Beiträge von Baldur Ferin Ballivòr

    Nur eine Woche später traf Goldanil in Noldor ein, allerdings ohne Jaro. Auf Alienors Frage, setzte der Gelehrte sofort ein entschuldigendes Gesicht auf.
    „Ehrlich gesagt, meine Liebe, ist Jaro derzeit nicht in Falathri.“
    „Wie? Nicht in Falathri? Wo ist er dann?“ Alienor stemmte die Hände in die Hüften.
    „Ich habe ihn nach Almanien geschickt, um etwas für mich zu erforschen. Keine Sorge,“ fügte er eilig an und nahm die Hände hoch. „Alles ist vorbereitet worden. Er ist sicher angekommen und wird gut versorgt. Ich bin mir sicher, er wird keinerlei Probleme haben. Euer Junge ist zäher als man auf den ersten Blick sieht und die Reise wird ihm guttun. Bei mir begann er sich bereits zu langweilen.“
    „Er ist ein kleiner Junge!“
    Beschwichtigend legte Baldur seiner Frau die Hände auf die Schultern. „Eigentlich ist er das schon nicht mehr, mein Stern. Mach dir keine Sorgen. Er ist dein Sohn, den kriegt nichts so schnell klein.“
    Zwar gelang es ihm nicht, den sorgenvollen Blick aus Alienors Gesicht zu wischen, doch immerhin ließ sie sich genug beruhigen, dass sie Goldanil nicht direkt wieder davonjagte.



    „So, meine Lieben,“ begann der alte Gelehrte, nachdem sie bei Tee und Haferkeksen am Küchentisch Platz genommen hatten. „Nun würde es mich brennend interessieren, wie ihr Zugang zur Bibliothek erhalten habt – zur ganzen Bibliothek. Zeit meines Lebens ersuche ich darum und wurde immer abgewiesen.“ Goldanil tauchte einen Haferkeks in seinen Tee und sah auffordernd zwischen Baldur und Alienor hin und her. „Allerdings bin ich auch nur einer der renommiertesten Sternenforscher des Landes.“ Seine Augen blitzten amüsiert.
    Baldur seufzte. „Ich habe eine Anstellung bei Oberst Felon Tharmor Blitzsohn.“
    Überrascht zog Goldanil eine Augenbraue hoch.
    „Er wollte mich als Mittelsmann für die Zwerge und dann hat einfach eines zum anderen geführt. Es ist eine lange Geschichte.“
    „Und als Belohnung durftest du den kalten Norden gegen Noldors Prunk eintauschen und seine Bibliothek auseinander nehmen?“
    Baldur lachte. „Ja: ich stehe immer noch in seinen Diensten. Er sucht nach Mitteln und Wegen Avinar zu alter Kraft zu führen, oder zumindest wieder sattelfest gegen Angriffe aus dem Süden zu machen.“ Warum er um den heißen Brei herum redete, anstatt direkt zur Sache zu kommen, wusste Baldur selbst nicht.
    „Versteh mich nicht falsch, Baldur. In Noldor wimmelt es von Wissenschaftlern, Handwerkern und Intellektuellen, Vanyars Militärmaschinerie ist nicht weit entfernt und er wählt einen Linsenschleifer aus Calorod? Worum geht es wirklich?“
    Hilfesuchend blickte Baldur zu Alienor, die ihre Tasse mit beiden Händen umfassend auf ihrem Stuhl lümmelte. Sie zuckte bloß mit den Schultern.
    „Was immer Blitzsohn auch sucht, es liegt unterirdisch. Und wenn ich mich irgendwo auskenne, dann dort. Außerdem, das hat er zwar so nicht gesagt, glaube ich, dass er seine Aktivitäten lieber auf kleiner Flamme köcheln möchte. Noldors Koryphäen sind zu gut vernetzt und Avinars Führungsriege zu uneins.“
    Schon bei seinen ersten Worten hatte Goldanil seine Tasse abgestellt und ungläubig die Augen aufgerissen. „Nein, Baldur. Tu das nicht.“
    Es wunderte Baldur nicht, dass Goldanil sofort eins und eins zusammen zählte. „Habe ich denn eine Wahl? Der Oberst persönlich hat mich beauftragt.“
    „Und wird er dich auch decken, wenn die falschen Leute Wind davon bekommen?“
    Darauf wusste Baldur nichts zu erwidern. Tatsächlich hatte er sich diese Frage selbst schon gestellt. Blitzsohn war ein ehrenhafter Mann, doch ob er seine Position und seinen Ruf gefährden würde, um einen unbedeutenden Handwerker zu decken, war mehr als unwahrscheinlich.
    „Ich werde euch bei dieser Sache nicht helfen.“ Goldanils Stimme war fest, sein Blick war ernst.
    „Du hast dir schon einmal die Finger verbrannt, nicht wahr?“, durchbrach Alienor ihr Schweigen und Goldanils gequälter Ausdruck bestätigte ihre Worte. „Das hier stammt aus deiner Feder.“ Ohne den Blick von ihm zu lösen, schob sie den Notizzettel über den Tisch.
    „Bei Orils heiligem… woher habt ihr das?“

    Baldur erwachte erschöpfter, als er zu Bett gegangen war. Seine Träume waren wirr gewesen und mehrfach war er verschwitzt aufgewacht. „Du hast zu viele Gruselgeschichten gelesen“, murrte er sich selbst zu und schlurfte nach neben an, wo seine Frau bereits am Frühstückstisch saß.
    „Morgen“, brummte Baldur und Alienor beantwortete seinen Gruß ohne von dem Schriftstück auf ihrem Teller aufzusehen. Es roch wundervoll malzig-süß und Baldur beeilte sich, sich von dem heißen Goresthi zu nehmen, bevor er nachsah, was sie las. Schon mit dem ersten Schluck erwachten seine Lebensgeister.
    „Ist das der Text von gestern? Der in Goldanils Buch lag?“
    „Mhm.“
    „Ah. Hast du noch mehr herausgefunden?“ Er blickte sie erwartungsvoll an, doch es dauerte einen Moment bis sie aufsah und antwortete.
    „Entschuldige… ich musste einen Gedanken zu Ende führen. Es ist… schwierig. Ehrlich gesagt verstehe ich kaum etwas. Das, was ich dir gestern vorgelesen habe, ist noch das Klarste.“ Sie fuhr mit dem Zeigefinger einige Zeilen ab. Das Blatt war dicht und gleichmäßig beschrieben, was deutlich im Kontrast zu der Aufregung stand, die der Ton des Textes verriet.
    „Was, wenn ich sogar noch weiter gehe? Nicht bloß alles Leben und alles Wissen auf dieser Erde, nein, könnte es nicht sein, dass auch all die Sterne am Nachthimmel ein Teil eines Ganzen sind? Oder Teile von uns. Abbilder, Momentaufnahmen. Wenn wir noch besser verstehen sie zu lesen, werden wir dort dann unsere eigene Geschichte finden?“
    Sie blickte auf und seufzte. „So geht es über Zeilen hinweg. Und immer wieder mahnt er sich selbst, den Gedanken nicht weiter zu führen. Es ist wie die Mitschrift eines Selbstgespräches.“
    Baldur nippte von seinem Malzgetränk. „Ich weiß nicht… das könnten auch nur die Fantasien eines neugierigen Studenten sein. Ich werde Goldanil vorsichtig fragen, ob er je in solch eine Richtung geforscht hat und ansonsten sollten wir uns vielleicht eher auf die Forschungsberichte fokussieren.“
    In Alienors Gesicht lag Sorge, als sie an die gegenüberliegende Wand starrte. „Weißt du… ich bekomme mehr und mehr das Gefühl, dass wir Goldanil nicht darüber schreiben sollten. Wir könnten uns in ernsthafte Gefahr begeben.“
    Verwirrt runzelte Baldur die Stirn. „Ich verstehe nicht…“
    „Was, wenn jemand den Brief abfängt? Jemand, der gezielt nach eben solchen Hinweisen sucht?“ Hektisch durchsuchte sie die Blätter. „Hier: Schon diese Worte nieder zu schreiben, könnte mir eine Verbannung einbringen, wenn Kenntnis davon in die falschen Hände gerät. Selbst Andeutungen könnten uns oder Goldanil in Gefahr bringen.“
    Baldur nahm sich einen Moment eher er antwortete. „Aber was sollen wir sonst tun? Dies ist die heißeste Spur und Oberst Blitzsohn hat mir aufgetragen, diese Forschungen anzustellen.“
    „Dein Oberst ist nur ein kleines Licht in Avinar! Er wird uns sicher nicht helfen, wenn es hart auf hart kommt.“
    „Soll ich ihm also sagen, dass meine Suche erfolglos war? Alienor, das kann ich nicht.“
    Ein entschlossenes Grinsen breitete sich auf dem Gesicht seiner Frau aus. Baldur fand es fast ein wenig beängstigend.
    „Sollst du nicht. Wenn wir Goldanil nicht per Brief fragen können, müssen wir es eben persönlich tun.“
    Erneut verzog Baldur fragend das Gesicht. „Aber wie? Er ist meilenweit entfernt und wir können hier nicht weg.“
    Nun lachte Alienor. „Wir laden ihn hierher ein, du Tölpel!“

    Baldur streckte sich mit verzerrtem Gesicht. Wie lange saß er wohl schon an dem Lesetisch in Noldors Bibliothek? Das Tageslicht war längst entschwunden und selbst die Glimmsteine, die überall drapiert waren, verloren bereits an Helligkeit. Die eingesogene Energie der Sonnenstrahlen war fast aufgebraucht. Nach und nach entzündeten die Bibliothekare Feuerschalen und gaben Pulver hinein, um die Flammen weiß einzufärben und ein angenehmeres Licht zum Lesen zu schaffen.
    Zum wiederholten Male überflog Baldur die Berichte über die Forschergruppe der schwarzen Krake. Nicht er, sondern Alienor hatte sie gefunden. Überhaupt hatte sich die Anwesenheit seiner Frau in Noldor als Gold wert erwiesen. Zwar konnte Baldur lesen und schreiben, doch er kam langsam voran, denn richtig gelehrt hatte man es ihm nie. Dementsprechend empfand er auch keine große Freude dabei und war überaus erstaunt gewesen, als Alienors Augen sich freudig erregt geweitet hatten, als er mit der Zugangserlaubnis zu Noldors Bibliothek nach Hause gekommen war.
    „Du hast uneingeschränkten Zugang, Baldur! Uneingeschränkt!“ Erwartungsvoll hatte sie ihn angestarrt, mit vor Begeisterung geröteten Wangen. „Weißt du denn nicht, was das für ein Privileg ist? Nirgends in ganz Avinar gibt es einen reichen Schatz an Schriften wie hier, ja vielleicht auf der ganzen Welt nicht!“
    Baldur hatte sie nur liebevoll angeblickt und geschmunzelt.
    „Ach Schatz! Ich würde alles dafür geben, mich dort umsehen zu können! Du könntest ruhig ein wenig mehr Begeisterung zeigen.“
    „Du wirst diese Gelegenheit bekommen.“ Das Schmunzeln hatte sich in ein Grinsen verbreitert. „Ich würde mich freuen, wenn du mich begleitest.“
    Alienor, die sich zuvor in Rage geredet hatte, hatte ein wenig gebraucht, um das Gesagte zu verarbeiten und Baldur verwirrt angestarrt.
    „Ohne dich brauche ich ja Monate, um überhaupt etwas zu finden! Du liest viel besser als ich“, hatte er derweil angefügt und natürlich hatte Alienor es sich nicht zwei Mal sagen lassen und ihn am nächsten Morgen deutlich früher als gewöhnlich geweckt.


