Kapitel 22 - Die Erben der Wächter der Morgenröte

  • Die Erben der Wächter der Morgenröte


    Die Hörner schallten von den gelben Sandsteinmauern des Sonnensteins. Ihr Hall trug die Kunde zu den Bewohnern der Burg, dass der Burgherr von der Jagd heimkehrte. Die Wachmannschaft am Tor bildete ein Ehrenspalier, während die Torflügel sich langsam öffneten. Die Silhouetten eines duzend Reiters schälten sich aus dem Staub, eine Hand am Zügel, die andere zur Faust erhoben und einen Falken tragend. Das Rudel hochbeiniger, stehohriger Windhunde strich im federleichten Trab um das Gefolge. Obgleich die Männer aus der Wüste kamen, waren ihre Gesichter von der Kälte gerötet, Mund und Nase zum Schutz vor dem Sand mit Tüchern verhüllt. Fast wirkten sie wie Halbrakshaner, doch trugen sie den Gesichtsschleier nur bei Sandstürmen. Bevor der Winter hereinbrach und die Tiere abwanderten oder sich in den Winterschlaf begaben, holten die Jäger noch einmal reiche Ernte ein, um die Vorratskammern zu füllen.
    Dijon de la Grange, der die Jagdgesellschaft führte, sah aus, wie man sich das Ideal eines Lehnsherrn vorstellte: Ergrautes Haar, das auf Jahrzehnte an Erfahrung verwies, eine hochgewachsene und aufrechte Gestalt, die weder Gram noch Krankheit hatte beugen können. Das Oberhaupt der Familie La Grange war jemand, dem die meisten Menschen instinktiv Respekt zollten. Sein korrektes Auftreten und seine penibel in Ordnung gehaltene Kleidung unterstrichen dieses Bild, ebenso seine Vorliebe für blank polierte schwarze Stiefel, die bis unter das Knie reichten. Im Moment jedoch waren sie von gelbem Staub bedeckt, so wie der Rest seiner Kleidung.
    Dijon blickte in Richtung seiner Heimatburg. Die Beine seines Pferdes wurden vom wehenden Sandschleier zur Hälfte verdeckt, als würden sie durch ein gelbes Nebelmeer schreiten. Vor ihm erhob sich der Sonnenstein über den Dünen, leuchtend im kälter werdenden Licht der Herbstsonne. Über den flachen Dächern wehte das Banner mit dem roten Hahn über den beiden Ähren in letzter Generation. Die Wächter der Morgenröte blickten nunmehr ins schwindende Licht ihrer Abenddämmerung. Alles, wofür seine Ahnen gekämpft hatten, würde in wenigen Jahren zusammen mit seinem einzigen Sohn im Sand der Zeit untergehen. Die La Granges, die weder Tod noch Rakshor fürchteten, hatten ihr Ende gefunden durch ein so harmloses und unscheinbares Wesen wie eine Frau.
    Die Hörner stimmten eine pompöse Melodie an und der Kommandant der Wachmannschaft stieß einen Begrüßungsruf aus, während der Marquis und seine Begleiter einritten. Auf dem Stallhof wurden die Hunde in die Verschläge gerufen, die sie freudig bellend aufsuchten, weil sie dort ihr Futter erwartete. Die Reiter stiegen ab, verabschiedeten sich und jeder ging seiner Wege.
    Auch Dijon schwang das Bein über die Kruppe seines Hengstes, ignorierte den Schmerz, der dabei durch seine Hüfte schoss, und stieg mit elegantem Schwung ab. Die Zügel drückte er dem Stallburschen in die Hand, gab seinem herbeigeeilten Leibdiener mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er noch für sich bleiben wollte und stieg allein hinab in den Keller des Sonnensteins. Die Oberschenkelmuskeln brannten bei jeder Treppenstufe, Dijon war den halben Tag zu Pferd unterwegs gewesen. Er ließ die Fingerkuppen über die raue Sandsteinwand streichen, während er tiefer und tiefer stieg. In regelmäßigen Abständen brannten Öllampen, da der obere Bereich des Kellers oft begangen war. Neben der Treppe verlief eine Schiene, um Güter leichter hinauf oder hinab transportieren zu können.
