Erkenntnisse
Noch immer prasselte der Regen auf die Zeltplane. Das Leinen hielt längst nicht mehr dicht und die Tropfen klatschten in die überall verteilt stehenden Töpfe. Eine einzelne dicke Kerze auf dem Arbeitstisch spendete genügend Licht, um den Inhalt des Zeltes zu erkennen. Vittorio saß rauchend auf dem einzigen Feldbett. Garlyn lag zwischen seinen Beinen und ließ sich mit geschlossenen Augen streicheln. Sein Rücken fühlte sich kalt an.
Es gab eine unerwartete Schnittmenge zwischen Garlyn und Vittorio. Manchmal fanden Zufälle statt, die wahren so unwahrscheinlich, dass es sie eigentlich gar nicht geben dürfte. Die Schnittmenge trug keinen geringeren Namen als Wenzel von Wigberg. Seit sich herausgestellt hatte, dass sie beide einst für diesen Mann gearbeitet hatten, fraß Garlyn seinem Häscher aus der Hand. Das unterwürfige Verhalten und die Bissnarbe ließen keinen Zweifel daran, dass dieser kräftige große Kerl mit Leib und Seele Wenzels Sklave gewesen war. Allen Widerstand und alle Sorge hatte er vergessen und sich in Vittorios Hand begeben, als letzte Verbindung zu Wenzel, die es für ihn noch gab.
Draußen vor der Zeltplane plauderten ein paar Soldaten, doch niemand störte sie. Der Zelteingang von Vittorios Einzelzelt war verhangen. Das schützte nicht vor Mitwissern, sorgte aber dafür, dass andere guten Gewissens behaupten konnten, nichts bemerkt zu haben. Es war nicht gern gesehen, dass er sich einen Gefangenen mit ins Bett genommen hatte, aber auch nichts Ungewöhnliches. Bemerkte man es, wurde man gerügt und diszipliniert, aber niemand gab sich in ihrer Einheit Mühe dabei, diese Art von Verstöße festzustellen. So nutzte Vittorio die gehobene Stellung, die ihm Cavaliere Zelindo di Acacia aus Faulheit verschafft hatte, zu seinem Vergnügen aus. Alejandro Alballo jedoch verwendete sie zur Erfüllung seiner Pflicht. Hinter der Maske von Vittorio war er hellwach, aufmerksam und erwog seine Möglichkeiten.
»Dein Herr hat dir also mit seinem Ableben testamentarisch die Freiheit geschenkt, Garlyn. Wie geht es dir nun damit? Nachdem du Wenzel so lange dientest, stelle ich es mir schwer vor, als freier Mann durch Naridien zu wandeln, plötzlich Verantwortung für sein Leben tragen zu müssen.«
»Es ist auch nicht leicht. Darum habe ich mich als Söldner verpflichtet.«
»Nicht als Soldat also.«
»Nein, Vittorio. Ich habe keine Geburtsurkunde und kann nicht nachweisen, dass ich wirklich naridischer Staatsbürger bin. Meine Eltern verkauften mich ja schon als kleiner Junge in die Sklaverei. Offiziell gibt es das in Naridien nicht, aber Wenzel hatte nicht nur die naridische Staatsbürgerschaft inne. Der Dienst als Söldner ist schon in Ordnung.«
Vittorio streichelte ihm den muskulösen Nacken mit der wulstigen Bissnarbe. »Ob dieser Beruf für dich wirklich der richtige ist, darf sicher diskutiert werden. Du hast die Leiche deines Kameraden angeknabbert, ihm das Herz rausgeschnitten und es gegessen. Bist du sicher, dass du den Dienst gut verträgst?«
»Das ist keine Abnormität. Es ist eine Notwendigkeit«, sagte Garlyn leise.
