Beiträge von Vittorio Pollarotti

    Alejandro verneigte sich vor seinem Duca. Ungeachtet seines fortschreitenden Alters waren seine Bewegungen kraftvoll und geschmeidig, auch wenn die Verneigung in der Wirbelsäule zwickte.


    "Es wird geschehen, wir Ihr wünscht, Majestät. Ihr werdet sehen. Am Ende fügt es sich, wie es sich fügen muss. Ich danke Euch für Eure Zeit, Euer Ohr und Euer Herz. Die Götter sind mit Euch."


    Rückwärts entfernte der Agent sich vom Thron, bis er die Linie der breiten Flügeltür erreicht hatte. Unter seinen Füßen endeten die samtgrünen Jadeplatten des Thronsaals und der rosa Marmor des Ganges begann. In gleicher umständlicher Weise musste auch der andere Gast sich entfernen, wie es der Brauch verlangte. Nachdem sie die Schwelle überquert hatten, schloss man von innen beide Türflügel und die rechts und links davor stehenden Celesti kreuzten ihre Speere, das Zeichen, dass die Audienz für diese Gäste nun beendet war und sie sich abwenden sollten.

    Alejandro hatte auf diese Frage gewartet. Obgleich er die Worte lange schon in seinem Kopf zurechtgelegt hatte, war ihm unwohl bei der Angelegenheit. Er hatte zu lange als Agent gearbeitet, um sich noch wohl damit zu fühlen, jemandem so offen die Wahrheit zu sagen - besonders, wenn es um jenen Kopf samt Kragen ging.


    "Zweifel an meiner Treue zu Ledwick, Zweifel an meiner Aufrichtigkeit, und vielleicht generelle Zweifel an meiner Person: Wie kann man es verübeln? Doch erinnere ich höflich daran, dass ihr selbst mich entsandt habt. Ich war die Augen und die Ohren des Seelöwen. Es gelang mir, vom souvagnischen Orden des Stählernen Lotos rekrutiert zu werden, nutzte dessen Netzwerk und baute es weiter aus. Dass die Mittel unkonventionell ausfielen - sei es drum.


    In all den Jahren versah ich stets treu meinen Dienst, der ledwicker Agent Alejandro Alballo im Gewand des souvagnischen Agenten Vittorio Pollarotti. Es war nicht zum Schaden Ledwicks."


    Er nickte in Richtung der Dokumente.


    "Den Kopf des Stählernen Lotos - Vendelin von Wigberg - für uns zu gewinnen, ist ein absoluter Glücksfall. Diese Gelegenheit sollte Ledwick nicht verstreichen lassen."

    Das schittige Schiff glitt eine Kurve und landete butterweich am Steg. Man ahnte bei so viel natürlicher Leichtigkeit, dass der Kapitän ein Ledvigiano sein musste und so war es aus. Alejandro, wie er nun wieder hießt, ließ erst alle anderen aussteigen, dann ging er als letzter von Bord.


    "Exzellenz", grüßte er den Mann, für den er all die Jahre gearbeitet hatte, gefolgt von einer leichten Verneigung. "Alles lief gut, es gab keine besonderen Vorkommnisse. Ich habe hier die Flüchtlinge aus Souvagne, die evakuiert werden sollten und nun eine neue Heimat suchen. Insbesondere die Soldaten werden des Schutzes bedürfen, da sie nun fahnenflüchtige Deserteure sind."

    Der schnittige Bug teilte das Wasser wie ein Messer. Im Sonnenaufgang glitzerte die Gischt rötlich. Der Wind gab ihnen guten Schub von hinten. Alejandro sang, während er segelte. Seine Stimme hallte weithin. Keine Illusion von Heimlichkeit, ein Schauspiel, das ein anderes deckte, indem es dieses negierte, ein Mantel über der Maske.


    Die Fischer, die ihm entgegenkamen, grüßten ihn, riefen und winkten, er erwiderte den Gruß laut und herzlich, das letzte Mal auf souvagnischem Wasser. Die Arbeit in diesen Gefilden hatte ihm Spaß gemacht, doch anderswo gefiel sie ihm genau so gut. Er war nirgends sesshaft und hatte nicht vor, es zu werden.


    An der sandigen Bucht zwischen den Trauerweiden, wo oft die Herden zur Tränke kamen, nur einen kleinen Fußmarsch südlich der Hauptstadt, warteten weitere Passagiere.

    Die Flammen schlugen hinauf zu den beiden Monden. Das Gebälk knackte und krachte, bis das Dach in sich zusammenbrach, ein riesiger Scheiterhaufen der Erinnerung. Nichts blieb. Nachts löschte aus Gründen der Eigensicherung keine Feuerwehr. Das Haus und vielleicht das ganze Viertel war verloren. Das Feuer fraß jeden Hinweis auf Wenzels Nachkommen und auf den Orden des Stählernen Lotos. Alles, was sie nicht hatten mitnehmen können, fiel den Flammen zum Opfer.


    Die Kutsche war zu dieser Zeit längst woanders angelangt. Bald erreichten sie den Draken, glänzend wie Teer in der Dunkelheit, wo das wartende Fischerboot vor Anker lag. Rasch luden sie alle Habseligkeiten aus der Kutsche ins Schiff. Niemand beachtete sie. Wer noch auf den Straßen war, konzentrierte sich auf das wachsende Inferno.


    Der Draken war der schnellste und unauffälligste Weg nach Ledwick und Vittorio mit dem Wasser verwachsen. Als die Sonne aufging, war die Kutsche verschwunden und Vittorio in seiner Fischertracht hisste die Segel. Er arbeitete allein, Hilfe benötigte er nicht. Nichts deutete auf die verborgenen Passagiere und das Gepäck im Rumpf hin.


    Das Fischerboot glitt zügig nach Süden.

    Das Oberhaupt des Stählernen Lotos war - wieder mal - an seinem Arbeitsplatz nicht aufzufinden. Alejandro stand mit einem höchst bedeutsamen dienstlichen Anliegen vor der verschlossenen Tür der Amtsstube. Es war ja nicht so, dass es keine Umstände machen würde, mal eben von Ledwick nach Souvagne zu reisen, um mit dem Vorgesetzten zu sprechen! Glücklicherweise gehörte er zu den wenigen Menschen, welche den Privatwohnsitz der Grauen Eminenz kannte, welche den Orden und das Schicksal so vieler Menschen lautlos lenkte.


    Wenig später sah er Vendelin beim Teekochen in dessen unordentlicher Küche, in der Alejandro unter dem Namen Vittorio früher oft Frühstück für die kleine Familie gekocht hatte. Sie war eine Illusion gewesen, so wie ihre Namen, so wie alles von ihnen, und er war es gewesen, der sie zerschlagen hatte, als er ihrer überdrüssig geworden war. Erst viel später war Alejandro bewusst geworden, dass es nicht die Persona namens Timothèe war, die ihn geliebt hatte, sondern Vendelin selbst. Für Vendelin war es kein Schauspiel gewesen, sondern Ernst.


    "Du siehst müde aus", stellte Alejandro fest, während Vendelin das kochende Wasser aus dem Topf in die blau und gelb gestreifte Kanne goss.


    Vendelin stellte nach einigem Suchen zwei rot und grün gepunktete Tassen dazu, die offensichtlich zu einem völlig anderen Teeservice gehörten, aber immerhin gleich aussahen. "Ich komme gerade von einer Auslandsreise wieder, Alejandro. Ich habe die Überreste meines Verwandten Veyd von Eibenberg geborgen und sichergestellt, so weit Garlyn noch etwas davon übrig gelassen hatte. Natürlich sind solche langen Reisen immer mit einer gewissen Mühsal verbunden."


    Alejandro, der gerade einen Schluck Tee kosten wollte, stellte die Tasse rasch wieder ab und setzte seinen harmlosesten Blick auf. Aufgrund seiner dunklen, im Kaminfeuer glänzenden Augen gelang ihm das besser als jemandem mit hellen Augen. Für seine schönen Augen hatte der alte Haudegen im Laufe der vielen Jahre, in denen er schon Liebhaber wilderte, oft Komplimente erhalten und sicher machten sie einen Teil seines Erfolgs aus. "Als Ghul ist Garlyn natürlich nur teilweise verantwortlich für seine Handlungen", stellte er in ruhigem Tonfall fest. In Wahrheit war es eine Frage, was aus Garlyn geworden war, nachdem er sich solch einen Schnitzer geleistet hatte.


    Die Bemerkung brachte ihm jedoch nur einen unsagbar müden Blick seines Vorgesetzten ein. "Garlyn war nur das Werkzeug eines anderen. Bislang gab es trotz des Verschwindens von Veyd keine Anklage und keine Ermittlungen. Der Grund für diese Ignoranz ist natürlich offensichtlich. Der Mann, der meinen arglosen Sklaven mit diesem fatalen Auftrag entsandte und ihn mit frischem Fleisch köderte, ist das Oberhaupt des Eingreifstrupps der souvagnischen Krone höchstselbst."


    "Davard von Hohenfelde."