    Jede almanische Burg, die mehr als 400 Jahre gesehen hatte, besaß diese unergründlich tiefen Gewölbe in ihren Eingeweiden. Dijon hatte sie vollständig erforschen und ausbauen lassen wollen, war aber an der schieren Größe gescheitert, so wie bislang jeder andere Bauherr, der sich an einem solchen Vorhaben versuchte. Je weiter die eingestürzten Gänge freigeräumt worden waren, umso tiefer führten die Keller, bis die ersten Arbeiter sich verirrten und nicht mehr zurückfanden. In neun Etagen Tiefe hatte er schließlich die Versiegelung aller überzähligen Gänge angeordnet, um weitere Unglücke zu vermeiden. Die bislang erschlossenen Gewölbe wurden stabilisiert und instandgesetzt. Seither dienten sie vor allem zur Lagerung. Aufgrund der dauerhaft niedrigen Temperaturen und der trockenen Luft hielten Lebensmittel sich in diesen Tiefen sehr lange. Dijon hatte genug einlagern lassen, um sein gesamtes Lehen ein Jahr lang mit Notrationen versorgen zu können. Hinzu kamen die Vorräte, welche jeder Comte und jeder Chevalier auf sein Geheiß hatte anlegen müssen. Das hatte für einiges Gestöhne gesorgt, aber Dijon war sicher, dass der Tag kommen würde, da man ihm dafür noch dankbar war - denn dank des gewaltigen Überschusses an Vorräten konnten im Notfall auch die benachbarten Lehen unterstützt werden. Nicht umsonst trugen die La Granges nicht nur den Hahn, sondern auch die beiden Ähren im Wappen. Sie waren der Kornspeicher Souvagnes, nicht wegen ihres Weizenanbaus - dem stand das trockene Klima entgegen - sondern wegen der guten Lagerungsmöglichkeiten, die ihre Scholle bot.
    Die zehnte Etage aber, von der niemand wusste, gehörte dem Marquis allein.
    Hier versteckte er nicht etwa das Spielzimmer für dunkle Gelüste - das lag ganz oben in seinen Gemächern, für jeden offensichtlich, der Zutritt in seinen privaten Bereich hatte - sondern eine kleine, bescheidene Wohnung, die er ganz allein bewirtschaftete. Das Imitat einer gemütlichen Bauernwohnung, mit kleiner Wohnküche, Zwiebelzöpfen, Laugenbrezeln und rot karierten Sitzbezügen. Dies war der Ort, an dem er sich erdete.
    Dijon feuerte den Ofen an, um sich Wasser warm zu machen. Nachdem es aufgekocht war, legte er seine verstaubten Reitkleider ab, um sie eigenhändig an dem Waschbrett sauber zu schrubben. Er beeilte sich nicht, die Zeit hier unten gehörte ihm. Anschließend hängte er die Wäsche mit Klammern an der Leine in der Nähe des Ofens auf. Das dreckige Wasser schüttete er in einen vergitterten Abfluss, der hinab in den Abgrund führte. Er reinigte anschließend auch sich selbst an einer Waschschüssel, wusch sich den Sand aus dem Haar, um sich hernach mit einem Buch bei Kerzenschein nackt in einer dicken Decke auf dem Sofa einzukuscheln. Statt Rotwein stand eine dampfende Tasse Kräutertee auf dem Beistelltisch. Die Lederstiefel lagen mit abgeknickten Schäften neben der verschlossenen Tür, als würden auch sie sich zur Ruhe begeben haben.
    Die Lider wurden ihm schwerer mit jeder Zeile, die er las. Nach wenigen Seiten schlummerte Dijon ein, das Buch noch auf der Brust. Die Bewegung an der frischen Luft hatte ihn müde gemacht und ganz gleich, wie rüstig er wirkte, so war er doch kein junger Mann mehr. Er erwachte nach einiger Zeit von allein, trank den Rest des kalt gewordenen Tees und zog die Wäsche an, die er vor einigen Tagen hier unten schon gewaschen, getrocknet und gebügelt hatte. Da gerade keine weitere Hausarbeit anstand, machte er sich auf dem Sessel bequem und nahm eine gerahmte Tuschezeichnung zur Hand, ein Geschenk von Prince Ciel.
