Kapitel 9 - Der persönliche Abgrund

  • Der persönliche Abgrund



    Hector musterte Arbogast mit einem Blick so kalt wie Packeis, als er ihn als Gruppenmitglied erkannte. Er nickte der Gruppe knapp zu und schwang sich auf seinen Rappen.


    "Mir nach!", sagte er knapp, während der schwarze Hengst kurz tänzelte.


    Einen Augenblick später stob das Pferd mit einem gewaltigen Satz davon, die Gruppe folgte im gleichen Atemzug. Im gestreckten Galopp ging es bis nach Shohiro. Hector schien sich keine Gedanken darum zu machen, wie fest seine Begleiter im Sattel saßen. Da er niemanden stürzen hörte, ließ er seinem Hengst freien Lauf. Sie ritten Stunde um Stunde, bis sich der Tag fast dem Ende neigte. Wolken zogen auf, verhingen den Himmel und langsam stieg die Nacht auf. In der Dunkelheit hatten sie Shohiro erreicht.


    Langsam führte Hector sie durch die dunklen Gassen der Hauptstadt Naridiens. Wohin der Schwertmeister wollte, hatte er mit keinem Wort gesagt. Aber er schien zu wissen, wohin er wollte, denn er führte sie extrem zielstrebig. Natürlich mit ein paar kleinen Schlenkern und Umleitungen, um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand folgte.


    Schlagartig standen sie vor einem unscheinbaren Haus, es unterschied sich nicht groß von den anderen Häusern in der Nähe. Es stand frei und Hector führte die Gruppe hinter das Gebäude. Dort ließ er sich von seinem Pferd rutschen und wartete auf seine Begleiter. Gemeinsam betraten sie das Haus, dass drinnen genauso nüchtern eingerichtet war, wie es von außen den Anschein hatte. Arbogast fragte sich einen Moment, wem das Haus gehörte und weshalb Hector davon einen Schlüssel besaß. Keinem seiner "Verwandten" konnte er dieses nichtssagende Gebäude zuordnen. Hector hatte hinter ihnen wieder abgeschlossen, bemerkte Arbo mit Unbehagen.


    Vor dem Kamin blieb das Grauen stehen, betätigte in einer bestimmten Reihenfolge einige Steine und eine Tür glitt zur Seite. Ohne zu Zögern stieg er in die Dunkelheit hinab. Sie befanden sich in einem Keller. Staub tanzte hier in der Luft, alte Weinfässer standen in den Ecken und boten den Wollmäusen Schutz. Hector trat an eines der Fässer heran und entriegelte eine weiter unsichtbare Tür. Erneut verschwand das Grauen in noch finsterer Dunkelheit.


    Kaum im zweiten Kellergeschoss angekommen sahen sie altbekannten Luxus. Seidene Tapeten in blutroter Farbe schmückten die Wände. Kerzen erhellten hier sonst die Räumlichkeiten und überall standen diese seltsamen mechanischen Spielzeuge, die Archibald so liebte. Dazwischen lagen Puppen die mit toten Augen die Besucher anstarrten und uralte Teddybären die die Pfoten nach ihnen ausstreckten.


    Ein Museum der Kuriositäten für all jene, die niemals die zweite Kellerebene samt ihrer Zellen gesehen hatten und schon gar nicht die dritte.


    Auf einem Beistelltisch standen rote Kerzen, die in einem besonderen Muster angeordnet waren. Sie umrahmten in Sand gezeichnete Symbole. Kakko erkannte die Zeichen, sein Meister trug sie auf der Haut. Ein Totenschädel ruhte mittig auf dem Tisch, von dem jeder im Raum schlagartig wusste, dass dies ein echter menschlicher Schädel war. Die Zellen die sonst Archibalds Spielzeuge enthielten waren leer und verweist. Hector strich mit einer fast liebevollen Geste über die blutigen Gitterstäbe, ehe er sie tiefer in die privaten Räumlichkeiten des wahren Zuhauses von Archibald führte.


    Das Schlafzimmer war dekadent eingerichtet. Auch hier die schweren, seidenen Tapeten. Das Zimmer hätte der Baronin oder einem Monarchen gehören können. Auf einem großen Schminktisch standen auch hier allerlei Spielzeuge. Eine Wand nebem dem gewaltigen Bett war mit einem Bild verziert, dass einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Das "Ding" das dort abgebildet war, wirkte wie aus einer anderen grauenvollen Welt.


    "Oma", lachte Hector seine heisere Lache und deutete auf das Bild, "eine wahre Schönheit".


