Schuld und Sühne
Eine Totenkerze brannte unter dem Gemälde von Ernesto Sirio di Ledvicco. Ansonsten war das Gemach dunkel, das Tazio sich mit niemandem teilte als den Geistern der Vergangenheit. Was genau sich in der letzten Schlacht des Krieges abgespielt hatte und wie die Entscheidungen der Feldherren auf allen Seiten zu bewerten waren, darüber schieden sich die Geister. Für Tazio aber gab keinen Freiraum für Interpretation. Er hatte den Verrat selbst miterlebt.
Inhalt
[anker_url]Rückblick auf den Krieg vor Dunkelbruch[/anker_url]
[anker_url]Rückblick auf die Heimreise[/anker_url]
[anker_url]Schuld und Sühne[/anker_url]
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/span>[anker]Rückblick auf den Krieg vor Dunkelbruch[/anker]
Wenn Tazio die Augen schloss, spürte er erneut den Wechsel zwischen der unerträglichen Hitze unter seiner Rüstung, während er zu Pferd von hier nach da eilte, um die unübersichtlicher werdende Schlacht zu koordinieren, und der eisigen Kälte in den wenigen Ruhestunden. Seine akustischen Begleiter waren ständiges Gejammer, Genörgel, Gefluche oder das Weinen derer, welche die letzten Nerven verloren hatten. All das war besser, als wenn die Soldaten schwiegen, denn das bedeutete Resignation und Tod. So lange sie sich beschwerten, so lange hatten sie noch Kampfgeist. Hitze und Kälte, Hitze und Kälte. Schweiß, Regen, nasse Kleider, die nicht trockneten, entzündete Haut, Eiter und Blut. Parasiten, unerträglicher Juckreiz an Stellen, die ein Duca sich nicht in der Öffentlichkeit kratzen durfte, Blutergüsse vom andauernden Tragen der Rüstung und in all dem das Wissen, sich konzentrieren zu müssen, da jede falsche Entscheidung vergossenes Blut der Ledvigiani oder ihrer Verbündeten bedeuten konnte.
Ein harter Hund war ihr Gegner Tarrik Tarkan mit dem grauen Turban. Seine Rakshaner waren Meister darin, ihre Gegner zu erschöpfen und zermürben. Sie kamen zwischen den eigentlichen Kampfhandlungen immer wieder auf ihren Hyänen vorbei, veranstalteten einen abgründigen Lärm mit Hohngesängen, schliffen nackte, noch lebende Almanen oder Zwerge hinter sich her durch den Staub, um deren Kameraden zu provozieren und die jüngeren Kämpfer in Panik ausbrechen zu lassen. Dann verschwanden sie wieder und hinterließen auf der almanischen Seite des Schlachtfelds Soldaten, die in Aufruhr waren. Das taten sie immer wieder, um ihren Gegnern keine Ruhe zu lassen und es zeigte Wirkung. Die Wüstensöhne waren meister der psychologischen Kriegsführung. Die Ordnung zu wahren, wenn man gegen das Chaos kämpfte, war eine Herausforderung für sich.
Alles in allem sah es nicht gut aus.
Doch das höhere Wohl im Sinne, blieben die Almanen unter Ernesto, Roderich und der Generäle von Ehveros an der Seite jener, denen sie Hilfe versprochen hatten. Und dann schloss sich, mit rasselnden Ketten, knarrenden Winden und schabenden Torflügeln, das Tor von Dunkelbruch. Einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen. Tazio glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Die Zwerge waren drin, die Almanen noch draußen. Das Volk von Niewar hatte die Tore vor ihren Augen geschlossen und sich im Schutz des Gebirges verbarrikadiert, während Tazios Männer für sie starben. Und wie sie starben. Für ein Volk, dass nicht das ihre war. Auch Ernesto fiel. Seine Gebeine verrotteten irgendwo in einem fremden Land, wo er einen fremden Krieg geführt hatte.