    Baldur seufzte. Mittlerweile glaubte er, das Abenteuer des Expeditionsteams beinahe auswendig zu kennen und doch suchte er weiter nach verborgenen Hinweisen, wo er seine Suche am besten beginnen und wen er aufsuchen sollte. Er war äußerst überrascht, wie detailreich die hiesigen Aufzeichnungen waren, wo doch kein Lichtalb Teil der Expedition gewesen war. Oder doch? Mehrfach stolperte er über Passagen, die ungereimt wirkten, ganz so, als sei ein Teilnehmer der Expedition willentlich ausradiert worden. War alleine die Tatsache, dass es diese Aufzeichnungen in Noldor gab, Indiz genug, um auf lichtalbische Beteiligung zu schließen? Baldur wusste es nicht. Gleichzeitig war ihm klar, dass dies nur eines von vielen fehlenden Puzzlestücken war. Er rieb seine Schläfen. Im Leseraum wurde es zusehends leerer. Am liebsten wäre auch Baldur nach Hause gegangen. Sein Magen knurrte, sein Mund war ausgetrocknet und Rücken und Glieder schmerzten vom langen Sitzen in gebeugter Haltung. Alienor tummelte sich hingegen noch in den endlosen Regalreihen und suchte nach mehr. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Recherche zu übernehmen, während Baldur ihre Fundstücke durcharbeitete. Bevor sie das Tagespensum nicht für voll erklärte, würden sie nirgendwo hingehen.


    Erneut senkte er den Blick auf die feinsäuberlichen Zeilen. Mehrere Personen wurden namentlich erwähnt und Baldur war überrascht, dass er einem davon schon begegnet war: Nox, der Chaosharpyier war Teil der Expedition gewesen. Ihn aufzusuchen war naheliegend. Doch war es auch erfolgsversprechend? Neben den anderen eindeutig benannten Teilnehmern sah Nox recht alt aus. Der Düsterling kannte sich mit Sicherheit am besten aus. Die Unterwelt war sein Revier. Doch war er auch vertrauenswürdig? Und würde er Baldur helfen? Überhaupt: ihn zu finden war an und für sich schon reine Glückssache. Der dritte im Bunde war ein Tiefling. Ebenfalls kein Volk, mit dem die Lichtalben ein freundschaftliches Verhältnis pflegten. Immerhin war er ein Geistmagier, wenn die Aufzeichnungen richtig lagen. Konnte Blitzsohn bei vollkommen Fremden eine Verbindung herstellen? Wieder seufzte Baldur. Zu gerne hätte er mit dem Oberst darüber debattiert, dessen Meinung erfahren, doch er wagte nicht, den Magier aufzusuchen. Mit Sicherheit hatte er genug um die Ohren und wollte nicht von kindischen Fragen belästigt werden. Wie jedes Mal vertagte Baldur die Entscheidung und widmete das letzte Bisschen seiner Konzentration der Expedition selbst. Recht schnell war ihm klar gewesen, dass diese Reise alles andere als eine harmlose Forschungsexpedition unter die Erde werden würde. Seine Erfahrung unter Tage und im Umgang mit den Zwergen würden ihm wohl weit weniger helfen als erhofft. Eine Truppe Krieger an seiner Seite weit mehr und darum würde er Blitzsohn auf jeden Fall bitten müssen. Die Schwarze Krake war weiter hinab gedrungen, als Baldur sich auch nur vorstellen konnte und immer wieder blieb sein Blick an ihrem Expeditionsleiter hängen. Mummenschanz… Die Informationen über den Mann ließen zu wünschen übrig, aber ein Gefühl sagte Baldur, dass das weniger an der Qualität des Berichts, sondern viel mehr an der Persönlichkeit des Mannes selber lag. Das Herz Tasmerons… Der Begriff schwebte über all den anderen Wörtern, doch Information, was sich dahinter verbarg, blieb der Text schuldig. Gedankenverloren strich Baldur seinen Notizzettel glatt. Viel stand dort noch nicht.


    Viele Artefaktbeschreibungen, Vieles wahrscheinlich aus Sagen.
    Expedition Schwarze Krake: Ruine in Evalon, Teilnehmer: Nox (Chaosharpyier), Firxas (Tiefling), Terc (Düsterling), Mummenschanz (mysteriöser Expeditionsleiter), weitere Mitglieder nicht explizit genannt
    Was wissen die Zwerge? -> Lurkin Linsenformer aufsuchen?
    Blitzsohn: Truppe Krieger, Greifenreiter?, was erhofft er zu finden?
    Gab es lichtalbische Expeditionen?


    „Baldur?“
    Müde hob er den Kopf. „Hm?“
    „Ich glaube ich habe etwas gefunden.“ Langsam kam Alienor auf ihn zu, den Blick auf einen Stapel Blätter gerichtet. Viele der alten Schriften waren in dieser Form vorhanden. Gebundene Bücher waren nicht die Regel.
    „Es ist heute schwer zu sagen, ob wir es früher wussten, ob es überhaupt jemand tat“, las sie vor. „Doch alle Anzeichen, die ich finden kann, alle Schriften, die ich mühevoll entzifferte, alles deutet darauf hin, dass sie eins sind. Natur, Magie und Technologie sind eins, bedingen und kontrollieren einander in blindem Selbstverständnis. Kaum auszumalen, was der, der darüber gebietet auszurichten vermag. Wobei ich glaube, dass es diesen Jemand nicht geben kann. Mir scheint, das Zentrum aller Dinge ist ein eigenständiges Wesen, dessen Existenz weit über dem liegt, was unser albisches Gehirn sich vorstellen kann. Allerdings kann man es sich möglicherweise zu Nutze machen, auch wenn ich nicht weiß wie und bezweifle, dass wir es je wussten – oder wissen dürfen. Schon diese Worte nieder zu schreiben, könnte mir eine Verbannung einbringen, wenn Kenntnis davon in die falschen Hände gerät.“
    Ernst sah sie auf und wartete auf Baldurs Reaktion. Sein Kopf rauschte. Der Tag war zu lang gewesen, er konnte nicht denken.
    „Das passt doch zu dem, was in den Expeditionsberichten stand, oder nicht? Was, wenn das das Herz Tasmerons ist?“ Ihre Augen funkelten.
    „Wo hast du das gefunden?“
    Alienor lachte leise. „Das glaubst du mir nicht… es fiel einfach aus einem Buch heraus, einer unbedeutenden Enzyklopädie der Astronomie, die ich eigentlich nur heraus genommen habe, weil Goldanil der Autor ist.“
    Baldur horchte auf. „Denkst du…?“
    Alienor schüttelte den Kopf. „Jeder kann es dort hinein gesteckt haben.“
    „Hm…“ Es sähe Goldanil ähnlich, selbst schon Forschungen betrieben zu haben. Wenn er doch nur hier in Noldor wäre! Wie viele Tage mochten wohl noch bleiben, bis Oberst Blitzsohn Baldur zum Aufbruch bewegte?
    „Ich werde ihm schreiben“, sagte er bestimmt. „Wenn er etwas mit diesen Aufzeichnungen zu tun hat, kann er mir vielleicht bei der Entscheidung helfen. Steht dort noch mehr?“
    „Ja. Die Aufzeichnungen ziehen sich über ein paar Seiten, doch vieles davon erscheint mir wirr. Wir müssen es in Ruhe durchsehen.“
    Baldur streckte ihr die Hand entgegen, doch anstelle das Papier auszuhändigen, strich Alienor ihm über den Kopf. „Das kann bis morgen warten. Du siehst furchtbar aus! Lass uns für heute Schluss machen.“
    Obwohl Baldur wusste, wie dringend er weiter kommen musste, hätte er schwören können, noch nie schönere Worte gehört zu haben.

    Der Heimweg war merkwürdig. Obwohl es nach Hause ging, wollte sich kein freudiges Gefühl einstellen. Der Weg war lang und anstrengend und die Stimmung unter den Alben geteilt. Sie hatten das schrecklich verwüstete Schlachtfeld vor Dunkelbruch gesehen, sie hatten sich vorbereitet, körperlich wie mental und dann waren sie unverrichteter Dinge wieder abgezogen. So fühlte es sich zumindest für viele der Krieger an, wie Baldur aus ihren Gesprächen deutete. Einmal, als er unmittelbar neben zwei jungen Alben gegangen war, hatte er sich schließlich in deren Unterhaltung eingemischt. „Entschuldigt“, hatte er höflich begonnen, „doch findet ihr nicht, dass es viel Gutes an unserem Einsatz gibt? Wir haben dazu beigetragen, dass es Frieden gibt. Und wir sind alle noch am Leben, das allein ist doch das größte Geschenk.“ Als Antwort hatte er abschätzige Blicke geerntet. „Solange nur ein einziger Rakshaner lebt, kann es keinen Frieden geben!“, knurrte der größere der beiden. „Wir hätten sie vernichten sollen, als wir die Chance dazu hatten.“ Die Knöchel des Mannes traten weiß hervor, als er seinen Speer fester packte. „Doch sind es auch nur Lebewesen aus Fleisch und Blut, die der Schlacht überdrüssig waren. Ihr habt doch mit ihnen gespeist…“, versuchte Baldur es erneut, woraufhin der zweite Soldat ausspuckte. „Nein. Das habe ich ganz sicher nicht und jeder, der es tat, sollte sich was schämen.“ Baldur gab auf. Er hoffte nur, dass nicht allzu viele die Meinung dieser beiden teilten. In einem ruhigen Moment sprach er Blitzsohn darauf an, ohne die Namen der Männer preiszugeben. „Natürlich weiß ich, dass viele so denken“, entgegnete der Oberst. „Denkt Ihr, ich habe das alles nicht gründlich abgewogen? Trotzdem bin ich froh, so gehandelt zu haben. Lieber habe ich ein paar mürrische Krieger in meinen Reihen als ein verwüstetes Land, Tod und Leid zum Empfang. Die einzige Meinung die zählt, ist die des Regenten. Wenn er mich ebenfalls gestraft sehen will, so werde ich abdanken. Alles andere interessiert mich nicht und wer sich beschweren will, der soll kommen und es mir ins Gesicht sagen.“ Dass sich dies keiner traute, wussten sie beide.


    Tage wurden zu Wochen und es wurde zusehends kälter. Bald schneite es und ein zugiger Wind blies durch die Ebenen. Zermürbung machte sich langsam aber sicher breit und Baldur hoffte, sie würden bald ankommen. An einem klaren Morgen durchbrach schließlich das Eintreffen eines Lichtreiters die Monotonie. Eine ganze Weile sprach er mit Oberst Blitzsohn, während unter den Kriegern die wildesten Spekulationen die Runde machten. Nervosität nahm Baldur in Beschlag. Was war an Avinars Grenze geschehen? Hatte der Bote des Chaos‘ seine Leute noch früh genug erreicht? Am liebsten wäre er sofort zu Blitzsohn geeilt, nachdem der Lichtreiter wieder abgehoben hatte, doch er wagte es nicht. So musste er sich mit den anderen gedulden, bis der Oberst seine Kommandanten und Gefreiten losschickte, die Neuigkeiten zu verbreiten. Erleichterung rollte durch die Reihen der sonst so gesetzten Alben. Baldur sah, wie sich einige in den Armen lagen, wie gejubelt wurde und an mancher Stelle gar geweint. Oril sei Dank. Der Tarrik hatte Wort gehalten. Avinar war vorerst sicher… Nach Ankunft dieser Neuigkeit war auch die Stimmung insgesamt besser. Mittlerweile waren die Kandoren am Horizont erkennbar und ein jeder sehnte sich danach, Familie und Freunde zu sehen und endlich heimzukehren. Sie nahmen wieder den Weg über die Nordküste und Baldur wagte zu hoffen, gleich in Calorod bleiben zu können. Er sah das kleine Haus vor dem inneren Auge, den Gemüsegarten und das warme Gesicht seiner geliebten Frau. Diese Hoffnung wurde ihm jedoch schon am nächsten Tag zerstört.


