Eine neue Persona
Pascal saß fast täglich bis in die Nacht hinein am Schreibtisch, um zu arbeiten. Sein Gesicht zeigte erste Falten unter den Augen und um die Mundwinkel. Der unbedingte Wille, seine Aufgabe fortzuführen, der Beste zu sein, verbrannte ihn vor seiner Zeit. Pascal wusste, dass er nicht ewig in diesem Tempo und in dieser Intensität durchhalten konnte, doch es war ihm unmöglich, sein Arbeitstempo zu drosseln. Wann immer er innehielt, spürte er die Abwesenheit von Caillou, die Lügen von Thimothèe und den Verlust von Vittorio. Seine taubengraue Schreibfeder flog über die Seiten, füllte Pergament um Pergament, goss Pascals Recherchen und Gedanken in Worte, Übersichten und Skizzen.
Unten ging die Haustür, das angestoßene Windspiel klingelte seine Melodie, doch er arbeitete weiter. Pascal hörte, wie Camille die Feuerwehrstiefel auszog und die regennassen Sachen zum Trocknen auf einem Bügel an den Haken hängte, aber er ging ihm nicht entgegen, sondern schrieb in unvermindertem Tempo fort, als sei diese Aufgabe zu einem Wahn erwachsen. Es folgten Schritte auf der Treppe, Camille drückte die Klinke und trat in Caillous Zimmer, in dem Pascal saß. Der drehte sich nicht um.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. »Abend.« Camille roch nach Regen und nasser Kleidung, eine würzige Geruchsmixtur, wie sie den beiden Zwillingen stets zu eigen war. Die Nuancen wechselten, mal rochen sie nach Feuer, mal nach Wasser, mal nach gebackenen Plätzchen und mal nach dem Rauch verbotener Kräuter, oft nach Wein und Schweiß, aber immer rochen sie urig.
Pascal schrieb seinen Satz noch zu Ende und streute zum Trocknen feinen Sand über die Eisengallustinte, bevor er sich umdrehte und Camille in das Gesicht blickte. Dessen Wangen glühten von der Kälte und er grinste. Die rote Pflanzenhaarfarbe war inzwischen zu Rosè verblasst, was ihn etwas lächerlich wirken ließ, doch solche Dinge hatten ihn noch nie gekümmert.
»Abend. Ich arbeite gerade, Milli.«
»Ziemlich viel in letzter Zeit. Du hattest angefangen, noch bevor ich das Haus heute Morgen verlassen habe. Kann ich dir helfen?«
Pascal schüttelte die Locken. »Genieße den Feierabend. Du hast genug zu tun mit dem Herbsthochwasser. Das hier ist nur ein bisschen Papierarbeit.«
»Ich habe Reserven. Vielleicht brauchst du ein paar Recherchetipps? Woran schreibst du?«
Die Frage klang beiläufig, doch das war sie nicht. Camille entging garantiert nicht, dass etwas anders war als sonst, ohne dass sein Schwager mit der Sprache herausrückte. Manchmal vergaß Pascal, dass dieser unaufgeregte Mensch mit den nun rosèfarbenen Haaren ein Lotos war, so überzeugend harmlos wirkte er. Als Camille sich über seine Schulter beugte, streute Pascal eine große Handvoll Sand über seine Aufzeichnungen.
»Warum tust du das?«, fragte Camille. »Für mich ist dieses Werk wohl kein Geheimnis, sonst würdest du nicht zu Hause daran arbeiten sollen. Geheimhaltungsstufe B, nehme ich an. Warum darf ich es also nicht lesen?«
Pascal blickte unwillig auf den Sand. »Es ist unfertig. Roh, unausgegoren.«
»Wir könnten zusammen daran tüfteln. Beim Abendessen vielleicht?«
Pascal verspürte ein schlechtes Gewissen, weil er weder gekocht noch ein Bad vorbereitet hatte, obwohl er zur Zeit den ganzen Tag zu Hause gewesen war. Er arbeitete schneller als notwendig, das Zeitpensum war großzügig. Zu viel Zeit, die ihm zur Verfügung stand, fand er. Vielleicht hatte Timothèe ihn einfach nicht mehr sehen wollen. Ihr Oberhaupt hatte so seine Phasen.