    Genau unter dem Bild war ein Schwerthalter angebracht. Hector zog sich soweit aus, dass er mit nacktem Oberkörper vor der Wand stand, zückte sein Jian und küsste die Klinge. Behutsam legte er das Schwert mit beiden Händen in die Halterung. Unsichtbare Zeichen flammten wie von Geisterhand auf der Klinge auf. Einen Atemzug später flammten ähnliche Zeichen auf der Wand auf, aber von ihr bis zum Schwert war ein dunkler Bereich.


    "Da fehlt ein Stück", flüsterte Kirimar ehrfurchtsvoll.

    "Ein Talisman", bestätigte Hector.


    Das Grauen fasste mit den flachen Händen auf die dunklen Stellen und die Gruppe erkannte, dass das Muster des Schwertes, der Wand und von Hector ein riesiges, großes Gesamtbild an Schriftzeichen ergab. Hector wartete einige Sekunden dann zog er die Hände über dem Schwert zusammen und und drehte sie nach hinnen so dass die Außenseiter seiner Arme nun die Wand berührte. Die Schriftzeichen veränderten sich auf der Wand und sie hörten eine dumpfe Entriegelung von einer mächtigen Tür.


    Die Wand schob sich zur Seite und gab einen gähnenden Abgrund preis. Hector stieg hinab und führte die Gruppe in den dritten Kellerbereich. Die Wände hier sahen aus wie geschmolzen. Ein langer Gang von dem mehrere Türen abzweigten. Alle mit jenen seltsamen Symbolen versehen, die Hector auch auf der Haut trug. Kiri schloss zu ihm auf, berührte ihn aber nicht.


    "Du bist der Talisman Deines Vaters. Du trägst die Antworten auf der Haut", grinste der Arashi.

    Hector grinste als Antwort zurück.


    "Das ist ein Tempel, nicht wahr?", fragte Arbo leise.

    "Unter anderem, hinter jeder Tür verbirgt sich etwas anderes, unter anderem weitere Zugänge", erklärte Hector.


    Wie weit die Zugänge reichten, dass musste Arbogast nicht wissen, schon gar nicht, dass es hier einen direkten Zugang zum Abgrund selbst gab. Jedenfalls hatte es ihm sein Vater einst erzählt. Geöffnet hatte er die Tür noch nie. Das jede Tür bestimmte Voraussetzungen hatte um geöffnet zu werden, verschwieg er genauso wie alle anderen Infos. Heute waren sie hier um sich mit Artefakten einzudecken.


    Vor der Tür mit der schwarzen Sonne blieb Hector stehen, auch hier legte er die Hände und Arme in einer bestimmten Geste auf die Tür und sie schwang lautlos auf. Ein Wink mit der Hand und eine unsichtbare Beleuchtung erhellte den Raum in kränkliches Grün. Sie befanden sich in einer Waffenkammer, in ihres gleichen suchte. Diese Waffen waren nicht einfach Waffen, es waren Artefakte des Ältesten. Jeder spürte den finsteren Sog der von ihnen ausging.


    Hector zog einen schwarzen Dolch aus der Halterung und hielt ihn Kakko hin.

    "Für Dich, führe ihn weise", sagte er freundlich.


    Aber deshalb war er nicht gekommen, er schritt durch den Raum und nahm mit beiden Händen eine seltsame Kugel aus ihrer Halterung. Sie so groß, dass sie gut in die Hand eines Mannes passte und hatte ganz ähnliche Zeichen in ihre Oberfläche geritzt. Sie war von so intensivem Schwarz, dass die Kugel gar keine Farbe zu haben schien, sondern alles Licht um sich herum zu absorbieren schien.


    Hector grinste von einem Ohr zum anderen. Er kehrte zu Kakko zurück und deutete auf den Dolch.


    "Schneide Dir in die Maus und lass das Blut auf den OPAK tropfen. So finden wir Deinen Vater, er findet Blut dass zu Blut gehört. Ich kann ihn lesen", erklärte Hector und nickte aufmunternd.

  • Kakko blickte aus großen Augen durch die Dunkelheit zu seinem Meister. "Dieser Ort ist voller Wunder", hauchte er ehrfurchtsvoll. Er bemerkte, wie sich Nathan mit beiden Händen an die Kleider von Arbogast klammerte, als ob dieser ihn beschützen könnte. Hätte er Verstand, würde er sich an einen der beiden Jäger halten. Kakko jedoch hatte keine Furcht, was auch immer das hier war, er liebte es. Als ihm der Dolch überreicht wurde, neigte er dankbar das Haupt. Seine Finger schlossen sich um den Griff. Eigentlich wollte er sich nicht schneiden, er mochte keine Schmerzen. Aber er würde nun nicht kneifen und er tat es für seinen Vater. Was war da schon ein kleiner Pikser?