    „Sobald wir innerhalb Avinars Grenzen sind, werden wir nach Nord-Westen ziehen“, sagte Blitzsohn in einer Sitzung mit den Kommandanten, zu der auch Baldur geladen war. „Ich werde Euch und Eure Leute auf die Grenzwachten aufteilen und mit meiner Truppe nach Noldor gehen. Der große Rat muss einberufen werden. Ich muss mit General Sonnensturm und den Priestern sprechen.“ Nachdem alle Aufträge verteilt waren, glitt sein ernster Blick zu Baldur. „Ihr kommt mit mir Baldur. Ich biete Euch eine neue Anstellung.“ Es klang nicht so, als hätte Baldur eine Wahl.
    Die Reise war also noch lange nicht zu Ende. Immerhin konnte Baldur einen Besuch zu Hause heraushandeln, während das Heer am Fuße der Kandoren ein Nachtlager aufschlug. Am Gartentor zögerte er kurz. Er sah Alienor in der erleuchteten Küche stehen, Teig knetend, ganz so, als wäre er nie weg gewesen. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt, doch er brauchte ihr Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie traurig und voll Sorge war. Wochenlang war sie nun schon alleine, ohne den blassesten Schimmer, ob er noch am Leben war. Hoffentlich hatte wenigstens Jaro gelegentlich ein kleines Zeichen von sich nach Hause geschickt oder vielleicht hatte sie den Jungen gar in Falathri besuchen können. Langsam und leise ging Baldur weiter. Er wollte sie nicht erschrecken. Sachte öffnete er die Haustüre. „Alienor? Liebling, ich bin es, Baldur“, rief er und hörte augenblicklich schnelles Fußgetrappel. Rutschend kam seine Frau am Ende des Ganges zum Stehen und einen Moment lang starrte sie ihn einfach an. Ihre Brust hob und senkte sich heftig, der Teigstößel fiel ihr klappernd aus der Hand. Mit ausgebreiteten Armen machte Baldur ein paar Schritte auf sie zu, dann schien sie wieder Herrin ihrer Sinne zu werden und stürmte ihm in die Arme. „Oh Oril sei Dank!“, schluchzte sie. „Ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen.“ Baldur strich ihr sanft über den Kopf. „Sch…“, tröstete er sie. „Mir geht es gut, meine Sonne.“
    „Oh Baldur… ich habe dich so vermisst; euch beide. Das Haus kam mir so riesig vor ohne euch. Niemand, der mich nach dem Abendessen fragt, niemand, der seine Schuhe an der Türe nicht abklopft, niemand der sein Bett ungemacht zurück lässt…“ Baldur presste ihr in ihrem Redeschwall einen Kuss auf die Stirn. „Ich habe dich auch vermisst. Hast du etwas von Jaro gehört? Wie geht es ihm?“
    „Er schickt mir dann und wann eine Karte oder einen Brief. Mittlerweile kann er schon recht gut schreiben, ist das nicht schön? Die Lehre bei Goldanil scheint ihm sehr zu gefallen und wie es aussieht, ist er bei unserem alten Freund sicher.“
    „Das freut mich. Jaro ist ein kluger Junge, das wussten wir schon immer, nicht wahr?“ Sie lächelten sich an und Baldur folgte seiner Frau in die Küche. Das Wissen um die Neuigkeiten seinerseits trübte seine Freude zusehends. Er musste Alienor sagen, dass er nicht lange bleiben würde, doch noch brachte er es nicht über das Herz. Freudig plaudernd machte die hübsche Albe sich wieder an die Arbeit. Sie berichtete Baldur von den überschaubaren Geschehnissen in Calorod, von der Ernte, von den Wintervorräten und von Gestaltungsideen, die sie für den Frühling hatte. Zuneigung flutete warm durch Baldurs Adern. Er trat nahe an sie heran und legte seine Arme von hinten um ihren schlanken Körper. „Ich liebe dich“, raunte er und ein paar Atemzüge standen sie einfach so da und genossen die Nähe des anderen. „Du musst wieder gehen“, sagte Alienor dann unvermittelt. Baldur nickte und verstärkte seine Umarmung „Ich wusste es“, fuhr sie fort, ihre Stimme hart. „Ich wusste es und habe Vorkehrungen getroffen. Dieses Mal komme ich mit.“ Erstaunt ließ Baldur die Arme sinken. „Egal, was du sagst, meine Entscheidung steht! Du lässt mich nicht noch einmal alleine zurück, mit der Befürchtung, dass du vielleicht nie wieder kommst! Wohin geht es?“
    „Nach Noldor“, sagte Baldur sanft und dreht sie zu sich herum. Er hätte auf sie einreden sollen, dass sie bleiben musste, dass seine Befehlshaber es nicht erlauben würden, dass das kein Ort für sie war. Aber er konnte nicht. Er kannte sie zu gut. Würde Blitzsohn sie abweisen, würde sie alleine hinterher reisen. Sie hatte ihren Entschluss bereits gefasst und nichts würde sie davon abbringen. Also sagte Baldur einfach nichts, sondern küsste sie voller Liebe auf den Mund, zog sie an sich und hob sie schließlich hoch, um sie ins Schlafzimmer zu tragen.


    Noldor war atemberaubend. Baldur und Alienor, die Falathri für groß und prächtig gehalten hatten, wussten gar nicht, so sie zuerst hinschauen sollten. Es gab Gebäude, die größer als ganz Calorod waren, Glasfassaden die die Naturgesetze ad absurdum zu führen schienen, Springbrunnen, so groß, dass sie zu dieser Jahreszeit zu glitzernden Eisflächen umfunktioniert wurden und Parkanlagen, die durch den Schnee in den Baumgerippen wirkten wie eine Märchenlandschaft. Am liebsten mochten die beiden die breite Promenade an der hoch gelegenen Steilküste. Die Steinfliesen waren glatt gewetzt von Wind und Wetter und dem Getrappel unzähliger Füße und überall gab es Bänke, auf denen man den Sonnenuntergang über dem Eismeer betrachten konnte. Meer und Stadt färbten sich rötlich ein und trotz der kalten Luft blieben Baldur und Alienor häufig sitzen, bis der Feuerball ganz in den kalten Wogen versunken war. Es war, als wären sie wieder siebzehn und frisch verliebt, sie den Kopf auf seiner Schulter und er den Arm um sie, kaum gewahr, welchen Schatz er in den Händen hielt.


    Tagsüber hatte Baldur meist frei. Er hatte gedacht, Blitzsohn würde ihn zu den meisten Sitzungen mitnehmen, ihn verschiedenen Leuten vorstellen oder auf sein Fachwissen im Bezug auf die Zwerge zurückgreifen, doch er hatte sich getäuscht. Seit dem Ankunftstag hatte Baldur den Magier nicht mehr gesehen, zuletzt auf dem Platz vor dem Ratsgebäude. Es lag in Noldors Zentrum und war das größte und prächtigste von allen. Das gesamte Erdgeschoß wurde von Säulengängen getragen und die Meißelungen in der Decke erzählten die Geschichte von Oril bis zur Gefangennahme Rakshors und der Zwangsvereinigung mit Malgorion. Darüber folgten mehrere Stockwerke die allesamt von einer gewaltigen gläsernen Kuppel in der Mitte überragt wurden, unter der sich, wie Baldur wusste, der Tagungssaal befand. Wann immer er daran vorbei kam, fragte Baldur sich, wann er zu einem der Treffen einberufen wurde. Gerne hätte er den Komplex von innen begutachtet. Sein Wiedersehen mit Oberst Blitzsohn kam aber ganz anders und unerwartet. Eines Tages stand der Magier urplötzlich vor seine Türe. Alienor lag noch im Bett und Baldur hatte gerade begonnen Frühstück zu machen. „Guten Morgen. Darf ich rein kommen?“, sagte der Oberst und trat im selben Moment in die kleine Wohnung, die er ihnen beschafft hatte. „Natürlich“, antwortete Baldur unnötigerweise. „Möchten Sie Tee?“ Blitzsohn winkte ab. „Ich bleibe nicht lange.“ Mit verschränkten Händen war er vor einem der großen Fenster stehen geblieben und blickte hinaus. „Wir haben gestern Euren Auftrag diskutiert. Ihr werden weiterhin Kontakt zu den Zwergen pflegen und mir umgehend alles berichten.“ Baldur setzte zu einer Frage an, doch Blitzsohn kam ihm zuvor, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Ein Lichtreiter wird Euch regelmäßig Besuch abstatten und die Botschaften entgegen nehmen. Darüber hinaus erhaltet Ihr aber noch eine viel wichtigere Aufgabe.“ Ohne seine Körperhaltung zu ändern, drehte Blitzsohn sich zu Baldur um und sah ihm ernst in die Augen. „Ihr wisst, dass unser Volk einst über Wissen verfügte, dass unser aller Vorstellungskraft überschreitet.“ Baldur nickte. „Nun. Viele Gelehrten forschen seit Jahren daran und es gab durchaus schon Erfolge. Doch nun haben ein paar Forscher aus Noldor eine neue Spur entdeckt, eine vielversprechende Spur.“ Mit gesenktem Blick begann er auf und ab zu gehen. „Die Erkenntnis traf sie, als sie gewissermaßen in einer Sackgasse feststeckten. Der einzige Grund, warum wir nicht weiter kommen, warum Oril uns nicht erleuchtet, ist, dass der Zugang zu all dem kostbaren Wissen, vor seinem Licht verborgen ist.“ Blitzsohn blieb stehen und sah Baldur direkt an. „Es liegt unterirdisch“, schloss er.

    Thalon Midir Silberleuchten


    Sein ursprüngliches Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Was da auf sie zukam, glich einer Naturgewalt. Die Luft dröhnte in ohrenbetäubendem Lärm und der Himmel verdunkelte sich durch das aufgeworfene Erdreich. Thalon sah, wie viele seiner Kameraden die Zähne fletschten, als die ersten Bäume herausgerissen wurden und auch er selbst verspürte einen Stich, wenngleich er wusste, dass dies nur eine Kostprobe dessen war, was sie mit den bewohnten Teilen Südavinars anzustellen gedachten. Seine Entschlossenheit verfestigte sich. Silberschert hob seine Waffe nach oben und unzählige Pfeile glitten auf die Sehnen, darunter auch Thalons. Einige Männer knieten nieder und richteten ihre Geschosse gen Himmel, um sich der viel schwieriger zu treffenden Ziele in der Luft anzunehmen. So verharrten sie. Regunglos. Die Anspannung eines jeden manifestierte sich in den gespannten Bögen und Thalon hatte kurz das Gefühl losgelöst von allem zu sein. Es war so laut, dass einzelne Geräusche kaum mehr zu hören waren und er sich ebenso in absoluter Stille hätte befinden können. Eine unwirkliche Ruhe erfüllte ihn. Wenn er heute sterben sollte, dann würde er es hohen Hauptes tun.


