Das Buch des Bruchs

  • Das Buch des Bruchs

    Das Buch des Bruchs berichtet vom Schicksal des letzten almanischen Königs und davon, was nach seiner Ermordung geschah. Es erzählt auch von seinem Sohn, der verborgen vor den Augen der Welt in einem naridischen Waisenhaus aufwuchs. Es ist Zeugnis von den Jahren vor dem Bruch und danach, und berichtet von der unheiligen Rolle, welche die Naridische Handelsrepublik bei der Zerstörung des Königreichs Almanien spielte, und von den almanischen Herzögen, die ihren verlorenen König niemals missten und fortan selbst ihre eigenen Kronen trugen. Das Buch des Bruchs endet mit der Erzählung, wie zwei der vier Großherzogtümer anschließend untergingen.


    Der Prinz von Almanien


    Die Geschichte des letzten almanischen Prinzen, des späteren Königs ohne Krone, begann nicht in Almanien, wie es der Glaube vieler sein könnte, sondern in Naridien. Dort, in der Hauptstadt Daijian, wuchs Garlyn Meqdarhan auf, in einem Waisenhaus, das ihm einen naridischen Familiennamen gab. Garlyn sah die prächtige Handelsflotte mit ihren riesigen roten Segeln in den Hafen einlaufen und erlebte den Hunger und das Elend, die die harte Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen mit sich brachte. Von klein auf musste er sich seinen Platz im Kinderheim verdienen.


    Naridien, das Land der naridischen Handelsrepublik, lag jenseits der Kandoren, deren schneebedeckte Gipfel einen natürlichen Grenzwall nach Südosten bildeten. Die Halbinsel, die dieses Land umschloss, war von Natur aus gut geschützt, und ihre Küsten besaßen zahllose Häfen. Wohlstand und Macht hatten Naridien durch seine Eisenminen in den Kandoren, das Handelsnetz der Salzstraße und vor allem durch seine Handelsflotte erlangt, die die Ozeane durchkreuzte und jeden Hafen der Welt anlief. Das Land war Heimat gerissener Händler und herzloser Bürokraten, wo die Reichen ebenso wie die Ärmsten in der Welt zu finden waren. Märkte bogen sich unter der Last exotischer Waren, von duftenden Gewürzen und glänzendem Goldschmuck bis hin zu silbernem Geschmeide für den kleinen Geldbeutel. Doch zugleich war es auch das Land der kalten Hochgerichte, in denen berufliche Existenzen zerrieben und ganze Familien zerstört wurden. Niemand konnte dem bitteren Widerspruch entkommen, der Naridien in sich trug: Es war ein Land, in dem man in Reichtum ertrinken oder vor Armut verenden konnte.



    Vom Niedergang des Königreiches Almanien


    In seiner Jugend vernahm Garlyn von den Herolden, die jeden Morgen auf den Märkten für die Leute die Tageszeitung vorlasen, von den Umbrüchen in Almanien. Felix Reinhard, der sich selbst als König bezeichnete, wurde als Tyrann bezeichnet, der sein Volk unterdrückte und mit einer altmodischen Ständegesellschaft die Macht des Adels sicherte. Das einfache Volk in Almanien war gefangen in der Leibeigenschaft. Die Nachricht, dass es Freiheitskämpfer in der Hohen Mark gab, die gegen diese Ungerechtigkeit ankämpften, erfüllte die Kinder in Naridien mit Freude. Für sie war das Leben in der Handelsrepublik ein Symbol der Freiheit. Doch auch Naridien mischte sich in den almanischen Konflikt ein und unterstützte die Freiheitskämpfer mit Geld und, hin und wieder, mit Söldnern. Die Naridier sahen es als ihre Aufgabe, den unterdrückten Almanen zu helfen.