»Kommst du mit ins Bad?« Camille nahm den Auftrag seines Bruders, sich um Pascal zu kümmern, sehr ernst. Manchmal tat er Pascal leid, weil er es ihm damit so schwer machte. So erhob der sich, drehte sich ihm entgegen und gab ihm einen Begrüßungskuss. »Willkommen daheim. Das Bad musst du allein nehmen, weil ich derweil für uns kochen werde.«
Camille war niemals aufdringlich, doch er nahm jede Zärtlichkeit dankbar an und erwiderte sie in gleichem Maße. Doch verspürte Pascal keine Lust, dem Plan seines Mannes zu folgen und Caillou einfach durch dessen Zwilling zu ersetzen. Das hatte Caillou sich so gedacht, sich zu verdrücken und Camille den Lückenbüßer spielen zu lassen, als würde es keinen Unterschied machen.
Während Camille sich im heißen Wasser aufwärmte, briet Pascal ihnen Rübenschnitzel mit Rahmsoße. Er konnte weder gut kochen noch würzen, es schmeckte scheußlich, aber Camille lobte das Mahl trotzdem. Anschließend saßen sie auf dem Sofa, plauderten über das Hochwasser und tranken eine Flasche Wein.
Nachdem Camille auf dem Sofa eingeschlafen war, stand Pascal auf und ging zurück in sein Zimmer, wo er sich bettfertig machte. Das Mondlicht fiel durch einen Spalt zwischen den Vorhängen, der Regen hatte aufgehört. Er zog die Vorhänge auf und ließ das weiße Licht von Oril hinein. Rot dahinter, eine schmale Sichel heute nur, schimmerte Daibos. Die Wolken waren fort. In Schlafanzug und Morgenmantel setzte Pascal sich erneut an den Schreibtisch und entzündete eine Kerze. Vorsichtig ließ er den Sand vom Pergament rutschen, indem er es an einer Seite anhob, und kehrte mit dem weichen Handbesen alles über die Tischkante in die Sandschale. Er las das Konzept noch einmal durch.
»Wer ist Patrice Vertcuis?«, fragte Camille über seinem Kopf. Er war so lautlos hereingekommen und hinter ihn getreten, dass Pascal zusammenschrak.
»Meine Güte, musst du im eigenen Haus so schleichen? Das ist meine neue Persona«, antwortete er widerwillig. Es hatte keinen Sinn, das Pergament nun noch abzudecken. Camille hatte ihn garantiert erst angesprochen, nachdem er die gesamte Seite gelesen hatte.
»Ich wusste nicht, dass du derzeit an einer arbeitest.«
»Was hast du denn erwartet? Luis ist tot. Ich benötige eine Neue.«
»Das heißt, dass du verreisen musst? Ich dachte, du würdest eine Weile in den Innendienst des Ordens gehen und deswegen so viel schreiben.« Camille gab sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu überspielen. Er klang sehr betrübt. Pascal hegte den Verdacht, dass der Zwilling ihn mehr mochte, als für ihre Situation angemessen wäre.
