Beiträge von Zico

    Abflug


    «Gehen wir», sagte Darius schlicht, als sie zurück zum Schiff marschierten. ‹Du kannst ja richtig charmant sein, Zico, ein Galan der alten Schule. Sie war ganz von Dir angetan›, übermittelte er.


    Zicos Mundwinkel zeigten ein Schmunzeln, so unscheinbar, dass nur ein anderer Sentir es überhaupt als solches erkennen würde. ‹Ich habe ihr nur Hilfe angeboten, das öffnet viele Türen und Tore. Sie scheint Grips zu haben, ich denke, der Orden kann sie lebend besser gebrauchen als tot.›


    Sie hatten nicht weit zu laufen. Die Straßen füllten sich langsam mit rotem Morgenlicht und Leben. An der Ecke erschien ein alter Goblin, der den Dreien baff hinterherschaute. «Es ist kurz vor 07.00 Uhr, junges Fräulein! Sieben!», kreischte der grüne Kerl.


    Darius warf ihm einen Blick zu.


    Zico sah, dass der kleine Mann zusammengeknüllt wurde wie ein altes Blatt Papier. So blieb er in der Gosse als regloses Häuflein liegen. Zico war erstaunt, wie wenig von dem Goblin übrig blieb, nachdem Darius mit ihm fertig war. Ohne ein Zeichen des Mitgefühls gingen die Sentir weiter. Kaum am Schiff angekommen, öffnete Darius die Luke, schob Zico und Simo hinein, folgte ihnen und schloss die Tür hinter sich.


    «Deine Effizienz im Konfliktfall ist bewundernswert», stellte Zico fest.


    «Das war nicht der Rede wert. Wäre das ein bewaffneter Trupp naridischer Staatskonstabler, würdest du erleben, was Effizienz wirklich bedeutet.»


    «Es wäre mir eine Ehre.»


    Darius ging durch das Schiff bis zu den Zellen. Mit einem Fingerzeig schickte er Simo hinein. Die junge Frau gehorchte und brach am Ende ihres Weges bewusstlos zusammen. «Das lief doch heute gut», sagte Darius zufrieden. Er und Zico nahmen im Steuerraum platz. Das Schiff fuhr hoch, die Triebwerke starteten durch. Wie ein himmlischer Haifisch schoss das Luftschiff in Richtung Obenza davon.


    «Fragen, Zico?», hakte er nach.


    ‹Bislang habe ich keine Fragen.›


    ‹Obenza ist nicht weit, im Grunde ein Röhren der Triebwerke und schon sind wir da. Unser nächster Halt ist das Gasthaus Zur unsichtbaren Hand. Dort wurde uns das Päckchen hinterlassen. Es ist klein, wir müssen sorgfältig damit umgehen›, erklärte Darius. Er kramte in einer Box und beförderte einen Metallzylinder zu Tage. Mittels Schraubverschluss öffnete er es. Das Objekt zischte, weißer Dampf entwich. Darius überprüfte das Innere, nickte zufrieden und verschloss die Dose wieder. ‹Wir haben 48 Stunden Zeit›, sagte er, während das Schiff in den Sinkflug ging. Die Triebwerke arbeiteten jetzt nur noch im Leerlauf. Kurz darauf setzten sie auf.


    Darius stopfte sich die Dose in die Manteltasche.


    Als Zico aus dem Fenster blickte, staunte er nicht schlecht. Das Schiff stand auf dem Dachlandeplatz eines turmhohen Luxushotels.

    Von Träumen und Kranichen aus Papier


    Eine junge Frau, die sich mit der einen Hand die Haare hinters Ohr strich und in der anderen eine Mappe trug, schlurfte um die Ecke. Dabei fiel ihr die Mappe herunter und die Papiere verstreuten sich vor dem Eingang der Kanzlei. «Ach, verfluchter Mist», stöhnte sie, hockte sich hin und fing an, ihre Unterlagen einzusammeln. Zico ließ die Blätter wie durch einen Windhauch vor ihren Händen davonhuschen, immer gerade weit genug, dass sie sich nicht einfangen ließen.Die junge Frau sah harmlos aus, aber wie Darius richtig festgestellt hatte, konnte das täuschen. Doch einem Sentir-Agenten hätte sie nichts entgegenzusetzen, erst recht nicht ihnen beiden zugleich.


