Melisande musterte Tarkan belustigt, wie er sich einfach von der Hochzeitstorte nahm. Sorglos gönnte er sich ein Stück und ließ es sich nach Herzenslust schmecken. Warum auch nicht?
Ihm hatte vorher niemand gesagt, dass man die Torten nicht anrühren durfte und Melisande fand den Umstand witzig. Zudem hatte sie nicht vor mit Tarkan wegen einem Stück Kuchen oder zwei zu streiten. Schließlich war die Torte dafür da, dass sie gegessen wurde.
„Nein ich habe nichts dagegen, dass Ihr Euch Eures Schleiers entledigt, um besser essen zu können. Fühlt Euch ganz wie Zuhause. Es ist ein Fest, bei uns herrschen schon genug Sitten, Bräuche und Zwänge, gäbe es die auch noch für den korrekten Verzehr von Kuchen, wäre das wohl etwas zu viel des Guten. Es gibt nur eine Regel, wann man bestimmte Kuchen oder Torten essen darf“, schmunzelte Melisande.
Meli hörte Tarkan aufmerksam zu. Sie mochte Tarkan auf Anhieb, er war freundlich, gut aussehend, unterhaltsam und hatte eine angenehme Stimme. Und das Beste war, er sprach mit ihr.
Er erzählte ohne Punkt und Komma und dann noch von Dingen, die sie wirklich interessierten. Optisch wie auch seelisch war er das ganze Gegenteil ihres Ehemannes Dunwin.
Tarkan war braungebrannt, gut gelaunt und freundlich. Dunwin war so weiß und blass, dass man seine Adern blau durch seine Haut schimmern sah, er war meist sehr schlecht gelaunt und das Wort freundlich kannte er nicht. Jedenfalls nicht im Zusammenhang mit ihrer Person.
Tarkan hatte dunkle Haut und helle Seele, Dunwin hatte helle Haut und eine schwarze Seele. Sie konnten nicht unterschiedlicher sein.
„Geschichtliche Dinge sind mir leider nicht bekannt, dass muss ich gestehen. Alles was ich weiß sind jene Bruchstücke die ich auf meinen Seelenreisen aufgeschnappt habe. Aber dazu gehört weder Geschichte noch Religion, ich kenne nur dass was ich wahrgenommen habe. Und dies stimmt nicht einmal mit der tatsächlichen, also stofflichen Welt überein. Die Dinge oder auch Personen haben im Nexus eine ganz andere Form. Manches gleicht sich hier und dort, manches ist nicht wiederzuerkennen.
Dich würde ich im Nexus nicht in Deiner Gestalt sehen Tarkan, sondern einfach als eine Art Lichtkugel, die in Deinen Seelenfarben strahlt. Dass ist Deine Seele, Dein ich welches ich dann erblicke.
Deshalb nein, ich weiß nichts von Geschichte. Alles was Du mir erzählst ist für mich interessant. Ich bin zwar eine alte Frau, aber ich habe vermutlich weniger Wissen als Daves Lehrmädchen“, erklärte Melisande.
Sie dachte angestrengt über die Teilung von Rakshanistan nach.
„Eigentlich wart Ihr Brüder im Geiste, aber wie so oft hat Euch die Macht korrumpiert. Nicht Dich persönlich, aber einige von Eurem Volk. Anstatt wie eine Großfamilie zusammenzuhalten, hat jeder versucht sich sein eigenes Stück Macht zu sichern, es zu vergrößern und auszubauen. Aber das ist immer der Beginn vom Verfall. Viele mögen den Spruch müde belächeln, dass man nur in der Einheit stark ist, aber so ist es doch.
Das beste Beispiel ist meine Familie, oder nimm unsere ganze Sippe. Was hätte man alles in der Gemeinschaft mit unserer Macht erreichen können? Was hätten all diese fähigen und begabten Gelehrten und Magier im festen Zusammenhalt bewirken können? Sehr viel und vermutlich sogar sehr viel Gutes Tarkan.
Stattdessen verschwenden sie seit Generationen ihre Zeit und Anstrengung darauf, als Einzelpersonen so mächtig wie möglich zu werden und zeitgleich jeden Konkurrenten klein zu halten oder gegebenenfalls auszulöschen. Wem wurde damit gedient? Der Familie und dem Familienfrieden an sich sicher nicht.
Ob die Legenden wahr sind, weiß ich nicht. Aber Du hast der Trauung beigewohnt. Unsere Sippe betet Ainuwar an und sie huldigt ihren drei Gründern. Also jenen drei Männern die mit ihrer Familie das Dreier-Bündnis unserer Sippe ins Leben gerufen haben. Jene drei Männer, die auch die Tradition des Stärksten ins Leben gerufen haben.
Dun-Haru-Mar – so lautet der Gruß unserer Sippe.