    Vom zwanzigsten Tage des Windmondes im Jahr 185 des Dritten Zeitalters der Asche


    Schließlich geschah das Unfassbare: Der König von Almanien, Felix Reinhard, wurde von den Freiheitskämpfern gefasst und in seiner Sommerresidenz in der Salzmarsch von Ehveros gefangen genommen. Am zwanzigsten Tage des Windmondes im Jahr 185 des Dritten Zeitalters der Asche fand er seinen Tod, als hunderte Pfeile gleichzeitig auf ihn abgefeuert wurden. Ganz Naridien jubelte, als der Kopf des gefallenen Königs auf einer Lanze durch die Straßen getragen wurde. Das Land feierte den Fall des Tyrannen, und sogar die Herzöge der freien Stadtstaaten, die nun die neue Währung einführten, feierten mit den Naridiern. Diese Ereignisse markierten den Beginn Garlyns Bewusstwerdung für die politischen Umwälzungen, die die Welt erschütterten.



    Vom Söldnerleben


    Als junger Mann trat Garlyn der Naridischen Armee, der Radhora, bei, um zehn Jahre lang zur Sicherung von Trux, der abgelegenen Eisenmine, zu dienen. Doch das Schicksal führte ihn bald in die Hände der Feinde, und er fiel in almanische Kriegsgefangenschaft. Er wurde der souvagnischen Strafkompanie zugeteilt, einer Einheit aus Kriegsgefangenen, die für ihre Strafen büßten. Doch mit der Zeit, dank seiner guten Führung, wurde ihm angeboten, die Kompanie als freier Mann zu leiten. Garlyn nahm das Angebot an und führte die Sträflinge mit dem Ziel, sie zurück in die Freiheit zu führen. Doch als seine Kompanie bei einem Sturmangriff fast vollständig vernichtet wurde, verlor er seinen Glauben an diese Aufgabe.


    So zog er in die Freie Stadt Obenza, wo er als Söldner im Sicherheitsdienst arbeitete und schließlich seine eigene Söldnerkompanie gründete: „Die Eisenfalken.“



    Vom Brief seines Vaters


    Eines Tages, als er in seinem Söldnerlager saß und über die Jahre nachdachte, fand er wieder den Brief seines Vaters, das einzige Erbstück, das ihm geblieben war. Zum hundertsten Mal las er ihn, doch die Worte blieben ihm unverständlich. Er spürte, dass dieser Brief mehr war als ein gewöhnliches Schreiben – er war eine verschlüsselte Botschaft. Doch was er nicht wusste, war, dass sein Vater, der längst tot war, ihm ein Erbe hinterlassen hatte, das seine Identität als rechtmäßigen König von Almanien offenlegte.



    Der Reliktjäger


    Die Suche nach dem Geheimnis des Briefes führte ihn zu Serak, einem Halbork und ehemaligen Söldner aus seiner Kompanie, der sich mittlerweile als Reliktjäger verdingte. Serak erkannte, dass der Brief eine Wegbeschreibung zu einem verborgenen Schatz war. Um ihn zu bergen, wagte Serak sich in die Taudis, die gefährliche und düstere Unterwelt Naridiens. Er durchquerte das Labyrinth, entkam tödlichen Fallen und kreuzte die Waffen mit gefährlichen Rivalen. Nach langer Zeit, in der er weder das Licht des Tages noch das der Nacht sehen konnte, fand schließlich eine versiegelte Truhe. Er beließ das Siegel und barg den Schatz, um ihn seinem Auftraggeber auszuhändigen. Garlyn fand darin die Insignien des almanischen Königtums: die Krone, das Schwert und die Amtskette. Doch noch außer dem Reichtum, den diese goldenen Schmuckstücke verheißten, fand Garlyn in dieser Truhe den Stammbaum seiner Ahnen. Es war der Beweis, dass er der rechtmäßige Erbe des Throns von Almanien war.


    Nun verstand er, dass sein Vater ihm das Wissen um seine Herkunft nicht nur vor anderen, sondern auch vor ihm selbst schützen wollte. Der Moment war noch nicht gekommen, dass Garlyn die Verantwortung übernehmen konnte. Vielleicht würde dieser Tag niemals kommen.