»Meine Zielpersonen leben hier in Beaufort.«
»Dann wirst du bei mir im Haus wohnen bleiben?«
Pascal ließ die Luft langsam durch seine Nase entweichen, blinzelte, blickte auf die ebenmäßigen Buchstaben. Er spürte, dass ihm die ungesagten Worte schon länger schwer im Magen lagen. Es wurde Zeit, die Wahrheit auszusprechen. Er griff nach Camilles Hand, zog sie auf seine Schulter und wartete, bis der Zwilling sich von hinten an ihn angekuschelt hatte. »Patrice Vertcuis wird versuchen, eine Stelle bei der Leibgarde der Krone zu bekommen. Meine Zielpersonen dienen dort als Gardisten. Ich werde auf dem Palastgelände arbeiten und während der dienstfreien Zeit in einer Baracke wohnen.«
»Verstehe. Und ich bin im Bekanntenkreis von Patrice nicht vorgesehen, nehme ich an.«
»Nein, Milli. Diese Persona erfordert mehr Diskretion als eure beiden verlotterten Feuerwehrleute. Patrice kennt dich nicht.«
»Sie sind so verlottert, weil wir es auch sind. Es muss ja auch ein bisschen Spaß machen, immerhin trägt man seine Persona meist über Jahre. Wer sind deine Zielpersonen?«
»Wie das Schicksal es will, haben sich zwei Söhne der ehemaligen Agenten der Autarkie gleichzeitig in die Leibgarde verirrt. Die Frage ist, ob es sich dabei um einen bloßen Zufall handelt.«
»Interessant. Mit der Leibgarde haben Calli und ich ja regelmäßig zu tun.« Er kicherte. »Wir kennen ihren Knast von innen, sie haben uns da mal zum Ausnüchtern eingesperrt. Timothèe hat deswegen vielleicht einen Hals auf uns gehabt. Welche beiden sind denn die Agentensöhne? Vielleicht hatten wir mit ihnen bereits das Vergnügen.«
»Ihre Namen sind Bellamy und Boldiszàr Bovier. Sie wurden getrennt voneinander in unterschiedlichen Waisenhäusern untergebracht. Ihre Nachnamen hat man verändert; sie heißen nun Bellamy Bourgeois und Boldiszàr Boucher. Dafür, dass sie angeblich nicht wissen, dass der jeweils andere ihr leiblicher Bruder ist, stehen sie sich für den Geschmack des Ordens zu nah. Sie beide dienen in der Leibgarde und sind miteinander befreundet. Zwei Agentensöhne, bewaffnet, so nah an der Krone? Das muss untersucht werden. Womöglich hat ihnen jemand zugesteckt, dass sie Brüder sind. Und vielleicht noch ein paar Informationen mehr, wie ihre Familie durch den Befehl der Krone zu Tode kam zum Beispiel. Wenn es nach unserem Oberhaupt ginge, würde er sie beide aus Sicherheitsgründen ohne Untersuchung durch mich kaltstellen lassen.«
»Aber?«
»Auch unser Oberhaupt muss sich an seine Anweisungen halten.«
Plötzlich verließ Camille das Zimmer.
Erstaunt sah Pascal ihm nach. Er zögerte nur kurz, ehe er ihm die Treppe hinab in den Flur folgte.
Allerdings war Camille nirgends mehr zu sehen. Nicht in seinem eigenen Raum, der kaum weniger bunt gestaltet war als der von Caillou, nicht in der Essküche und nicht im Wirtschaftsraum. Allerdings hatte auch nicht das Windspiel geklingelt, das, genau wie die Glocken in Timothèes Haus, verhinderte, dass jemand sich unbemerkt hinein oder hinaus begeben konnte. Unschlüssig stand Pascal im mit Sperrmüll vollgestellten Flur herum. Sein Blick fiel auf den dreckigen Teppich mit den nassen Stiefelabdrücken. Er packte ihn an den Fransen. Als er ihn anhob, öffnete sich dadurch die daran festgeklebte Falltür.
Pascal spähte hinab in das schwarze Kellerloch, aus dem süß duftende Rauchschwaden emporstiegen. Er war dort unten noch nie gewesen. Der Keller war der persönlichste Bereich des Hauses eines Lotos. Zwar wohnte er hier, doch das Haus gehörte noch immer den Zwillingen. Nicht einmal den Keller von Timothèe hatte er zur Gänze erforschen dürfen, obgleich er in dessen Haus gewohnt hatte. Nur wenige Türen waren zugänglich gewesen und der Rest nicht mit Methoden zu knacken, die er kannte. Natürlich hatte er es versucht.
Die Zwillinge teilten einen gemeinsamen Keller, so wie sie alles teilten. Caillou teilte ja sogar seinen Mann, ohne diesen gefragt zu haben. Pascal war von außen hinzugekommen und hatte sich den familiären Gesetzen der Brüder untergeordnet. Dazu gehörte auch, deren häusliche Intimsphäre in Gestalt ihres Kellers nicht zu betreten. Doch nun hatte er das Gefühl, Camille folgen zu müssen.