Denn einst waren es Dunwolf von Hohenfelde, Harubold von Wigberg und Marthis von Eibenberg die vor einer Ewigkeit die alte Heimat verließen und sich zusammenschlossen um den Widrigkeiten des Lebens zu trotzen.
Die Familien schlossen sich zu einer Sippe zusammen, die gegen jeden äußeren Feind fest wie ein Bollwerk zusammenstehen würde. Der härteste und wenn möglich mächtigste der jeweiligen Familie würde diese als Familienoberhaupt anführen. Die gesamte Sippe würde von den drei Familienoberhäuptern der härteste und skrupellosteste Mann anführen. Er würde für alle drei Familien sprechen.
Und so entstand die Tradition der Härte, Stärke, Gerissenheit, Hinterhältigkeit, Intrige… und und und. Jede Familie der Sippe wählte dazu ihren Weg.
Die von Hohenfelde wählten den direkten und härtesten Weg, ihr Credo wie auch ihr Mantra ist der Tod und der Mord. Gleichgültig wieviel Söhne ein Mann zeugen würde, es würde zum Schluss nur einen geben, der die Familie führen würde.
Sie sollten in Konkurrenz zueinander stehen, so dass der Beste und Brutalste überleben, die Familie führen und sein Erbe weitergeben würde. Zudem achteten sie nicht nur auf die korrekte geistige Haltung, sondern sie legten großen Wert auf die Gabe der Magie. Vor allem die Nekromantie und deren machtvolle Nutzung um sich ein Heer von Untoten schaffen zu können oder diese Form der Magie im Kampf einzusetzen.
Die von Wigberg legten Wert auf Besitz, nicht nur materieller Natur, sondern auch geistigem Besitz. Ihre Waffe ist nicht die Magie, sondern das Wissen. Sie versuchen alles über Personen und mögliche Kontrahenten herauszufinden.
Je mehr einer von ihnen über Dich weiß umso schneller kann er Dich ausschalten. Sie wählten familienintern nicht das Ableben der schwächeren Söhne, sondern diese bekamen feste Posten von ihrem Familienoberhaupt zugeteilt. Sie verhalten sich intern fast wie Bienen oder Ameisen.
Jeder hat seinen Posten, es wird für Dich nie etwas anderes geben. Eine Ausnahme befindet sich in ihren Reihen – Wolfram. Er ist sogar hier zu Gast. Er hat sich von seiner Familie und deren Verhalten losgesagt. Auch die Wigbergs lieben Magie, allerdings sind die meisten Magier aus dieser Familie keine Nekromanten, sondern Kampfmagier.
Es bleiben noch die Eibenbergs. Die von Eibenbergs lieben nichts mehr als Geld. Geld ist für sie Macht in zählbarer Form. Gleichgültig was sie bewirken wollen, mit Bestechung, Erpressung, Schmiergeldern erreichen sie was die Wigbergs durch Wissen erpressen oder die Hohenfelde durch Morddrohungen.
Die Eibenbergs fügen sich in das Sippengesamtbild, sie lieben ebenfalls die Magie. Hier findet man vorrangig Geistmagier. Sie lieben die Geistmagie vor allem die Fähigkeit der bewussten Manipulation von Personen. Ein von Eibenberg musst Du Dir als Banker vorstellen, der Dir je nach seinem Geschäftsbedarf an der richtigen Stelle ein gutes Gefühl schenkt oder ein mulmiges. Durch diese Art der subtilen Manipulation war es ihnen über Generationen möglich ein Vermögen anzuhäufen.
Gebündelt ist die Macht der Sippe sehr groß. Ist es irgendwie möglich, verheiraten sie ihre Kinder untereinander. Ab und an kommt frisches Blut in die Familie durch Außenstehende, aber dies ist selten. Brandur heiratete eine Außenstehende von einer fremden Adelsfamilie und mein Sohn Ansgar ebenso.
Sie könnten sich ebenso mit Mörder, Spitzel und Kredithai begrüßen.
Das wäre wohl der ehrlichere Gruß. Nun ich hatte nicht vor Dich mit meiner Familiengeschichte zu langweilen, aber ich habe nicht viel, was ich Dir sonst berichten kann“, erzählte Melisande.
Sie hörte Tarkan weiterhin gebannt zu.
„Nun dann wäre wohl Südrakshanistan das Land meiner Träume. Ein endloses Meer voller Sand, Wärme, Frieden, was kann man sich mehr wünschen? Traditionen müssen nichts schlechtes sein Tarkan, vor allem dann nicht, wenn sie die Menschen die mit ihnen Leben glücklich machen.
Es ist klug in Zentralrakshanistan wo die Lichtalben wüten, keine Familien anzusiedeln. Ich habe noch nie einen Lichtalben gesehen, aber ich weiß von Varmikan dass es grauenvolle und bösartige Alben sein sollen. Sie halten sich für etwas Besseres, sehen alle anderen Völker als minderwertig an und streben an die Weltherrschaft an sich zu reißen.