    Dann geschah etwas Unerwartetes. Die Soldaten zu beiden Seiten Thalons regten sich und blickten sich fragend um, beinahe wäre hie und da sogar Gemurmel ausgebrochen, doch Silberschwerts strenger Blick erstickte es im Keim. Ein dunkler Harpyier war in der Angriffszone gelandet und er trug eine weiße Fahne. Was hatte das zu bedeuten? "Haltung bewahren!", rief der Gefreite und blickte wie all seine Gefolgsleute zu dem Neuankömmling und dem Hyänenreiter, der auf ihn zukam. Nach dem Krach von zuvor, war die Stille nun fast unangenehm. Es dauerte einige Augenblicke. Thalons Arme wurden langsam schwer, doch er hielt eisern Pfeil und Bogen hoch, bereit zum Schuss. Dazu kam es jedoch nicht. Das Heer des Chaos' drehte ab. Langsam vollführte Silberschwerte eine Geste nach unten und alle Krieger ließen ihre Bögen sinken. Dieses Mal war vereinzeltes Gemurmel nicht zu unterbinden. Was bei Oril hatte der Bote da gebracht? Es schien, als herrsche in den verfeindeten Reihen ebensolche Verwirrung und Überraschung, wie in den ihren. "Rührt euch nicht", sagte Silberschwert und marschierte davon, um gemeinsam mit den anderen Truppenführern, den Boten in Empfang zu nehmen.
    Nun, da sich das gegenerische Heer langsam entfernte und die Luft sich klärte, war das Ausmaß der Zerstörung deutlicher zu erkennen. Es glich einem Geschenk Orils, dass die Walze kurz vor Avinar stehen geblieben war. Thalon grübelte im Stillen über die Gründe nach und seine Gedanken schwenkten zu dem ausmarschierten Heer unter Oberst Blitzsohn. Zögerlich keimte ein Hoffnungsschimmer in ihm auf. Vielleicht waren seine Freunde noch am Leben. Noch musste er sich gedulden, um Gewissheit zu erlangen. Gefreiter Silberschwert kam nur mit der Information zurück, dass der Angriff aufgrund von Friedensverhandlungen an der Feste Dunkelbruch abgebrochen worden war und sie sich nun zurückziehen sollten und ein jeder wieder seine gewohnte Stellung einzunehmen hatte. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Thalon hatte sich mit dem Gedanken ins Reine gebracht, heute sein Leben für Oril und Avinar zu lassen und es fühlte sich beinahe falsch an, wieder dem normalen Alltag nachzugehen. Gleichzeitig war es, als sei er neu geboren, hätte ein weiteres Leben auf dieser Erde geschenkt bekommen, dass er jederzeit wieder für Land und Leute geben würde, das spürte Thalon genau.

    Thalon Midir Silberleuchten


    Thalon hetzte durchs Unterholz. Einmal stürzte er sogar, doch er rappelte sich gleich wieder hoch, ignorierte das verletzte Knie und die zerrissene Hose und hastete weiter. Dabei wusste er noch nicht einmal, warum er sich so sehr beeilte. Lange konnten die Signalfeuer noch nicht brennen und die Augen sahen weit. Es würde noch dauern, bis das, wovor gewarnt wurde, in albische Sichtweite kam. Es war viel mehr ein ungutes Gefühl tief in ihm, das ihn anspornte. Irgendwie spürte er, dass etwas Großes auf sie zurollte und dass es keine Zeit zu verlieren gab.


    Als Thalon außer Atem an seiner Wacht ankam, herrschte dort - für albische Verhältnisse - das blanke Chaos. Waffen und Schilder wurden herum gereicht oder auf Wägen geladen, Truppen marschierten kreuz und quer durcheinander, Transportkarren kamen und gingen. Eilig bahnte der Alb sich einen Weg zwischen zwei Mannschaften hindurch, bis er endlich einen seiner direkten Kameraden fand. "Was ist los?", flüsterte er drängend. "Weiß man schon mehr?"
    "Es ist nicht viel zu uns durchgedrungen", entgegnete Lingar, während er Speere prüfte und auf einen Wagen legte. "Doch es gibt Gerüchte, dass ganz Nordrakshanistan auf unsere Tore zurollt." Thalon sog hörbar die Luft ein. "Ständig kommt Nachricht aus dem nächstgelegenen Auge, doch der Gefreite erlaubt keine Fragen", fuhr Lingar fort. "Am besten, du suchst dir auch eine Arbeit, wenn du später nicht als Köder verwendet werden willst." Thalon nickte grimmig und half seinem Freund mit den Speeren. "Es wurden Boten ins Hinterland geschickt und sogar nach Vanyar, glaube ich." "Vanyar...", seufzte Thalon. "Die werden nicht rechtzeitig zurück sein, oder?" Gemeinsam setzten sie den Wagen in Bewegung und schoben ihn in Richtung Norden. "Wer weiß das schon? Vielleicht für die zweite Linie oder die dritte..." Er sah Thalon traurig aber entschlossen in die Augen. "Wir werden die erste Linie sein", schloss dieser.


    Alb an Alb standen sie regungslos und warteten. Keiner gab einen Laut von sich. Dafür waren sie ausgebildet worden. Es war ihre Aufgabe, ihr Land und ihre Leute zu schützen, indem sie die Grenze hielten, notfalls mit ihrem Leben. Die Schwere der Rüstung beruhigte Thalon. Ebenso das weiche Holz des Langbogens in seiner Hand und das Rascheln des lauen Windes in den Federn seiner Pfeile. Noch immer konnten sie nichts sehen. Die Anspannung war greifbar, auch wenn sie keinem die Entschlossenheit nahm. Zumindest hoffte Thalon dies. Es gab viele unerfahrene Männer und Frauen in ihren Reihen und er wusste, wie zermürbend es war, wenn man auf etwas wartete, das einfach nicht eintreffen wollte. Der Horizont aber blieb gnadenlos leer.
    Um seinen Nacken zu entspannen, senkte Thalon den Kopf und blickte nach unten. Junge Grashalme stemmten sich aus der trockenen Erde und bebten im Wind. Der Alb hielt inne. Es gab keinen Wind. Und doch zitterten die kleinen Gewächse rhythmisch. Thalon schloss die Augen und atmete tief durch. Ein dumpfes Pochen lag in der Erde... das Pochen von tausenden Füßen. Der Feind war fast da.


    Gefreiter Silberschwert schritt vor seinen Kriegern auf und ab. Im Hintergrund stob eine riesige Staubwolke auf, die aussah, wie ein Gebirgszug. Nicht mehr lange, bis zum großen Knall.
    "Oril hat euch auserwählt sein Land, sein Volk und seine Werte zu verteidigen", sprach der Anführer mit fester Stimme. "Ihr seid die Frauen und Männer, denen die Ehre zu Teil wird, ihm zu beweisen, dass ihr dessen würdig seid. Dass ihr es wert seid, euch mit der Farbe seines heiligen Blutes zu schmücken, dass ihr Töchter und Söhne des Lichts seid!" Er blieb mit verschränkten Händen in der Mitte seiner Truppe stehen. "Darum sage ich: zeigt keine Furcht, kein Erbarmen, keine Gnade und kein Zögern, denn auch der Feind wird dies nicht tun. Was auch auf uns zukommen mag, wir werden unsere Heimat verteidigen, bis zum letzten Mann und bis zur letzten Frau. Niemals soll Avinar in die Hände der Tugendlosen fallen, der Freunde von Dunkelheit und Sünde. Für Oril und für Avinar, ersuche ich euch: Haltet Stand!" Der Gefreite hatte sein langes, über und über mit filigranen Linien verziertes Schwert gezogen und hielt es weit über den Kopf, während seine Leute simultan ihre Haltung änderten, um ihm ihre Entschlossenheit zu zeigen. Daran mangelte es sicher nicht, dachte Thalon. Doch nun, da er langsam erahnen konnte, was dort auf sie zurollte, fragte er sich, wie weit diese Entschlossenheit sie bringen würde.

    Baldur spürte, wie ihm das Blut heiß in die Ohren stieg, als er den direkten Blick des Tarriks auf sich zog. Schnell blickte er seinen Oberst an, der knapp nickte . Dankbar dafür, etwas zu tun zu haben, machte er sich an die Abschriften. Bei Oril! Er war ein Handwerker! Diese Leute waren ein ganz anderes Kaliber.


    Blitzsohn setzte unterdessen seine Unterschrift auf das erste Pergament und schließlich auch auf die Abschriften, die nach einander über den Tisch gereicht wurden.


    Dunkelbruch – 21.01.203 n.d.A.


    Die Herren Tarrik Tarkan Ali al-Kuwari, Anführer der Zebras und Eroberer von Dunkelbruch, Barlok Eisenhand, hoher General der Zwerge und Oberst Felon Tharmor Blitzsohn, ranghoher Befehlshaber der lichtalbischen Streitkräfte in der Ordnung und rechte Hand des großen Generals Sonnensturm, besiegeln gemeinsam und mit sofortiger Wirkung das Ende des Krieges um die Festung Dunkelbruch.


    Die hohen Herren verpflichten sich dabei wie folgt.


    Oberst Felon Tharmor Blitzsohn wird sein Heer friedlich abziehen und weder die Bestattung der Toten, noch die Übergabe des Feste Dunkelbruch in irgendeiner Form beeinträchtigen. Er wird weiter die Heere Kaishos zum friedlichen Abzug bewegen und sich aus allen Fragen bezüglich der Annektierung der hohen Mark heraushalten.


    Tarrik Tarkan wird umgehend und im Beisein des Oberst Blitzsohn einen Boten in den Norden schicken und das Nordgeschwader sowie alle Bemühungen zum Angriff auf Avinar unterbinden. Alle Ereignisse bis zum Eintreffen des Boten liegen außerhalb der Gültigkeit dieser Unterzeichnung, jedoch wird dessen direkte und sachgemäße Zustellung überwacht.
    Weiterhin wird Tarrik Tarkan alle Zwerge unversehrt freilassen und die Festung mit seinen Truppen räumen, um den Zwergen die Bestattung ihrer Toten zu gewähren.


    General Eisenhand wird sich, nachdem den Gefallen Respekt gezollt wurde, mit seinen Gefolgsleuten nach Niwar zurückziehen, den Zugang zum unterirdischen Reich von innen versiegeln und die Festung verwaist und ohne neue Schäden zurücklassen, sodass Tarrik Tarkan mit seinen Kriegern widerstandslos in die Feste einziehen und sie für sich beanspruchen kann.


    Dieser Pakt ist bindend. Zuwiderhandlung wird fortan als kriegerischer Akt gehandelt und entsprechend gestraft.


    Gezeichnet…
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    Oberst Felon Tharmor Blitzsohn

    Blitzsohn gab den Blick weiter an Baldur und nickte in Richtung des Karrens, der zuvor hinunter gebracht worden war. Eilig fischte Baldur ein Pergament, Tinte und Feder hinaus und brachte es an den provisorischen Tisch. Er wollte alles seinem Oberst reichen, doch dessen Gesichtsausdruck machte deutlich, dass nicht er es war, der schreiben würde und so setzte sich Baldur und tauchte die Feder ein, in Erwartung der ersten Worte. Blitzsohn sah in die Runde. „Ich werde das Schreiben nun aufsetzen. Sofern Ihr Einwände habt, mögt Ihr diese umgehend vorbringen. Spätere Änderungen sind ungültig und wirkungslos.“


    Dunkelbruch – 21.01.203 n.d.A.


    Die Herren Tarrik Tarkan Ali al-Kuwari, Anführer der Zebras und Eroberer von Dunkelbruch, Barlok Eisenhand, hoher General der Zwerge und Oberst Felon Tharmor Blitzsohn, ranghoher Befehlshaber der lichtalbischen Streitkräfte in der Ordnung und rechte Hand des großen Generals Sonnensturm, besiegeln gemeinsam und mit sofortiger Wirkung das Ende des Krieges um die Festung Dunkelbruch.


    Die hohen Herren verpflichten sich dabei wie folgt.


    Oberst Felon Tharmor Blitzsohn wird sein Heer friedlich abziehen und weder die Bestattung der Toten, noch die Übergabe des Feste Dunkelbruch in irgendeiner Form beeinträchtigen. Er wird weiter die Heere Kaishos zum friedlichen Abzug bewegen und sich aus allen Fragen bezüglich der Annektierung der hohen Mark heraushalten.