    "So ist es. Es ist nicht davon auszugehen, dass eine Strafantrag in diese Richtung je Gehör fände, selbst wenn jemand stellen würde. Da Garlyn und ich die einzigen Zeugen zu diesem Mord sind, obläge die Anklage mir. Ich werde diesen Trumpf jedoch nicht so schnell aus der Hand geben, denn sie gibt mir Macht über Davard. Es sei denn, die Familie Eibenberg würde mich um ihre Hilfe bitten. Diese Hilfe würde ich ihnen nicht verwehren. Das ist bisher aber noch nicht geschehen."


    "Falls es doch zu einer Anklage kommt, was wird aus Garlyn? Er kann doch nichts dafür, er ist nur ein Sklave und obendrein ein Ghul."


    "Nun", sprach Vendelin gedehnt, "was aus ihm wird, liegt ganz bei dir und deiner künftigen Kooperationsfähigkeit. Ich bin nicht in allen Belangen zufrieden, Alejandro. Besonders nicht damit, wenn jemand einfach verschwindet, ohne den Orden über seinen Verbleib zu informieren. Beim nächsten Mal erwartet dich eine Verurteilung wegen Fahnenflucht."


    "Natürlich. Ich bitte um Verzeihung. Allerdings ist Garlyn nicht mein Sklave, sondern deiner. Du solltest mit einer Anklage daher vorsichtig umgehen. Das Verschwinden von Veyd könnte auf dich zurückfallen." Eine sichtliche Unruhe ergriff ihn, als er Vendelins Lächeln sah. "Oder nicht?", fügte er hinzu, nervös mit der heißen Tasse spielend.


    "Es gibt Unterlagen, die nachweisen, dass Garlyn, der Mörder des Veyd von Eibenberg, sich zu jenem Zeitpunkt in deinem Besitz befand."


    Alejandro unterdrückte ein gequältes Stöhnen. Natürlich. Kaum jemand vermochte Dokumente so zuverlässig zu fälschen wie Vendelin, der selbst als ganze Person eine einzige Fälschung war. Wahrscheinlich wusste er selbst nicht, wer er unter all den Lügen noch war. "Wo ist Garlyn jetzt, Vendel?"


    "Ach, jetzt bin ich auf einmal wieder Vendel. Machst du dir Sorgen um dich selbst oder um den alten Ghul? Er ist fort, weg, an einem anderen Ort, außerhalb Souvagnes in Sicherheit. Du weißt ja, dass Ghule keinen Zutritt mehr nach Souvagne haben. Da bildet meiner keine Ausnahme."


    "Dient Garlyn also wieder in der Strafkompanie?"


    "Nein, Alejandro. Das wäre zu einfach."


    "Die Himmelsröhre?"


    "Lachhaft simpel geschlussfolgert und genau so falsch. Sie gehört nicht länger zu unserem Interessengebiet", informierte Vendelin, während er eine unlackierte tönerne Zuckerdose aus dem von verschiedenartigen Flaschen, Kästchen und Dosen überbordenden Küchenregal holte. Er stellte sie auf den Tisch. "Die Schwerpunkte der Ermittlungen des Stählernen Lotos liegen derzeit in Ehveros, die Himmelsröhre genießt keine Priorität mehr, seit der Ring in Souvagne zerschlagen wurde. Folglich werde ich meinen dümmlichen Sklaven auch nicht dort verstecken, es wäre vergeudetes Potenzial. Falls du dich tatsächlich für den Verbleib von Garlyns Kehrseite interessierst - ich nehme nicht an, dass deine geheuchelte Zuneigung darüber hinaus geht - so strenge deine Agentenfähigkeiten an."


    "Diese Einschätzung ist nicht gerecht."


    "Nichts ist gerecht, mein Lieber. Gerechtigkeit ist das, was wir dazu erklären. Recherchiere, sammle Indizien, finde Garlyns Aufenthaltsort selbstständig heraus", fuhr Vendelin ungerührt fort. "Von mir hast du im Laufe des Gesprächs einige Hinweise erhalten. Was du daraus machst, obliegt allein dir. Falls es dir ernster mit Garlyn ist als seinerzeit mit mir, dann ist dies das Mindeste, was er von dir erwarten kann."


    Vendelin kramte unter lautem Geklimper im überquellenden Besteckkasten nach einem kleinen Löffel. Alejandro unterdrückte den Drang, sich zu erheben und ein wenig Ordnung in der Küche zu machen. Als er noch hier gewohnt hatte, war sie in tadellosem Zustand gewesen, der wohnlichste Ort des ganzen zugemüllten Hauses. Was war nur los mit Vendelin? Alejandro nahm nicht an, dass er noch immer von seinen Umtrieben verletzt war. Immerhin hatte er sich längst von ihm losgesagt und einen Neuanfang gewagt.


    Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. "Entnehme ich deiner Laune korrekt, dass sich auch die Sache mit Hector erledigt hat?"


    Vendelin betrachtete einen Löffel im Licht, mit dessen Sauberkeit er nicht zufrieden war. Er legte ihn in die Spüle und grub nach einem neuen. "Das könnte man so schlussfolgern, wenn man möchte."Vendelin fand in den Tiefen seines unordentlichen und Besteckkastens einen neuen Löffel, war diesmal mit der Sauberkeit zufrieden und setzte sich an den Tisch. "Ich sagte doch, dass ich nichts mehr von der Himmelsröhre und ihren Bewohnern wissen möchte."


    Alejandro nickte mit, wie er hoffte, beschwichtigendem Blick. "Ich stelle keine weiteren Fragen dazu. Darf ich nun zum dienstlichen Teil übergehen, nachdem wir diese privaten Dinge geklärt haben? Es geht um die Situation in Ehveros. Darum bin ich hier. Nicht um dich mit Garlyn oder mit dem anderen zu plagen." Alejandro stellte fest, dass es sich ziemlich gut anfühlte zu wissen, dass Hector von Vendelin zur persona non grata ernannt worden war.


    Vendelin gab ihnen jeweils ein Löffelchen Zucker in den Tee. "Sprich, Alejandro. Ich bin ganz Ohr."

    "Zum Admiral persönlich? Da wird es der Gegenwart des Cavaliere bedürfen."


    Im Dienst zu grinsen war ein Unding, doch sollte man ruhig versuchen, es Vittorio zu verbieten, als er den Boten ins Auge fasste. Das würde ein spannendes Gespräch werden.


    Sein Gesicht war allerdings ernst, als er mit dem Befehlshaber zurückkehrte. Nur widerwillig ließ der viel zu junge Cavaliere Zelindo di Acacio sich aus seinem Versteck im Flaggschiff locken. Eher klein und dünn war er, doch die leichte Lederrüstung, in der man auch schwimmen konnte, saß tadellos. Diese leichten Rüstungen unterschieden sich von den massiven Eisenpanzern, die in Souvagne üblich waren.


    Auf dem Kopf trug er eine gelb-grün gestreifte Kopfbedeckung, die an einen Turban erinnerte, dessen beide Enden lose über die linke Schulter lagen. Die Maske, die ihn als Adligen in Amtsausübung auswies, war golden mit grünen Abzeichen. Das Wappen auf seinem weißen Waffenrock zeigte einen golden blühenden Kranz von grünen Akazienzweigen.


    "Aber wo Sicomoro ist ... da müsst ihr die Oltremarini fragen. Ich schlage vor, dem Duft des Goldes zu folgen."


    Am Ende war auch der Machese Sandro di Sicomoro gefunden. Vittorio hatte ihn noch nie ohne Maske gesehen, was für die meisten Edelleute galt, die man nur anhand ihrer Farben, Wappen und der Verlautbarung ihrer Herolde erkannte. Die Farben Sicomoros waren schwarz und gold, in seinen Kleidern wirkte er hochgewachsen, dürr und die Maske böse. Es verwunderte kaum, dass sein Wappentier der Kormoran war.

    Jetzt kam Bewegung in die Sache. Zufrieden beobachtete Vittorio das entstehende Gewimmel. Den Boten winkte er zu sich persönlich heran.


    Sein Offizier, der Cavaliere Zelindo di Acacia, ließ ihm den Vortritt. Der sehr junge Mann, kaum dem Knabenalter entwachsen, war anwesend, aber delegierte vertrauensvoll, sprich, er war ein Feigling. Den Vater hatte er, wie so viele andere, an den Krieg verloren. Aufgrund seiner extremen Jugend war es sicher nicht das schlechteste, wenn er den erfahrenen Männern den Vortritt ließ.


    Mal sehen, wer da anrückte und was er anbot ...

    Die Ankunft der Lagunari

    In Ehveros wüteten die Oltremarini. So sah sie also aus, die Rehabilitierung der Verbrecher. Unter dem Schutz ihrer Vorgesetzten, die sich genau wie ihre Männer die Taschen vollschlugen, plünderte man und ließ es sich gut gehen. Vittorio sah den Soldaten zu, die als er sein Schiff über den Draken fuhr. Die Zeit des Mordens und Brandschatzens war vorbei, doch das Plündern hatte gerade erst begonnen.


