Der Sonnenbeißer Amrakh

  • Der Sonnenbeißer Amrakh

    Einst trug er einen Namen, den heute nur noch ein leerer Grabstein in Amrakh-Sut kennt, eine Platte, unter der nie ein Körper lag.

    Er war Goldgräber, Mitte dreißig mit kantigem Gesicht und kurzem schwarzem Haar, die muskulösen Hände voller Schwielen, die Augen rot vom Staub der Schächte, in denen er arbeitete. Stämmig war er, die Augen dunkelbraun mit goldenen Sprenkeln, als hätte sich das Golderz darin festgesetzt.

    In Amrakh-Sut, wo die Minen große Trichter bildeten und das Gestein so heiß war, dass es die bloßen Füße verbrannte, verweigerte ihm ein Aufseher einen Schluck Wasser. Der Schlag saß. Ein einziger Hieb mit dem Vorschlaghammer. Der Schädel des Aufsehers platzte wie eine überreife Frucht, als sie ihn schon in Ketten legten.


    Dreimal wurde er zum Tode verurteilt:

    In Amrakh-Sut sollte er hängen.

    In Yazmar wollte man ihn vierteilen.

    In Malqeshar hatte man bereits den flachen Stein bereitet, auf dem man ihn der Sonne braten würde.

    Dreimal war die Hinrichtung vorbereitet, und jedes Mal sprach ein Sonnenpriester: «Alvashek will ihn lebendig.»

    Und das Wort des Sonnengottes galt mehr als das Urteil eines Sterblichen.


    Als die Sonne im Westen versank und der Himmel sich blutrot färbte, führte ihn der Henker von Amrakh-Sut in den tiefsten Kerker. Der Raum war klein, die Wände aus schwarzem Basalt, der die Hitze des Tages wie ein Ofen speicherte. Auf dem Kohlebecken glühte das Sonnenzeichen aus purem Gold. Der Henker sagte nichts. Er packte die Zunge mit einer Zange, zog sie weit heraus und drückte das Zeichen hinein. Das Fleisch zischte, ein Geruch von verbranntem Fleisch und Haar erfüllte den Raum. Der Schrei war kurz, dann erstickte er in Blut und Rauch.

    Als die Sonne wieder aufging, war er kein Mensch mehr.


    Er war der Amrakhi. Der-aus-Amrakh.


    Noch in derselben Nacht öffneten sich die Tore, nur einen Spaltbreit, gerade genug, dass ein nackter Mann hindurchpasste. Der Henker, ein alter Mann mit einem Gesicht wie ausgetrocknetes Leder, hob die lange Peitsche aus Kamelhaut. Der erste Hieb pfiff durch die Luft und riss eine feurige Linie quer über den Rücken des neuen Folterers. «Amrakhi!» brüllte die Menge, die sich auf den Mauern und im Staub davor drängte – Frauen, Kinder, Söldner, Priester –, alle mit einer Stimme, die sich anhörte wie das Heulen des Wüstenwinds.

    Ein zweiter Hieb, ein dritter. Jeder Schlag trieb ihn einen Schritt weiter in die Nacht hinaus. «Amrakhi! Amrakhi!» Der Name prasselte auf ihn nieder wie glühender Hagel, während das Blut warm über seine Hüften lief.

    Nackt lief er nach draußen, die frischen Peitschenschläge brannten wie flüssiges Feuer auf dem Rücken. Der leere Wasserschlauch schlug gegen seine Hüfte. Hinter ihm brüllte die Menge: «Amrakhi! Amrakhi!» – ein Chor, der sich tiefer einbrannte als das Eisen.

    Die Peitsche knallte ein letztes Mal, so laut, dass selbst die Sterne zu zucken schienen, und dann traf ihn der letzte Ruf wie ein Faustschlag: «Amrakhi – lauf, bis Alvashek dich wieder sieht!»


    Er stolperte in die Dunkelheit, barfuß, nackt, der leere Wasserschlauch klatschte gegen seine Schenkel. Die Menge verstummte. Hinter ihm fiel das schwere Tor ins Schloss mit der Endgültigkeit eines Fallbeils. Das Echo seines neuen Namens hallte in seinem Kopf wieder, bis der die Kälte der Nacht alle Gedanken zerriss. Er rannte. Barfuß über den eisigen Sand der Nacht, dann über den glühenden Sand des Tages, bis Amrakh-Sut nur noch eine Erinnerung war und der Wind ihm die Haut austrocknete.