Vittorio nahm einen tiefen Zug. Er blies den Rauch aus seinen Lungen. Unter dem nassen Zeltdach verwirbelte er. Vittorio zog die Decke etwas weiter über Garlyn und damit auch über seine Beine. Der Mann fühlte sich kalt an wie ein Fisch und spendete keine Wärme. Für einen so großen, kräftigen Burschen war das ungewöhnlich. »Ich möchte dich über deine jetzige Situation informieren. Bislang hat niemand Interesse daran bekundet, dich auszulösen. Niemand scheint sich für dein Fehlen zu interessieren. Vielleicht aufgrund deiner kulinarischen Interessen?«
»Etwas anderes kann ich nicht essen, Vitto. Ich bin ein Ghul. Wie ich schon sagte, mein Herr hielt stets seine schützende Hand über mich, auch nach seinem Tod. Ich könnte theoretisch ewig leben, doch alles hat seinen Preis. Damit ich jung und gesund bleibe, muss ich Tote verzehren.«
Das Puzzle fügte sich. Nun ergab alles Sinn. Das Schleichen zwischen den Fronten, der heimliche Verzehr der Leichenteile, die körperliche Kälte. Garlyn war ein Geschöpf, das eigentlich längst zu seinem Herrn unter die Erde gehörte, sich jedoch durch den Verzehr von Leichenfleisch in einer körperlichen Existenz verankerte.
»Wenn dein Herr sich die unsagbar teuren Dienste eines Nekromanten leisten konnte, um seinen Sklaven vor dem Tod zu retten, warum hat er sich nicht auch selbst unsterblich gemacht?« Vittorio kannte die Antwort, doch er wollte herausfinden, inwieweit Garlyn eingeweiht war in Wenzels Geheimnisse.
Der Rotschopf schnaufte, ihm machte das Thema zu schaffen. »Wenzel konnte nicht wiederbelebt werden, weil er keine Seele besaß. Solche Menschen gibt es. Er hat mir davon berichtet, wie seine Vorfahren einst lebten, in jenen Nächten, die zu lang und zu dunkel waren und die er nicht allein verbringen konnte. Ich hatte ihm selbst nie viel zu erzählen, da ich mein Leben abgeschottet in der Himmelsröhre verbrachte, doch ich war der Zuhörer, den er brauchte.«
»Jetzt bin ich der Zuhörer, den du brauchst«, sagte Vittorio freundlich und nahm noch einen Zug. »Wenzel ist bis zu seinem Tod unser beider Herr gewesen. Dich gab er frei, in meinem Fall endete das Dienstverhältnis auf normalem Wege. Ich war nicht sein Sklave, sondern arbeitete als freier Mitarbeiter für ihn. Fahre ruhig fort. Ich höre zu. Was weißt du über die Seelenlosen?«
»Sie sind ein Relikt aus der Vorzeit. Damals waren die Hexenmeister der Adel der Welt. Sie regierten die alten Länder und fochten ihre Streitigkeiten anders aus als heute. Es tobten schreckliche Magierkriege, die unsere Welt in Asche versinken ließen, bis alles kollabierte. Das Jahr der Asche, der Beginn unserer Zeitrechnung, als die Magier ihre letzte Zuflucht durch ein gewaltiges Gefecht zerstörten. Viele Magier sind danach nicht übrig geblieben, die ihre Gabe noch vererben konnten, darum sind heute, ganz im Gegensatz zu früher, die meisten Menschen nichtmagisch. Und sie haben auch keine politische Macht mehr inne. Einige der Hexer wurden damals während der langen Magierkriege völlig ausgebrannt, sie verloren nicht nur ihre Gabe, sondern ihre Seele. Zurück blieben sterbliche Hüllen ohne jegliche Verbindung zum Nexus. Das hatte einen überraschenden Vorteil, es machte sie immun gegen magische Angriffe. Aber leider auch gegen jede Art von magischer Hilfe. Man kann sie weder verfluchen noch heilen und auch nicht wiederbeleben. Wenzel war ein Nachfahre solcher Ausgebrannter.«
Er war also gut informiert. Das machte vieles einfacher.
