Geißel der Sturmsee
Am Rand des Glücks
Arashima, Meeresbucht nahe der Hauptstadt Kagohiro.
Die zwei jungen Arashi zerrten das Netz aus dem Meer. Ihre bronzefarbenen Rücken glitzerten vom Wasser, das schwarze Haar klebte nass auf ihren Köpfen. Das Netz wog schwer und ein dritter Mann kam ihnen zu Hilfe. Gemeinsam wuchteten sie den Fang über die Reling. Das volle Netz klatschte auf die Planken und sank auseinander. Die Fische zappelten, hüpften und schnappten nach Luft, doch ihr Leid währte nicht lange. Mit geübten Handgriffen machten die drei jungen Arashi ihnen den Garaus und warfen sie in die Körbe, während der vierte ihnen gelangweilt zusah: Mikio.
Sein Zopf war trocken und stand wie eine Palme von seinem Hinterkopf ab. »Machen wir Schluss für heute«, meinte er, als seine Gefährten ihre Arbeit beendet hatten. Er schüttelte einige Tropfen von nach Fisch riechendem Spritzwasser von seinen Fingern, das ihn getroffen hatte.
Nobu aber, der ewige Besserwisser, hob die Deckel der geflochtenen Weidenkörbe. »Da ist noch reichlich Platz und das Wetter bestens. Wenn wir heute die Körbe füllen würden, hätten wir morgen einen freien Tag. «
Mikio winkte ab. »Was willst du mit der ganzen freien Zeit anstellen? Fisch zubereiten, im Haushalt helfen oder irgendwelchen Mist reparieren?«
»Es wird auffallen«, beharrte Nobu, »wenn wir bei so schönem Wetter mit so wenig Fisch heimkehren. Sie werden ahnen, dass wir die hälfte des Tages gefaulenzt haben.«
Doch Mikio hatte nicht vor, sich umstimmen zu lassen. Sein Entschluss stand fest. »Wetter hin oder her, wir schieben es auf die Strömung und sagen, dass wir nicht mehr fangen konnten.Wer will das nachprüfen?«
Nobu schloss die Deckel und verzichtete auf weitere Widerworte. Aber Tsubasa blickte nervös in Richtung des namenlosen Heimtatdorfes. Das Ufer war ein schmaler, dunkler Saum am Horizont. Die Rauchsäulen konnte man auch ihr draußen sehen. Geräucherter Fisch war das Einzige, was die Frauen auf den Märkten von Kagohiro verkaufen konnten, um von dem verdienten Geld für das Dorf Kleidung oder Getreide zu kaufen oder eine Behandlung beim Heiler zu bezahlen. Fisch war die Lebensgrundlage des kleinen Dorfes, in dem die vier jungen Männer lebten und Mikio war Besitzer des einzigen Boots. Als solcher fand er, dass er entscheiden konnte, wie viel oder wenig er arbeitete und wie oft. Sein Vater Shido hatte sein ganzes Leben für den Kauf gespart. Nun, wo er alt und schwach war, hatte er die Verantwortung für die Versorgung des Dorfes seinem Sohn aufs Auge gedrückt. Andere hätten sich über diese Ehre gefreut, für Mikio fühlte es sich an wie eine Stahlkugel, die ihn für immer an dieses vermaledeite Dorf kettete. An jenem Tag war er allein in den Wald gegangen, wo er vor Wut und Verzweiflung dermaßen geheult hatte, dass die dort ansässige Wolfsfamilie abgewandert war. Nein, Mikio Chud war nicht stolz auf seinen Posten als Kapitän der winzigen Fischerdschunke.
»Kurs auf Kagohiro«, befahl er und zeigte in die entgegengesetzte Richtung des Dorfes. Der Tag war jung und er dachte nicht daran, jetzt nach Hause zu fahren.
Während der kleine Yori das Ruder bediente und Nobu sich hinsetzte, um das Netz zu flicken, genoss Mikio mit geschlossenen Augen die sich orange färbenden Strahlen der Sonne. Um das Segel kümmerte sich Tsubasa. Dschunkensegel waren selbstwendend, sie drehten sich von allein in den Wind, so dass er nicht viel Arbeit hatte. Er musste lediglich dafür sorgen, dass es ausreichend Leine hatte. Die Gachou hüpfte flott über die Sturmsee. Ein so leichtes Gefährt hatte der See nichts entgegenzusetzen und die Besatzung spürte jede noch so kleine Welle bis in den letzten Zeh. Einer der gefangenen Fische wurde aus dem Korb geschleudert, hüpfte über das Deck und sprang dann zurück ins Meer.
Mikio sah dem Tier nach. »Wer hat dem die Kiemen durchgeschnitten?«, fragte er scharf.
»Niemand, ich habe ihn nur geklopft«, antwortete Nobu, worauf Tsubasa und Yori lachten.
Mikio schwieg ärgerlich und warf ihm ein Messer zu, damit er die übrigen Fische ordnungsgemäß behandelte.
Die Fahrt währte von hier aus noch zwei oder drei Stunden, in denen Mikio döste und die Nachmittagssonne genoss, während seine drei Matrosen sich um alles kümmerten. Als sie schließlich die Hauptstadt erreichten, war es Abend. Der Himmel leuchtete rot und die Steinlaternen, die mit dicken Kerzen bestückt waren, wurden von einem herumgehenden Nachtwächter entzündet. Mit ihren geschwungenen Dächern sahen sie fast aus wie kleine Häuser. Tsubasa vertäute die Gachou abseits des Haupthafens an einem freien Steg. Im Hafen lagen große Dschunken, die einem so kleinen Gefährt mit ihren schieren Ausmaßen Respekt einflößten. Eine Kollision mit solch einem Koloss war nichts, was sie gebrauchen konnten.