    Zico gesellte sich zu ihr. «Darf ich Ihnen behilflich sein?» Dank seiner von Natur aus angenehmen Stimme klang seine Frage sogar freundlich.


    Die Frau schaute zu ihm auf und nickte dankbar. «Ja gerne, heute ist wirklich nicht mein Tag. Sind Sie ein neuer Kunde? Falls ja, lassen Sie es lieber. Es gibt bessere Advokaten», sagte sie mit resigniertem Seufzer. ‹Und ehrlichere erst recht›, schob sie gedanklich hinterher. Für Zico waren ihre Gedanken gut zu lesen.


    «Sie reden über Ihren eigenen Arbeitgeber schlecht?», fragte er amüsiert. «Haben Sie denn schon eine neue Stelle in Aussicht?»


    «Ach was, die beiden sorgen dafür, dass uns Mitarbeitern das Wasser bis zum Hals steht. Alles muss schnell gehen. Aber manche Dinge benötigen ihre Zeit. Vergessen Sie einfach was ich gesagt habe. Es ist nicht die beste Arbeit, doch es gibt mit Sicherheit auch noch schlimmere Stellen und andere Goblins. Ich hatte mich bei einigen Banken beworben. Aber da muss man nicht nur Köpfchen haben. Sondern auch das gewisse Etwas. Sie wissen sicher, was ich meine? Ich trage die falsche Kleidung, habe eine Brille und einen flachen Hintern. Also werde ich noch eine Weile bei den beiden Grünhäuten schmoren. Aber glauben Sie mir, eines Tages gehe ich meinen Weg. Irgendwann mache ich mein eigenes Büro auf. Privatdetektivin Simo - außergewöhnliche Fälle. Simo, dass bin ich», sagte sie freundlich und gab entnervt das Fangen der Unterlagen auf.


    «In Obenza ließe sich bei Ihren Problemen Abhilfe schaffen», empfahl Zico, ohne der jungen Frau in ihrer Selbsteinschätzung zu widersprechen. «Aber vielleicht gibt es eine preiswertere Möglichkeit. Welche Referenzen können Sie denn vorweisen? Ich kenne jemanden, der eine tüchtige Buchhalterin mit Hang zu Ermittlungsarbeiten gebrauchen könnte.» Eines der Papiere faltete sich wie von Zauberhand zu einem kleinen Kranich zusammen.


    Simo starrte auf das Blatt, das sich vor ihren Augen zu einem Kranich zusammengefaltet hatte, dem Zeichen für Hoffnungen und Wünsche. Sie hoffte, dass ihr Gesprächspartner das nicht gesehen hatte, da sie davon ausging, dass es wieder eine ihrer komischen magischen Anwandlungen gewesen war. Als sie wieder zu Zico aufschaute, wurden ihre Augen trüb und sie verharrte mitten in der Bewegung. Wie eine Marionette erhob sie sich vom Boden. «Wohin gehen wir?», fragte sie seltsam tonlos.


    «Begleiten Sie mich zum Luftschiff», sagte Zico sanft. «Ich bringe Sie an Ihren neuen Arbeitsplatz.»

    Zico warf Darius einen Blick zu. Er war so weit.

    Der Auftrag


    Darius erhob sich für seine Statur erstaunlich leichtfüßig aus dem Pilotensessel. Er überprüfte seinen Waffengurt, bevor er die Luke öffnete. Mit einem Fingerzeig gab er Zico zu verstehen, dass sie das Luftschiff nun verlassen würden. Nacheinander betraten die beiden Sentir naridischen Boden. Vor ihnen erhob sich die nächtliche Stadt. Zico zählte bis zu fünf Stockwerke - kleiner, als die schier endlosen Wolkenkratzer von Obenza, dennoch außergewöhnlich hoch. Die meisten Wohnhäuser andernorts kamen nicht über den zweiten Stock hinaus. Über die Straßen kroch faulig riechender Nebel, der aus der Kanalisation stieg.