Pascal stieg hinab in den süßen Rauch. Dabei ließ er die Falltür über sich lautlos wieder zuklappen. Auf ein Licht verzichtete er, um sich nicht zu verraten. Eine Hand beließ er an der Wand. Stufe um Stufe stieg er tiefer, während seine Finger über den kalten Stein glitten. Er roch durch die duftenden Schwaden auch den beißenden Gestank einer Öllampe. Nein, der Geruch war ein anderer ... Kerzen, aber kein Bienenwachs ... oder war es doch eine Öllampe? Fast erinnerte der unpassende Gestank ihn an Bratenfett.
Aus einer Türöffnung am Ende des Ganges fiel ein Lichtkegel. Dankbar, wieder etwas sehen zu können, näherte Pascal sich extrem langsam, um keinen Laut zu verursachen. Mit dem Rücken zu ihm stand Camille vor einem imposanten Wandschrein, dessen Hauptbestandteile bunt bemalte Knochen zu sein schienen, die ein großes Gemälde umrahmten. Auf den ersten Blick war nicht zu sagen, welcher Spezies sie gehörten. Die Schlafkleidung hatte Camille abgelegt. Nackt stand er vor dem Schrein und hantierte mit dem Räucherwerk. Für einen Moment spürte Pascal Triumph, weil er sich für das Anschleichen revanchieren konnte und betrachtete die Szene. Eine männliche Gestalt prangte auf dem Gemälde, vielleicht ein Almane. Sie war nur vordergründig menschlich, denn ihre Zähne entsprachen denen eines Raubtiers. Die Halbmaske, die ein Schädel war, ließ den Mund frei. Mit seinem Raubtiergebiss fraß der Mann gerade an einem Herzen.
Jetzt erahnte Pascal auch, welchen Geruch die Kerzen verströmten. Das war Tierfett, hoffentlich nichts Schlimmeres. Das war irgendein Kult, doch welcher? Plötzlich fuhr Camille herum und starrte Pascal in die Augen.
»Sieh an«, sprach Pascal deutlich, um sich selbst Mut zu machen. »Wer von euch beiden ist der Kultist? Du? Oder Caillou?« Falls seine Vermutung zutraf, dann waren sie es beide, doch er legte nach wie vor wert darauf, die Zwillinge als Individuen zu behandeln, so dass er diese Option anbot.
»Wir beide ehren Rakshor«, antwortete Camille ruhig. »Ich wollte ihm gerade ein Opfer anbieten, damit er Caillou wieder zurück nach Hause schickt.«
Pascal lachte trocken und machte sich bereit zum Kampf. »Ein Opfer. Mich?«
»Unsinn. Warum sollte ich dich opfern wollen? Du bist der Mann meines Bruders.« Camille öffnete den Mund, als wolle er noch etwas sagen, was er jedoch herunterschluckte.
»Und was noch?«, hakte Pascal nach. Als Camille näher kam, wich er zurück.
Camille blieb stehen, das Gesicht ungläubig verzogen. »Warum weichst du mir aus? Ich bin nicht dein Feind! Passe ich nicht für Caillou auf dich auf?« Er rang nun sichtlich um Beherrschung. »Versuche, es aus meiner Warte zu sehen. Ich habe nie Eltern gehabt, unser Mentor war ein Arsch und mein Bruder ist seit längerer Zeit in der Fremde unterwegs. Freunde hat ein Lotos nicht, wie du weißt. Außer Caillou hatte ich niemanden, der mir nahe stand. Du bist der Einzige, der mir im Moment noch geblieben ist. Aber nun wirst auch du mich verlassen. Wen außer Rakshor sollte ich um Hilfe bitten? Timothèe, den Duc? Ainuwar, den die Geschicke der Menschen nicht scheren? Und du weichst mir aus, als würde ich dir etwas Böses wollen. Alles, was ich wollte, ist, nicht mehr allein zu sein!«
Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Denk mal darüber nach. Selbst den Agentensöhnen, die du observieren wirst, geht es besser als uns. Bellamy und Boldiszàr haben ihren Bruder an der Seite, auch wenn sie es vielleicht nicht wissen. Sie führen ein normales Leben, obwohl ihre Väter Hochverräter waren. Wir, obgleich wir gute Menschen sind, die dem Land und dem Orden treu dienen, wissen nicht einmal, wer unsere Eltern sind! Ob sie noch leben oder ob wir Waisen sind. Das Wissen zu sammeln von allem, was in diesem Land geschieht, ist unser Handwerk. Aber über uns selbst wissen wir überhaupt nichts.«
Camille setzte sich auf das Hyänenfell, das vor dem Wandschrein ausgebreitet lag, und ließ den Kopf sinken. Der Auftrag, auf den Mann seines Bruders achtzugeben, war alles, was ihm von Caillou geblieben war. Aber Pascal machte es Camille nicht nur schwer, sondern würde sich nun ebenfalls vollständig seiner Reichweite entziehen und Camille allein zurücklassen in diesem leeren Haus.