    Tarrik Tarkan wird umgehend und im Beisein des Oberst Blitzsohn einen Boten in den Norden schicken und das Nordgeschwader sowie alle Bemühungen zum Angriff auf Avinar unterbinden. Alle Ereignisse bis zum Eintreffen des Boten liegen außerhalb der Gültigkeit dieser Unterzeichnung, jedoch wird dessen direkte und sachgemäße Zustellung überwacht.
    Weiterhin wird Tarrik Tarkan alle Zwerge unversehrt freilassen und die Festung mit seinen Truppen räumen, um den Zwergen die Bestattung ihrer Toten zu gewähren.


    General Eisenhand wird sich, nachdem den Gefallen Respekt gezollt wurde, mit seinen Gefolgsleuten nach Niwar zurückziehen, den Zugang zum unterirdischen Reich von innen versiegeln und die Festung verwaist und ohne neue Schäden zurücklassen, sodass Tarrik Tarkan mit seinen Kriegern widerstandslos in die Feste einziehen und sie für sich beanspruchen kann.


    Dieser Pakt ist bindend. Zuwiderhandlung wird fortan als kriegerischer Akt gehandelt und entsprechend gestraft.


    Gezeichnet…


    Baldur schob das Pergament zu Blitzsohn, der die Feder nahm und in die Tinte tauchte. Bevor er seinen Namen darunter setzte, warf er abermals einen Blick in die Runde, um sich das endgültige Einverständnis der anderen Parteien zu holen.

    Blitzsohn wartete stumm, während die beiden diskutierten. Er spürte wohl, dass eine Einmischung seinerseits zu diesem Zeitpunkt nicht förderlich gewesen wäre. Die Zeit lief ihm langsam davon, eine weitere Verzögerung wollte er nicht in Kauf nehmen, da war Baldur sich sicher.
    Ebenso wusste er, was es den Zwerg kostete, seine Festung aufzugeben. Es sprach Bände für die Grausamkeiten die er erlebt hatte und den Zustand in dem er sich befinden musste und bestärkte Baldur nur in seinem Vorhaben, Blitzsohn und all den anderen hohen Herren und Damen zu einem Umdenken innerhalb der eigenen Fraktion zu raten. Es stimmte ihn positiv, dass sein Oberst Barloks Vorhaben, seinem König Bericht zu erstatten, mit einer wohlwollenden Verbeugung quittierte. Vielleicht war das Bündnis noch nicht verloren.


    Baldurs geographische Kenntnisse waren mäßig, doch Blitzsohn nickte auf des Tarriks Ausführungen leicht mit dem Kopf. „Habt Dank“, sagte er knapp. Als Tarkan schließlich von der Verwertung der Toten sprach, starrte Blitzsohn ihn abschätzig an, die Lippen leicht gespitzt, doch er kommentierte es nicht.
    „Dann soll es so sein. Wir werden Eure Bestattungen nicht beeinträchtigen und unser Lager auflösen, sofern Ihr auf der Stelle Euren Boten nach Norden schickt und Eure geflügelten … Wesen zurückpfeift. Lasst Euch nicht zu viel Zeit damit, denn ein Angriff auf Avinar wird – so schlimm er für mein Volk vielleicht sein wird– auch an Euren Leuten nicht spurlos vorübergehen. Avinars Auge ist wachsam und aus dem Süden wird sich nun mein Heer nähern. Bald werde ich Kontakt aufnehmen und je nachdem, was ich höre, werde ich unsere Route nach Avinar gegebenenfalls entsprechend anpassen.“ Sein Blick war hart und bestimmt.
    „Weiterhin werde ich den führerlosen Kaishos mitteilen, dass sie friedvoll abzuziehen haben und ich lasse Euch, werter General Eisenhand und auch Euch, werter Tarrik einen Karren Lebensmittel hinunter bringen, sodass Ihr während der Bestattungsbemühungen zusätzliche Verpflegung habt.
    Nun lasst uns dies besiegeln!“

    Thalon Midir Silberleuchten


    Thalon schritt auf einem engen Pfad durch das Gebüsch, hielt immer wieder an und teilte mit seinem Speer hie und da die Hecke. Irgendwo hier musste wieder einer sein. Er tastete und suchte und schließlich stieß er auf Widerstand und das dumpfe Klopfen von Holz auf Stein ertönte. Der Krieger nickte zufrieden und eilte weiter. 25 Runensteine hatte er schon überprüft, 16 weitere würden folgen, ehe er seine Aufgabe für diesen Tag erledigt hatte. Die Spannung war spürbar in den Grenzwachten, seit das Heer Avinar unter Oberst Blitzsohn verlassen hatte. Unter den Kriegern wurde getuschelt, dass sogar der hohe General persönlich einige der Standorte besucht hatte, um die Gefreiten vor Ort einzuweisen und sich ein Bild von der Lage zu machen. Die Mannstärke war aufgestockt worden und Thalon, der schon seit vielen Jahren an der Südgrenze stationiert war, hatte alle Hände voll zu tun gehabt, die Neuankömmlinge einzuweisen und einzuteilen. Nun hatte sein Gefreiter ihm eine neue Aufgabe gegeben und da war er, patrouillierte die Grenze und kontrollierte die Verteidigungsmaßnahmen. Trotzdem war es ruhig. Natürlich hatte auch Thalon nach Zeichen gesucht, dass die Befürchtungen stimmten und ein Vergeltungsschlag für die Einmischung seines Volkes folgen würde. Erkennen können hatte er nichts. Bislang zumindest. Die Wacht, der er zugeteilt war, war allerdings auch kein Auge. Regelmäßig waren Boten von den Späherwachten zu seinem Gefreiten gekommen, doch falls es Informationen gab, so waren diese nicht bis zu Thalon durchgedrungen. Ebenso gab es keine Information von Blitzsohns Männern und Frauen. Freunde von Thalon waren unter ihnen und er betete zu Oril, sie seien noch am Leben.
    Gedankenverloren arbeitete er sich weiter gen Westen und erreichte einen Bereich mit weniger dichter Vegetation. Abrupt blieb er stehen. Die Warnfeuer in den Grenzwachten waren entzündet.

    Baldur zuckte zurück, als Eisenhand sich regte. Ein Ausbruch erfolgte und vorsichtig drehte er sich zu seinem Oberst um, dessen harter Blick nicht den Zwerg, sondern ihn durchbohrte. Ohne zu blinzeln, die Lippen zu einer farblosen Linie zusammen gepresst, starrte der Mann ihn an und er brauchte keine Geistmagie anzuwenden, um seine Botschaft deutlich zu machen. Die Einigung war greifbar gewesen und nun wieder in weite Ferne gerückt und Blitzsohn gab Baldur die Schuld dafür. Er hingegen vermutete, dass der General auch ohne sein Zutun wieder zu Bewusstsein gekommen wäre. Und was der Zwerg sagte, klang logisch für Baldur, auch wenn er sich selbst damit widersprach, hatte er doch im ersten Moment noch zugestimmt, Dunkelbruch abzugeben.


    Blitzsohns Unmut war allerdings auch nachvollziehbar. Nicht nur, dass eine Einigung sich nun ziehen konnte, es verzögerte vor allem den Moment, indem der Tarrik seinen Botengeier losschickte und zog damit die Schlinge um Avinar immer fester. Spätestens jetzt verstand Baldur, warum Blitzsohn seinen Oberfeldwebel zu Greife nach einer kurzen Ruhepause direkt wieder losgeschickt hatte. Sie sollten beobachten und wenn irgendwie möglich, eine Warnung ausstoßen. Immerhin war der Rest seiner Truppe von vorneherein im Hymaya verblieben. Wenn allerdings stimmte, was der Tarrik gesagt hatte und die Armee sich bereits in Reichweite des Albenreichs befand, mussten die Patrouillen an der Grenze sie ohnehin schon erspäht haben. Baldur flehte, dass noch keine Schlacht ausgebrochen war.


    Nachdem der erste Ärger verflogen war, schien Blitzsohn die Worte Barlok Eisenhands abzuwägen. Er hatte den Blick von Baldur zu dem Zwerg wandern lassen und musterte ihn. Immer wieder kräuselte er die Lippen, entspannte sie und zog sie auseinander, kniff ab und zu leicht die Augen zusammen, tief in Gedanken versunken. Als er sprach, wandte er sich an den Tarrik. „Es steht mir nicht zu, das Eigentum unserer Freunde fortzugeben, ich bedaure. Und bevor ich eine Empfehlung aussprechen kann, muss ich auf genauere Ausführungen Eurerseits beharren. Welche Gebiete sind es, die Ihr beansprucht, die Ihr von der höchsten Zinne Dunkelbruchs zu sehen meint? Ist es das Auge eines Greifen, scharf wie ein Schwert oder das eines halbblinden alten Weibes, mit dem ihr Maß nehmt? Und auch bezüglich der Feste Dunkelbruch ist nicht alles gesagt. Ihr sprecht von den unterirdischen Gewölben. Fordert Ihr also, dass das Zwergenvolk die Versiegelung löst und Euch Zugang in größere Tiefen ihres Reiches zuspricht? Nur was wortwörtlich genannt ist, kann im Nachgang auch gewährt werden.“ Er pausierte kurz und atmete tief ein.
    „Erlaubt mir, für etwas Gemütlichkeit zu sorgen. Das hier dauert doch länger, als ich hoffte.“ Kaum merklich hob er einen Arm und Baldur sah, dass hinter ihm ein Alb mit einem Karren aus den Zeltreihen trat. „Wenn Ihr gestattet, dass dieser Mann zu uns hinunter kommt, wird er uns einen Pavillon und Klappsessel bringen, ein paar Erfrischungen und etwas zu schreiben. Selbstverständlich ist er unbewaffnet, Ihr habt mein Wort.“
    Blitzsohn wartete eine Reaktion ab und Baldur wusste, dass der Krieger sich erst rühren würde, wenn sein Herr ihm das vereinbarte Zeichen gab.

    Baldur hatte es vorausgesehen. Und er hatte mehrfach, wenn auch vorsichtig, wie er zugeben musste, versucht es dem Oberst verständlich zu machen. Dessen abschätzigem und verwundertem Blick zu Folge war ihm das nicht gelungen. Dies war das große Problem, das Baldur seinem politischen Unwissen zum Trotz schon seit dem ersten Kontakt mit hochrangigen Alben zu erkennen gemeint hatte: der schlechte Umgang mit den eigenen Bündnispartnern. Oberst Blitzsohn, wie wahrscheinlich auch die meisten anderen Krieger, sprachen sich selbst die heldenhafte Rolle des Lebensretters für Barlok Eisenhand und die seinen zu, dabei hatten sie erst in letzter Sekunde reagiert und auch dann eher zum eigenen Vorteil. Natürlich wussten das die Zwerge, dafür kannte Baldur das kleine Volk durch seine langjährigen Handelsbeziehungen zu gut. Er hatte Blitzsohn beschworen, respektvoll und zuvorkommend mit dem Zwergengeneral umzugehen, doch der Oberst hatte darauf bestanden, seine Forderungen knallhart durchzubringen. Und auch nun verstand er seiner Mimik nach den Groll des Zwergs gegen sein Volk nicht.
    Natürlich wusste Oril allein, was mit den Zwergen in Dunkelbruch passiert wäre, wäre das lichtalbsiche Heer und das der Kaishos nicht aufgetaucht, doch sie sprachen hier mit jemandem der ermattet und ausgezehrt war von jahrelangen Kämpfen, der seine eigenen Männer hatte sterben sehen und der nun seinem König berichten musste, dass er eine Festung verloren hatte. Baldur maß sich nicht an zu verstehen, was in dem stolzen Mann vorging, doch er meinte eine Ahnung davon zu haben. Keinem der Oberen war klar, das weit mehr auf dem Spiel stand als Verluste im eigenen Heer. Baldur sah es in den Augen des Generals. Das Verhältnis zwischen Lichtalben und Zwergen hatte nachhaltigen Schaden genommen. Sollte Blitzsohn ihn weiterhin als Berater bei sich wünschen, musste er für einen anderen Umgang mit den Bündnispartnern plädieren. Man hatte zu lange geschlafen in Avinar…


    Eine kurze Stille folgte den schweren und müden Worten von Barlok Eisenhand. Dann verlor der Mann das Bewusstsein.