    ‹Möchtest Du noch irgendwohin?›, fragte Darius. ‹Falls ja, spuck es aus. Eines meiner Privilegien ist, dass ich mich nicht an- und abmelden muss. Solange du mit mir unterwegs bist, unterstehst du mir.›


    ‹Mal sehen. Bringen wir zunächst den ersten Auftrag hinter uns und dann schauen wir mal, wonach uns der Sinn steht. Wie sieht es mit dir aus, bist du manchmal in Naridien während deiner Freizeit? Bei mir steht in den nächsten Tagen nichts an außer diesem Auftrag. Die Zeiteinteilung wurde gänzlich dir anvertraut. Wir können uns also Zeit lassen.›


    Das Schiff verschloss sich hinter ihnen wie von Geisterhand, aber Zico wusste, dass dies das Werk von Darius war.


    ‹Du bist ziemlich neugierig, Zico, aber das warst du schon immer. Was sollte ich deiner Meinung nach in Naridien wollen? Die gute Luft genießen? Das köstliche Essen? Oder die wunderbar bunte Gesellschaft? Ich frage mich, wozu sie überhaupt eine Regierung haben bei ihren laschen Gesetzen. Hier ist fast alles erlaubt. Doch sei es drum, irgendwer muss sich ja an den Menschenmassen bereichern›, übermittelte Darius und schaute auf seine Karte.


    Zico sicherte derweil die Umgebung. Das Schwarz des Nachthimmels verblasste im Osten. Hinter den Häusern war die Dämmerung bereits zu erahnen, ohne dass sie wirklich begonnen hatte. Die blaue Stunde. Eine stille Zeit. Die Sentir schlenderten ohne Hast in Richtung der speziellen Adresse und genossen die Ruhe. Als der Morgenhimmel sich rot färbte, erwachte um sie herum das Leben. Die ersten Menschen gingen zur Arbeit, während andere sich erschöpft nachhause bewegten. Obwohl die Sonne aufging, war es noch empfindlich kalt, Herbst. Eigentlich eine der schönsten Jahreszeiten. Die Sentir spürten den Wechsel auch mit ihrem zusätzlichen Sinn. Nicht nur das Laub veränderte sich, sondern gleichsam die elektrischen Ströme, die durch die Welt flossen. Die Jahreszeiten waren mehr als ein Wetterumschwung, sie waren ein Wechsel der Energien.


    ‹Mir nach, Zico. Wie wäre es, wenn wir anschließend einen Halt in Obenza einlegen? Dort lohnt es sich wirklich. Oder in Daijan, aber da musst du tiefe Taschen haben. Wobei ... Spesen. Wir haben tiefe Taschen›, sagte Darius und gab den Weg vor.


    ‹Obenza klingt gut›, sagte Zico, der ebenfalls an die Rückkehr dorthin gedacht hatte. Allerdings fragte er sich, ob Darius überhaupt jemals Freizeit machte in Anbetracht seines Arbeitspensums.


    ‹Zico, ich höre dich auch so. Wenn Du Obenza gemeint hast, meinten wir das Gleiche. Aber irgendwie war mir das bei deinen Gedanken echt nicht bewusst, sie wirken heute etwas durcheinander. Und ich mache natürlich Freizeit, wie jeder andere auch. Ich treibe Sport, lasse mir die Haare waschen, die Nägel maniküren ... sowas eben›, sagte er mental. Sein Gesicht blieb all die Zeit über völlig ausdruckslos. ‹Zurück zum Geschäft. Nation: Naridien. Stadt: Shohiro. Mukui-Gasse 12, Name Simo Tekefo, weiblich, 22 Jahre, Buchhalterin. Vermutlich mittlere Begabung›, übermittelte Darius und setzte sich in Bewegung.