    Man benahm sich, als stünde das besetzte Land und alles was darin kreuchte und fleuchte zur freien Verfügung. Einige der Oltremarini waren offensichtlich betrunken. Man fraß die Vorräte, raubte die Schmuckstücke, bediente sich an den Frauen und schlief in den Herrenhäusern des Adels. Waren die Oltremarini einmal entfesselt, waren sie kaum noch aufzuhalten und die internationalen Verquickungen waren nur eine Frage der Zeit. Die Krone Ledwicks war wenig begeistert, hatte empört Disziplin eingefordert und das Schreiben war verschollen. Der Duca war weit weg, sollte er sich doch auf seinem Walbeinthron aufregen. Die Oltremarini feierten die Zerstörung.


    Anderthalb Jahre hatte man es geduldet, Boten geschickt, Rechenschaft gefordert, hatte sich Beschwichtigungen angehört. Nun kamen die Lagunari.


    Ledwicks bestens ausgerüstete Vorzeigetruppe, keine Verbrecher, keine Fremdländer - alles reinblütige Ledvigiani. Seit ungezählten Generationen waren sie die Herren des Dhunischen Ozeans.


    Vittorio schmunzelte, dann gab er das Kommando zum Anlanden. Mit einem Knirschen grub der Bug des Truppentransporters sich in den Kies des Flussufers. Er senkte den Daumen und der Anker klatschte ins Wasser. Wenig später war das Drachensegel gefaltet, kraftvoll röhrte das Horn, die leichten ledwicker Kampfstiefel, die beim Schwimmen nicht hinderten, trampelten über die Planke. Die Lagunari in ihren leichten Rüstungen nahmen vor Drakenstein Aufstellung. Die Fahne ihrer Einheit peitschte knallend im Wind.


    Ein zweites Transportschiff schob sich dahinter ans Ufer, es röhrte ein zweites Horn. Ein drittse, viertes, bis es fünf Transportschiffe waren, die ihre Soldaten an Land spien. Gute Ledvigiani, Vollbürger, beäugt von den betont gelangweilten Oltremarini, die keine Anstalten machten, irgendetwas an ihrem Tagesablauf zu ändern. Nur deren ledwicker Befehlshaber wirkten ein wenig nervös.


    Vittorio schrie, gab Handzeichen, sortierte. Seine größte Stärke war Heimlichkeit, doch diese Zeiten waren nun vorbei. Die anderen vier Offiziere hielten es genau so. Die Lagunari stellten ihre Stärke und Disziplin offen zur Schau, als sie den Boden von Ehveros betraten.

    Erkenntnisse

    Noch immer prasselte der Regen auf die Zeltplane. Das Leinen hielt längst nicht mehr dicht und die Tropfen klatschten in die überall verteilt stehenden Töpfe. Eine einzelne dicke Kerze auf dem Arbeitstisch spendete genügend Licht, um den Inhalt des Zeltes zu erkennen. Vittorio saß rauchend auf dem einzigen Feldbett. Garlyn lag zwischen seinen Beinen und ließ sich mit geschlossenen Augen streicheln. Sein Rücken fühlte sich kalt an.


    Es gab eine unerwartete Schnittmenge zwischen Garlyn und Vittorio. Manchmal fanden Zufälle statt, die wahren so unwahrscheinlich, dass es sie eigentlich gar nicht geben dürfte. Die Schnittmenge trug keinen geringeren Namen als Wenzel von Wigberg. Seit sich herausgestellt hatte, dass sie beide einst für diesen Mann gearbeitet hatten, fraß Garlyn seinem Häscher aus der Hand. Das unterwürfige Verhalten und die Bissnarbe ließen keinen Zweifel daran, dass dieser kräftige große Kerl mit Leib und Seele Wenzels Sklave gewesen war. Allen Widerstand und alle Sorge hatte er vergessen und sich in Vittorios Hand begeben, als letzte Verbindung zu Wenzel, die es für ihn noch gab.


    Draußen vor der Zeltplane plauderten ein paar Soldaten, doch niemand störte sie. Der Zelteingang von Vittorios Einzelzelt war verhangen. Das schützte nicht vor Mitwissern, sorgte aber dafür, dass andere guten Gewissens behaupten konnten, nichts bemerkt zu haben. Es war nicht gern gesehen, dass er sich einen Gefangenen mit ins Bett genommen hatte, aber auch nichts Ungewöhnliches. Bemerkte man es, wurde man gerügt und diszipliniert, aber niemand gab sich in ihrer Einheit Mühe dabei, diese Art von Verstöße festzustellen. So nutzte Vittorio die gehobene Stellung, die ihm Cavaliere Zelindo di Acacia aus Faulheit verschafft hatte, zu seinem Vergnügen aus. Alejandro Alballo jedoch verwendete sie zur Erfüllung seiner Pflicht. Hinter der Maske von Vittorio war er hellwach, aufmerksam und erwog seine Möglichkeiten.


    »Dein Herr hat dir also mit seinem Ableben testamentarisch die Freiheit geschenkt, Garlyn. Wie geht es dir nun damit? Nachdem du Wenzel so lange dientest, stelle ich es mir schwer vor, als freier Mann durch Naridien zu wandeln, plötzlich Verantwortung für sein Leben tragen zu müssen.«


    »Es ist auch nicht leicht. Darum habe ich mich als Söldner verpflichtet.«


    »Nicht als Soldat also.«


    »Nein, Vittorio. Ich habe keine Geburtsurkunde und kann nicht nachweisen, dass ich wirklich naridischer Staatsbürger bin. Meine Eltern verkauften mich ja schon als kleiner Junge in die Sklaverei. Offiziell gibt es das in Naridien nicht, aber Wenzel hatte nicht nur die naridische Staatsbürgerschaft inne. Der Dienst als Söldner ist schon in Ordnung.«


    Vittorio streichelte ihm den muskulösen Nacken mit der wulstigen Bissnarbe. »Ob dieser Beruf für dich wirklich der richtige ist, darf sicher diskutiert werden. Du hast die Leiche deines Kameraden angeknabbert, ihm das Herz rausgeschnitten und es gegessen. Bist du sicher, dass du den Dienst gut verträgst?«


    »Das ist keine Abnormität. Es ist eine Notwendigkeit«, sagte Garlyn leise.


    Vittorio nahm einen tiefen Zug. Er blies den Rauch aus seinen Lungen. Unter dem nassen Zeltdach verwirbelte er. Vittorio zog die Decke etwas weiter über Garlyn und damit auch über seine Beine. Der Mann fühlte sich kalt an wie ein Fisch und spendete keine Wärme. Für einen so großen, kräftigen Burschen war das ungewöhnlich. »Ich möchte dich über deine jetzige Situation informieren. Bislang hat niemand Interesse daran bekundet, dich auszulösen. Niemand scheint sich für dein Fehlen zu interessieren. Vielleicht aufgrund deiner kulinarischen Interessen?«


    »Etwas anderes kann ich nicht essen, Vitto. Ich bin ein Ghul. Wie ich schon sagte, mein Herr hielt stets seine schützende Hand über mich, auch nach seinem Tod. Ich könnte theoretisch ewig leben, doch alles hat seinen Preis. Damit ich jung und gesund bleibe, muss ich Tote verzehren.«


    Das Puzzle fügte sich. Nun ergab alles Sinn. Das Schleichen zwischen den Fronten, der heimliche Verzehr der Leichenteile, die körperliche Kälte. Garlyn war ein Geschöpf, das eigentlich längst zu seinem Herrn unter die Erde gehörte, sich jedoch durch den Verzehr von Leichenfleisch in einer körperlichen Existenz verankerte.

    »Wenn dein Herr sich die unsagbar teuren Dienste eines Nekromanten leisten konnte, um seinen Sklaven vor dem Tod zu retten, warum hat er sich nicht auch selbst unsterblich gemacht?« Vittorio kannte die Antwort, doch er wollte herausfinden, inwieweit Garlyn eingeweiht war in Wenzels Geheimnisse.


    Der Rotschopf schnaufte, ihm machte das Thema zu schaffen. »Wenzel konnte nicht wiederbelebt werden, weil er keine Seele besaß. Solche Menschen gibt es. Er hat mir davon berichtet, wie seine Vorfahren einst lebten, in jenen Nächten, die zu lang und zu dunkel waren und die er nicht allein verbringen konnte. Ich hatte ihm selbst nie viel zu erzählen, da ich mein Leben abgeschottet in der Himmelsröhre verbrachte, doch ich war der Zuhörer, den er brauchte.«


    »Jetzt bin ich der Zuhörer, den du brauchst«, sagte Vittorio freundlich und nahm noch einen Zug. »Wenzel ist bis zu seinem Tod unser beider Herr gewesen. Dich gab er frei, in meinem Fall endete das Dienstverhältnis auf normalem Wege. Ich war nicht sein Sklave, sondern arbeitete als freier Mitarbeiter für ihn. Fahre ruhig fort. Ich höre zu. Was weißt du über die Seelenlosen?«


    »Sie sind ein Relikt aus der Vorzeit. Damals waren die Hexenmeister der Adel der Welt. Sie regierten die alten Länder und fochten ihre Streitigkeiten anders aus als heute. Es tobten schreckliche Magierkriege, die unsere Welt in Asche versinken ließen, bis alles kollabierte. Das Jahr der Asche, der Beginn unserer Zeitrechnung, als die Magier ihre letzte Zuflucht durch ein gewaltiges Gefecht zerstörten. Viele Magier sind danach nicht übrig geblieben, die ihre Gabe noch vererben konnten, darum sind heute, ganz im Gegensatz zu früher, die meisten Menschen nichtmagisch. Und sie haben auch keine politische Macht mehr inne. Einige der Hexer wurden damals während der langen Magierkriege völlig ausgebrannt, sie verloren nicht nur ihre Gabe, sondern ihre Seele. Zurück blieben sterbliche Hüllen ohne jegliche Verbindung zum Nexus. Das hatte einen überraschenden Vorteil, es machte sie immun gegen magische Angriffe. Aber leider auch gegen jede Art von magischer Hilfe. Man kann sie weder verfluchen noch heilen und auch nicht wiederbeleben. Wenzel war ein Nachfahre solcher Ausgebrannter.«


    Er war also gut informiert. Das machte vieles einfacher.