    Baldur löste sich zuerst aus seiner Starre und, obwohl er weder wusste, was er tun sollte, noch, ob es ihm überhaupt gestattet war, eilte er zu dem Krieger, um nach ihm zu sehen.
    „Nun“, räusperte sich Blitzsohn derweil scheinbar ungerührt. „Ihr habt den Zwerg gehört und mein Vorschlag steht. Was sagt Ihr, ehrenwerter Tarrik?“
    Baldur schloss einen kurzen Moment betreten die Augen ob Blitzsohns Kalkül. Dann tastete er nach dem Puls des Zwerges. Immerhin lebte der Mann noch.

    Blitzsohn lachte leise. „Es beruhigt mich über die Maßen, dass Ihr Euer Wort bezüglich der Hinrichtung einer adligen Familie gehalten habt.“ Er hatte einen Mundwinkel zu einem sarkastischen Lächeln hochgezogen. Es passte ihm nicht, dass er zu dem Tarrik aufsehen musste, doch selbst wenn dieser von seinem Reittier abgestiegen wäre, hätte sich daran wahrscheinlich nicht viel geändert. „Dennoch“, fuhr Blitzsohn fort, „Es ehrt Euch, dass Ihr Großherzog Roderich Zeit gabt zu handeln. Und was uns betrifft, Ihr wisst um die Bedeutung Avinars für unsereins. Das muss Euch Beweis genug sein.“


    Der Tarrik beendet das Vorgeplänkel schnell, ob er mit der Antwort Blitzsohns zufrieden war oder nicht.


    Die Zwerge hatten die Pforte also bereits versiegelt… Dies spielte ihnen in die Karten, denn es war eine der Forderungen gewesen, die Blitzsohn zuvor mit Baldur besprochen hatte. Weiterhin, so schloss er, bedeutete dies, dass die Rakshaner entweder fair oder leichtfertig mit ihren zwergischen Geiseln umgegangen waren, vielleicht auch beides. Auch, dass der Anführer der Chaostruppen so offen über den Zustand seines Heeres sprach, verwunderte Baldur. Seinen Oberst mit Sicherheit nicht. Er hörte sich alles mit starrer Miene an und Baldur wusste genau, dass er jedes Wort abwog, prüfte, was davon zu welchem Zweck eingesetzt wurde. Zuletzt nannte Tarkan seine Forderungen, die nach Baldurs Verständnis schlüssig zur Situation der Truppen in Dunkelbruch passten. Blitzsohn wusste das sicher auch und Tarkan wusste, dass Blitzsohn es wusste. Die hohe Mark war dem Oberst vollkommen einerlei, er könnte Dunkelbruch mit seinen Truppen überrennen und die Chaostruppen insgesamt schwächen. Doch der Tarrik hatte es treffend umschrieben: sein Dolch war auf das lichtalbische Herz gerichtet. Blitzsohn hatte lange darüber nachgedacht. Er hatte erwägt, Opfer in der Bevölkerung hinzunehmen, einen Großteil der verbündeten Venthros in den Tod ziehen zu lassen und Avinar in eine bis vor kurzem noch undenkbare Offensive zu führen… und er hatte sich dagegen entschieden.


    „Habt Dank für Euren ausführlichen Bericht“, sagte Blitzsohn. „Ihr wisst, dass mein Heer unversehrt und ausgeruht ist. Dennoch stellt Ihr unverhandelbare Forderungen und so will auch ich Derartiges vorbringen. Wir kamen selbstverständlich nicht ohne Grund den weiten Weg nach Süden. Wir lassen Euch ziehen, wenn Ihr Eurerseits Barlok Eisenhand und all seine überlebenden Gefolgsleute unversehrt frei lasst. Ihr werdet keine Geisel nehmen und keinen weiteren Tropfen zwergisches Blut vergießen. Weiterhin werdet Ihr den Angriff Eures Nordgeschwaders und aller weiteren Truppen auf Avinar unterbinden und mich darüber in Kenntnis setzen, wie Ihr dies vollbringen wollt. Versprecht Ihr dies, werden wir Euch nicht folgen und Euch Euren Einzug in die Hohe Mark nicht streitig machen. Solltet Ihr darüber hinaus einwilligen, dass die Krieger Almaniens und Evalons unversehrt heimkehren dürfen, werden wir Euch zusätzlich die Festung Dunkelbruch überlassen, natürlich vorbehaltlich Eures Einverständnisses, werter General“, wandte er sich nun auch an Barlok Eisenhand.
    „Sollte wider Erwarten doch ein Angriff auf unser Heimatland erfolgen, werden wir Avinar und das Hymaya entfesseln und in einen offenen Krieg treten, der womöglich der letzte für uns alle sein könnte.“

    Ein Weile standen sie am Rande der Zeltstadt und beobachteten, wie das Tor von Dunkelbruch sich öffnete und ein Mann auf einer Hyäne hinaus ritt. „Kein Zwerg“, hörte Baldur seinen Oberst murmeln, doch was er daraus schloss, gab er nicht preis. „Herr Oberst, sollten wir nicht…“, setzte Baldur an, doch Blitzsohn schüttelte den Kopf.
    Nervös trat Baldur von einem Fuß auf den anderen, da öffnete sich das Tor erneut und ein Zwerg kam heraus. Baldur hatte schon viele Zwerge gesehen in seinem Leben, doch keinen von diesem Format. Selbst aus dieser Entfernung erkannte er, dass dieser Mann nicht zu Unrecht ein großer General war.
    „Zwergische Hitzköpfe“, sagte Blitzsohn leise, während er noch immer abwartete und seine beiden Verhandlungspartner begutachtete. „Er wird nicht glücklich sein über unsere abwartende Haltung der letzten Tage. Gut, dass Ihr dabei seid, mein lieber Baldur.“
    Baldur wusste nicht, ob er das auch fand. Der Oberst sah ihn von oben herab an, denn er war ein gutes Stück größer, und sein Ausdruck hatte wieder die entschlossene Kälte angenommen, die er zu Beginn ihres Feldzuges getragen hatte.
    Endlich setzten sie sich in Bewegung. Mit langsamen Schritten gingen sie auf den Tarrik und den General der Zwerge zu und Baldur fragte sich, warum Blitzsohn sein Erscheinen derart verzögert hatte. Wollte er seine dominante Rolle hervorheben? Hatte er gar versucht, die Gegner mental abzutasten? Nein; das glaubte er nicht. Derart leichtfertig würde der Oberst den Ausgang der Verhandlungen nicht aufs Spiel setzen, zumindest nicht, solange Avinar in Gefahr war.
    „General Eisenhand“, richtete Blitzsohn sein Wort zuerst an den Zwerg. „Es freut mich zu sehen, dass Ihr noch unter uns weilt.“ Er nickte leicht mit dem Kopf, die Hände vor dem Körper verschränkt.
    „Tarkan…“, fuhr er fort, „eine Ehre Eure Bekanntschaft zu machen. Vielen Dank, dass Ihr meinem Ersuchen so schnell gefolgt seid.
    Ich bin Felon Tharmor Blitzsohn und dies“, er wies auf Baldur, „ist Baldur Ferin Ballivòr, mein Mittelsmann zu den Zwergen.“ Baldur verbeugte sich, weil er nicht wusste, was er sonst hätte tun sollen. „Bevor wir mit den Verhandlungen beginnen“, wandte er sich nun wieder dem Tarrik zu, „gestattet mir eine Frage. Wie beabsichtigt Ihr die Wahrhaftigkeit Eurer Aussagen in diesem Gespräch abzusichern? Woher weiß ich, dass Ihr im Nachgang Euer Wort halten werdet?“

    Die Tage nach der Waffenruhe waren die merkwürdigsten, die Baldur je erlebt hatte. Mit einem Mal kam ihm alles surreal vor. Was zur Hölle tat er hier? Er war kein Krieger, war es nie gewesen und spätestens jetzt wusste er, dass er es auch nie sein konnte. Sie hatten mit jenen gespeist und gesprochen, die zu töten sie eigentlich gekommen waren. Wie konnte irgendwer nun noch daran denken? Baldur sah die Gesichter der Rakshaner noch vor sich, wie sie mit ihrem bröckeligen Asameisch das Gespräch gesucht hatten, wie er versucht hatte ihnen zu erklären, wie ein Teleskop funktionierte und wie sie ihm einen Becher heiße Schokolade in die Hand gedrückt hatten, etwas, dass er noch nie zuvor gekostet hatte. Mit ihm waren einige lichtalbische Krieger hinab gestiegen, wenn auch nicht so viele, wie er gehofft hatte, hatten Trockenobst und Pittabrot mitgebracht und ebenfalls zögerlich ein paar Worte gewechselt, stellenweise sogar gemeinsam gelacht. Trotz allem wusste Baldur zu gut, dass sie alle, sollte ihr Anführer zum Angriff blasen, keinen Augenblick zögern würden, seine Befehle zu befolgen und jene zur Strecke brächten, mit denen sie vor so kurzer Zeit noch gefeiert hatten. Der Gedanke daran machte ihn traurig.
    Der Oberst selbst war wider seines ursprünglichen Planes nicht vor die Tore Dunkelbruchs gegangen. Die Ankunft seines Oberfeldwebels hatte ihn abgehalten. Mit vor Erschöpfung zitternden Flügeln war dessen Greif direkt vor des Obersts Zelt gelandet und hatte dabei ein anderes niedergerissen. Lichtsturm war von seinem Rücken gesprungen und hatte um ein Gespräch gebeten. Nervös und schüchtern war Baldur am Zeltrand gestanden, unschlüssig, ob er bleiben oder gehen sollte, bis ihn der Oberst nach einiger Zeit weggeschickt hatte, er solle die Waffenruhe nutzen und mit den anderen etwas essen gehen. Dennoch hatte er genug gehört, um zu verstehen, wie dringlich die Lage war. Die Befürchtungen von Blitzsohn waren wahr. Ein Stoßtrupp bewegte sich auf Avinar zu und nicht nur das, sie sammelten die Streitkräfte Nordrakshanistans zum Schlag.
    „Weiß Avinar Bescheid?“
    „Das wissen wir nicht. Doch selbst wenn nicht, bald werden die Späher es sehen.“
    „Das reicht nicht. Die Grenze ist niemals unbewacht, Krieger und Runensteine schützen unser Volk… doch eine ganze Streitmacht aufzuhalten…“ Er schüttelte den Kopf. „Wie ist die Lage im Hymaya?“
    „Schwierig. Es gibt einige, die uns die Treue halten, doch Unzucht vergiftet die einst so stolzen Hallen des Wolkenreiches schlimmer als ich befürchtet habe. Die Streitmacht der Venthros ist zum jetzigen Stand verwundbar klein.“
    „Ihr empfehlt also keinen Angriff von Süden?“
    „Mit Verlaub, mein Herr, auch wenn es uns helfen könnte, die Heerstärke des Chaos‘ zu dezimieren, vielleicht sogar das Augenmerk der Fliegerstaffel von Avinar fernzuhalten, ich fürchte, es wäre das Ende der Venthros.“
    „Doch wenn wir Erfolg haben… es könnte uns den Weg ins Hymaya ebnen, später vielleicht sogar nach Skyron und Arcamar… Was, wenn dies die Gunst der Stunde ist?“
    „Selbst wenn wir die Streitmacht abwehren… Unzählige Orks stehen zwischen uns und dem Hymaya. Wir haben nicht genug Krieger für eine Offensive.“
    „Ich wünschte, ich könnte mit dem General sprechen“, seufzte Blitzsohn schließlich. Baldur hatte sich zusehends unwohl und fehl am Platz gefühlt. Es war das erste Mal gewesen, dass er Unsicherheit bei Oberst Blitzsohn erkannte.
    „Habt Ihr es denn versucht?“
    „Ja; ich wollte ihn warnen, doch ich fürchte, die Entfernung ist zu groß. Ich habe ihn nicht erreicht.“
    „Versucht es wieder. Vielleicht war sein Geist in diesem Moment nicht empfänglich.“
    Der Oberst hatte den Kopf geschüttelt. „Nein. Es ist an der Zeit, dass ich selbst eine Entscheidung treffe.“
    Dann hatte er Baldur endlich entlassen und fast ein wenig überrascht über dessen Anwesenheit gewirkt.


