Moritz nickte. "Verstehe, du hast die Mutter nach Sympathie ausgewählt. Sehr untypisch für die Sippe. Was trieb dich dazu, die Vernunft außen vor zu lassen? In unserem Zweig handhabt man es so, dass die Mutter die bestmöglichen Veranlagungen bieten muss. Für das Gefühl sind männliche Partner da. Sogar mein Vater gönnte sich da keine Ausnahme, obgleich seine Vorlieben anderes sagen. Ich jedenfalls würde Caillou und Camille nicht hergeben wollen und ob ich die Mutter meiner Kinder anziehend fände oder auch nur sympathisch, wäre mir völlig gleich. Was also war es, was dich zu dieser Entscheidung veranlasste? Sie ist ja nicht hier, zumindest sah ich sie noch nicht und deine Liebe gilt, wie du sagst, Vanja und nicht ihr.
Die Antwort auf deine Fragen in einfache Worte zu fassen, ohne dass ein Foliant daraus wird, ist gar nicht so leicht. Was dir genommen wurde, ist die Unversehrtheit deiner innersten Schicht. Sie wurde von herzlosen Menschen niedergetrampelt zu einer Zeit, da sie besonders zart und verletzlich war. Viele, bei denen jede Grenze überschritten wurden, tragen jenes unsichtbare Zeichen, das die Jäger anlockt. Es wurde an etwas gerührt, an dem niemand rühren sollte, am Herz deiner Seele. Noch nackter und hilfloser kann ein Mensch nicht sein. Diese Lücke ist, was dich für immer verwundbar macht. Deine innerste Grenze hat einen klaffenden Riss, weshalb es sich anfühlt, als würde dort ein Stück fehlen und manche sagen, daraus würde die Lebenlust herausbluten. Vielleicht ist es diese Spur, welche die Jäger wittern wie der Bluthund die Spur des verletzten Hirschen und der sie folgen, um erneut an ihm zu speisen.
Vanja ist jemand, der sich darauf versteht, die Hand auf diese Wunde zu legen, ohne dass es sich schlecht anfühlt, da er sie nicht durchdringt, sondern schützend berührt. Ich habe mich bei Onkel Vanja immer geborgen gefühlt, er ist lustig, man kann mit ihm lachen und Spaß haben, aber er hört auch zu und tröstet. Sein Rat ist wohltuend realistisch. Dazu war mein Vater nie fähig, sein Trost war Sachlichkeit, Rationalisierung des Problems, Analyse, Lösungssuche im Hinblick auf größtmögliche Effizienz. Von der Sache her nicht verwerflich, aber für mich überfordernd in dem Moment, wenn ich am Boden liege. Da brauchte ich Vanja, der mich in den Arm nahm, mich für meine Tränen und die Unbeherrschtheit nicht rügte, sondern mir eine heiße Milch mit Honig machte.
Mehr noch als Vanja hat mich aber Caillou aufgerichtet, da er öfter da war. Er ist mein erster Mann, später kam noch unerwartet Camille hinzu. Ich vermute, sie haben das absichtlich so eingefädelt, damit sie weiterhin zusammen wohnen können." Moritz blinzelte, zum Zeichen, dass er nur Spaß machte. "Die beiden sind wie Fangseile an jeder Seite. Sie sind wundervoll und ich bin froh, dass sie beide meinen Weg mit mir gehen. So ist es doch viel symmetrischer und ausgewogener.
Was mir fehlt, Dave, ist wirklich ein Teil der Seele. Er wurde abgeschnürt, meine Seele hatte im Endstadium die Gestalt einer Traube. Die Abspaltung war ein bewusster Prozess. Über meine Arbeit als Spion wirst du inzwischen Bescheid wissen, sie ist ganz ähnlich der meines Vaters. Ich führte mehrere Leben mit eigenen Identitäten, die plausibel sein mussten. Natürlich gestaltet man sie so, dass sie einem gefallen. Patrice wurde mein Meisterwerk. Mit ihm wollte ich vollkommen vergessen können, wer Moritz von Wigberg überhaupt ist. Keine bloße Identität, sondern die feste Überzeugung, der wahre Eigentümer dieses Körpers zu sein. Mit diesem Potenzial stattete ich ihn aus, so wurde er eine perfekte Persona und er kam seiner Aufgabe nach, bis er mich fast darob umgebracht hätte. So war es geplant und darum wurden wir körperlich getrennt. In ihm schlummert, so harmlos er wirkt, das Potenzial, mich zu vernichten und notfalls sich selbst gleich mit dazu.
Was Patti spürt, spüre ich nicht, aber ich kann es mir denken, da ich ihn verstehe und er mich. Und ich will ehrlich sein, dass er mir manchmal fehlt mit seiner simpel gestrickten Art. Ich konnte früher einfach die Augen schließen, er übernahm unseren Körper und regelte alles. Wurde es kritisch, übernahm wieder ich. Nun ist jeder für sich allein verantwortlich. Andererseits gehen mir seine Vorlieben mitunter gewaltig auf den Keks, da ich anschließend die Schmerzen spüren muss, die nur ihm galten. Wir konnten aber auch beide gleichzeitig wach sein, ja. Normalerweise merkte das niemand, es sei denn, wir stritten um die Oberhand, das konnte zu grotesken Situationen führen, wie es einst vor dem Duc geschah, als Patrice mitten in meinem Gespräch verkündete, er müsse jetzt gehen - und mit unserem Körper verschwand.
Wirklich frei bin ich nicht, nein. Es war eine Flucht, nur floh ich nicht in den Nexus, sondern in eine Wahrnehmung, welche die grauenhafte Wirklichkeit als sehr angenehm empfand. Wenn ich schon vom Orden und meinem Vater als Werkzeug benutzt werde wie ein Gegenstand, warum dann keine Identität erschaffen, die genau das liebt und braucht? Das geht nun nicht mehr. Die Stelle, wo Patrice war, tut weh, die Seelennarbe blutet wohl auch. Sein Schutz fehlt mir, ich muss die Wahrheiten nun ungefiltert ertragen und das Gewesene kann ich nicht mehr als die Erinnerungen eines anderen abstempeln. Das kann sehr schmerzhaft und schamvoll sein und dann fällt es schwer, das zu verbergen.
Ich vermute, ihm geht es ganz ähnlich, sonst hätte er mich nicht gegen den Willen seines Meisters besuchen wollen, das ist schon ein starkes Stück für ihn. Oder er will ihn zu einer Bestrafung provozieren. Wäre Tekuro intelligent, würde er ihn einsperren und ignorieren, stattdessen belohnt er ihn für jeden Fehltritt genau so, wie Patrice es haben will. Der Kerl ist dumm wie Brot."
Moritz biss von seiner Mokkastange ab, als würde er das beste Stück von Tekuro abbeißen wollen.
"Bei deiner Flucht in den Nexus, wie weit fort warst du da wirklich? Hast du keine Erinnerungen mehr an diese Zeit? Und wie sieht es im Nexus aus?"