    »Wenzel entstammte einem sehr alten Adelsgeschlecht«, bestätigte Vittorio. »Ihre Überlieferung reicht gut 600 Jahre zurück in die Vergangenheit. Trotz des Verlusts ihrer magischen Fähigkeiten haben die Wigbergs sich durchsetzen können und sie existieren noch heute. Wo Magie und Schwert keinen Erfolg mehr versprechen, müssen andere Lösungen her und diese Kunst haben sie gemeistert. Sie sind Spione, Wissenssammler, Meister der Heimlichkeit. Vor allem aber sind sie begnadete Marionettenspieler und ihre Fäden reichen weiter, als die meisten ahnen. Kaum einer hat je ihren Namen gehört und doch ist er überall. Es war eine große Ehre für dich, einem von ihnen dienen zu dürfen. Eine noch ungleich größere Ehre jedoch war Wenzels Dank. Das daraus resultierende kulinarische Problem stellt uns nun allerdings vor Schwierigkeiten. Es wird nicht leicht werden, dich in Gefangenschaft zu versorgen.«


    »Heißt das, man wird mich laufenlassen?«


    »Nein, Garlyn. Das heißt etwas völlig anderes. Auch ein Ghul ist nicht wirklich unsterblich. Und glaubst du, jemand wird dir Menschenfleisch besorgen? Niemand wird dir, nur weil du der Sklave eines edlen Herrn warst, solche Marotten durchgehen lassen oder sie gar unterstützen. Dafür müsstest du schon selbst den Namen Wigberg tragen, oder Caldera, oder La Grange und wie die hohen alten Häuser alle heißen. Du wirst nur Fischbrei erhalten, den du nicht verwerten kannst. Bald verlierst du deinen Verstand und beginnst bei lebendigem Leib zu verwesen. Spätestens dann wird man sehen, was du bist und dich um die Last deines untoten Hauptes erleichtern.«


    »Dann lass mich laufen«, bat Garlyn flehentlich. »Du siehst mich nie wieder. Ich bin ein moralischer Ghul, ich organisiere mir mein Fleisch auf den Schlachtfeldern dieser Welt. Ich bin nicht wie andere meiner Sorte, ich bin kein Mörder, der die Leichen seiner Opfer frisst. Ich verdiene mein Geld mit ehrlicher Arbeit und verwerte nur jenes Fleisch, das ohnehin anfällt, ob ich nun zufällig in der Nähe bin oder nicht.«


    »Ich kann dich nicht laufen lassen. Du bist Söldner. Du würdest zu deinen Auftraggebern zurückkehren, du würdest es müssen für Lohn und Fleisch. Man kann es dir nicht verübeln. Aber du siehst, dass ich als Kommandant nicht gegen meine Truppe entscheiden kann.«

    Garlyn schluckte und runzelte besorgt die Stirn. Seine Augen wanderten hin und her, als er nachdachte. »Ich will nicht sterben, Vittorio.«


    »Es gibt einen Weg«, sprach dieser sanft.


    Garlyn sprang auf die Knie und sah ihm hoffnungsvoll in die Augen. »Nenne mir die Bedingungen.«


    »Wenzel von Wigberg hatte einen guten Bekannten namens Timothèe Mauchelin. Für diesen Mann arbeite ich. Ich habe Grund zur Annahme, dass Monsieur Mauchelin den ehemaligen Sklaven Wenzels nicht dem Tod überantworten würde, wüsste er von deiner Situation. Wir könnten dich als seinen entlaufenen Sklaven ausgeben und nach Souvagne überführen. Dort hat er sicher Arbeit für dich. Jedoch erwarte ich absoluten Gehorsam und bedingungslose Fügung. Ich schenke dir heute das Leben und wenn du mich enttäuschst, nehme ich es dir an jedem anderen Tag, der mir beliebt.« Er bot Garlyn die Hand. »Sind wir im Geschäft?«


    Garlyn schlug die Hand beiseite und fiel ihm um den Hals.

    Das Verhör

    172 nach der Asche, Naridien. Ein ledvigianisches Feldlager auf fremdem Territorium.


    Zügigen Schrittes marschierte Garlyn vorneweg, die rutschende Hose nicht weiter beachtend, während Vittorio ihm mit der Armbrust in den Händen folgte und ihn scheinbar vor sich hertrieb. Dabei war die Waffe nicht einmal entsichert. Als das Feldlager in Sicht kam und die Wachposten ihnen entgegentraten, senkte Vittorio die Waffe. Garlyn wurde durchsucht, wobei man grob mit ihm umging, ihn schubste und auch Ohrfeige musste er ertragen und das der Wachposten ihn anbrüllte und schüttelte. Professionell war dieses Vorgehen nicht, doch das spielte längst keine Rolle mehr im Kargetas, wie man die Roten Berge in der Landessprache nannte. Der Wachposten hatte kürzlich einen besonders engen Kameraden verloren und ließ seine Wut nun an dem Gefangenen aus. Als Garlyn schließlich abgeführt wurde, schaute er hilfesuchend zu Vittorio herüber, doch er tat, als würde er es nicht bemerkten und begab sich zu seinem Vorgesetzten, um Bericht zu erstatten. Im Anschluss nahm er einen Kameraden zur Seite und bat ihn, etwas vorzubereiten.


    Danach folgte er seinen eigenen Plänen.


    Inzwischen hatte es wieder zu regnen begonnen. Die Wachen standen unter aufgespannten Planen und wer keinen Dienst hatte, verzog sich in sein Zelt. Planen schützten auch die Feuerschalen, die wegen der anhaltenden Nässe mehr qualmten als brannten. Die Ration zu kochen, machte keine Freude und der Rauch hing dick und schwer im Lager. Vittorio rieb sich die Nase von dem beißenden Geruch. Dabei verschmierte er Schlamm in seinem Bart. Er ging zur Waschstelle, wo er sich entkleidete und vom Regen duschen ließ. Er wusch seine Kleider im braunen Bach und kehrte nackt zurück, um sie im Vorzelt seiner Gruppe aufzuhängen. Die anderen Kleider waren immer noch feucht, doch er hatte keine andere Wahl, als sie anzuziehen, nachdem er sie bei der Feuerschale angewärmt hatte. Er stank wie ein Räucheraal. Ein ewiges Problem blieben die Stiefel, jeder besaß nur ein Paar. Er öffnete sie so weit wie möglich und steckte sie auf Stöcke bei der Feuerschale, in der Hoffnung, dass sie wenigstens die Nacht über trocknen konnten, selbst wenn sie am nächsten Tag wieder nass wurden, damit sie nicht anfingen, zu faulen und mit ihnen seine Füße.


    Barfuß trabte er anschließend unter möglichst vielen Planen hindurch zu einem großen Zelt, in welchem die Gefangenen untergebracht waren. Er hatte Zutritt und das Recht, Gefangene zu verhören, so holte er Garlyn, der eingerollt auf dem feuchten Teppich lag, der den Bretterboden bedeckte, gleich wieder ab, um mit ihm allein in sein kleines Arbeitszelt zu gehen. Bewusst hatte er niemanden dazu beordert, ihm als Schutz zu Seite zu stehen. Er hatte seine Gründe, nicht anzunehmen, dass Garlyn versuchen würde, ihn zu überwältigen. Falls er sich irrte, war der Gespräch unter vier Augen ihm das Risiko wert.


    Eine Kanne mit warmem, aber nicht heißen Tee, stand auf dem Tisch. Als Waffe taugte dieses Getränk nicht, so wenig wie der Krug, der aus verleimten Knochenstücken geformt und somit leicht war. Auch erzeugte er keine brauchbaren Scherben, falls er brach - wenn er es tat. Das war fast unmöglich zu schaffen bei diesem elastischen Harzleim, der dem Tee einen markanten Eigengeschmack verlieh. Die Splitterknochenkeramik stammte aus Rakshanistan. Vittorio wartete, bis Garlyn sich gesetzt hatte, schenkte ihm Tee ein und setzte sich auf die andere Seite des Tisches. Er beobachtete, wie der Gefangene seine Hände um den warmen Krug schloss und unglücklich hineinschaute. Kein Stolz, kein Trotz, aber auch keine übermäßige Angst. Verunsicherung überwog, wenn Vittorio sich nicht täuschte.


