Intro
Naridien, Hauptstadt Shohiro, Frühling 204 nach der Asche.
Rot und weiß blühende Rosen säumten den Weg, immer im Wechsel, den Hügel mit dem gleichmäßig geschorenen Teppichrasen hinauf. Es waren winzige Pflanzen, kein Jahr alt und vermutlich in voller Blüte vom Gärtner gekauft, um den Weg zum Herrenhaus zu verschönern. Unter dem grauen Himmel wirkten die eng gelegten quadratischen Billig-Steine des Weges, den sie schmücken sollten, besonders trostlos. Wie viel reizvoller waren die zwischen blühendem Unkraut liegenden Natursteine aus dem Fluss gewesen, auf denen Vanja in seiner Kindheit entlanggehopst war. Hier stand er nun mit seinem hastig zusammengestopften Notgepäck und blickte durch das Gitter auf das entfremdete Grundstück.
›Campinelli‹ verkündete das Namensschild auf dem neuen Briefkasten, das weiß gestrichene Eisentor war verschlossen und Vanjas Schlüssel passte nicht mehr.
Er überlegte, ob er läuten und nachfragen sollte, verwarf den Gedanken dann aber. Wenn der naridische Zweig der Wigbergs das Anwesen verkauft hatte, würden sie dem Käufer ein Lügenmärchen aufgetischt haben, warum sie das taten und wohin sie nun zogen. Kein Außenstehender bekam die Wahrheit serviert und erst Recht nicht, wenn dafür kein deutlicher Nutzen für die Familie heraussprang. Kaum eine andere Familie hüllte sich in ein so dichtes Netz aus Lügen, falschen Dokumenten und Tarnidentitäten wie die Wigbergs. Ein Netz, das seit Jahrhunderten weite Teile Asamuras durchzog und das doch fast niemand bemerkte, bis er selbst hineingeriet. Schon so manche Fliege hatte sich darin verfangen.
Nach diesem Netz suchte Vanja nun verzweifelt, er musste von der Bildfläche verschwinden und das möglichst schnell und komfortabel, doch leider war das Netz für den Außenstehenden unsichtbar. Auch für Mitglieder der Familie, wenn sie nicht wussten, wonach sie suchen mussten. Er selbst trug seinen Namen ebenfalls nicht offen zur Schau. Für den Uneingeweihten war er Pater Syrell, ein etwas schrulliger Priester, der statt der schwarzen Kapuze der Priesterschaft von Zeit und Raum in seiner Freizeit gern einen leuchtend blauen Kopfputz aus Ledwick trug, um anzuzeigen, dass er jetzt Feierabend hatte und nicht mit Fragen zu theologischen Schriften, spontanen Lebensbeichten oder Bitten um Handauflegen behelligt zu werden wünschte.
Als würde Ainuwar sich nun über die Schande ärgern, die dieser Wigberg über seine Priesterschaft brachte, ergoss sich aus dem grau verhangenen Himmel ein feiner Nieselregen über Pater Syrell.
Mit einem missmutigen Seufzen schulterte er seinen Pilgerstab, an dem das Gepäck baumelte, und folgte der Salzstraße zum Marktplatz, wo er sich bei den Händlern nach einer Mitfahrgelegenheit erkundigen wollte. Das Grau des Himmels verdunkelte sich zu schwarz und die Nacht brach herein.