    ‹Eine Buchhalterin? Dafür schicken sie zwei Agenten? Die haben Nerven. Die Frau sollte uns keinen Ärger machen. Haare waschen als Freizeitbeschäftigung ... da du Glatze hast, verbuche ich das unter einem Anflug von Humor.›


    Die Straßen von Shohiro füllten sich langsam mit Kutschen und Karren. Dennoch kamen die beiden Sentir gut voran. In einer Stunde würde sich das ändern.


    ‹Vergiss nie, wozu manche Personen in Panik fähig sind. Wir werden es umsichtig angehen, wir wollen keine unnötige Aufmerksamkeit. Aber wir sind früh genug da. Es ist immer noch alles ruhig, der Tag fängt gerade erst an. Wir liegen gut in der Zeit. Ihr Dienstbeginn ist erst um 07:00 Uhr. Bevor sie den Laden betritt, haben wir sie in der Hand. Sie wird heute unentschuldigt fehlen und das für den Rest ihres Lebens. Du wirst sie ansprechen. Wir fühlen dabei, wie sie drauf ist. Bereitet sie Probleme, erfolgt die übliche Methode. Sie bekommt einen Hieb auf den Hinterkopf›, erklärte Darius und führte Zico zu der kleinen Amtsstube für Steuerangelegenheiten. ‹Habima und Vedur, Advokaten für Steuerrecht. Hier ist es, sagte er und deutete auf das Schild, auf dem zwei schmierige Goblins um die Wette lächelten.


    ‹Sie ansprechen?›, wiederholte Zico unwillig. ‹Was soll ich denn sagen?›


    ‹Es geht um die Ablenkung von dem, was hinter ihrem Rücken geschieht. Von mir aus nenne nur ihren Namen. Hauptsache, ihre Aufmerksamkeit gehört für einen Moment ganz allein dir. Du siehst zwar nicht harmlos aus, aber immer noch harmloser als ich. Nach getaner Arbeit geht es direkt nach Obenza›, erklärte Darius.


    Ein lautes Gähnen riss sie aus ihrem Gespräch.

    Flug nach Naridien


    Der Rumpf des Luftschiffs bestand aus einer vollständig geschlossenen Kajüte. Ein offenes Deck gab es nicht; der Auftriebskörper war mit der unteren Hälfte darin eingelassen. Das gab dem Gefährt die schnittige Form eines Fischs. Eine Reihe von Fenstern, die um den gesamten Rumpf herumführten, sorgte für die notwendige Sicht. Das Rauchglas verhinderte, dass man von außen hineinblicken konnte, doch von innen sah man alles. Darius setzte sich im vorderen Bereich hinter die Konsole. Sie war zu Zicos Erstaunen völlig glatt. Er sah keinerlei Hebel, nicht mal ein Steuerrad für das Ruder.


    Darius klopfte das polierte Holz. ‹Neue Steuerung, wie du siehst. Sämtliche Bereiche werden rein über Geisteskontrolle gesteuert. Nur ein Sentir kann dieses Luftschiff fliegen. Wenn du hinein spürst, zeigt es dir alles und erhält seine Befehle auf gleichem Weg. Sicherheit ist das oberste Gebot. Niemand kann das Schiff kapern›, erklärte er seine neuste Errungenschaft.


    ‹Verstehe.› Zico sah sich nun auf zweierlei Art und Weisen um, mit den Augen und mit der Wahrnehmung, die seine Natur ihm ermöglichte. Noch ruhte das Schiff. Darius und Zico leuchteten darin wie Lichtgestalten. Doch niemand war weniger Lichtgestalt als sie.


    Das Luftschiff schloss scheinbar von selbst die Luke, der Motor erwachte grollend. Langsam löste sich das schwere Gefährt vom Boden. Zico spürte das Schaukeln, als Darius sie aus dem Hangar manövrierte. Für einen Sekundenbruchteil verharrte das Schiff in der Luft über der Mondlagune. Sie genossen den Ausblick auf die beginnende Morgendämmerung hinter der Stadt, ehe die Triebwerke aufheulten und das Schiff in Richtung der aufgehenden Sonne davonschoss.