    Wie auch immer der Prince es geschafft hatte, aber Alexandre lächelte auf diesem Portrait. Er saß darauf nicht steif auf einem Stuhl, das förmliche, kaum sichtbare Schmunzeln des Adels um die Mundwinkel spielend, wie es auf Ölgemälden dargestellt wurde. Nein, er saß ganz entspannt, den Arm über die Rückenlehne eines Sofas gelegt, das Hemd oben ein Stück offen und lächelte dem Betrachter zu.
    Grund zum Lächeln hatte Alexandre von der Sache her so wenig wie sein Vater. Eine einzige Nacht des jugendlichen Leichtsinns hatte die Zukunft der Familie La Grange vernichtet. Was so hoffnungsvoll begonnen hatte, ein ehrgeiziger junger Marquis mit magischer Begabung und besten Beziehungen zur Krone, war wegen eines einzigen Fehlers in der völligen Vernichtung geendet. Damit, dass Alexandre seine Entmannung überlebte, hatte niemand gerechnet, doch von der Sache her war es gleichgültig. Ob er nun lebte oder nicht, die Familie starb mit ihm im Mannesstamm aus. Und Dijon blieb nichts anderes übrig, als hilflos dabei zuzusehen, wie die letzten Tage seines Geschlechts an ihm vorüberzogen.
    Dijon fragte sich, ob dies die Strafe dafür war, wie er mit seinen Mätressen umging, dass ausgerechnet eine Frau das Leben und das Werk seiner Familie zerstört hatte. Vielleicht war das Unglück aber auch der Tatsache geschuldet, dass eine Dupont die Mutter seines Sohnes war, die Tochter einer Familie, der man nachsagte, vom Unglück verfolgt zu sein. Entgegen aller Vernunft hatte Dijon nicht die Marquise Isabeau Hortenese de Bariere zur Frau genommen, die ihm in Aussicht gestellt worden war, sondern sich die Tochter des Chevaliers de Dupont zur Hauptfrau erwählt, deren stilles, tieftrauriges Wesen irgendetwas in ihm ansprach, dass ihn unsterblich nach ihrer Nähe verlangen ließ. Fleur, die Blume. Haar so schwarz wie der Schleier der Trauer, die ihre Seele umhüllte, Augen so grau wie der Himmel im Winter. Alexandres Mutter.
    Was auch immer es war, das die Schuld an dem Schicksal der La Granges trug, es hatte gewonnen. Dijon wusste nicht, was nach Alexandres Tod mit seinem Lehen geschehen würde. Entweder, ein anderer Marquis bekam es übereignet oder ein neuer Marquis würde ernannt werden. Die altehrwürdige Geschichte der La Granges aber endete am Todestag von Alexandre. Dijon blieb nur, dem Schicksal aufrecht und in Würde entgegenzublicken. Dazu gehörte auch, hin und wieder all die Wut, den Frust und die Verzweiflung im kontrollierten Rahmen herauszulassen. Er beschloss, einen Brief aufzusetzen und seinen alten Freund Gideon de Gladu zu einer Feierlichkeit einzuladen. Comte Neville de Grivois, genannt der Schlüpfige, war auch immer ein unterhaltsamer Gast. Ja, eine Feier, ein paar Tage ausufernder Dekadenz würden ihnen allen guttun, um die Hoffnungslosigkeit vor der Haustür für eine Weile zu vergessen. Ändern konnte er daran ohnehin nichts mehr.
    Es klopfte.
    Dijon fuhr zusammen. Niemand außer seiner Familie kannte diese geheime Tür. Und seine Familienmitglieder wussten, dass er hier unten nicht gestört werden wollte. Es musste ein Notfall sein. Dijon legte das Portrait auf den Tisch und eilte zur Tür.
    »Wer da?«, fragte er, ohne sie zu öffnen.
    »Alexandre«, kam die Antwort.
    Sein Sohn war zu Besuch gekommen, den weiten Weg von Beaufort bis in seine alte Heimat. Dass er seine Anreise nicht angekündigt hatte, war ein Grund mehr, sich Sorgen zu machen. Dijon entriegelte umgehend die Tür und ließ ihn eintreten. Hinter ihm schloss er sofort wieder ab, was Alexandre nicht zu passen schien, denn er schaute die Tür an.