»Wenzel entstammte einem sehr alten Adelsgeschlecht«, bestätigte Vittorio. »Ihre Überlieferung reicht gut 600 Jahre zurück in die Vergangenheit. Trotz des Verlusts ihrer magischen Fähigkeiten haben die Wigbergs sich durchsetzen können und sie existieren noch heute. Wo Magie und Schwert keinen Erfolg mehr versprechen, müssen andere Lösungen her und diese Kunst haben sie gemeistert. Sie sind Spione, Wissenssammler, Meister der Heimlichkeit. Vor allem aber sind sie begnadete Marionettenspieler und ihre Fäden reichen weiter, als die meisten ahnen. Kaum einer hat je ihren Namen gehört und doch ist er überall. Es war eine große Ehre für dich, einem von ihnen dienen zu dürfen. Eine noch ungleich größere Ehre jedoch war Wenzels Dank. Das daraus resultierende kulinarische Problem stellt uns nun allerdings vor Schwierigkeiten. Es wird nicht leicht werden, dich in Gefangenschaft zu versorgen.«
»Heißt das, man wird mich laufenlassen?«
»Nein, Garlyn. Das heißt etwas völlig anderes. Auch ein Ghul ist nicht wirklich unsterblich. Und glaubst du, jemand wird dir Menschenfleisch besorgen? Niemand wird dir, nur weil du der Sklave eines edlen Herrn warst, solche Marotten durchgehen lassen oder sie gar unterstützen. Dafür müsstest du schon selbst den Namen Wigberg tragen, oder Caldera, oder La Grange und wie die hohen alten Häuser alle heißen. Du wirst nur Fischbrei erhalten, den du nicht verwerten kannst. Bald verlierst du deinen Verstand und beginnst bei lebendigem Leib zu verwesen. Spätestens dann wird man sehen, was du bist und dich um die Last deines untoten Hauptes erleichtern.«
»Dann lass mich laufen«, bat Garlyn flehentlich. »Du siehst mich nie wieder. Ich bin ein moralischer Ghul, ich organisiere mir mein Fleisch auf den Schlachtfeldern dieser Welt. Ich bin nicht wie andere meiner Sorte, ich bin kein Mörder, der die Leichen seiner Opfer frisst. Ich verdiene mein Geld mit ehrlicher Arbeit und verwerte nur jenes Fleisch, das ohnehin anfällt, ob ich nun zufällig in der Nähe bin oder nicht.«
»Ich kann dich nicht laufen lassen. Du bist Söldner. Du würdest zu deinen Auftraggebern zurückkehren, du würdest es müssen für Lohn und Fleisch. Man kann es dir nicht verübeln. Aber du siehst, dass ich als Kommandant nicht gegen meine Truppe entscheiden kann.«
Garlyn schluckte und runzelte besorgt die Stirn. Seine Augen wanderten hin und her, als er nachdachte. »Ich will nicht sterben, Vittorio.«
»Es gibt einen Weg«, sprach dieser sanft.
Garlyn sprang auf die Knie und sah ihm hoffnungsvoll in die Augen. »Nenne mir die Bedingungen.«
»Wenzel von Wigberg hatte einen guten Bekannten namens Timothèe Mauchelin. Für diesen Mann arbeite ich. Ich habe Grund zur Annahme, dass Monsieur Mauchelin den ehemaligen Sklaven Wenzels nicht dem Tod überantworten würde, wüsste er von deiner Situation. Wir könnten dich als seinen entlaufenen Sklaven ausgeben und nach Souvagne überführen. Dort hat er sicher Arbeit für dich. Jedoch erwarte ich absoluten Gehorsam und bedingungslose Fügung. Ich schenke dir heute das Leben und wenn du mich enttäuschst, nehme ich es dir an jedem anderen Tag, der mir beliebt.« Er bot Garlyn die Hand. »Sind wir im Geschäft?«
Garlyn schlug die Hand beiseite und fiel ihm um den Hals.