Pascal trat auf das Fell, das sich dicht und borstig anfühlte. Er ließ sich neben ihm nieder. »Ich weiß, wie es ist, einsam zu sein. Jeder Lotos weiß das. Ich muss meine Pflicht so gewissenhaft erfüllen wie du, aber ich will versuchen, dir auf die einzige mir mögliche Weise trotzdem etwas zu helfen. Wie betet man zu Rakshor?«
Camille wischte sich die Tränen weg und Pascal meinte, ein schmerzliches Grinsen zu sehen. Eindeutig, Camille grinste. Dann ergriff er das die Initiative, das erste Mal überhaupt war er nicht nur Beiwerk.
Er küsste Pascal wie ein Verdurstender und als Pascal über ihm lag, riss er ihn mit den Fäusten an den Haaren und schrie beim Höhepunk. Von seiner sonstigen Zurückhaltung war keine Spur. Kaum war Pascal wieder etwas zu Atem gekommen, riss Camille ihn erneut auf sich und nahm weder auf seine Haut noch auf seine Haare Rücksicht. Als Camille mittendrin zu schluchzen anfing, nur um ihn dann erneut zu küssen, bis er fast erstickte, wurde es Pascal zu viel. Er hielt ihm zuliebe durch, aber es dauerte eine Weile, bis Camille ihm das Gefühl gab, dass er nun wieder hinauf in die Wohnung gehen dürfe, während der traurige Zwilling zurückblieb. Pascal flüchtete regelrecht.
Er hatte erst die Hälfte der Treppe zurückgelegt, da hörte er ihn wieder schluchzen. So konnte Pascal ihn nicht alleinlassen. Erneut stieg Pascal hinab und fand Camille der Länge nach auf dem Fell ausgestreckt und so bitterlich weinend, als sei Caillou nicht verreist, sondern verstorben. Langsam wurde Pascal mulmig.
»Sag mal, wo genau ist Caillou denn überhaupt? Ist er in Gefahr?« Er reichte seinem Schwager ein sauberes Stofftaschentuch aus seinem nun zerrissenen Schlafanzug.
»Noch tiefer könnte jemand kaum in Gefahr stecken.« Camille schnäuzte sich geräuschvoll. »Aber ich darf nichts sagen.«
Pascal hockte sich neben ihn. »Deswegen also deine Angst. Aber lass dir eines gesagt sein: Nicht nur du liebst Caillou. Er ist mein Mann. Er und ich haben uns nicht ohne Grund das Ja-Wort gegeben. Er vertraut mir und ich vertraue ihm.«
»Dann vertraue auch seiner Entscheidung und frage nicht weiter nach. Es gibt gute Gründe, warum jemand in Unwissenheit belassen werden sollte. In dem Fall dient es deiner Sicherheit. Was wäre ich für ein Schwager, dich durch solches Wissen in Gefahr zu bringen?«
»Es hat mit diesem Kellertempel hier zu tun, nicht wahr? Camille! Das kann nicht euer Ernst sein.«
»Lass uns nach oben gehen. Kein Wort zu irgendwem.«
Camille löschte die Kerzen und das Räucherwerk und begleitete Pascal nach oben. Er folgte ihm zurück in Caillous Zimmer, wo er sich nackt auf ihr Ehebett legte, als sei das nun sein Platz. Bisher hatte er die Nächte in seinem eigenen Bett verbracht, aber scheinbar gedachte er das nun zu ändern. »Wann wirst du gehen, Pascal? Und wer wirst du unter diesem neuen Namen sein?«
»Als Patrice werde ich jemand sein, der all die Dinge verkörpert, die ich als Pascal verabscheue.«
Camille verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute wenig begeistert. »Wie willst du so jemanden vernünftig verkörpern? Du kennst die Richtlinien. Man soll jemanden spielen, mit dem man sich identifizieren kann und der einem leicht von der Hand geht.«
Pascal winkte unwirsch ab, weil er nicht daran denken wollte, dass Timothèe vielleicht im Herzen wirklich ein so verabscheuungswürdiger Mann war. Pascal würde beweisen, dass man sehr wohl überzeugend eine Persona verkörpern konnte, die man selbst innerlich ablehnte. Es war alles eine Frage des Willens.