    Vom König ohne Krone


    Er erinnerte sich an die Worte des Briefes seines Vaters, in dem dieser das almanische Reich als ein Land der Tugend und des Friedens beschrieb. Doch er erzählte auch von der dunklen Hand Naridiens, die hinter den Kulissen gewoben hatte, um Almanien zu zerstören. Nach der Flucht des Königs war das Reich zerbrochen und die Herzöge hatten sich zu Großherzögen erhoben. Die Welt, die Garlyn als Kind noch bewunderte, war nun eine Erinnerung, die nur noch in seinen Gedanken weiterlebte.


    Der Schmerz dieser Erkenntnis war wie das Heulen des Windes in verlassenen Tälern, das Klirren eines fallenden Schwertes auf blutbedecktem Marmorboden. Und so saß er dort, in seiner Söldnerbaracke, mit einem Schwert an der Wand, kämpfend mit der Feder für das Andenken an einen König, der niemals als Tyrann in den Annalen der Geschichte enden sollte. Doch das Rad der Geschichte hatte sich zu weit gedreht, und die Großherzöge, die nun auf ihren Thronen saßen, hatten sich zu bequem eingerichtet, um einen König zu dulden. Das Land war zersplittert, und das Volk, das einst einheitlich unter einem Banner stand, hatte seine Identität verloren.


    Und so ruht das Schwert des Königs an der Wand. Garlyn Meqdarhan, der letzte Erbe des Thrones, kämpft mit der Feder für das Andenken seines Vaters. Möge seine Geschichte den almanischen Nachkommen als Leuchtfeuer dienen, damit das Volk nicht erneut in Dunkelheit versinkt.



    Vom Schicksal des gebrochenen Landes


    Nach dem Tod des Königs Felix Reinhard regierten die Söhne der Großherzöge, jene Männer, die niemals einen Herrscher über sich gekannt hatten. Auf ihren Häuptern lagen neue Kronen, und sie waren Männer, die das Erbe Almaniens mit Gleichgültigkeit trugen. Und das Volk, das einst als ein vereintes Reich gestanden hatte, hatte seine Identität verloren. Es nannte sich nicht mehr Almanen, sondern Souvagner, Ehveroski, Ledvigiani – Namen, die wie gebrochenes Eis auf einem See die Trennung des Landes verkündeten. In jedem dieser Namen lag der Keim einer Entfremdung.



    Hohe Mark


    In der Hohen Mark reichte die Zersplitterung noch tiefer. Dort, wo einst eine einheitliche Kultur erblüht war, hatten sich die Menschen nun nach den Grenzen ihrer Grafschaften und Rittertümer definiert. Sie zogen, wie hungrige Wölfe, von einem Anwesen zum anderen, plünderten und raubten, besetzten Burgen, die nicht mehr ihre eigenen waren, und verloren jegliches Gefühl von Heimat. Ihre Welt war von Rivalitäten und endlosen Kämpfen zerfressen worden, sodass das bandeneidige Streben nach Macht den eigentlichen Sinn von Gemeinschaft und Zusammenhalt verdrängt hatte. Die Hohe Mark, ein Land einst voller Ehre und Stolz, war zu einem Teil Alkenas geworden, jener nördlichen Wildnis, die nur das Gesetz des Stärkeren kannte. Dort herrschten die Faust und das Schwert, und der Schwächere wurde von den Stärkeren zermalmt, während das alte Erbe von Almanien im Staub versank. So wie die Hoffnung geschwunden war, verblasste auch die Erinnerung an den alten Namen der Hohen Mark.



    Souvagne


    Die Souvagne war das größte Land, das sich ausbreitete wie ein weites Meer aus sanften Hügeln und reifen Obstgärten. Eine gewaltige Mauer umschloss das Land, ein stiller Wächter, der trotzig gegen die Zeit ankämpfte und sich der Erinnerung an vergangene Zeiten widersetzte, als das Land noch ein Königreich gewesen war.