    ‹Reden wir Klartext, Darius›, übermmittelte Zico seinem ehemaligen Ausbilder. ‹Wegen eines frei herumlaufenden Sklaven würde man keine zwei Agenten schicken, wenn er es nicht wert wäre, über ihn zu sprechen.› Zico gehörte zum oberen Viertel der Begabten. Noch eindrucksvoller waren die Fähigkeiten von Darius. Er galt als der beste lebende Sentir. Mehr noch: Er besaß das höchste Fähigkeitsniveau, das man je bei einem der ihren beobachtet hatte.


    ‹Zico, nochmal. Der Sklave ist der Nebenjob, das Paket ist wichtig. Wir holen etwas ab. Wir liefern etwas. Was immer passiert, niemand darf die stählerne Box in die Hände bekommen, hast Du das verstanden?›, fragte Darius, während er das Schiff Richtung Naridien steuerte.


    ‹Die Box ist bei uns sicher, wir holen sie aus dem Hotel und bringen sie an den Ort ihrer Bestimmung.› Während Darius auf dem Pilotensessel thronte, ließ Zico sich im Sitz des Copiloten nieder. Eine Weile schwiegen sie und genossen den Flug über das erwachende Land. Ein Schwarm Seidenreiher, aufgeschreckt vom Lärm der Maschine, zog durch den Nebel fort in Richtung Meer. Es mussten an die hundert Tiere sein.


    ‹Irgendetwas worüber Du während des Fluges mit mir quatschen möchtest?›, fragte Darius umgänglich.


    Zico musste nicht lange überlegen. ‹Wir kennen uns schon so lange. Als mein ehemaliger Ausbilder weißt du alles über mich. Doch du bist mir all die Jahre ein Fremder geblieben. Natürlich kenne ich die Gründe. Trotzdem würde ich gern etwas mehr über dich erfahren.›


    ‹So, das würdest du also gern›, erwiderte Darius. Seinem Gesicht war nicht zu entnehmen, was er von dem frechen Vorstoß hielt. Da er ranghöher war, konnte Zico es auch nicht spüren. ‹Was interessiert dich denn an mir?›


    ‹Ich habe mich zum Beispiel immer gefragt, ob sie von Anfang an wussten, welche Macht du dereinst zur Entfaltung bringen würdest, und ob sie dich deswegen anders behandelten, noch härter trainierten. Oder warst du ein junger Sentir wie jeder andere?›


    Nun schmunzelte Darius doch, und zwar offensichtlich. ‹Natürlich wussten sie, was ich war, Zico. Wie könnte es denn nicht so sein? Und selbstverständlich war die Behandlung besonders. Meiner Stufe entsprechend. Ich genoss von Anfang an gewaltige Privilegien, wurde aber auch ganz anders gesichert. Nicht nur für ihren Schutz, sondern zusätzlich für meinen eigenen. Du rufst deine Gabe, Zico, wie wenn du aktiv eine Faust ballst, um wen zu schlagen. Ich unterdrückte meine Gabe aktiv, sonst würde ich, übertragen erklärt, ständig um mich schlagen. Immer einen Gedanken vom Wahnsinn entfernt oder von der vollständigen Aufgabe der körperlichen Existenz, so fühlt es sich an, ein Endstufler zu sein. Was wir Sentir mit unseren Gedanken vollbringen können, vermag kein Körper. Ohne jeden Schutz könnte ich Beaufort beeinflussen, vor mir niederzuknien oder im völligen Irrsinn versinken lassen. Ich könnte eine Armee umdrehen lassen, indem ich ihre Offiziere korrumpiere, aber zu welchem Preis? Ich muss auch zu mir selbst zurückfinden. Du im Kampfrausch, das ist effektiv. Kabir im Kampfrausch, das ist hocheffektiv. Ich im Kampfrausch? Lassen wir das besser. Wir gehen die gleiche Gabe von zwei Seiten aus an, Zico, deshalb wurde ich anders unterrichtet. Du musst Dich anspannen zum Kämpfen, ich muss mich permanent entspannen. Und könnte ich das nicht, wäre ich nicht mehr am Leben. Allerdings hatte ich auch Brüder, so wie du. Garan war mein Lieblingsbruder. Er starb, er hatte sich nicht unter Kontrolle, er war ein Choleriker. Ab einem gewissen Grad war er nicht mehr tragbar. Er war eine Gefahr für sich und andere. Auch Endstufler unterscheiden sich, Zico. Der eine tendiert mehr nach oben, der andere nach unten. Wie Aurore›, übermittelte Darius. ‹Was ist mit Dir? Wie fühlt sich deine Macht für dich an? Verlockung? Permanente Gefahr? Oder Naturgegebenes Recht?›