»Für mich ist es kein Spiel, Camille. Nenne es Katharsis. Ich werde mich meinen Abneigungen stellen. Ich werde verkörpern, was ich niemals sein will. Ich werde sein, was ich hasse und jeder wird mir glauben, dass ich tatsächlich dieser Mann bin. Ich habe in letzter Zeit eine Theorie aufgestellt. Sie lautet: Erst dann, wenn ein Lotos die Persona frei von allen charakterlichen Einschränkungen und Vorbehalten wählen kann, erst dann, wenn er sein kann, was immer er will, ist er wirklich erblüht. Es ist eine kühne These, doch ich halte sie für wahr. Ich glaube nämlich, dass es sich bei Timothèe so verhält. Wer auch immer er ist, derjenige hat nichts damit zu tun, was er uns vorspielt. Ich werde das empirisch beweisen. Du wirst sehen, auch mir wird das gelingen. Und am Ende werde ich all das Schlechte, das ich dargestellt habe, einfach unbeschadet abstreifen wie einen abgetragenen Mantel.«
Camille klopfte neben sich auf das Bett. »Du hast dir viele Gedanken gemacht. Leg dich zu mir. Erzähl mir von dieser Persona, die du hassen wirst. Wer ist Patrice? Warum magst du ihn nicht leiden?«
Pascal beugte sich zu ihm herüber und küsste ihn erneut, wie er Caillou geküsst hätte. Zwei Tränen rannen seine Nase hinab. Er vermisste seinen Mann schmerzlich und er glaubte nicht, dass seine Trauer geringer war als die des alleingelassenen Bruders.
Er riss sich zusammen und legte sich neben Camille auf seiner Betthälfte nieder. »Patrice ist ein Mann, dem die Natur einen scharfen Verstand gab, aber nicht die Fähigkeit, ihn zu benutzen. Er hat alles und kann nichts daraus machen. Er lässt andere für sich denken und ist Spielball der Götter. Diese Eigenschaft wird Patrice das Leben schwer machen, doch für mein Gehirn wird sie wie ein Urlaub sein. Ich werde seinen geistigen Stillstand sehr genießen.«
»Ein ziemliches Dummerchen, dieser Patrice.«
»Das ist er. Für einige Monate werde ich, so wie er, das Denken aufgeben und mich fallen lassen, werde sein wie jeder normale Bürger, der in seinem Alltagstrott versinkt. Und ich werde jemand sein, den auch Timothèe nur verachten kann. Jemand, der mir selbst vollkommen fremd ist, den meine Sorgen und Nöte nicht kümmern, weil er einfach in den Tag hinein lebt.«
Pascals Stimme war voll Bitterkeit. Wenn er zurückkehrte und die höchste Meisterschaft vorwies, zu der ein Lotos fähig war, würde Timothèe anders von ihm denken.