    »Dass du unangekündigt angereist bist und mich hier unten aufsuchst, sagt mir, dass es dringend ist«, sprach Dijon in strengem Ton. »Kommen wir also ohne Umschweife zur Sache. Was führt dich her?«
    Alexandre deutete eine Verneigung an. »Ich freue mich, Euch zu sehen, Vater. Wenn Ihr gestattet, öffne ich zunächst die Tür, um die beiden Gäste hineinzubitten, die Ihr gerade ausgesperrt habt.«
    »Dieser Ort ist geheim«, polterte Dijon. »Ich hoffe sehr, dass es zwei nahe Verwandte sind.«
    »Das sind sie«, antwortete Alexandre. »Und sie haben wichtige Kunde für Euch.«
    Dijon nickte. »Dann bitte sie herein.«
    Er fragte sich, warum der Besuch nicht Zeit hatte, bis er wieder oben war. Er zog sich nie länger als ein paar Stunden hier unten zurück, ehe die Pflicht ihn wieder hinauf trieb. So lange hätte man doch warten können. Was mochte das für eine fatale Botschaft sein?
    Alexandre entriegelte die Tür. Zwei hochgewachsene junge Männer traten ein, die offenbar Zwillinge waren. Einer rothaarig, der andere blond. Dem Aussehen nach waren es tatsächlich Verwandte. Sie hatten das typische Gesicht der La Granges mit den hohen Wangenknochen und dem Grübchen im Kinn. Aber wer? Großneffen, Großcousins? Vielleicht aus der Linie Sonzier?
    Der rothaarige Zwilling ergriff zuerst das Wort. »Hallo, Opa«, grüßte er mit einem unziemlich breiten Grinsen und sein Bruder grinste genau so. »Wir dachten, wir schauen mal vorbei.«
    Dijons entrüsteter Blick wanderte zu seinem Sohn. Dass diese beiden sich erdreisteten, ihn als ›Opa‹ anzureden, so etwas hatte er noch nicht erlebt.
    Doch Alexandre lächelte kaum wahrnehmbar. »Vater, ich möchte Euch die beiden Stammhalter Eurer Linie vorstellen.« Nacheinander wies er auf die beiden Gäste, zuerst auf den Rothaarigen, dann auf den Blonden. »Caillou und Camille de la Grange. Gezeugt in jener schicksalsträchtigen Nacht, der Letzten, die ich auf diese Weise verbringen durfte. Ausgetragen von der Menschenfresserin Derya und auf verschlungenen Pfaden zu mir zurückgekehrt. Es sind meine leiblichen Söhne. Ich dachte, ihr Besuch sei wichtig genug, um Euch ausnahmsweise an Eurem Rückzugsort zu behelligen.«
    Fassungslos erhob Dijon sich. Er betrachtete die beiden von oben bis unten. Ihr Alter passte und auch ihr Aussehen ... den Gedanken, dass Alexandre einem Schwindel aufgesessen war, verwarf er wieder. Wenn das alles der Wahrheit entsprach - und er sah keinen Anlass, das Wort seines Sohnes infrage zu stellen - dann war seine Linie gesichert. Die Zukunft von La Grange war gerettet! All die Jahre hatte es die ersehnten Enkel irgendwo da draußen gegeben, ohne dass jemand von ihnen wusste, ehe sie den Weg nach Hause fanden. Und ehe er sich versah, hatten die beiden ihn gleichzeitig umarmt.
    »Wir haben dich lieb, Opa«, flüsterte Caillou und streichelte seinen Rücken.
    »Haben wir«, sagte Camille leise und kraulte seine Schulter. »Darum gibt es uns sogar in doppelter Ausführung.«
    Dijon ließ die Zärtlichkeit mit einer Mischung aus Verstörtheit und Freude über sich ergehen. Selten genug war es, dass jemand ihn so herzlich in die Arme schloss und sich über seine Gegenwart freute.
    »Ich freue mich auch«, sagte er aufrichtig. Es gelang ihm, sich zu befreien und er betrachtete erneut die beiden jungen Männer. »Aber wer von euch beiden ist denn nun der Stammhalter? Wer ist der Ältere?«
    »Wir sind genau gleich alt«, behauptete Caillou.
    Camille nickte. »Wir haben uns gleichzeitig aus dem Leib unserer Mutter herausgefressen.«
    Den Humor hatten sie jedenfalls nicht von ihm. Dijon blickte fragend Alexandre an.
