Flug nach Naridien
Der Rumpf des Luftschiffs bestand aus einer vollständig geschlossenen Kajüte. Ein offenes Deck gab es nicht; der Auftriebskörper war mit der unteren Hälfte darin eingelassen. Das gab dem Gefährt die schnittige Form eines Fischs. Eine Reihe von Fenstern, die um den gesamten Rumpf herumführten, sorgte für die notwendige Sicht. Das Rauchglas verhinderte, dass man von außen hineinblicken konnte, doch von innen sah man alles. Darius setzte sich im vorderen Bereich hinter die Konsole. Sie war zu Zicos Erstaunen völlig glatt. Er sah keinerlei Hebel, nicht mal ein Steuerrad für das Ruder.
Darius klopfte das polierte Holz. ‹Neue Steuerung, wie du siehst. Sämtliche Bereiche werden rein über Geisteskontrolle gesteuert. Nur ein Sentir kann dieses Luftschiff fliegen. Wenn du hinein spürst, zeigt es dir alles und erhält seine Befehle auf gleichem Weg. Sicherheit ist das oberste Gebot. Niemand kann das Schiff kapern›, erklärte er seine neuste Errungenschaft.
‹Verstehe.› Zico sah sich nun auf zweierlei Art und Weisen um, mit den Augen und mit der Wahrnehmung, die seine Natur ihm ermöglichte. Noch ruhte das Schiff. Darius und Zico leuchteten darin wie Lichtgestalten. Doch niemand war weniger Lichtgestalt als sie.
Das Luftschiff schloss scheinbar von selbst die Luke, der Motor erwachte grollend. Langsam löste sich das schwere Gefährt vom Boden. Zico spürte das Schaukeln, als Darius sie aus dem Hangar manövrierte. Für einen Sekundenbruchteil verharrte das Schiff in der Luft über der Mondlagune. Sie genossen den Ausblick auf die beginnende Morgendämmerung hinter der Stadt, ehe die Triebwerke aufheulten und das Schiff in Richtung der aufgehenden Sonne davonschoss.
‹Reden wir Klartext, Darius›, übermmittelte Zico seinem ehemaligen Ausbilder. ‹Wegen eines frei herumlaufenden Sklaven würde man keine zwei Agenten schicken, wenn er es nicht wert wäre, über ihn zu sprechen.› Zico gehörte zum oberen Viertel der Begabten. Noch eindrucksvoller waren die Fähigkeiten von Darius. Er galt als der beste lebende Sentir. Mehr noch: Er besaß das höchste Fähigkeitsniveau, das man je bei einem der ihren beobachtet hatte.
‹Zico, nochmal. Der Sklave ist der Nebenjob, das Paket ist wichtig. Wir holen etwas ab. Wir liefern etwas. Was immer passiert, niemand darf die stählerne Box in die Hände bekommen, hast Du das verstanden?›, fragte Darius, während er das Schiff Richtung Naridien steuerte.
‹Die Box ist bei uns sicher, wir holen sie aus dem Hotel und bringen sie an den Ort ihrer Bestimmung.› Während Darius auf dem Pilotensessel thronte, ließ Zico sich im Sitz des Copiloten nieder. Eine Weile schwiegen sie und genossen den Flug über das erwachende Land. Ein Schwarm Seidenreiher, aufgeschreckt vom Lärm der Maschine, zog durch den Nebel fort in Richtung Meer. Es mussten an die hundert Tiere sein.
‹Irgendetwas worüber Du während des Fluges mit mir quatschen möchtest?›, fragte Darius umgänglich.
Zico musste nicht lange überlegen. ‹Wir kennen uns schon so lange. Als mein ehemaliger Ausbilder weißt du alles über mich. Doch du bist mir all die Jahre ein Fremder geblieben. Natürlich kenne ich die Gründe. Trotzdem würde ich gern etwas mehr über dich erfahren.›
‹So, das würdest du also gern›, erwiderte Darius. Seinem Gesicht war nicht zu entnehmen, was er von dem frechen Vorstoß hielt. Da er ranghöher war, konnte Zico es auch nicht spüren. ‹Was interessiert dich denn an mir?›
‹Ich habe mich zum Beispiel immer gefragt, ob sie von Anfang an wussten, welche Macht du dereinst zur Entfaltung bringen würdest, und ob sie dich deswegen anders behandelten, noch härter trainierten. Oder warst du ein junger Sentir wie jeder andere?›