    Nun, ein paar Tage später, kniete Baldur auf einem kleinen Teppich in seinem Zelt und betete zu Malgorion-Oril, der Oberst möge ich sich für eine Lösung entschieden haben, die nicht den Tod unzähliger Lebewesen besiegelte. Er fragte sich das erste Mal, ob es ein Fehler gewesen war, Calorod zu verlassen, doch gleichzeitig wusste er, dass er damals keine Wahl gehabt hatte… so wie er sie jetzt noch immer nicht hatte. Der junge Soldat, der ihn vor ein paar Tagen schon geholt hatte, unterbrach auch nun sein Gebet. Blitzsohn rief ihn wieder zu sich, doch der Oberst war nicht allein. Ein Wesen, wie Baldur es noch nie gesehen hatte, stand auf einer Seite des Ratstisches und blickte sich neugierig im Zelt um. Es war gefiedert, doch es war kein Greif und es sah miserabel aus. Die schwarzen Federn standen in verschiedene Richtungen und an manchen Stellen fehlten sie vollkommen. Das Geschöpf musterte nun Baldur. Sein Ausdruck war freundlich, wie der Alb fand.
    „Also, Harpyr, was werdet Ihr Eurem Herrn übermitteln?“, sagte Blitzsohn schroff.
    „Nennt mich Nox, mein Herr“, erwiderte der Harpyr und verbeugte sich tief. „Ich werde meinem ehrenwerten Tarrik zuverlässig und schnell die folgende Nachricht überbringen, wie Ihr verlangt:
    Oberst Blitzsohn, seines Zeichens Kampfmagier aus Noldor und Heerleiter der lichtalbischen Streitkräfte wünscht eine Unterredung mit Euch, Tarkan Ali al-Kuwari, Anführer der Zebras und Eroberer von Dunkelbruch, um über die gegenwärtige Pattsituation zu verhandeln. Er versichert Euch, dass bis zum Abschluss der Gespräche kein kriegerischer Akt seiner Soldaten erfolgen wird und erwartet Selbiges von Eurer Seite. Desweiteren bittet er unterwürfig um das Beisein des edlen und tapferen Generals Barlok Eisenhand bei diesem Gespräch, um sich über dessen Wohlbefinden ein Bild machen und seine Meinung für das weitere Vorgehen anhören zu können. Zu diesem Zwecke allein wird er einen Mittelsmann mitbringen und ansonsten auf jegliche Begleitung, inklusive seiner Leibgarde verzichten, um der Aufrichtigkeit seiner Absichten Gewicht zu verleihen.“
    Der Harpyr endete und senkte das Pergament, von dem er einen Großteil abgelesen hatte.
    Blitzsohn nickte grimmig. „Geht nun.“
    „Habt Dank für den freundlichen Empfang! Und auf bald, ehrenwerter Oberst… mein Herr.“ Er verbeugte sich erst vor Blitzsohn, dann vor Baldur und schritt aus dem Zelt. Baldur blickte ihm fasziniert nach. „Das ist also ein Harpyr“, murmelte er mehr zu sich. „Nein“, ertönte Blitzsohns Stimme. „Das ist ein Schatten eines Harpyrs. Wenn halb Hymaya so aussieht, dann war es definitiv die richtige Entscheidung.“ Er wies auf einen der Stühle. „Setzt Euch, Baldur. Ich möchte mit Euch über das kommende Gespräch reden.“

    Baldur lag in seinem Zelt und starrte an die Decke, als die Neuigkeit die Runde machte. Blitzsohn hatte ihn weggeschickt, um sich auszuruhen und auch, das wusste Baldur, weil er vertraulich mit seinen engsten Offizieren sprechen wollte. Männer und Frauen gingen an seiner Unterkunft vorbei und alle sprachen sie über dasselbe: der Tarrik der Chaostruppen hatte eine Waffenruhe bis zum Neujahresfest ausgerufen. Den Gesprächen zu Folge, waren die Krieger geteilter Meinung darüber. Es gab solche, die froh wirkten und obwohl Baldur sie nicht sehen konnte, vermutete er, dass es vorrangig erfahrenere Alben waren, die bereits aufreibende Erlebnisse zu verzeichnen hatten. Dann gab es jene, die sich echauffierten, wie man den Wilden trauen konnte, die eine List vermuteten und dafür plädierten einfach trotzdem zuzuschlagen. Junge Hitzköpfe… Baldur war überzeugt, dass der Oberst in keinem Fall gegen die Waffenruhe verstoßen würde. Er war ein zielstrebiger, kompromissloser und harter Mann, doch er war auch gerecht und jede seiner Entscheidungen war gründlich abgewogen.
    „Herr Ballivòr?“
    Eine Stimme erklang unmittelbar am Zelteingang. „Der Oberst wünscht Sie in seinem Zelt.“
    Baldur erhob sich von seiner Bettstatt. „In Ordnung“, rief er nach draußen und warf sich einen Umhang über. Vor seinem Zelt wartete ein junger Mann. „Er sieht kaum älter aus als mein Jaro“, dachte Baldur traurig. Die Vorstellung, sein Sohn würde in den Krieg ziehen, verknotete ihm das Herz. „Ich bringe Euch hin“, verkündete der Junge stolz.


    Des Oberst Zelt befand sich ziemlich in der Mitte des provisorischen Lagers und war deutlich größer als all die anderen. Als der Krieger Baldur hinein geleitete, saß Blitzsohn mit einigen Offizieren zu Tisch und war offensichtlich in eine strategische Besprechung vertieft.
    „Mein Herr Oberst, Herr Ballivòr, wie Ihr wünschtet.“
    Blitzsohn sah mit seinem grimmigen Gesicht auf und nickte, woraufhin der Krieger salutierte und wortlos das Zelt verließ.
    „Meine Herren“, wandte sich Blitzsohn an die übrigen, „wie besprochen: informiert Eure Truppen über die Waffenruhe – auch wenn ich befürchte die Neuigkeit ist bereits im Lauffeuer durch das Lager gegangen; teilt ihnen mit, dass sie bis zum Ablauf der Frist freigestellt sind. Es steht ihnen zu, Kontakt zu den feindlichen Truppen aufzunehmen sowie Speis und Trank mit ihnen zu teilen. Aber“, er blickte ernst in die Runde, „sollte einer das Abkommen brechen und unsere Ehre in den Schmutz ziehen, so kann er froh sein, wenn der Feind ihn zuerst in die Hände bekommt, denn ich werde weniger gnädig sein.“
    Die Offiziere nickten und ließen Baldur mit dem Oberst allein.
    „Baldur“, begann dieser, „mit Sicherheit wisst Ihr bereits von der Waffenruhe.“ Es war keine Frage. Blitzsohn hatte sich erhoben und ging mit hinter dem Rücken verschränkten Händen im Zelt auf und ab. „Boten der Kaishos brachten mir die Nachricht.“ Mit einer Hand gestikulierte er zum Tisch, auf dem ein Pergament lag. Baldur wartete kurz, dann griff er danach und las. Als er aufsah, blickte ihn der Oberst direkt an, sein Ausdruck sorgenvoll. „Was lest Ihr daraus?“, fragte er. Baldur antwortete nicht gleich. „Ihr fürchtet, Almanien ist nicht das einzige Ziel?“
    Mit geschlossenen Augen nickte Blitzsohn. „Ich befürchtete bereits, die Tieflinge flogen nicht ohne Grund aus. Nun weiß ich es.“
    „Und was machen wir nun?“, fragte Baldur, der sich fragte, warum der Oberst ihn hatte sprechen wollen.
    „Wir warten. Bald müsste Oberfeldwebel Lichtsturm zurückkehren und Neuigkeiten vom Hymaya bringen und bis dahin werden auch wir die Waffenruhe nutzen.“ Er dreht sich zu Baldur um, nachdem er vorher einige Augenblicke die Zeltwand angestarrt hatte. „Ich hoffe auf eine Unterredung mit dem Tarrik und möchte zudem um Kontakt zu Barlok Eisenhand oder einem seiner Offiziere bitten. Und deshalb werdet Ihr mich begleiten.“

    Der Oberst der Goblins sprach bei Blitzsohn vor. Baldur hatte noch nie zuvor einen Goblin gesehen. Er war nicht groß gewachsen, doch er trug eine Aura von Stärke, Intellekt und Erfahrung um sich, die ihm Respekt einflößte.
    Blitzsohn hörte Oberst Nassik an. Sein Gesicht war unleserlich, seine Stimme ernst, aber nicht unhöflich, als er antwortete:
    „Es ehrt uns, dass das Kaisho-Abkommen ein Bündnis mit uns erwägt. Ich denke, beide Seiten können aus solch einer Verbindung nur gewinnen. Ein Sieg in diesem Krieg wäre ein gelungener Start für eine Kooperation. Was unsere Strategie angeht, so hatte ich gehofft, eine Belagerung umgehen zu können“, er nickte in Richtung Dunkelbruch. „Ich dachte, die Zwerge könnten die Feste länger halten. Nun gilt meine oberste Priorität den Tieflingen. Meine Späher berichteten mir, dass Tarkan eine gut organisierte Luftwaffe hat und ich werde meine Leute nicht in die Nähe der Mauern schicken, solange diese Gefahr nicht ausgeschaltet ist. Lasst das unsere Sorge sein.
    Für die anschließende Belagerung wird jeder verfügbare Kämpfer von Nutzen sein. Die Lichtreiter werden sich der Wehrgänge annehmen und wir sollten unsere gesamte Kraft auf das ohnehin schon geschwächte Tor fixieren. Ich habe viele Schildträger in meinen Reihen, die einen begrenzten Bereich vor Angriffen von oben schützen können. Ohne euch an unsere Seite wird es unmöglich sein, Dunkelbruch zurück zu gewinnen. Über welche Mittel verfügt Ihr, werter Oberst?“

    Die beiden Herren entfernten sich etwas von Baldur, sodass er nicht viel von dem verstehen konnte, was sie besprachen.


    Und Plötzlich, mitten in ihrer Unterredung schwebte eine Stimme gespenstig laut aus der Richtung Dunkelbruchs zu ihnen hinüber. Es war der Anführer und er verkündete seine Kapitulation. Baldur sah, wie Blitzsohn die Augen zusammen kniff.
    „Da stimmt etwas nicht“, murmelte er und sah zu Oberst Nassik, der soweit Baldur das deuten konnte, dasselbe dachte. Schemenhaft konnte er große Wesen erkennen, die sich über der Festung in die Luft erhoben.