    Kakko schloss die Finger noch fester um den Griff, setzte an und schob die Spitze vorsichtig in sein Fleisch. Als sie seine Haut durchtrennte, schoss ein eiskalter Schmerz seinen Arm hinauf bis zur Schulter. Er zog die Klinge wieder hinaus. Der Stich war nur einen halben Zentimeter tief, gerade so, dass er vernünftig blutete, aber der Schmerz war unschön. Kakko hob die Faust über den OPAK und betröpfelte ihn. "Was bedeutet OPAK, Meister? Und wer gab Euch diese machtvollen Tätowierungen"

  • Hector starrte Kakko an und schlug ihm gleichen Moment den Dolch zur Seite. Die Waffe bohrte sich nicht länger in Kakkos Fleisch, sondern verpasste ihm einen tiefen, klaffenden Schnitt.


    "Zuhören oder sterben! Schneide Dich! Stich nicht! Dieser Dolch ist ein Zahn des Ältesten. Wenn Du jemanden damit abstichst und die Waffe stecken lässt, wird seine Seele aus dem Körper gerissen und in den Rachen des Ältesten geworfen. Er ist sozusagen eine Gebetswaffe. Da Du nicht aufgezehrt werden willst, hörst Du zukünftig besser zu. Hast Du das verstanden Kakko Korikara?


    Opak heißt Lichtlos, das ist der Lichtlose. Der Lichtlose bringt kein Licht in die Dunkelheit, er selbst ist die Dunkelheit und findet sich in ihre jederzeit zurecht, alles was er benötigt ist Blut der gesuchten Person. Wie gesagt, er findet Blut das zusammengehört. So werden wir Deinen Vater aufspüren, selbst wenn er im Abgrund weilen sollte.


    Meine Tätowierungen gab mir der Älteste persönlich, ich wurde ihm geweiht. Jäger, Schlüssel, Wächter. Wächter des Zirkels würde man meinen. Aber dem ist nicht so, ich bewache seine Reliquien und noch andere Dinge. Dazu später mehr, ohne fremde, schwache Ohren", erkärte Hector und drückte Kakkos Maus fest über dem Lichtlosen aus.

  • "Ich verstehe", sprach Kakko versöhnlich, während er seinen Meister anlächelte. Selbst zum Befolgen einer klar formulierten Anweisung war er zu unfähig, der Skolopender hätte einiges zu sagen. Zum Glück war er meilenweit fort und bestens beschäftigt. Dass Hector noch viel mehr war als ein einfacher Gardist des Zirkels, hätte Kakko sich von der Sache her denken können, doch das hatte er nicht. Für ihn war Hector ohnehin schon immer unerreichbares Ideal gewesen. So erduldete er klaglos das Ausdrücken der Wunde, während ein Schauer ihn überkam bei dem Gedanken, dass der Älteste nun ein Stück von seiner Seele genascht hatte.


    "Wie kann der Älteste Euch tätowieren, vermag er, sich in körperliche Gewänder zu hüllen, um die Nadel zu führen? Und nun, da er ein Stück meiner Seele verzehrt hat ... muss ich nun fürchten, dass er wieder von mir zehrt?" Nun war Kakkos Blick voller Sorge. Sterben wollte er nicht. "Oder was wird nun mit mir geschehen?"

  • Hector gab die Hand seines Mündels frei und und schmierte den Opak mit dessen Blut rundum ein.


    "Der Älteste kann sich manifestieren Kakko, ebenso kann er in eine Person fahren und von dieser Besitz ergreifen. Mir wurde die Ehre zuteil, dass er mir persönlich erschien als ich ihm geweiht wurde. All das was Du auf meiner Haut siehst, hat er mir mit seinen Nägeln eingestochen. Das waren keine läppischen weltlichen Nadeln, die mich segneten. Diese Zeichen sind ein Talisman, Sprüche unter der Haut, so dass sie wie ein Artefakt fungiert. Der Schlüssel zu Bereiche, anderen Welten von denen Du keine Vorstellung hast. Ich selbst von ebensowenig wie Du. Manche Türen vermag ich zwar zu öffnen, aber es ist mir verboten. Es sei denn ich habe eine direkte Weisung dazu.


