Kolbakur erwachte noch vor dem ersten Sonnenstrahl, denn als Sklave hatte man von ihm erwartet früh mit der Arbeit anzufangen und da wurde auch keine Rücksicht auf sein Alter genommen.
Im Wald war es beinahe so dunkel wie in der Scheune, so dass der Raktaure einen Moment lang keinen Anhaltspunkt hatte, wo er sich befand. Doch die Erinnerungen kehrten rasch wieder, als der kühlen Boden abtastete, das leise Rascheln der Bäume vernahm und der vertraute Geruch von Stroh und Tierleibern durch neue Düfte abgelöst wurde.
„Kleiner? Bist du hier irgendwo? Dario?“, fragte er schliesslich und seine Augen tasteten an den dunklen Schemen der Baumstämme und Felsbrocken entlang. Er kam jedoch schnell zum Schluss, dass der Gargoyle nicht anwesend war, denn das Stillsitzen gehörte nicht zu seinen Stärken. Bestimmt hätte er sich längst bewegt und sich somit zu erkennen gegeben.
Der alte Raktaure seufzte. Er sollte sich wohl wieder auf die Suche begeben. Aber vielleicht wäre es besser, die ersten Sonnenstrahlen abzuwarten. Dann war die Chance grösser, dass er Dario nicht übersah und gleichzeitig konnte ihm der kleine Wicht nicht gleich wieder entwischen.
Doch einfach rumsitzen konnte der ehemalige Sklave auch nicht. Da meldete sich jedoch auch schon sein Bauch mit einem mahnenden Knurren.
Kolbakur nickte zufrieden. Er würde zuerst nach Essbarem suchen. Wenn es sein musste, würde er auch Knospen und junge Blätter verspeisen, denn sein Magen war sich rare Kost gewohnt. Obwohl Raktauren für gewöhnlich kaum Gräser und Blätter verspeisten, hatten Abel und sein Herr darauf keine Rücksicht genommen. Nun kam ihm dieser Umstand zu Gute.
Eine Stunde später hatte bereits die Dämmerung eingesetzt. Der Wald wurde lichter, denn der Raktaure hatte sich auf seiner Suche nach Beeren immer weiter an den Waldrand begeben. Kolbakur erfreute sich an der Schönheit des Waldes. Ein leichter Nebel hing zwischen den Bäumen und tauchte sie in ein schummriges Licht. Die Vögel hatten zu singen begonnen und einmal erblickte er sogar ein Reh.
Sen Bauch war nun fürs Erste ruhiggestellt und so wollte er jetzt nach Dario Ausschau halten.
„Kleiner? Wo steckst du?“, immer wieder rief er seinen Namen.
Er ging am Saum des Waldes entlang, wo er mit seiner Grösse besser zurechtkam als Mitten in dem Gewirr aus Ästen.
Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen und rieb sich die Augen. Doch die Erscheinung verschwand nicht einfach.
Etwas von ihm entfernt, auf einem einsamen Findling, hockte eine Statue. Kolbakur erkannte seinen Fehler jedoch rasch, als die steinerne Figur ein paar kleinere Flügel abspreizte, sie kritisch betrachtete, missbilligend das Gesicht verzog und sie wieder eng an den Körper anlegte. Während der Raktaure sich dem Gargoyle näherte, testete dieser gerade verschiedenste Sitzpositionen aus.
„Guten Tag!“, grüsste der mächtige Raktaure und blieb einige Meter vor dem Wesen stehen.
Der Gargoyle, in seinem Tun unterbrochen, zuckte erschrocken zusammen. Schnell hatte er sich jedoch wieder gefasst und blickte Kolbakur majestätisch an.
„Wer wagt es, sich Cologne zu nähern? Sprich Fremder!“
Kolbakur betrachtete neugierig die Erscheinung. Dieser Gargoyle sah ganz anders aus als sein Schützling. Er hatte den Körper einer etwas dünn geratenen Raubkatze. Seine Füsse waren mit langen klauenähnlichen Krallen besetzt, die ihm das Klettern ermöglichen mussten. Den Löwenschweif hatte er sich um eines der sehnigen Vorderbeine gewickelt.
Seinen Hals fand Kolbakur etwas lang bemessen, darauf thronte ein ziegenähnlicher Kopf.
Zwei kleine Flügel, die im Umfang nicht viel grösser als das Haupt sein mochten, rundeten die zusammengewürfelte Gestalt ab.
„Ich bin Kolbakur. Ich wollte dich nicht erschrecken. Das tut mir Leid. Mein Freund Dario ist verschwunden und nun suche ich nach ihm. Er ist nämlich auch ein Gargoyle wie du. Vielleicht hast du ihn ja gesehen? Er ähnelt einem Menschenkind. Bloss mit Flügeln… die sind etwas grösser als deine, wenn ich mich richtig erinnere.“
„Pah, Cologne erschrickt sich nie. Ich bin schliesslich ein gefährlicher und mächtiger Gargoyle!“
Er hörte dem Raktauren zu, als jedoch der Vergleich mit seinen Flügeln erfolgte, verzog sich seine Miene missmutig.
„Meine Schwingen sind so gut wie die jedes anderen auch!“, beleidigt wandte er sich von Kolbakur ab, indem er ihm den Rücken zukehrte.
„Ich kann dir nicht helfen, der Morgen naht und ich muss noch eine gute Sitzposition finden.“
Irritiert starrte der Raktaure ihn an. Hatte er den Gargoyle etwa beleidigt?
Während er darüber sinnierte, warum er so unhöflich abgefertigt wurde, bemerkte er, dass dies keineswegs der ursprüngliche Platz des Findlings sein konnte. Eine tiefe Furche in der Erde gefolgt von Klauenabdrücken zeigte den Pfad an, den der Stein offensichtlich hergerollt worden war.
„Du musst mächtig stark sein, wenn du den Felsbrocken alleine hierhergeschafft hast“, meinte Kolbakur ehrlich beeindruckt.
Sogleich zuckte der Ziegenkopf herum und seine Augen blitzten vor Stolz.
„Ja, ist das so? Nun… da ich Löwe und Drache in mir vereine, muss es wohl so sein!“
Kolbakur stutzte einen Moment bis er begriff, dass der lange Hals und das zugehörige Haupt mit den zwei Hörnchen, der langen Nase und den bartähnlichen Haaren an einen Drachen erinnern sollten.
Er war besonnen genug, sich einen entsprechenden Kommentar zu verkneifen. Zu seinem Glück, denn der Gargoyle schien ihm wieder wohl gesonnen zu sein.
„Ich denke, dass ich deinen kleinen Freund womöglich gesehen habe. Er schien verängstigt zu sein und hat mich einfach übersehen. Aber ich verzeihe es ihm, da er noch ein Kind ist. Er war unterwegs zu…“
In diesem Moment traf ein Lichtstrahl den Leib des Gargoyles. Eine Sekunde lang war sein Blick voller Empörung als er realisierte, dass er noch nicht in der majestätischen Position verharrte, die ihm gebührte. Dann erlosch das Leuchten seiner Augen bereits und er erstarrte zu Stein.
„Nein, sag mir wo er hin ist“, Kolbakur schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Das durfte doch nicht wahr sein…
Bitte melde dich an, um diesen Link zu sehen.