Am Strand hin und her schlendernd wartete Mikio, bis seine drei Matrosen endlich fertig waren, ohne ihnen auch nur mit einem Handgriff zu helfen. Gelangweilt sah er ihnen bei der Arbeit zu. Auf dem weiß getünchten Rumpf stand in Schwarz der Name der kleinen Dschunke gepinselt: Gachou, Gans. Lesen konnte Mikio das nicht. Er musste sich darauf verlassen, dass Nobu ein Ehrenmann war und sich keinen Scherz erlaubt hatte. Nobu reffte das Segel, indem er die Latten zusammenband, Yori kontrollierte noch einmal, dass die Körbe fest verschlossen waren und dann konnte der Feierabend beginnen. Den Fang ließen sie an Bord. Arashima war wohlhabend, besonders Fisch gab es im Überfluss und niemand hier würde den Fang stehlen.
Ihr Weg führte sie in den »Yakstall«, der am Hafen lag. Bereits der Name ließ erahnen, dass es sich hier nicht um ein Teehaus der gehobenen Sorte handelte. Kenner wussten, dass die Aufmachung als Teehaus nur der Fassade diente, während in den hinteren Räumen die wirklich gewinnbringenden Geschäfte abgewickelt wurden. Zwischen weitgereisten Matrosen und Einheimischen fanden auch die vier Burschen aus dem Dorf ein Plätzchen um einen der Spieltische.
Gespielt wurde Bagh Chal, auch bekannt als Tigersprung. Mikio und Tsubasa traten in der ersten Runde gegeneinander an, wobei Mikio vier Tiger spielte und sein Gegner zwanzig Ziegen. Einsatz war eine Runde Rokski für alle. Die Figuren waren in detailverliebter Handarbeit geschnitzt. Ziel des Spiels war es, als Tiger die Ziegen zu fressen oder als Spieler der Ziegen die Tiger so einzukreisen, dass sie nicht mehr ziehen konnten. Der Beste in diesem Spiel war Nobu, der genau so ungern als Fischer arbeitete wie Mikio - er wäre lieber Schreiber geworden. Entsprechend wenig erfreut war er, wenn man ihn zwang, seine Zeit länger als nötig abseits von Tusche und Federkiel zu verbringen, so dass er nicht üben konnte. Er war der Einzige ihres Dorfes, der überhaupt Lesen und Schreiben konnte und hätte es sicher zu etwas bringen können, wenn man ihn nur ließe.
Und Mikio wäre gerne zur Militärakademie nach Okoyano gegangen, doch weder stammte er aus einer angesehenen Familie noch besaß er das Geld, weil alles für das Überleben der Gemeinschaft verbraucht wurde. Jeder von ihnen trug seinen eigenen unerfüllbaren Traum mit sich herum.
Beim Spielen tranken sie Tee und für ein Trinkgeld gab Kenzo, der Inhaber des Yakstalls, einen großzügigen Schluck Rokski hinzu. Es bedurfte nicht viel von diesem starken Schnaps, um einen Arashi trunken zu machen. Das Rot des Himmels schien auf ihre Wangen abzufärben, während es draußen dunkel wurde. Als die Sonne untergegangen war, glühten die Gesichter, die Gesellschaft hatte sich durchmischt und es wurde um Geld gespielt. Am meisten Krach machte der kleine Yori, der schimpfte wie ein Rohrspatz und sich zielsicher mit Gegnern anlegte, die mindestens einen Kopf zu groß für ihn waren. Nobu löste das Problem elegant, indem er beide Kontrahenten zu einer Tasse purem Rokski einlud. Tsubasa aber geriet in ernsthafte Schwierigkeiten, als er sich mit einer Gruppe Matrosen von einem Kriegsschiff aus Okoyano anlegte. Vergebens mühte Nobu sich ein zweites Mal darum, die Streithähne zu einer gemeinsamen Tasse Rokski zu überreden. Gleich würde es ungemütlich werden und Tsubasas Gegner waren Soldaten.
Mikio nutzte die Gelegenheit, um sich klammheimlich in die Hinterräume zu verdrücken. Er verbrachte den Rest der Nacht in bezahlter Gesellschaft, abseits von dem Trubel im Teezimmer. Kein Gezeter, kein Gemecker und kein stinkender Fisch. Gehalten von zärtlichen Armen vergaß er seine unerfüllten Wünsche, seine zerschlagenen Träume und fand inneren Frieden.
Als die Sonne aufging, warf Kenzo die Gäste hinaus. Die vier jungen Arashi wankten übermüdet zur Gachou zurück. Den Rokski merkten sie noch immer. Yori entdeckte an Tsubasas Hals einen Knutschfleck und lachte ihn lauthals aus.
»Das ist ein Bluterguss von der Schlägerei«, maulte Tsubasa, der in der Tat arg verbeult aussah.
»Erklär das deiner Frau«, feixte Yori, worauf Tsubasa ihm in den Hintern trat. Der kleine Arashi flog einen guten Meter durch die Luft, ehe Yori stolpernd auf beiden Füßen landete, noch immer lachend. Auch er hatte verdächtige Kratzer auf seinem schmalen Rücken, aber auf ihn wartete niemand, der sich daran stören könnte.
Bei Mikio war das nicht anders, er war ein freier, ungebundener Mann, zumindest was diesen Aspekt seines Lebens betraf. Nobu schien der Einzige zu sein, der heute Nacht wirklich geschlafen hatte. Ausgeruht und munter übernahm er das Kommando, weil Mikio nicht einmal mehr darauf Lust hatte.
Als sie das Segel setzten, stand die Sonne bereits am Himmel. Jetzt hieß es, rasch nach Hause zu kommen, bevor der Fisch verdarb.