    ‹Naturgegebenes Recht›, antwortete Zico. ‹Es ist ein Sinn, den man nutzen kann und muss. Oder würde man einem Tänzer verbieten wollen, seinen Gleichgewichtssinn zu nutzen, nur weil er besser darin ist als jemand, der ihn ausschließlich zum gehen benutzt? Statt zu tanzen lernen wir zu kämpfen. Am Anfang stolperte ich über die Gabe, mitunter im wörtlichen Sinn, so dass ich leicht über das Ziel hinausschoss. Solche Dinge lernt man nicht an einem Tag. Wer sein volles Potenzial entfalten will, muss etwas dafür tun. Das haben wir alle, auch wenn man manch einen von uns zu seinem Glück zwingen muss, und das Resultat sind die effektivsten lebenden Waffeneinheiten, die es heute gibt. Im Einsatz ist das Gefühl für mich vergleichbar mit einem Geschwindigkeitsrausch. Während du deine Gabe unterdrücken musst, kann ich mich völlig gehen lassen. Ich muss mich aus dem einzigen Grund gelegentlich bremsen, meine Energie einzuteilen, da ich sonst zu schnell erschöpfe. Doch seien wir ehrlich, wie oft kommt das vor?› Er sah Darius von der Seite an. ‹Aber kommen wir wieder zu dir. Was waren die Privilegien, die du genießen durftest?›


    ‹Einige Privilegien gehen dich nichts an Zico, damit musst du leben. Das hat nichts mit dir persönlich zu tun. Eines erlebst du heute, das Päckchen. Man würde es niemandem außer mir anvertrauen. Und ich habe dich ausgewählt, mich dabei zu unterstützen. Das macht sich gut in Deiner Vita. Ich genieße ein besonderes Vertrauensverhältnis zu unserer Obrigkeit. Das war schon immer so und das wird auch so bleiben. Gut erläutert, was den Vergleich mit dem Tanzen angeht. Kampfsport sehe ich als eine Art Tanz, Choreografie gehört zu beidem dazu. Und genauso, dass man von den einstudierten Schritten abweichen können muss. Sonst kann man jeden Tritt, Hieb oder Schlag mit der Gegenbewegung blocken. Mentaler Kampfsport wie körperlichen, Zico. Ich habe vor, das Päckchen zu überprüfen, bist Du dabei?›, fragte Darius und leitete den Sinkflug ein. Der leuchtende Horizont schien nach oben zu kippen.


    ‹Ich dachte, es gäbe vielleicht einige alltägliche Vorteile, die du dank deiner Fähigkeiten genießen darfst. Dass du den Auftraggebern näher stehst, ist nachvollziehbar. Ich bin dankbar für die Ehre, von dir ausgebildet worden zu sein und mehr noch dafür, dass du auch heute hin und wieder an mich denkst. Kampfsport und Tanz, wie wahr, Aktion und Reaktion. Natürlich bin ich dabei, wenn du mich dabei haben möchtest. Ist das eine Routinekontrolle oder warum interessiert dich der Inhalt?›


    ‹An was für Vorteile hast Du gedacht? Mein Quartier? Mein Schiff? Solche Dinge? Ja, da könnte man sagen, ich wurde verhätschelt. Ich wünsche es, ich bekomme es. Aber das ist Geben und Nehmen, sie wünschen es von mir, sie bekommen es ebenso. Wir sind da›, übermittelte Darius, während er das Schiff langsam aufsetzte.