    Vier Tage und vier Nächte irrte er durch die Tamjara. Alvasheks Licht verbrannte seine Schultern und die nackten Füße seiner Sohlen. Nachts wurde der Sand so kalt, dass er nicht ruhen konnte, ohne zu erfrieren, so dss er weiterlief. Nur in den gnädigen Stunden der Dämmerung fand er Schlaf. Am fünften Tag brach er zusammen, die Zunge geschwollen und trocken wie ein Stück Leder, die Augen voller Sand. Vor ihm ragten die weißen Mauern von Kharidun auf, gebleicht wie alte Knochen. Er konnte nicht sprechen, um nach Hilfe zu fragen, niemand verstand ihn. Aber der dortige Henker erkannte das Brandmal sofort. Ein kurzes Nicken.


    Er trug ihn durch ein kleines Seitentor, legte ihn auf eine Strohmatte im Schatten und flößte ihm lauwarmes Wasser ein. Drei Wochen durfte er bleiben. In dieser Zeit zeigte der Alte ihm die ersten Spiegel, kleine, handtellergroße Scheiben aus poliertem Silber, die Alvasheks Strahlen zu einem nadelfeinen Strich aus Licht bündeln konnten. «Alvashek ist geduldig», sagte der Henker. «Er wartet immer.»


    Dann war die Zeit um. Der Henker hatte keinen Platz für einen weiteren Folterer. Amrakh musste wieder hinaus in die Glut. Diesmal nicht mehr nackt, nicht mehr mit leerem Schlauch. Bis er einen Henker fand, der ihn nicht fortschickte, sondern zu seinem Folterer machte. Jahre vergingen. Er konnte kaum noch sprechen, doch lernte die Kunst des Schmerzes und konnte bald die Wüste lesen wie ein Buch: wo der Wind am schärfsten schnitt, wo die Oasen nur Trugbilder waren, wo man nachts Schutz fand zwischen den Rippen eines verendeten Riesenwurms. Die Wüste war das vollkommene Folterinstrument, und Amrakh, der Amrakhi, bediente sich am liebsten der gebündelten Hitze des Sonnenlichts.


    Er lernte, dass ein Mensch länger schreit, wenn man ihm die Augen nicht sofort ausbrennt, sondern nur die Hornhaut langsam zum Kochen bringt, Millimeter für Millimeter, bis die Welt für ihn nur noch aus weißem Feuer besteht. Er lernte, dass der Henker überall der Einzige bleibt, der einem die Tür öffnet, Suppe kocht, die Wunden verbindet und einen irgendwann wieder hinausjagt, nicht aus Grausamkeit, sondern weil die Wüste keine bleibenden Folterer duldet. Ist der Ort Heimat geworden, so muss er gehen. Manchmal nach Tagen, manchmal nach Jahren. Die Entscheidung obliegt dem Henker.


    Heute kennt man den Mann, der gemordet hatte und Gnade erfuhr, den Folterer aus Amrakh-Sut, nur noch als den Sonnenbeißer Amrakh. Seine Spiegel sind aus poliertem Silber, manche mannsgroß auf Dreibeinen, andere klein wie eine Münze, die er in der Hand hält. Er bindet sein Opfer auf den flachen Stein, so wie es ihm einst selbst bestimmt ward, richtet die Spiegel aus und wartet.

    Alvashek tut den Rest.

    Er wartet geduldig, denn auch Alvashek ist geduldig.

    Und wenn das Geständnis endlich aus dem Mund des Opfers quillt, so wie die gekochten Augen aus den Höhlen, dann lächelt der Amrakhi, ein Lächeln, das niemand sieht und das niemand je wieder sehen wird.


    Manchmal, in den langen Nächten, wenn er wieder im Sand liegt, den Kopf auf einem Stein, den Blick zu den kalten Sternen gerichtet, fühlt er das eigene Narbengewebe auf der Zunge. Die eingebrannte Sonne. Er schmeckt Alvasheks Mal. Er ist genau dort, wo Alvashek ihn haben wollte. Der Folterer aus Amrakh-Sut, der Amraki. Alvasheks Werkzeug. Und irgendwo, weit hinter dem Horizont, wartet noch immer ein lehres Grab.