    Blitzsohn besprach sich erneut mit Oberst Nassik und Baldur spürte Unruhe in sich aufkommen. Was würde als nächstes geschehen? Er blickte sich um, erwartete auch bei den Soldaten fragende Blicke und vereinzeltes Gemurmel zu entdecken, doch sie standen weiterhin geordnet und ruhig wie Statuen, den Blick starr nach vorn gerichtet, bereit bei der kleinsten Geste ihres Anführers zu handeln.
    „Wir sollten ihn auffordern, aus Dunkelbruch abzuziehen“, hörte er Oberst Blitzsohn sagen. „Ich glaube ihm kein Wort, bevor er seinem Versprechen nicht Taten folgen lässt.“


    Behände landete der Greif des Oberfeldwebels der Lichtreiter neben ihnen.
    „Sie fliegen in Richtung Alkena. Es ist uns nicht gelungen einen der ihren gefangen zu nehmen, nicht einmal abschießen konnten wir sie, so sehr sind sie in Eile. Wenn ich eine Vermutung aussprechen darf, so denke ich, dass sie fliehen. Die Tieflinge scheinen heimzukehren.“
    Baldur konnte sehen, dass Blitzsohn zweifelte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Hund so schnell aufgibt. Er will diese Festung unbedingt und wieso sollten seine Tieflinge fliehen, wenn ihr Herr noch vor Ort bleibt? Ich muss wissen, was sie planen. Fliegt mit ein paar Boten ins Hymaya. Kontaktiert Dolan Felsenseele, lasst ihn alle Harpyien mit ihren Greifen zusammentrommeln, die nicht betrunken oder vögelnd in der Gosse liegen! Es gibt noch immer gute Späher dort. Lasst euch alles berichten.“
    Der Oberfeldwebel nickte.
    „Dann kehrt umgehend zu mir zurück. Eure Begleiter aber werden bei den Venthros bleiben. Sie sollen soweit möglich Alkena und die besser einsehbaren Bereiche des südlichen Zentralrakshanistans kontrollieren. Ich traue der Sache nicht. Wir brauchen Augen wo immer möglich.“

    ... die Lichtalben marschieren nach Dunkelbruch. Was zuvor geschah ...



    Die Ereignisse überschlugen sich und begannen Baldur über den Kopf zu wachsen. Noch vor ein paar Wochen hatte er ein beschauliches, ruhiges Leben als Handwerker und Familienvater geführt und nun würde er eine Streitmacht in den Krieg begleiten. Er war nicht sicher, ob die Bedeutung überhaupt schon in voller Gänze in seinem Verstand angekommen war… in den Krieg ziehen… Das war eine Sache, die er immer so fern von sich selbst gewähnt, dass er nie wirklich darüber nachgedacht hatte, was das bedeutete. Bis zuletzt… bis sie ihm eröffnet hatten, dass er sie begleiten würde.
    „Wann seid Ihr bereit, abzureisen, Baldur Ferin?“, hatte Oberst Felon Tharmor Blitzsohn ihn eines Tages in einer der Krisensitzungen gefragt. Dass er dort überhaupt dabei gewesen war, war noch kaum zu begreifen.
    „Abreisen? Wohin?“, hatte er etwas verdutzt gefragt und eilig noch ein „Oberst, Sir“ hinten angefügt.
    „Ihr werdet uns begleiten. Wir benötigen einen Mittelsmann für die Verhandlungen mit den Zwergen.“
    Baldurs Augen waren groß geworden. „Aber ich bin Handwerker. Ich verhandle Güter, keine Kriegspolitik, ehrenwerter Oberst.“
    „Das ist einerlei. Zwerge handeln nur unter Vertrauensbasis zu fairen Konditionen. Die haben wir nicht, Ihr aber schon. Es ist beschlossene Sache. Also: wann seid Ihr bereit?“
    Das war es gewesen. Baldur hatte kaum einmal geblinzelt und jetzt war er hier, unter der Erde, mit einer Delegation aus Vanyar und Noldor, auf dem Weg in den Krieg. Die Zwerge hatten um Hilfe gebeten und die Lichtalben folgten nun – endlich, wie Baldur dachte – dem Ruf, auch wenn die Details noch verhandelt werden sollten. Baldur widerstrebte der Gedanke ein wenig. Er musste die Verhandlungen leiten und die Forderungen der lichtalbischen Befehlshaber weitertragen. Forderungen an einen Bündnispartner… das erschien Baldur falsch um der Sache selbst Willen, doch er verstand auch nicht viel von Politik. Überhaupt hatte er durch die Teilnahme an einigen Krisensitzungen das Gefühl, dass die Triebkraft seines Volkes eher ökonomischer Natur war. Die ersten Rufe für das Einschreiten waren aus Falathri gekommen, dem Zentrum von Handwerk und Wissenschaft, nicht etwa aus Noldor oder Vanyar, wo doch alle militärischen Handlungen ausgetüftelt und beschlossen wurden. Man fürchtete um den Zusammenbruch des Straßennetzes und sämtlicher Handelsbeziehungen mit den Zwergen. Zuvor hatte der Fokus militärischer Einsätze auf der Südgrenze Avinars und Befestigung der Städte gelegen. Das erklärte vorrangige Ziel der Lichtalben war die Gebietserhaltung. Baldur erinnerte sich noch genau an die ersten Besuche aus Falathri. Dabei ging es immer um Informationen über die Pläne des Chaos‘ bezüglich Avinar, die er von den Zwergen einholen sollte. Erst als er die Nachricht mitbrachte, dass Straßennetz könne bald aufgegeben werden, wurden die Abgeordneten hellhörig.
    Baldur ging an der Spitze der Gruppe, die den Oberst, seinen Major und eine kleine Truppe Fußsoldaten umfasste. Würden die Verhandlungen ein positives Ende nehmen, sollte ein Batallion über den Landweg folgen, ebenso eine Truppe Lichtreiter. Die berittenen Elitekrieger hatten den Weg durch die Steppe ausgekundschaftet, wo man ausgehend von der zerstörten Zeltstadt Cheron hoffte, möglichst reibungslos bis nach Dunkelbruch zu kommen.
    Die Diskussionen um die Größe der Streitmacht waren zäh gewesen. Vor allem das Thema Kampfmagier schien besonders sensibel zu sein.
    „Mein lieber Kollege“, hatte der Magier Blitzsohn einmal wütend eingeworfen, „wenn wir die von Ihnen gewünschte Anzahl Magier von hier abziehen, werden wir bald keine mehr haben! Wir können unsere Reihen auf der Astralebene unmöglich derart schwächen, sonst wird es dort oben bald ganz schön frostig und ich meine das wörtlich!“
    „Und wenn wir zu wenige schicken, brauchen wir gar nicht erst losziehen! Gegen all die verschiedenen Magier in Tarkans Truppen sind Schwerter alleine nutzlos.“
    „Was ist denn mit Euren neusten Entwicklungen in der Militärtechnik, Major Wolkenehrer? Ihr forscht schon seit Jahren. Gibt es hier auch einmal etwas Brauchbares?“
    „Tatsächlich gibt es das! Wir haben Wege gefunden, Partikel von Runensteinen in die Schilde und Wurfgeschosse unserer Soldaten einzubringen. Wenn ein Lichtreiter ein solches Geschoss abwirft, wird jeder Feind in einem Umkreis von fünf Metern weggeschleudert und…“
    Und so hatten sich die Diskussionen hingezogen bis Anzahl, Zusammensetzung und Ausrüstung der Abteilungen feststand. Jetzt ging es darum, die Bedingungen festzulegen. Die Lichtalben forderten nicht weniger als 100 Runensteine als Gegenleistung für ihre Hilfe, um das Kontingent an den eigenen Grenzen aufzustocken. Ebenso sollte ein Zwergenmeister nach Avinar reisen, um den vereinzelten lichtalbischen Elementarmagiern Feinheiten bei der Herstellung dieser Steine zu lehren. Obwohl sie in der Vergangenheit bereits Fortschritte hatten erzielen können, kam nicht eines ihrer Erzeugnisse denen der Zwerge nahe.

    „Der Mann ist gut“, brummte Blitzsohn und Baldur sah zu ihm auf. Der Magier bemerkte seinen Blick. „Der Tarrik der Chaostruppen“, erklärte er. „Bis wir unten sind, werden sie in der Festung Stellung bezogen haben.“
    „Woher“, setzte Baldur an, doch Blitzsohn nickte nur knapp nach oben zu den kreisenden Lichtreitern. Baldur verstand: Sie waren seine Augen.
    <Dieser Tarrik ist nicht nur gut, sondern auch grausam>, dachte er bei sich, als er sah mit welcher Panik die ausgesperrten Soldaten gegen das Tor rannten.
    Oberst Blitzsohn hob die Hand und das Heer blieb stehen. „Magier und Bogenschützen zu mir!“, brüllte er und es kam Bewegung in die Formationen. Baldur musste an das Ineinandergleiten der Kettenglieder an seiner Schleifmaschine denken. Einer nach dem anderen drehten sich die Soldaten zur Seite und bildeten wandernde Gänge, die sich direkt hinter den Gerufenen wieder schlossen.
    „Ich möchte, dass ihr sie abtastet“, sagte Blitzsohn einer Handvoll Männer. „Wenn einer durch seine Panik einen Zugriff erlaubt, schlagt sofort zu! Täuscht ihre Sinne, steigert ihre Panik, bringt sie zur Flucht oder dazu, sich gegenseitig abzuschlachten!“ Die Magier nickten stumm und drehten ab. Baldur blickte ihnen fasziniert hinterher. Sie hatten etwas in ihrer Aura, dass ihm eine Gänsehaut die Beine hoch jagte, ihn mit Ehrfurcht überflutete. Sie sprachen kaum. Ob aus Gewohnheit, da sie so viel mental kommunizierten oder aus Arroganz, vermochte er nicht zu sagen.
    Blitzsohn hatte sich mittlerweile an die Bogenschützen gewandt. Er wies sie an, sich in Schussweite zu begeben und jeweils einen Schildträger mit zu nehmen, um auf jeden einzelnen Feind zu feuern, der sich aus dem Gewirr löste und versuchte zu fliehen.
    „Entzündet die Pfeile“, befahl er, „für all den untoten Rotz, der unter ihnen weilt.“


    Mit einem Luftzug landete ein Lichtreiter neben dem Oberst und Baldur zuckte überrascht zusammen.
    „Mein Herr“, sagte dieser mit stolzem Gesichtsausdruck. Er hatte auffallend kräftige Augenbrauen, die viel dunkler waren als sein Haar. Baldur sah von dem Reiter zu seinem Greifen. Braunes Gefieder, über das bei jeder Bewegung ein goldener Schimmer wanderte ging über in den muskulösen Körper eines Raubtieres und kluge gelbe Augen folgten den Worten seiner Herren. Baldur hatte noch nie ein derart edles Wesen gesehen.
    Blitzsohn senkte respektvoll den Kopf. „Oberfeldwebel Lichtsturm“, sagte er, „sie werden bald kommen. Kümmert euch um die Fliegerstaffel, schafft sie aus dem Weg und schützt unsere Leute. Danach beginnen wir mit der Belagerung. Die wird auch ohne Tod von oben schwer genug.“
    Der Reiter nickte, sein Greif stieß sich kräftig vom Boden ab und Baldur sah ihm nach, wie er sich elegant in die Lüfte erhob und seine Truppe um sich scharte.


    Blitzsohn riss den Kopf herum. „Wir sind nicht länger allein“, murmelte er. "Bei Oril! Ich spüre eine riesige Menge… Menschen… und Goblins!“ Auf seinem Gesicht zeichneten sich Anklänge eines triumphierenden Lächelns ab.
    „Sollen wir Boten aussenden, Oberst, Sir?“, fragte einer seiner Leibwächter.
    „Nicht nötig. Ihr Anführer ist bereits auf dem Weg hierher.“