Ich kann mir den Unterscheid zwischen einer so heißen und kalten Welt gar nicht vorstellen. Na gut, ich habe fast mein ganzes Leben in einem Zimmer verbracht. Ich glaube ich habe die Zeltstadt schon einmal gesehen auf meinen Reisen, aber ich bin mir nicht so sicher. Es ist so verschwommen.
Ich habe auch noch nie einen Zwerg gesehen, bis auf Lydia. Varmikan sagte mir, dass Zwerge bösartige Kreaturen sind, die unterirdisch Hausen und nur ans Tageslicht kommen um unschuldige Personen zu überfallen oder in ihre Stollen zu ziehen. Dort würden sie die Leute mit ihren Äxten zerhacken, da es dort unten so wenig zu essen gibt. Und darum wären Zwerge auch so unbeliebt, da es kleine gefährliche Biester sind.
Ich hoffe für Euch, dass Ihr die Lichtalben und Zwerge aus Eurem Land vertreiben könnt. Es ist ein schönes Land, es sollte nicht mit Lichtalben und Zwergen verseucht sein“, erklärte Melisande und nahm sich ebenfalls ein Stück von der Torte, damit Tarkan nicht als alleiniger Übeltäter galt.
Als er von den rakshanischen Familien erzählte, hörte Melisande besonders aufmerksam zu. Sie konnte sich nicht vorstellen mit mehr als einem Mann verheiratet zu sein. Und der eine Ehemann, den sie ertragen musste, war schon zu viel gewesen.
Auf der anderen Seite, gab es dort vermutlich keine Männer die sich wie Dunwin aufführten, ihre Frau schlugen und misshandelten und sich aufführten, als könnten sie sich alles erlauben. Und das grausamer Weise auch noch taten. Sie vermutete, dass die Männer da ähnlich wie Tarkan waren und dass die Familien wie Freunde miteinander umgingen.
Der Gedanke gefiel Melisande. Man war als Frau dann einfach mit seinen männlichen Freunden verheiratet. Oder vielleicht sogar mit einem Mann, den man liebte und keinem den man fürchtete.
Die Vorstellung einen Ehemann zu haben, der sie beschützte, anstatt eine Gefahr darzustellen, gefiel Melisande sehr.
„Nun die Vorstellung, dass eine Frau viele Männer hat, die sie auch noch beschützen, hat ja fast etwas Romantisches. Mein Mann hätte mich vermutlich nicht einmal beschützt, wenn ich ihn dafür bezahlt hätte. Er war schlecht zu mir. Ich weiß, dass er nicht vollkommen eine schlechte Person war. Es haben auch viel seine Familie und vor allem sein Vater dazu beigetragen.
Aber er hätte einen anderen Weg wählen können. Nur weil er mich heiraten musste und nicht liebte, musste er mich doch nicht hassen oder? Ich meine ich habe ihm dies doch nicht aufgezwungen.
Größtenteils haben wir uns nicht gesehen, was gut so war. Falls wir uns gesehen haben, dann war er sehr unanständig und bösartig zu mir. Allerdings gab es auch Ausnahmen, wo er seltsamerweise umgänglich, ja fast freundlich zu mir war.
Diese Momente waren sehr selten, aber es gab sie. Ich weiß nicht warum es ihm nicht möglich war, einfach immer neutral mit mir umzugehen. Ich habe ihm nie einen Anlass gegeben mich so zu behandeln…
Ich glaube ich wäre mit einem oder zwei freundlichen, netten Männern sehr glücklich. Solange sie den ganzen Tag reden wie Du“, lachte Melisande gut gelaunt.
„Du wurdest hier herzlich empfangen da Dich meine Söhne sehr schätzen. Ich selbstverständlich ebenso. Du wärst bereit gewesen mich aufzunehmen und mir Schutz zu gewähren, obwohl Du mich gar nicht kanntest. Eine alte Frau, die nichts gelernt hat, die viele für schwachsinnig halten und dennoch hast Du mir Deine Hilfe zugesagt, ohne zu zögern.
Nun es kommt Dir nicht nur so vor, viele sind kaltherzig und unnahbar. Ich weiß nicht warum dies so ist, eine Welt voller Wärme ist auch etwas das ich anstrebe. Aber scheinbar sind wir da die Ausnahmen. Ich denke weil mit Herzlichkeit keine Gewinnsucht einhergehen kann. Die meisten denken rein egoistisch, sie denken nicht in Form einer Gruppe oder eines Volkes.
Das mache Häuser nichts weiter als steinerne Kerker sind, das kann ich Dir bestätigten. Leider ist dem so. Viele Adlige reden sich allerdings ein, dass dies kein Kerker ist, sondern ein Bollwerk um alles Übel draußen zu halten. Nicht begreifend, dass sie selbst das Übel eingekerkert haben und so bei sich behalten.
Falls Dir Deine Heimat zu langweilig wird, siehst Du einfach einen Ort weiter“, freute sich Melisande.