Camille knuffte ihn sanft. »Was interessiert dich der alte Langweiler Timo so dermaßen? Willst du ihn damit ärgern? Zeitverschwendung. Er ist kalt wie ein Fisch, es wird dir nicht gelingen. Gefühle hat der gar keine. Für ihn gibt es nur Funktionalität und Dysfunktionalität.«
»Oh doch. Es wird ihm weh tun, mich so zu sehen, aber er wird mich für diese Leistung auch bewundern.«
»Viel eher wirst du dir selbst weh tun als ihm! Pascal, das ist zu viel. Lass den Unsinn.«
»Ich«, sprach Pascal, »existiere ja nicht einmal! Mich gibt es so wenig wie dich. Mein Name ist nicht Pascal und du bist nicht Camille. Dein Bruder ist nicht Caillou und er ist nicht mein Mann. Unsere Ehe ist, wie alle Verträge, die ein Lotos unter seinem falschen Namen schließt, null und nichtig. Dieses Haus gehört euch nicht, eure Namen gehören euch nicht, ihr gehört euch nicht einmal selbst. Auch der Keller ist nur Kulisse und unser Leben eine Bühne. Der Gedanke macht mich fertig, Milli.«
»Schon, aber diese Art, damit umzugehen, bringt dich doch nicht zu einer Lösung. Die Dinge sind einfach so und du vermisst Caillou. Das ist alles.«
»Natürlich vermisse ich ihn, das sagte ich ja bereits. Es ist so viel hochgekommen dadurch. Ich benötige eine Auszeit von all dem und da ich diese nicht haben kann, weil ein Lotos niemals Urlaub hat, brauche ich so viel Abstand zu der Illusion namens Pascal, wie es nur möglich ist! Auch ich werde gehen, auf meine Weise, wenn ich es räumlich schon nicht vermag. Ich gehe in ein inneres Exil. Pause, fertig, aus. Mit der Meisterschaft als Nebeneffekt.«
»Du wirst davon krank werden«, mahnte Camille besorgt. »Beim Versuch, dich irgendwie in diese unpassende Persona hineinzuquetschen, wirst du zugrunde gehen.«
»Begreifst du es nicht? Das ist doch längst geschehen. Ich bin als Pascal nur eine namentlich benannte Hülle, die Illusion einer Person, eine Menschenpuppe. Wir alle sind das. Wir sind Marionetten an den Fäden der Lotosspinne, unseres Namens und unseres Lebens beraubt. Ich kann nicht sterben, denn ich habe niemals gelebt. Es ist nichts kaputtzumachen. Ich muss das tun, um all diese Dinge für eine Zeit zu vergessen. Wenn du ein Freund bist-«
»Ich bin viel mehr als ein Freund. Ich bin dein Mann, bis Caillou zurück ist. Ich liebe dich, Pascal. Und etwas anderes will ich nicht hören.«
Pascal keuchte. »Warum machst du es mir dann noch schwerer? Die Entscheidung ist doch schon längst getroffen. Und was wirst du sein, wenn Caillou heimgekehrt ist? Hast du daran mal gedacht?«
Camille presste die Lippen zusammen und zuckte mit den Schultern. »Ich werde das Gleiche für dich sein wie vorher, der stille Bruder im Schatten von Caillou, der für ihn die Kastanien aus dem Feuer holt, ihm den Rücken freihält und ihm mehr als einmal das Leben gerettet hat. Der den gleichen Mann liebt, auf eine leise Art, die niemand bemerkt und niemand beachtet. Wenn das Feuer naht, verdampft das Wasser.«
»Weiß Caillou davon?«
»Hätte er mich sonst gebeten, dir ein Mann zu sein während seiner Abwesenheit?«
Plötzlich meinte Pascal, das ganze Ausmaß zu begreifen. »Er rechnet mit seinem Tod. Er will, dass weder sein Bruder noch sein Mann allein sind, wenn ihm etwas zustößt. Wir sollen uns gegenseitig Halt geben.«
»Das trifft es ganz gut.«
»Schön hat er das geplant! Aber er hat die Rechnung ohne mich gemacht. Auch ich werde verreisen, auch wenn mein Körper weiterhin durch Beaufort wandelt. Pascal wird ruhen, bis Caillou zurückkehrt, in einem Kokon, den ich momentan webe. Das müsst ihr beide verstehen. Es ist nicht nur, dass mir Caillou fehlt, mir fehlt auch Vittorio und ... der alte Timo. Nicht der Jetzige, der von früher. Ich kann nicht mehr. Gib mich frei, Milli. Lass mich diesen Kokon fertig weben und mich für eine Weile darin verpuppen, ehe ich als neuer, fähigerer und besserer Mensch daraus hervor steige.«
Camille legte den Kopf ins Kissen und streichelte Pascals Flanke. Sein Schweigen war die Antwort. Und doch schlief er bald ein. Sein Beruf war anstrengend. Pascal stand leise auf, obwohl es inzwischen sehr spät sein musste, und setzte sich erneut an den Schreibtisch.