    Zwei Sentiragenten im Einsatz

    14.2.178 n.d.A.

    Treffen in Obenza


    Zico war pünktlich, wie ein Blick auf die Turmuhr verriet. Jetzt fehlte nur noch der Einsatzleiter. Er schlug den Kragen seines schweren Mantels hoch und genehmigte sich einen Schluck Kaffee. Tau hatte sich auf den Fensterscheiben gebildet. Um die Gaslaternen tanzten Motten. Hinter ihm lag, schwarz und schlafend, das Einsatzschiff.


    Zicos Atem verwandelte sich in Dampf, während er langsam vor dem Hangar auf und ab ging. Die regennassen Straßen spiegelten die Lichter von Obenza. Sein glatter Greifschwanz wand sich, ein sichtbares Zeichen seiner Anspannung. Es war selten, dass man gleich zwei Sentir schickte, und diesmal waren es nicht Mentor und Schüler, wie zu solchen Gelegenheiten üblich, sondern zwei erfahrene Agenten von beträchtlichem Rang und Namen. Der Auftrag musste es in sich haben, wenn man zu dieser Maßnahme griff.


    Sein Greifschwanz erstarrte, als sein achter Sinn Alarm schlug. Etwas unsagbar Machtvolles erhob sich in der Luft wie ein aufziehendes Unwetter. Der andere Sentir war nirgends zu hören oder zu sehen, aber Zico spürte dessen Präsenz überdeutlich. Sie fühlte sich vertraut an. Konnte das...?


    Als er die Augen schloss, versank seine Umgebung für ihn nicht im Dunkel. Stattdessen änderte sich die Ansicht. Was er nun sah, waren die Informationen, die ihm der elektrische Sinn lieferte, der vom großen Denker des Taudis, Kadir Kametinka, als achter Sinn definiert worden war: Die Stadt lag jetzt als graue Kulisse ohne jedwede Details vor ihm. Aber da, wo sich Energie konzentrierte - dort, wo Leben herrschte - glommen strahlende Lichter. Alles Leben erzeugte Elektrizität. Ratten glitten wie weiße Kometen das Dunkel des Rinnsteins entlang. Motten schwirrten wie Glühwürmchen um schwarze Gaslaternen. Eine Gruppe von Personen ging wie eine weiße Geisterarme in Richtung Unterstadt. Aus einer Seitenstraße aber quoll eine flimmernde Springflut durch die Gassen. Sie strömte durch die Straßen, lange bevor ihre Quelle für das Auge ersichtlich wurde. Zico öffnete die Lider und blickte dorthin, wo er den Neuankömmling erwartete.


    Geraume Zeit später bog die muskulöse Gestalt von Darius um die Ecke. Der alte Ausbilder trat an seinen ehemaligen Welpen heran. Minimale Falten gruben sich in seine Mundwinkel: Ein strahlendes Lächeln für jene, die das graue, grobe Gesicht des Sentir lesen konnten. Die Glatze trug ihr Übriges zu dem einschüchternden Anblick bei.


    «Morgen», brummte Darius mit seinem heiseren Bass.


    «Morgen«, antwortete Zico mit hellerer, klarerer Stimme, mit der er Sänger werden könnte. Während er einen Schluck Kaffe nahm, betrachtete den anderen über den Rand seines Bechers. Sein Sinn hatte ihn nicht getäuscht: Ihm wurde die Ehre zuteil, mit seinem alten Ausbilder zusammenzuarbeiten. Normalerweise vermieden ihre Auftraggeber solche Konstellationen, um die Bindung fertig ausgebildeter Agenten nicht zu eng werden zu lassen. Dass Zico heute wieder unter der Verantwortung von Darius arbeiten sollte, zeigte, welches Vertrauen man in seine Fähigkeiten setzte. Man erwartete ein Höchstmaß an Professionalität trotz der gemeinsamen Vorgeschichte. Zico hatte nicht vor, dieses Vertrauen zu enttäuschen.