    »Die Narbe an deinem Hals. Woher stammt sie?«


    Garlyn stutzte. Doch dann sprach er. »Man hat mich dort gebissen.«


    »Wer?«

    »Das geschah beim Liebesspiel.«


    »Ich denke nicht, dass es einfach geschah.« Vittorio blickte Garlyn all die Zeit über in die Augen. »Trink.«


    Garlyn gehorchte.


    Navu Lea war ein Wahrheitsserum, welches mit umständlichen alchemistischen Verfahren hergestellt wurde. Es war schwierig zu organisieren und teuer und stand nur wenigen Agenten im Dienste der Krone zur Verfügung. Im Normalfall wäre es in einem Feldlager im Kargetas nicht zu finden gewesen. Garlyn schloss nach dem Trinken die Augen und ließ den Kopf in den Nacken sinken. Seine Brust wölbte sich, als er tief einatmete und dann die Luft langsam durch die Nase entweichen ließ.


    »Wie geht es dir?«, erkundigte Vittorio sich.


    »Anders. Da war etwas in meinem Getränk, nicht wahr?«


    »Dann bist du mit solchen Methoden vertraut.«


    »Ja.«


    Vittorio notierte nichts. Die Dinge, die er zu erfahren hoffte, waren in seinem Gedächtnis am sichersten aufgehoben. Eine Kopie würde es nicht geben. Starb er, starb das Wissen mit ihm. »Woher stammt die Bissnarbe an deinem Hals?«, wiederholte er seine Frage.


    »Von meinem Herrn.«


    »Wer ist dein Herr?«


    »Mein Herr war Wenzel von Wigberg.« Die Lider des Mannes flatterten und er setzte sich wieder gerade hin. Die Sehnen an seinem Hals traten für einen Augenblick hervor. »In seinem Testament schenkte er mir die Freiheit.« Eine Nebenwirkung von Navu Lea war, dass auch das körpereigene System zur Lüge, genannt Selbstbeherrschung, versagte. Dem Krieger rannen die Tränen über die Wangen. »Aber er ist tot.«


    »Er war dir wichtig«, sprach Vittorio in einfühlsamem Ton. »Wozu der Biss?«


    »Wenzel lebte nach dem Gesetz der Jäger und war regelmäßiger Gast in der Himmelsröhre. Die Markierung ist das Recht der Jäger. Als Wenzel sich seine Zähne verdiente, wählte er von allen Sklaven aus dem Pferch mich allein und ich blieb zeit seines Lebens sein einziger Sklave. Mir ist bewusst, welche Ehre er mir damit erwies und ich habe ihn nie enttäuscht!«


    Langsam formte sich ein Sinn aus den Bruchstücken. Ein Soldat, der einst Sklave gewesen war und sich nun an menschlichen Herzen labte, Bissmarken und Jäger - auf was auch immer Vittorio hier gerade gestoßen war, es handelte sich um eine Goldgrube an Informationen. Wenn Vittorios Eindruck stimmte, war er auf der Spur einer Parallelgesellschaft im Schatten der Halbwelt von Naridien. Würde er raten müssen, würde er darauf wetten, dass die Himmelsröhre in Obenza lag. Er arbeitete für jemanden, für den solche Informationen hochinteressant sein dürften.


    »Berichte mir von deinem Leben, Garlyn Meqdarhan«, bat er und schenkte ihm einen zweiten Becher ein.

    Später berichtete man Vittorio, dass der Mann das Weite gesucht habe. Das hatte er sich schon gedacht, denn niemand begab sich auf eine solche Mission ohne eine vernünftige Lagebesprechung. Für Vittorio war die Sachlage damit klar. So begab er sich zu der Wiese, wo Garlyn sich noch immer in der Sonne räkelte.


    "Du solltest doch nach Hause gehen", murrte Vittorio, als er sich zu ihm setzte.


    Wie zur Antwort knurrte Garlyns Magen. "Ich kann nicht gehen. Das ist für mich, wie wenn du vor einer Bäckerei stehst, aus der es nach warmem Apfelkuchen duftet. Ich bin ein Ghul, Vitto. Hab Nachsicht mit meinen Eigenheiten und sei nicht so streng mit mir. So neu sind die ja nun nicht mehr. Bedank dich bei meinem Mörder und meinem Nekromanten für sie. Alternativ kannst du einen Bluthexer bitten, meinem Dasein ein Ende zu bereiten. Ich wäre auch gern lebendig geblieben, glaub mir das. Ich habe mir nicht selbst das Leben genommen."


    "So pessimistisch heute. Du bist wirklich hungrig. Fast hätte ich dir einen Leckerbissen zur Verfügung gestellt, einen Meuchler, Mord am Grafen von Volkin und einigen anderen, wenn seine Aussagen stimmen. Den hättest du begleiten, ihn bei einem Auftrag unterstützen, mit ihm spielen und ihn anschließend verputzen dürfen."


    "Aber?", rief Garlyn ungehalten, während er sich aufsetzte.


    "Aber er hat sich verpisst", lachte Vittorio, wobei er seine weißen Zähne zeigte. Er drückte Garlyn rücklings ins Gras. Der Länge nach legte er sich auf ihn. "Mein Versöhnungsgeschenk ist damit versaut. Allerdings hat noch niemand den Tod von Nathaniel von Volkin gemeldet. Offenbar ist nicht nur er, sondern gleich sein ganzer Hofstaat hinüber. An deiner Stelle würde ich da mal gucken gehen. Wenn du schneller bist als der Aufklärungstrupp, den ich entsenden werde, kannst du hier und da ein wenig naschen. Nur lass dich nicht erwischen. Leichenschändung findet niemand hier witzig."


    Noch waren Ehveroser keine Ledvigiani und für ihn war es damit in Ordnung, seinem Freund unter der Hand ein wenig des für ihn lebensnotwendigen Fleisches zuzuspielen. Das ging aber wirklich nur weit abseits von Zeugen und nicht hier inmitten der Hauptstadt unter arbeitenden Soldaten. Damit stieg er schon wieder von ihm herunter, was sie beide sichtlich bedauerten. Aber Vittorio war im Dienst, zudem war ihm Garlyn, wenn er hungrig war, suspekt. Ein Ghul, der keine Leichen zur Verfügung hatte, erschuf sie sich notfalls. Und Garlyn war darin geübt. Vittorio strich ihm beim Aufstehen wie versehentlich über das üppige Paket zwischen seinen Beinen. Garlyns Körper begrüßte ihn mit einem Zucken unter Vittorios Fingerspitzen.


    "Wenn du satt bist, komm wieder her, in Ordnung?", ergänzte Vittorio freundlich.


    Doch Garlyn wich seinem Blick aus. "Wirst du denn überhaupt noch hier sein? Oder finde ich eine leere Ruine vor?"


    Die Frage war berechtigt. Nicht umsonst trug Vittorio den Beinamen Wanderfalke. Er war schwer zu fassen und neigte dazu, ohne Vorwarnung und ohne eine Nachricht zu hinterlassen aus dem Leben seiner Liebsten zu verschwinden. Manchmal auf Zeit, seltener für immer. Er behielt gern die Kontrolle darüber, wie lange man seine Gegenwart genießen durfte. Und dann war da noch die ewige Sehnsucht nach dem Meer, die alle Ledvigiani spürten, nach der Urmutter, die Lazzaro Fedele geboren hatte. Nicht, dass er an diese Geschichte glauben würde, aber der Ruf nach der See war nicht zu leugnen. Und dieser war vielleicht wirklich mit der Anziehungskraft von Leichen auf Ghule zu vergleichen. Vittorio fühlte, dass er in milder Stimmung war.


    "Ich werde hier sein, Garlyn", sagte er. "Wir haben noch mindestens drei Wochen mit den Aufräumarbeiten zu tun. Das ist dein Zeitfenster. Wo ich danach sein werde, weiß allerdings nur mein Befehlshaber."


    Ein verhaltenes Lächeln des Ghuls beantwortete Vittorios Versprechen. "Dann muss ich mich wohl beeilen."


    "Besser wäre das."


    Garlyn erhob sich, wobei er für sein Alter und sein Gewicht leichtfüßig wirkte. Er tippte an seine Schläfe. "Na dann. Wir sehen uns. Mach mich nicht unglücklich."


    Vittorio lachte, stand ebenfalls auf und schlug ihm zwischen die Schulterblätter. "Hau endlich ab."


    Und damit verschwand Garlyn, der keine Probleme haben würde, das Anwesen des ermordeten Grafen zu finden. Der Name der Festung,Volkinheym, trug den Namen ihres Besitzers offen zur Schau. Dort wohnte seine Erlaucht. Wo die großen Festungen lagen, wusste ein Jeder und wenn doch nicht, war es einfach, sich zu ihnen durchzufragen. Garlyn würde bald zurück sein. Vittorio hoffte es. Diesmal würde er warten.

