Mit einer Mischung aus Belustigung und Sorge beobachtete Namon Shamin die nächsten Tage. Eine allumfassende Nervosität hatte von ihr Beschlag genommen, die sich in einem noch strengeren Ton, noch größerer Akribie und Gereiztheit bemerkbar machte. Doch im Vergleich zu dem, was sie sich selbst aufbürdete, waren die extra Einheiten für die Rekruten kaum der Rede wert. Manchmal fragte sich Namon am Morgen, ob seine Schwester überhaupt geschlafen hatte.
„Mach dir keine Sorgen, das Lager ist in einem super Zustand“, wagte er sich eines Abends hervor, als sie nach einer stärkenden Gemüsebrühe endlich einmal ein paar Augenblicke ruhig auf der Veranda saßen.
Shamin seufzte. „Es ist egal, wie gut und ordentlich es ist. Er wird das eine finden, das ich übersehe!“
„Ich bezweifle, dass so etwas existiert, es sei denn, du hast dir auch zum Ziel gesetzt, das Gras gleichmäßig wachsen zu lassen. Alles wird gut! Du wirst sehen.“
„Ich traue den Kindern nicht.“
Aha, dachte Namon. Endlich spricht sie ihre wahre Sorge aus. Er wartete einen Augenblick, um sie zum Reden zu bewegen.
„Findest du es nicht auch komisch, dass sie auf einmal bei fast allem mitmachen? Das kann ja wohl kaum an dem Bisschen Pausen und Wein liegen, das ich ihnen erlaube. Die hecken doch was aus.“
„Ehrlich gesagt, habe ich mir das auch schon gedacht“, gab Namon zu und sah im Augenwinkel, wie Shamins Kopf zu ihm hinüber schoss. „Sie sind schon erstaunlich gefügig.“
„Was?“ Entsetzen weitete ihre Augen. „Und… und was tun wir dagegen?“
„Nichts.“
„WAS?“
Namon zuckte mit den Schultern. „Wir können nichts tun. Es sei denn, du sperrst sie alle weg, während Nebelkrähe und der Alb hier sind. Was vermutlich auch ein wenig merkwürdig wirkt.“
„Aber ich muss doch irgendetwas tun können!“ Shamin war auf die Beine gesprungen und begann auf und ab zu tigern. „Irgendwas!“
„Du heizt sie nur ein. Wenn sie etwas geplant haben, wird es ihnen noch viel mehr Spaß machen, wenn du es zu verhindern versuchst. Und falls sie nichts geplant haben, könntest du sie auf falsche Gedanken bringen.“
Mit beiden Händen stützte Shamin sich auf die Brüstung und starrte in die Ferne. „Es wird nach hinten los gehen. Ich weiß es.“
Namon stand auf und legte ihr vorsichtig einen Flügel über die Schulter. „Ich weiß, es fällt dir nicht leicht, auf andere zu vertrauen. Aber du kannst nicht alles kontrollieren. Ruh‘ dich lieber noch ein bisschen aus! Deine Augenringe kannst du nämlich kontrollieren…“
Am Morgen des hohen Besuchs erwachte Shamin lange bevor es hell wurde. Der Himmel war noch beinahe schwarz und die Sterne funkelten noch zu Tausenden über ihr. Um den Kopf frei zu kriegen, dehnte sie sich vor ihrer Hütte ausgiebig durch und schloss mit einer besonders langen Meditation. Ihre Gedanken loszulassen fiel ihr heute allerdings schwer. Ständig ertappte sie sich dabei, wie sie all die Dinge durchging, die schief laufen konnten. Was, wenn dem General das Trainingsgelände zu klein war? Die Hütten zu einfach, die Ausrüstung zu alt? Was, wenn er die Anzahl Rekruten zu gering fand? Ihre Verfassung mangelhaft? Mit einem tiefen Atemzug versuchte Shamin sich wieder auf ihre Mitte zu konzentrieren. Alles wird gut. Alles wird gut. Alles wird gut. Im Mantra sprach sie Namons Worte stumm vor sich hin und versuchte auch daran zu glauben.
Wenn man von einer Sache schon das absolute Extrem verkörperte, war es unmöglich, dies noch zu übertreffen. Zumindest hatte Namon das gedacht. Trotzdem gelang es Shamin, die immer so dastand, als hätte sie nicht nur einen Stock, sondern eine ganze Platte verschluckt, eine noch steifere und aufrechtere Haltung einzunehmen, während sie das Eintreffen Nebelkrähes und des Lichtreiters erwartete. Glücklicherweise war der Generalmarschall der Lüfte pünktlich wie die Morgensonne und sie und die Rekruten standen nur in etwa eine halbe Stunde wie Statuen auf dem kleinen Platz vor den Hütten und schwiegen sich an.
Soshon Nebelkrähe war ein groß gewachsener Harpyier mit silbrig-grauem Gefieder und stechenden dunklen Augen. Nach Namons Geschmack blickte er viel zu ernst drein, doch Shamin floss bei seinem Anblick förmlich dahin. Neben ihm schwang sich der Alb von seinem Greifen und was Namon dort sah, was schon eher sein Fall. Cremefarbenes Fell zog sich über einen schlanken Körper und endete in so feinem Gefieder, wie er es noch nie gesehen hatte. Ihre Augen strahlten grün und sie hatte lange Wimpern. Namons Herz schlug schneller. Hoffentlich beabsichtigten ihre Gäste ein wenig zu bleiben, er würde sich in der Zwischenzeit um die Dame kümmern. Mit klopfendem Herzen versuchte er ihren Blick zu fangen, doch sie starrte stur zur Seite.
„Generalmarschall, Oberfeldwebel, willkommen.“ Shamin ging zwei Schritte auf die Männer zu und verbeugte sich.
„Sturmtochter.“ Nebelkrähes Stimme war tief und melodisch. „Nett, dass Ihr uns empfangt. Wo können wir uns in Ruhe unterhalten? Eine der Hütten nehme ich an?“ Während er sprach, hatte er die kurze Distanz zwischen ihnen überbrückt und war im Begriff einfach an Shamin vorbei zu gehen. Der Alb folgte ihm dicht auf den Fersen. Shamin blieb nichts, als es ihm gleich zu tun.
„Selbstverständlich, Sir. Gleich dort vorne ist meine Hütte, dort können wir-„
„Gut. Ich wünsche Tee. Wir werden nicht lange bleiben. Was ist mit den Jünglingen? Warum trainieren sie nicht?“
All das sagte er, ohne einmal zur Seite zu sehen. Namon sah mitleidig zu seiner Schwester, die wie vom Blitz getroffen stehen geblieben war. Endlich löste sie sich aus ihrer Starre.
„Los mit euch! Das Morgenprogramm, aber dalli!“, bellte sie den in Reih‘ und Glied stehenden Rekruten entgegen und wandte sich ruckartig ab, dem Marschall zu folgen.