Nun schmunzelte Darius doch, und zwar offensichtlich. ‹Natürlich wussten sie, was ich war, Zico. Wie könnte es denn nicht so sein? Und selbstverständlich war die Behandlung besonders. Meiner Stufe entsprechend. Ich genoss von Anfang an gewaltige Privilegien, wurde aber auch ganz anders gesichert. Nicht nur für ihren Schutz, sondern zusätzlich für meinen eigenen. Du rufst deine Gabe, Zico, wie wenn du aktiv eine Faust ballst, um wen zu schlagen. Ich unterdrückte meine Gabe aktiv, sonst würde ich, übertragen erklärt, ständig um mich schlagen. Immer einen Gedanken vom Wahnsinn entfernt oder von der vollständigen Aufgabe der körperlichen Existenz, so fühlt es sich an, ein Endstufler zu sein. Was wir Sentir mit unseren Gedanken vollbringen können, vermag kein Körper. Ohne jeden Schutz könnte ich Beaufort beeinflussen, vor mir niederzuknien oder im völligen Irrsinn versinken lassen. Ich könnte eine Armee umdrehen lassen, indem ich ihre Offiziere korrumpiere, aber zu welchem Preis? Ich muss auch zu mir selbst zurückfinden. Du im Kampfrausch, das ist effektiv. Kabir im Kampfrausch, das ist hocheffektiv. Ich im Kampfrausch? Lassen wir das besser. Wir gehen die gleiche Gabe von zwei Seiten aus an, Zico, deshalb wurde ich anders unterrichtet. Du musst Dich anspannen zum Kämpfen, ich muss mich permanent entspannen. Und könnte ich das nicht, wäre ich nicht mehr am Leben. Allerdings hatte ich auch Brüder, so wie du. Garan war mein Lieblingsbruder. Er starb, er hatte sich nicht unter Kontrolle, er war ein Choleriker. Ab einem gewissen Grad war er nicht mehr tragbar. Er war eine Gefahr für sich und andere. Auch Endstufler unterscheiden sich, Zico. Der eine tendiert mehr nach oben, der andere nach unten. Wie Aurore›, übermittelte Darius. ‹Was ist mit Dir? Wie fühlt sich deine Macht für dich an? Verlockung? Permanente Gefahr? Oder Naturgegebenes Recht?›
‹Naturgegebenes Recht›, antwortete Zico. ‹Es ist ein Sinn, den man nutzen kann und muss. Oder würde man einem Tänzer verbieten wollen, seinen Gleichgewichtssinn zu nutzen, nur weil er besser darin ist als jemand, der ihn ausschließlich zum gehen benutzt? Statt zu tanzen lernen wir zu kämpfen. Am Anfang stolperte ich über die Gabe, mitunter im wörtlichen Sinn, so dass ich leicht über das Ziel hinausschoss. Solche Dinge lernt man nicht an einem Tag. Wer sein volles Potenzial entfalten will, muss etwas dafür tun. Das haben wir alle, auch wenn man manch einen von uns zu seinem Glück zwingen muss, und das Resultat sind die effektivsten lebenden Waffeneinheiten, die es heute gibt. Im Einsatz ist das Gefühl für mich vergleichbar mit einem Geschwindigkeitsrausch. Während du deine Gabe unterdrücken musst, kann ich mich völlig gehen lassen. Ich muss mich aus dem einzigen Grund gelegentlich bremsen, meine Energie einzuteilen, da ich sonst zu schnell erschöpfe. Doch seien wir ehrlich, wie oft kommt das vor?› Er sah Darius von der Seite an. ‹Aber kommen wir wieder zu dir. Was waren die Privilegien, die du genießen durftest?›
‹Einige Privilegien gehen dich nichts an Zico, damit musst du leben. Das hat nichts mit dir persönlich zu tun. Eines erlebst du heute, das Päckchen. Man würde es niemandem außer mir anvertrauen. Und ich habe dich ausgewählt, mich dabei zu unterstützen. Das macht sich gut in Deiner Vita. Ich genieße ein besonderes Vertrauensverhältnis zu unserer Obrigkeit. Das war schon immer so und das wird auch so bleiben. Gut erläutert, was den Vergleich mit dem Tanzen angeht. Kampfsport sehe ich als eine Art Tanz, Choreografie gehört zu beidem dazu. Und genauso, dass man von den einstudierten Schritten abweichen können muss. Sonst kann man jeden Tritt, Hieb oder Schlag mit der Gegenbewegung blocken. Mentaler Kampfsport wie körperlichen, Zico. Ich habe vor, das Päckchen zu überprüfen, bist Du dabei?›, fragte Darius und leitete den Sinkflug ein. Der leuchtende Horizont schien nach oben zu kippen.
‹Ich dachte, es gäbe vielleicht einige alltägliche Vorteile, die du dank deiner Fähigkeiten genießen darfst. Dass du den Auftraggebern näher stehst, ist nachvollziehbar. Ich bin dankbar für die Ehre, von dir ausgebildet worden zu sein und mehr noch dafür, dass du auch heute hin und wieder an mich denkst. Kampfsport und Tanz, wie wahr, Aktion und Reaktion. Natürlich bin ich dabei, wenn du mich dabei haben möchtest. Ist das eine Routinekontrolle oder warum interessiert dich der Inhalt?›
‹An was für Vorteile hast Du gedacht? Mein Quartier? Mein Schiff? Solche Dinge? Ja, da könnte man sagen, ich wurde verhätschelt. Ich wünsche es, ich bekomme es. Aber das ist Geben und Nehmen, sie wünschen es von mir, sie bekommen es ebenso. Wir sind da›, übermittelte Darius, während er das Schiff langsam aufsetzte.