    "Ich glaube die Grundzüge deiner Geschichte", sagte Vittorio. "Den Mord an seiner Erlaucht und den Groll des ehveroser Adels auf Ledvico. Was mich an deiner Geschichte stört, sind die vielen Lücken und Widersprüche. Warum lag ein Graf offenbar wochenlang in seinem Anwesen, ohne dass jemandem sein Tod oder Verschwinden auffiel? Warum hast du Zugriff auf die Waffenkammer? Solche Dinge. Da fällt es naturgemäß schwer, auch den Rest unkritisch als wahr anzunehmen


    Natürlich könnte ich dich nun deinem Lehnsherren übergeben, damit er über dich richtet. Ich könnte aber auch vorher dafür sorgen, dass deine Geschichte vollständig wird. Im Moment sieht es finster aus für dich, aber ich bin kein Unmensch. Du bist zudem ein Landsmann und dir ist durch die Entführung ein Unrecht wiederfahren. Du bist hochqualifiziert. Nach deinen Worten solltest du in der Lage sein, deine Unschuld zu beweisen, indem du all die fehlenden Beweise zusammenträgst und die Verschwörung im Alleingang auszuhebeln, ohne weitere Verbrechen zu begehen. Genau dafür bist du ausgebildet worden. Also, Matteo."


    Vittorio warf ihm einen Blick zu.


    "Du hast eine Aufgabe. Wie du sie löst und wie lange du dafür benötigst, ist für mich nicht relevant. Garlyn Meqdarhan wird dich begleiten. Dann bin ich ihn und seine Avancen los und du hast einen fähigen Mann an deiner Seite, der dich unterstützt. Er wird mir im Anschluss bestätigen, dass deine Worte der Wahrheit entsprechen. Sollte er zufällig verschwinden, ist die Chance, deinen Kopf noch einmal aus der Schlinge zu ziehen, verwirkt. Also gib auf ihn Acht. Es hat aber noch einen dritten Grund, warum ausgerechnet er dich begleiten soll. Den wirst du erfahren, wenn du seinen Geist ausliest, bevor ihr aufbrecht. Noch Fragen? Andernfalls darfst du wegtreten und aufbrechen. Die Dokumente bleiben hier."

    "Verstehe", sagte Vittorio, ohne auf den Dank einzugehen. Der Mann hatte soeben den Mord an einem Adligen gestanden, weshalb Vittorio auf Distanz blieb, ganz gleich, welcher Nationalität Mörder und Opfer angehörten. Gewaltsam gegen den Adel vorzugehen, war nicht eben ein Pappenstiel.


    "Also verbleiben als Tatverdächtige:

    • Graf Nataniel von Volkin
    • Graf Robert von Nauen
    • Ritter Roland von Korre

    Wobei ersterer von dir ermordet wurde."


    Das war ja ein Ding. Selbstjustiz in Ehveros, Mord an einem einheimischen Mitglied des Adels durch einen fremdländischen Sklaven. Normalerweise würde nun der geschädigte Lehnsherr, je nach Status des Getöteten sogar die ehveroser Krone, eine Auslieferung des Täters durch Ledwick verlangen. Allerdings war Ehveros de facto von Ledwick besetzt und fiel daher unter deren Hoheitsgewalt. Es war also mehr oder weniger eine Tat im Inland durch jemanden, der gar kein Sklave war, sondern normaler Leibeigener des Marchese di Verderame. Vittorio hatte keine Ahnung, wie in so einem Fall die Gesetzeslage war, weil die Verwaltung überhaupt noch nicht geklärt war und das fiel auch nicht in seinen Zuständigkeitsbereich. Darüber sollten andere sich Gedanken machen. Er für seinen Teil hatte seine Entscheidung getroffen.


    "Wir haben also eine mutmaßliche Verschwörung. Dazu drei adlige Tatverdächtige, davon einen ermordeten Graf und einen entlaufenen Sklaven und Mörder, der nach eigenen Worten von ihnen als Werkzeug der Verschwörung ausgebildet wurde. Was schlägst du vor, was ich nun mache?", hakte er nach.


    Er selbst wusste es bereits. Er wollte aber hören, wie der Sklave die Lage einschätzte.

    "Die asameische Entsprechung dieses rakshanischen Wortes ist Meuchelmörder, nichts anderes als einen Meuchler beschreibst du. Keine Naridizismen hier auf almanischem Grund und Boden", rügte Vittorio.


    So weit kam es noch, dass sie sich fremdländischen Vokabulars bedienten. Und Matteo hielt schon wieder die Dokumente in Vittorios Richtung. So sah der Kommandant sich genötigt, ihm die Sache deutlicher zu erklären. Er begann mit einem demonstrativen Schnaufen.


    "Heiße ich Vittorio di Pollarotti, sehe ich aus wie ein Adliger? Ich bin Soldat und als solcher ist Lesen für mich eine überflüssige Kunst. Du wirst mir alles, was du in deinen Händen hältst, erklären müssen. Wozu sie einem Meuchler solchen Unfug beigebracht haben, weiß Von Volkin allein. Also, weiter geht es.


    Als mutmaßliche Rädelsführer nennst du:

    • Graf Nataniel von Volkin
    • Graf Robert von Nauen
    • Ritter Roland von Nauen.

    Sicher, dass diese Namen korrekt sind? Zwei mal von Nauen, einmal als Graf und einmal als Ritter? Lies noch mal nach. Vier wichtige Fragen bleiben abgesehen davon noch.


    Erstens, warum bist du dir sicher, dass diese Unterlagen authentisch sind? Jemand könnte sie gefälscht haben, um eine falsche Fährte zu legen. Du zum Beispiel."


    Vittorio sah ihn scharf an.


    "Zweitens, warum werden Sklaven gezüchtet, es dauert wenigstens 14 Jahre Zeit und Geld, ehe sie endlich für den genannten Zweck einsatzbereit sind. Das erscheint mir unverhältnismäßig, wo man doch Erwachsene viel preiswerter abrichten kann. Besonders, wenn sie Kinder haben, sind die meisten sehr kooperativ und zuverlässig.


    Drittens, unser Einsatz zur Friedenssicherung in Ehveros dauert gerade erst einige Monate an. Wie kam man also vor, sagen wir, 30 Jahren darauf, dich und deine Mitsklaven zu entführen und zu diesem Zweck abzurichten?


    Viertens, warum läuft ein Sklave in Lederrüstung und bewaffnet durchs Land? Das Tragen von Waffen ist dem Adel und den Angehörigen der Streitkräfte vorbehalten."


    Vittorio war gespannt auf die Antworten. Langsam formte sich in seinem Kopf eine Idee, wie nun zu verfahren sei, doch zuvor benötigte er weitere Detailinformationen.

    "Riva Verde also. Das fällt unter die Zuständigkeit des ehrenwerten Marchese Mio di Verderame. Im Rathaus ist eine Kopie jeder Geburtsurkunde hinterlegt. Wenn dein Verschwinden gemeldet wurde und deine Verwandten deine Identität bestätigen, kann der Vorgang rasch bearbeitet werden. Die Resisdenz des Marchese ist die Casa Verde, ein sehr schönes Anwesen im Übrigen. Als dein Lehnsherr wird er dir helfen, in deiner Heimat wieder Fuß zu fassen." Bei diesen Worten klang Vittorio, der seine Heimat sehr liebte, freundlich. "Aber kümmern wir uns zunächst um die Sache mit der vorgeblichen Verschwörung."


    Vittorio machte keinen Hehl daraus, dass er noch immer äußerst sketpisch war, aber immerhin interessiert genug, um weiter mir Matteo zu sprechen. Für einen Lügner hielt er ihn nicht, eine Lüge von solchem Ausmaß wäre schon dreist. Vielmehr glaubte er, einen geistig Umnachteten vor sich zu haben. Dennoch räumte er eine gewisse Wahrscheinlichkeit ein, dass Matteo die Wahrheit sprach, weshalb Vittorio ihm weiter auf den Zahn fühlte.


    "Dass Offiziere ein beliebtes Ziel des Gegners sind, ist nichts Ungewöhnliches. Viel Feind, viel Ehr. Das Sklaven ersetzlich sind, liegt ebenso in der Natur der Sache. Du sprichst von den Adligen im Plural. Welche Adligen? Titel und Name. Was genau sind das für Dokumente? Und was sind Assassinen? Wir stehen hier in Ehveros, also sprich Asameisch mit mir."


    Dass der Mann meinte, als Geistmagier, Saboteur und Mechler ausgebildet worden zu sein, behielt Vittorio im Hinterkopf. Alles zu seiner Zeit. Erst einmal musste geklärt werden, ob er ein Spinner war oder ob seine Geschichte tatsächlich stimmte. Falls ja, war die Kacke noch mehr am dampfen, als Vittorio gedacht hatte. Aufmerksam beobachtete er Matteos Körpersprache.

    Vittorio beobachtete die Körpersprache des Mannes, der sich als Matteo Bruno vorgestellt hatte, und machte sich so seine Gedanken. Dass Matteo sich kooperativ zeigte, rechnete er ihm an, aber jetzt verhielt er sich wie ein gefasster Verbrecher und nicht wie jemand, der vor einem Kommandanten Bericht erstattete. Von einem Extrem schlug er ins andere um, er schien das gesunde Mittelmaß nicht zu kennen. Den dargereichte Zettel nahm der Soldat nicht an, da er keinen Befehl dazu erhalten hatte, er verblieb im Besitz von Matteo.