    Und dennoch spürte er Freude. Man sah sie ihm nicht an, als er den Becher senkte, doch Darius, der ihn besser kannte, als jeder andere, würde sie an seiner Stimme hören. Zico besaß, wie alle Sentir, die steinerne Mimik eines Türstehers. Die Modulation seiner Worte bildete den Ersatz: Zico lächelte mit dem Klang seiner Stimme.


    »Bleiben wir heute wirklich zu zweit oder kommen die anderen zu spät?», fragte Zico. «Ich habe von meinem Benutzer keine Details zu dem heutigen Einsatz erfahren. Er meinte, dass du mir eine Einweisung geben würdest.«


    Darius schaute auf Zico herab, da er über zwei Meter groß war. Zico hingegen war nicht größer als ein durchschnittlicher Mann. Der ältere Agent zog eine Packung Rauchstangen aus dem Mantel und klemmte sich eine Fluppe zwischen die grauen Lippen, ehe er auch Zico eine anbot. Der nahm sie mit Nicken zum Dank an. Darius gab ihnen beiden Feuer.


    «Wir sind allein», sagte er, wobei die Rauchstange auf und ab wippte.


    Misstrauen überschattete Zicos Freude. Wann immer etwas zu seinen Gunsten entschieden wurde, rechnete er mit einer Falle. Sein Benutzer ahnte sicher, dass er gern wieder mit seinem alten Ausbilder zusammengearbeitet hätte. Das war gefährlich. «Was ist unser Auftrag?», fragte er.


    Darius wechselte zur mentalen Kommunikation. Alle Informationen, die nun folgten, waren für niemanden hörbar, der nicht über ihre Sinne verfügte. ‹Wir haben uns in Naridien nach einem der unseren umzuschauen. Sichern oder exekutieren, das übliche Spiel. Schauen wir uns den Unsympathen mal an. Bereit? Auf dem Rückweg haben wir noch ein Päckchen abzuholen.›


    ‹Naridien, aha. Dann werden wir eine Weile unterwegs sein. Ich habe Proviant dabei, Früchtekuchen, schön süß. Er reicht für zwei. Wir müssen unterwegs also nichts kaufen.›


    Darius quittierte es mit einem kaum sichtbaren Schmunzeln. ‹Dein Früchtekuchen klingt nach einer logischen, effektiven Energieversorgung. Vor allem ist er preiswert. Sparst du noch immer auf dein großes Geheimnis?›


    Zico nahm einen Zug und blies den Rauch hinauf in den Nachthimmel, wo er im dem Licht der Gaslaterne wie Nebel davon waberte. ‹Muss ich sonst noch etwas über die Zielperson wissen?›, fragte er, ohne auf die Frage einzugehen.


    Darius schenkte ihm einen langen Blick aus seinen braunen Augen. ‹Der entlaufene Sklave ist eine Sie, das musst du über ihn wissen. Das Oberhaupt möchte sie gesichert wissen. Das Übliche: Ob sie überlebt, ist irrelevant. Für mich sind Frauen mit Gabe verschwendetes Potential. Wichtig ist, dass sie keinem anderen in die Hände fällt, der Konkurrenz zu uns aufziehen könnte. Noch wichtiger aber ist das Päckchen. Wir holen es in einem Hotel ab. Weiteres später›, übermittelte Darius. Der Hüne schnipste die Rauchstange weg, drehte sich auf dem Absatz um und betrat das schlafende Luftschiff.


    Zico löschte seine Rauchstange, indem er die Glut an seiner Stiefelsohle abstrich. Die übrige Hälfte steckte er für später in seine Manteltasche. Den leeren Pappbecher warf er in den Rinnstein, als er Darius folgte.