Tazios Blick verdunkelte sich, als er an die Decke seines Baldachins starrte. Wie immer lag er allein in einem viel zu groß erscheinenden Bett. Wieder zu Hause, in Sicherheit, und allein. Die Statistiken, welche die Heeresleitung damals erstellt hatte, spukte durch seinen Kopf. In nüchterne Zahlen verpacktes Grauen, in Prozente und Mengenangaben gepferchtes Leid, dessen wahres Ausmaß nur der verstand, der mit eigenen Augen gesehen hatte, was sich dahinter verbarg.
[anker]Rückblick auf die Heimreise[/anker]
Gab es einen gerechten Krieg? Die Ledvigiani waren die Ersten gewesen, welche den Zwergen zur Hilfe eilten und die Letzten, die nach den Monaten des Blutes heimgekehrt waren. Wo begann die Hilfsbereitschaft im Sinne aller und wo die selbstzerstörerische Aufopferung? Eines war sicher, sie hatten die Grenze überschritten. Es war ein Fehler gewesen. Doch in all dem Elend hatte es auch einen Lichtblick gegeben, eine Geste der Freundschaft. Während die Zwerge unter der Erde die Probleme der Oberwelt von sich abschotteten, gewährte Souvagne den erschöpften Soldaten Ledviccos nicht nur die Durchreise, sondern Gastfreundschaft. Die Souvagner, die sich aus allen Kriegshandlungen herausgehalten hatten, halfen nun zu lindern, was andere verbrochen hatten.
[anker]Schuld und Sühne[/anker]
Die Hauptschuld an der Katastrophe, das musste Tazio sich bitter eingestehen, lag nicht bei den Zwergen oder den Rakshanern. Sie lag bei seinem Vater. Denn er hatte letztlich die Entscheidung gefällt. Mit Ernestos Erbe hatte Tazio auch die Bürde der Schuld auf sich genommen, die nun auf seinem Herzen lastete so wie auf seinem Volk, dass die besten Männer verloren hatte.
Konnte eine solche Schuld gesühnt werden?
Wie wäre es, überlegte Tazio, wenn man den Zwergen ihren Wunsch nach Abgeschiedenheit erfüllte? Wenn man die Felsen über jeder einzelnen Zwergenpforte zum Einsturz brachte und keinen Ausgang übrig ließe? Wenn man sie lebendig begrub?
Tazio setzte sich in seinen grünsamtenen Decken auf und blickte in sein abgedunkeltes Gemach, in dem reglos die Kerzenflamme leuchtete. Sein Vater entfiel als Berater und kein Onkel, Bruder oder Cousin ließ sich blicken, um die Gedanken des jungen Duca mit ihm zu teilen und ihm beim Abwägen und der Entscheidungsfindung zu helfen. Seine Vorstellungen noch zu vage. Er würde gern über das Frühstadium seiner Idee sprechen, die Gedanken gemeinsam schweifen lassen und alle Möglichkeiten durchspielen mit jemandem, der die Tragweite einzuschätzen wusste und für seine Umsicht bekannt war.
Tazios Blick wandte sich nach Norden. Er würde Maximilien zu einem weiteren Treffen einladen.
Wenn der Duc de Souvagne es einrichten konnte, so sollte das Gespräch in Tazios Heimatland stattfinden, damit er sich für die erwiesene Gastfreundschaft und die wertvollen Geschenke revanchieren konnte. Auch würde Maximilien in Ledvicco sehen, warum Tazio seine Heimat so sehr liebte und warum es ein Jammer wäre, dieses Stück almanischer Kultur zu verlieren aufgrund eines einzigen großen Fehlers, dessen Last nun auf Tazios Schultern lag wie ein Joch. Ein Joch, das so sehr drückte, dass es entfernt werden musste. Und Tazio hatte bereits eine Idee, wie. Und eine kleine Ecke seines Verstandes wagte es auch, sich auf ein Wiedersehen mit Prince Gregoire zu freuen.
Er erhob sich und setzte sich, noch im Schlafgewand, an seinen Schreibtisch, um die Einladung zu verfassen.