    "Rühr dich", murrte Vittorio und fügte extra noch die Erklärung hinzu: "Beine schulterbreit auseinander, Hände locker hinter dem Rücken verschränken." Das war zwar unpräzise, genügte aber für den Zivilisten, damit er halbwegs normal dastand und sich nicht zum Obst machte. "Du sprichst von Seiner Erlaucht Graf Nataniel von Volkin. Das Weglassen der formal korrekten Anrede nehme ich mal als grobe Unhöflichkeit und nicht als bewusste Dispektierlichkeit zur Kenntnis."


    Was war mit dem Mann nur los, der benahm sich schlimmer als ein Naridier! Und dank Garlyn wusste Vittorio sehr gut, wie diese sich benahmen und dass sie keinerlei Gefühl für die feudale Ständeordnung besaßen und von einem Fettnäpfchen ins nächste sprangen, sobald sie einen Fuß in almanische Gefilde setzten.


    "Naridische Verwandtschaft?", erkundigte er sich daher sogleich. "Die Verschwörung, das sogenannte Netzwerk wirst du mir schon selbst erklären müssen."


    Was erwartete der Kerl, dass er jetzt stundenlang wegen eines möglichen Hirnfurzes seinen Schreiber hinter den Schreibtisch klemmte? Würde er das jedes Mal machen, wenn jemand eine fixe Idee hatte, würde der Ärmste als körperliches und seelisches Wrack in einer Schreibstube vermodern und das Tageslich niemals wiedersehen. Vermutlich würde er auch verhungern und verdursten bei der Menge an klugen Ratschlägen, die tagtäglich so eintrudelten seit dem Anschlag.

    Vittorio, der sich gerade mit dem Marquis Dijon de la Grange unterhielt, fuhr gereizt herum. Wo kam der Kerl her und wie konnte der Saftsack es wagen, ihn mitten im Gespräch zu unterbrechen? Dijon sah es genau so, doch im Gegensatz zu Vittorio würdigte er den Eindringling keines Blickes. Der hochgewachsene Marquis machte eine Geste, die nichts anderes hieß, als dass der Kerl beiseitegeschafft werden sollte. Seine schwer bewaffnete Leibwache sorgte dafür, dass der Fremde außer Hörweite verbracht wurde, dann übernahmen zwei ledwicker Soldaten es, ihn auf Waffen zu untersuchen und diese gegebenenfalls abzunehmen, während Dijon und Vittorio ihr Gespräch zu Ende führten. Erst, als der Marquis sich entfernt hatte, wurde dem Eindringling gestattet, in Gegenwart seiner Bewacher vor Vittorio zu treten. Und der machte seinem Ärger erst einmal Luft, denn er hatte wegen dem Burschen vom Marquis eine herablassende Rüge kassiert.


    "Erstens, man stellt sich vor, wenn man Meldung macht und das Gegenüber einen nicht kennt. Name, Herkunft, Beruf, Lehnsherr!


    Zweitens: Das Gelände ist aus gutem Grund abgesperrt, hier ist alles einsturzgefährdet und wir sichern gerade die Beweismittel. Bete zu deinem Gott, dass du keinen Schaden angerichtet hast, sonst würdest du dir wünschen, von einem herabstürzenden Stein erschlagen worden zu sein.


    Drittens: Du hast keine ranghohen Persönlichkeiten anzusprechen, bestenfalls deren Gefolge und bei Vorladung schweigend in respektvoller Entfernung zu warten, bis man dir das Wort erteilt. Naridische Gammelfleischfresser gehören nicht zum Gefolge, wie du an dem idiotischen Auftrag gemerkt hast, den er dir gegeben hat. Für das Eindringen wirst du natürlich bestraft.


    Viertens: Du bringst schwere Anschuldigungen gegenüber einem Adligen ins Spiel. Ich hoffe, dir ist bewusst, was es bedeutet, wenn du gelogen hast. Beleidigung der Ehre und Vorwurf von Hochverrat sind keine kleinen Delikte. Ich hoffe, dir liegen stichhaltige Beweise vor.


    Ich gebe dir hiermit die einmalige Gelegenheit, mich von der Wahrheit deiner Worte zu überzeugen. Sprich. Und wähle deine Worte mit Bedacht."


    Der letzte Satz war tatsächlich ein gut gemeinter Rat und keine Schikane. Trotz seines Grolls und der deutlichen Worte spürte Vittorio eine Spur von Mitgefühl für den enthusiastischen Burschen, dem es augenscheinlich sogar an den Grundlagen mangelte. Zwar trug er eine Lederrüstung und eine Narbe im Gesicht, doch sein Benehmen ließ nicht auf eine militärische Ausbildung schließen. Weder bei den staatlichen Streitkräften noch in irgendwelchen Söldnerlagen würde man so etwas durchgehen lassen. Es wirkte vielmehr so, als wäre der Kerl überhaupt nicht erzogen worden, nicht einmal familiär, sondern von seinem Vater bis zur Volljährigkeit in einem Hühnerstall gefangengehalten worden. Vittorio hoffte für den armen Tropf, dass er sich gut überlegt hatte, was er hier tat, bevor er losgeschlichen war, doch irgendwie bezweifelte er dies. Garlyn lachte sich vermutlich draußen ins Fäustchen.

    Als Vittorio nach Hause kam, bot sich ihm ein merkwürdiges Bild. Im Bett lag ein nackter Mann und Garlyn saß am Tisch und stopfte sich wie ein Irrer rohes Fleisch in den Schlund. Der Ghul blickte nicht auf, als sein Geliebter den Raum betrat, sondern fraß wie ein Verhungernder. Die Tischplatte schwamm von Blut, der Boden war genau so eingesaut wie Garlyns Körper und überall lagen Knochen, Sehnen und andere harte Teile herum, die Garlyn nicht essen wollte.


    "Du frisst wie ein Schwein, seit du ein Ghul bist", knurrte Vittorio, nachdem er die Tür geschlossen hatte. "Ich kann mich nicht mal setzen, weil du sogar die Stühle eingesaut hast." Er hatte das Gefühl, dass Garlyn ihm überhaupt nicht zuhörte bei seinem schmatzenden Gefresse. "MEQDARHAN", bellte er im Militärtonfall.


    Erst jetzt blickte der Ghul widerwillig hinter seinen Händen hervor, in denen er eine dunkelrote, tropfende Leber hielt. Sein Gesicht war bis zu den Augen dunkelrot verschmiert und aus seinem Bart tropfte es. "Dann schau weg. Ist nicht meine Schuld, Hector macht mir gewaltigen Hunger. Er riecht verdammt gut."


    "So, tut Hector das." Der Schlüsselmeister höchstselbst gab sich also die Ehre. Vittorio hockte sich vor dem Nackten auf das Bett, er war sicher, dass dieser längst munter war, auch wenn er sich schlafend stellte. "Das ist hier fremdes Terriorium", raunzte Vittorio. Er kam nicht umhin, Eifersucht zu verspüren. "Du magst der Wächter dieses Nests sein, aber du hast die persönlichen Grenzen der Beißer zu respektieren. Dir stehen schon genügend willige Frauen und Männer zur Verfügung, halt dich aus unserer Beziehung raus."


    Garlyn grunzte belustigt. "Du solltest es als eine Ehre betrachten."


    Ehre. Vittorio fühlte sich vielmehr vom Thron gestoßen. Bislang war Garlyn es gewesen, der seinen Regeln gefolgt war und nicht umgekehrt. Genau wie Vendelin. Es war das erste Mal, dass Vittorio das Gefühl hatte, dazu gezwungen zu sein, seinen Platz zu verteidigen. Das fühlte sich nicht gut an, diese Wut barg einen schmerzhaften Kern in sich.


    Hector setzte sich nun auf, langsam, aber absolut geschmeidig in seinen Bewegungen. Der Geruchscocktail aus männlicher Lust, der Vittorio dabei in die Nase stieg, machte ihn rasend. Dass sowohl Garlyn als auch Vittorio sich bei räumlicher Trennung anderweitig vergnügten, war ein offenes Geheimnis zwischen ihnen. Aber vor der Nase des anderen hatte das bislang keiner von ihnen gewagt. Die Provokation war untragbar, Schlüsselmeister hin oder her. Die Rolle als Ordensoberhaupt hatte hiermit schließlich nichts zu tun.


    "Wenn du willst, dass ich gehe, dann zwing mich doch dazu", antwortete Hector mit einer Stimme, die wie reißende Seide klang. Im nächsten Moment bekam Vittorio einen Schlag gegen die Schläfe, der ihn fast von den Beinen geholt hätte.


    Eine harte Folge von Hantkantenschlägen und Tritten hagelte auf den Soldaten nieder, gegen die er sich nur mit äußerster Mühe zur Wehr setzen konnte. Die Prügelei zog sich durch den gesamten Wohnraum, während Garlyn unbeeindruckt weiter fraß. Stühle gingen zu Fall, Geschirr zu Bruch, ein Wandteppich fiel auf eine Kommode. Garlyn speiste. Als er fertig war, schlürfte er mit dem Mund auch noch geräuschvoll die Blutpfütze vom Tisch. Vittorio wurde derweile von Hector rücklings in Richtung einer Ecke gedrängt. Das war nicht gut! Das Grauen grinste böse, ehe es mit doppelter Geschwindigkeit angriff. Vittorio musste feststellen, dass er keine Chance hatte. Dieser Kampf würde nicht zu seinen Gunsten ausgehen.