    »Sie haben es ihrer Mutter bei der Geburt sehr schwer gemacht«, sprach Alexandre. »Sie haben sie fast umgebracht. Derya war allein, als die beiden zur Welt kamen. Die Schmerzen, welche die Menschenfresserin mir zugefügt hat, bekam sie von meiner Saat zurück. Leider hat es nicht gereicht, sie aus dem Leben zu reißen.«
    »Sie muss hinterher ausgesehen haben, als hätte sie sich auf einen Fleischwolf gesetzt«, erklärte Caillou grinsend. »Wir sagten doch, wir haben uns durchgefressen. Sie hat uns die Schote mehrmals erzählt, ich glaube, sie war sogar stolz auf uns. Wir lagen hinterher beide in einer Blutlache und sie wusste nicht mehr, wer von uns nun der Erstgeborene war. Wir sind aber der Meinung, dass wir zeitgleich den Kopf hinausgestreckt haben.«
    »Oder den Hintern«, gab Camille zu bedenken. »Vielleicht waren wir Steißgeburten.«
    Alexandre winkte mit einem unterdrückten Lächeln ab. »Zwei Stammhalter stehen vor Euch, Vater«, erklärte er und trotz allem meinte Dijon, Angst in seiner Stimme zu hören. Vermutlich fürchtete er, ihn erneut nicht zufrieden stellen zu können. »Wer die Linie letzten Endes fortführt, kann sich zu gegebener Zeit an praktischen Beweggründen orientieren. Ich hoffe, dass Euch das etwas von Eurer Sorge um die Zukunft nimmt.«
    Dijon lächelte schmerzlich, als er seinen Sohn so förmlich über seine Kinder sprechen hörte. Seine strenge Erziehung war vielleicht an manchen Stellen ein wenig über das Ziel hinausgeschossen.
    »Lassen wir den Pluralis Majestatis ab heute«, entschied er. »Diese Anrede ist zwischen uns nicht mehr angebracht, wenn sie es denn je war. Wir sind per Du, mein lieber Alex.«
    Es war das erste Mal, dass er ihn mit der Kurzform seines Namens ansprach. Er griff Alexandres Oberarme und küsste seine Stirn, streichelte seine Wange und gab ihn wieder frei.
    Alexandres Mundwinkel waren zu einem Lächeln verzogen, in dem Freude und Wehmut gleichermaßen lagen.
    »Ich danke dir«, sagte er.
    Dann entdeckte er das Portrait auf dem Tisch. Während die Zwillinge sich in der Küche nach etwas Essbarem umsahen, nahm er es zur Hand.
    »Ich wusste nicht, dass du ein Bild von mir besitzt«, sagte Alexandre leise. »Ich war der Einzige, von dem du kein Ölgemälde in Auftrag gegeben hattest.«
    Dijon wich seinem Blick aus. Dann holte er eine Mappe aus einer Schublade und legte sie ihm hin. Als Alexandre sie aufschlug, waren darin zahllose Zeichnungen, die ihn darstellten.
    »Eitelkeit und Schmerz sind selten gute Ratgeber«, gestand Dijon. »Wie Prince Ciel es geschafft hat, dich zum Lächeln zu bringen, weiß ich nicht. Aber dass er es schaffte, im Gegensatz zu mir, der dich nur zum Weinen brachte, das macht mich traurig und glücklich zugleich. Ich war ein Gockel, der unheilbar in seinem Stolz gekränkt war. Ich gab dir die Schuld für etwas, dessen Opfer du letztlich nur warst. Meinen Schmerz über das Aussterben unserer Linie habe ich höher gehalten als den Schmerz, den du all die Jahre erleiden musstest und an dem auch ich zu einem Teil Schuld trage. Ich hätte anders urteilen oder mir ein Urteil einfach verkneifen müssen.«
    Dijon schloss seinen Sohn in die Arme - das erste Mal seit über zwanzig Jahren. »Bitte vergib mir«, bat er. »Lass uns einen Neuanfang wagen.«
    »Vergeben und Vergessen«, antwortete Alexandre. »Ich habe für meinen Leichtsinn bezahlt. Aber unsere Familie wird nicht länger darunter leiden müssen. Caillou und Camille bringen eine neue Morgendämmerung. Sie werden die nächsten Wächter der Morgenröte.«

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  • Baxeda

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