waffen und finstere Gesellen brachten Dunkelheit über unser Land. Mein Vater fiel, und mit ihm zerbrach das Herz Almaniens.


    Zehn Jahre später war Ehveros, wo er seinen Regierungssitz gehabt hatte, nicht mehr als Großherzogtum zu erkennen, es zerfiel so vollständig wie die Hohe Mark. Einzig die Hauptstadt Drakenstein konnte sich behaupten und war nun eine Freie Stadt mit eigenem Fürsten. Irving von Kaltenburg war es, ein verstoßener Schattenhexer aus Naridien, der es sich auf dem Thron des Königs bequem machte und fortan seine eigenen Ränke schmiedete. Er war der Fürst der Gesetzlosen, die sich unter ihm sammelten, und auch der Fürst der Reliktjäger, denn er glaubte, darin läge der Schlüssel zur Macht.


    Ob die Souvagne und Ledwick sich als letzte almanische Bastionen halten werden, muss die Zeit zeigen.


    Das Schwert meines Vaters ruht an der Wand. Ich kämpfe mit der Feder für sein Andenken und gegen das Vergessen. Er war kein Tyrann.

    Möge diese Worte das Andenken an den edlen König Felix Reinhard bewahren und vor dem finsteren Trachten der Mächte von Naridiens gemahnen. Mögen sie als Leuchtfeuer den almanischen Nachkommen ihren Weg weisen, damit unser Volk nicht erneut in Dunkelheit versinkt.


    Mein Dank gebürt den Getreuen, die für Almanien fielen, und dem Reliktjäger Serak der Lügner, ohne den die wahre Geschichte von Almanien im Dunkel versinken würde und dem ich meinen wahren Namen verdanke.


    Dies sind die Worte des Garlyn Meqdarhan von Almanien, Sohn eines Königs, nun Söldner und ewiger Wanderer, Kommandant der Eisenfalken, mit brennendem Herzen und klarer Feder, aus der Verbannung auf unsere Heimat blickend.


    Garlyn Meqdarhan von Almanien

    Söldnerlager der Eisenfalken, Alkena

    zwölfter Tag des Jägermondes im Jahr 209 des Dritten Zeitalters der Asche