    Ledwick


    Ledwick, das sich selbst Ledvico nannte, war das Land des türkisgrünen Ozeans und der weißen Strände. Das Leben hier war fast völlig auf das Wasser verlagert worden, und die Menschen, die an den Küsten lebten, trugen Pluderhosen und bunte Kopftücher. Sie erinnerten nur noch in den entferntesten Zügen an die almanische Kultur, denn die Verbindung zu ihren Vorfahren war kaum noch zu erkennen gewesen. Das Meer hatte sie verändert, sie waren zu einem Volk der Wellen und des Windes geworden.


    Ehveros


    Zehn Jahre nach dem Tod des Königs war Ehveros, jenes einst mächtige Herzogtum, in dem der König seinen Regierungssitz gehabt hatte, nicht mehr als das Schattenbild seiner selbst. Dem Ansturm der Rakshaner, die über das zersplitterte Almanien herfielen, vermochte es nicht standzuhalten. Es zerfiel mit einer Vollständigkeit, welche die Zerbrechlichkeit der Hohen Mark noch übertraf und wurde Beute rakshanischer Plünderer. Die einst stolzen Hallen des Hofes waren in Trümmern, die Straßen von den Unruhen des Zerfalls durchzogen. Einzig die Hauptstadt Drakenstein vermochte es, sich hinter ihren Mauern zu behaupten. Doch auch sie war nicht mehr das, was sie einst gewesen war. Die Stadt, die zu glorreichen Tagen als Zentrum von Wohlstand und Macht gegolten hatte, war nun ein Zerrbild almanischer Größe, ein unruhiges Bollwerk unter der Herrschaft eines selbsternannten Fürsten.



    Drakenstein


    Irving von Kaltenburg war ein verstoßener Schattenhexer aus Naridien. Er hatte sich auf dem Thron des Königs niedergelassen wie ein schwarzer Rabe mit eisblauen Augen, der mit unverschämter Selbstverständlichkeit in den Ruinen der längst untergegangenen Monarchie hauste. Seine magischen Fähigkeiten und eine Erfahrung, die Jahrhunderte zurückreichte, hatten Drakenstein vor dem Ansturm der Rakshaner geschützt. Mit List und dunklem Verstand hatte er sich den Platz auf dem Thron erkämpft, der einem almanischen König gebürte. Von dieser Position heraus begann er, seine eigenen Ränke zu schmieden. Er war der Fürst der Heimatlosen Ehveroski, der Kriegsflüchtlinge aller Herren Länder, aber auch der Gesetzlosen, jener Männer und Frauen, die auf der Suche nach Profit und Macht die Grenzen von Recht und Anstand überschritten. Er nahm sie alle auf, so lange sie nur seiner Macht dienten. Ebenso war er der Fürst der Reliktjäger, jener gefährlichen Gestalten, die in den vergessenen Winkeln der Welt nach vorzeitlichen Schätzen suchten, die mit einer Dunkelheit behaftet waren, die selbst die tiefsten Gewölbe Naridiens gefürchtet würde. Er glaubte fest daran, dass die Kontrolle über die Relikte der alten Welt der Schlüssel zur wahren Macht sei, und so begann er, die Geheimnisse längst untergegangener Reiche zu jagen.



    Von den letzten beiden almanischen Ländern


    Ob die Souvagne und Ledwick, die letzten verbliebenen almanischen Länder, in der Lage wären, sich gegen die wachsende Dunkelheit zu behaupten, sollte die Zukunft zeigen. In einer Zeit, in der das Erbe des Königs vergessen und das Volk von den Wirren der Machtspiele zerrissen war, konnte selbst der mächtigste Fürst nicht sagen, wie lange diese Bastionen noch standhalten würden. Ob sie, in ihrem Stolz, der Schläue dem naridischen Kraken standhalten könnten, blieb ungewiss.