    Doch der Hagel endete jäh, als Garlyn seine Mahlzeit als beendet betrachtete, Hector von hinten packte, hoch über seinen Kopf hob und dann bäuchlings auf das Bett knallte. Ein schreckliches Knacken ertönte, doch es waren nicht Hectors Rippen, sondern der hölzerne Lattenrost des Bettes, der nachgegeben hatte. Hector gebärdete sich wie wild und nur mit Mühe gelang es Garlyn, ihm Mund und Nase mit einer Pranke zuzuhalten, während die andere Hand Hectors Genick fixierte. Nach einer kurzen Anspannung beruhigte Hector sich in seinem Griff. Garlyn gab ihm Luft zum Atmen, doch ließ ihn nicht mehr los. Er gab Vittorio einen Wink mit dem Kopf.


    "Na los. Anstatt böse zu sein, mach einfach mit."


    Vittorio sah unter Garlyns Hand wie das Grauen lächtelte. "Dein Stecher hat mich nicht besiegt", wandte Hector mit süßer Stimme ein.


    "Aber ich habe das", antwortete Garlyn.


    "Schön", knurrte Vittorio. "Wenn es das ist, was du willst!"


    Als Vittorio ihn in Besitz nahm, knurrte und tobte Hector unter ihm. Vittorio hatte einige Mühe. Als ihre Körper endlich fest miteinander verbunden waren, änderte sich auf einmal die Art der Bewegungen von Hector unter dem Soldaten. Aus dem Buckeln wurden gierige Wellenbewegungen, die seinen Schwanz regelrecht molken. Der Angriff war offenbar einer der berüchtigten Balzkämpfe gewesen. Ihn als solchen zu identifizieren, war ihm nicht gelungen, aber offenbar dem Ghul, der lüstern mit roten Zähnen grinste. Vittorio ackerte Hector fester, den Blick auf Garlyn gerichtet und er sah dabei nicht freundlich aus. Garlyn hingegen war guter Dinge, er rieb sein bestes Stück genüsslich an Hectors Wange und Haar, was wohl eine Liebkosung darstellen sollte.


    "Gib mir irgendwas zu knebeln", grollte Vittorio, den das noch wütender machte.


    "Da drüben im Schrank."


    Kurz darauf war das Grauen mit den Händen fest am Bettende verschnürt. Ein Mundknebel verhinderte, dass Hector um sich beißen konnte. Die Füße jedoch hatte Vittorio ihm frei gelassen. Wenn er bocken und buckeln wollte, sollte er das tun, umso schöner wurde es für ihn. Hector wurde nun abwechselnd von den beiden genommen. Während Garlyn ihn durch seine schiere Größe aufstemmte und ihm zwischendurch Massagen gönnte, gab es ihm Vittorio hart und ohne Anzeichen von Zärtlichkeit.


    Als Hector sich dem Finale näherte, war Garlyn gerade in ihm. Als dieser das spürte, zog er ihn sich noch fester auf den Schoß. Der Druck auf Hectors innerstes Lustzentrum wurde quälend intensiv. Garlyn griff nach vorn und ließ dessen kalte Hoden durch seine heißen Pranken gleiten. Garlyn packte sie fest, an der Grenze zum Schmerz, doch nicht darüber hinaus. Gleichzeitig bohrte er in Hectors Darm herum. Und plötzlich erhöhte sich das Gewicht, dass auf Hector lastete, aus dem Bohren wurde ein hartes Stoßen, als Vittorio sich hinter Garlyn gekniet hatte und erneut loslegte.


    "Oh ja", stöhnte der Ghul, der den Rhythmus sofort übernahm.


    Hector bekam die geballte Lust der zwei Krieger hinter sich zu spüren und der Druck in seinem Inneren entlud sich in einer weißen Explosion zwischen seinen Beinen. Kurz darauf schwoll Garlyn dermaßen hart an, dass Hector glaube, er müsse zerreißen. Der Ghul stöhnte, wie es eines Ghuls würdig war, während er sich tief in seinem Inneren ergoss. Vittorio registrierte voller Genugtuung, dass er es offenbar immer noch draufhatte, seinen Mann in höhere Sphären zu stoßen. Konnte Hector das auch? Falls ja, sollte Garlyn sich daran erinnern, bei wem es am schönsten war. Er stieß weiter zu, bis auch er selbst so weit war, doch er machte keinen Laut. Stattdessen schloss er die Augen und krallte sich dermaßen an Garlyns muskulkösen und fleischigen Flanken fest, dass er ihm die Haut blutig kratzte, während er zitternd kam.


    Danach sank Garlyn neben Hector in das rot-weiß gefleckte Bett. Vittorio blickte auf die zwei nackten Männer, die bäuchlings vor ihm lagen. Während sein Atem sich langsam beruhigte, tobte es in ihm noch mehr. Die zwei lagen allzu einträchtig da und Hector sah zu gut aus und hatte zuviel Charme, um ihn als Bereicherung betrachten zu können. Er war scharfe Konkurrenz. Hector indes wirkte wieder friedlich, seit er gekommen war, so dass Vittorio ihn von seinem Beißknebel befreite. Der Knebel war nass und völlig zerbissen. Er warf ihn weg und griff nach seinem Gürtel. Ohne Vorwarnung schlug er sowohl Garlyn als auch Hector die nackten Hintern wund. Garlyn ertrug die Strafe klaglos und so wie er ihn kannte, freute er sich über die Eifersucht, die Vittorio heute zeigte. Wie das Grauen die Schläge wahrnahm, wusste Vittorio nicht, aber er konnte nicht anders. Vielleicht schwor es blutige Rache, aber dann war das eben so. Der Kerl musste genau wie Garlyn erfahren, wo Vittorios Grenzen lagen und die waren überschritten worden.


    Dann war plötzlich Ruhe.


    Als Garlyn sich fragend umdrehte, war Vittorio samt seiner Kleidung aus dem Quartier verschwunden. So befreite er Hector, legte den Arm über ihn und schnaufte absolut entspannt.

    Das Menschentier

    »Wir hatten einen Handel«, keuchte Garlyn. »Was hat dir nicht gefallen? Lass den Blödsinn, lass mich gehen!«

    »So wild auf die nächste Runde Ringelreihe?« Vittorio lachte kalt. »Du solltest mir dankbar sein, dass ich dich erlöse.«

    Garlyn sank auf die Knie, die Hände erhoben. »Verdammt, lass mich leben! Ich tu doch alles, was du verlangst! Sag mir einfach, was du willst!«

    Der Anblick war einfach zu schön, selbst jetzt, wo Garlyn wieder vollständig bekleidet war. Seine einzige Waffe, das Messer, steckte immer noch in weiter Ferne im Erdboden.

    »Zieh deinen Gürtel raus.«

    Mit unglücklichem Gesicht folgte der Naridier dem Befehl. Jemandem den Gürtel zu nehmen, war eine im wörtlichen Sinne entblößende Ehrenstrafe. Es sollte ihm nicht allzu offensichtlich gut gehen.

    »Und nun?«, fragte er vorsichtig.

    Vittorio machte eine auffordernde Bewegung mit der Armbrust. »Du gehst vor mir. Die Klamm hinab.«

    »Aber du hast versprochen, mich laufen zu lassen!«

    Vittorio grinste. »Ich habe gelogen. Jetzt tu nicht so, als käme dir das ungelegen. Ich rette deinen hübschen Hintern.«


    Er wäre ein Narr, sich diese Chance entgehen zu lassen. Garlyn würde sterben oder zugrundegerichtet werden. Und wie schade es um diesen Mann wäre, diesen Gauner, diesen Lügner, diesen Schandfleck eines Soldaten, der ein Spiegelbild des Alejandro zu sein schien, der unter Vittorios Maske schlummerte. Das Menschentier wollte diesen Artgenossen.


    Garlyn trat auf ihn zu, schob die Armbrust einfach zur Seite und umarmte Vittorio. Er hielt ihn lange fest und presste die stoppelige Wange an seine. Er hatte verstanden Vittorio ließ es widerstandslos geschehen. Vittorio hielt die Waffe einhändig und erwiderte die Umarmung. Dabei fühlte er sich rundum glücklich. »Schon gut. Jetzt ab mit dir.«


    Zügigen Schrittes marschierte Garlyn vorneweg, die rutschende Hose nicht weiter beachtend, während Vittorio ihm mit der Armbrust in den Händen folgte und ihn scheinbar vor sich hertrieb. Dabei war die Waffe nicht einmal entsichert.



    ~ Ende ~



    Garlyn Meqdarhans Geschichte setzt sich einige Jahre später in Skorpionbrut fort, wo er Robere in der Strafkompanie ausbildet.

    Die Geschichte von Vittorio Pollarotti geht weiter in Die Lotosspinne als Nahkampfausbilder von Noel.

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