    Er hat Deine Seele nicht verschlungen, sonst wärst Du toter als tot Kakko. Sollte Dich jemand mit einem Dolch der Finsternis niederstrecken, also meucheln, dann wird Deine Seele aus Deinem Körper gerissen. Dein Körper stirbt, aber nicht nur er, sondern auch Deine Seele. Alles was Dich je ausmachte wird vernichtet, so als hättest Du nie existiert. Du hast nie die Leichen im Herrenhaus der Hohenfeldes gesehen nicht wahr? Dort siehst Du, dass diesen Toten die Seele fehlt. Man sieht es ihnen an.


    Von hier aus gibt es einen Zugang zum Herrenhaus, zum unterirdischen Tempel des Blutbrunnens. Aber die Türen habe ich versiegelt nachdem sie von diesem pubertären Terrorvogel geschändet wurden.


    Wir sollten einen Glühstein mitnehmen, sie sind ganz praktisch, sie erzeugen selbst in absoluter Finsternis etwas Licht. Es sind Artefakte, wie alles hier. Zukünftig höre also genau zu was ich Dir sage. Davon kann eine Menge für Dich abhängen klar? Welche Waffe bevorzugst Du, wenn Du Dich nicht gerade selbst umbringen willst, sondern andere?", grinste Hector, während der Opak in seiner Hand finster zu pulsieren schien.

  • "Dann hat er Euch gesegnet." Kakkos Augen leuchteten voll stolz. "Da Ihr es verdient und er Euch besonders schätzt. Das kann ich bestätigen, Ihr habt die Segnung des Ältesten redlich verdient."


    Auf die Frage hin schüttelte Kakko den Kopf mit dem struppigen Haar. "Nein, ich habe die Toten der Hohenfeldes noch nie gesehen. Aber ich hörte von der blasphemischen Schändung. Wusste dieser Narr denn nicht, was er da tat? Meister, was die Waffe meines Wunsches anbelangt, bleibt mir nur, daran zu erinnern, dass ich noch nie getötet habe. Aber der Skolopender sagte mir, ein Messer sei eine idiotensichere Waffe, wörtlich meinte er, jeder Trottel könne jemanden mit einem Messer umbringen. Für mich reicht es demnach nicht einmal zum Trottel. Ich kann das nicht, Meister, aber ich helfe gern als Treiber und Lockvogel."


    Er ging nicht davon aus, dass sie jagen müssten, wo sie doch ausreichend Proviant dabei hatten, verpackt und in lebender Form. Mit Hilfe des Opaks und des Segens des Ältesten würden sie seinen Vater sehr schnell finden. Falls er nicht mehr lebte, würde die magische Kugel dies ebenfalls mitteilen. Aber daran mochte er nicht glauben. Glücklich blickte er in die Runde. Er hatte das Gefühl, dass die Reise so oder so gut verlaufen würde. Selbst wenn Karasu Korikara nicht der Mann sein würde, auf den er sich freute, sondern jemand, der seinen Sohn vielleicht sogar hasste, würde die Reise ihn doch mit seinem Ziehvater und seinen Freunden näher zusammenschweißen. Sie konnten keinen Misserfolg haben.

  • Hector grinste sein zähnefletschendes Grinsen.


    "Oh wenn es danach geht benötig man nur einen schönen, großen, spitzen Stein. Damit kann man jedem den Schädel zertrümmern. Du kannst es, Du weißt es nur noch nicht. Eines Tages kommt der Zeitpunkt, wo Du es tun wirst, weil Du es tun musst. Fressen oder gefressen werden Kakko. Auch das flauschigste Küken bekommt irgendwann messerscharfe Krallen. Falls nicht, wirst Du ewig das Zahnlose Leben der Passiven führen. Aber mach Dir darum keinen Kopf, Du bist noch jung. Schau Dir doch mal Arbogast an. Schau ihn Dir genau an, diese alte, versoffene Lusche. So wirst Du nicht, ganz sicher nicht", erklärte Hector liebevoll, während Arbo guckte als hätte das Grauen ihm gerade in die Eier getreten. Verbal hatte er das auch.


    Hector steckte den Opak ein, klaubte noch einige andere Artefakte zusammen, die sie so auf die Schnelle nicht erkennen konnten und zog dann eine Peitsche aus der Halterung.


    "Deine", sagte er zu Kakko und deutete den anderen an den Raum zu verlassen. Als der Letzte verschwunden war, verließ er die Waffenkammer und die Tür schloss sich lautlos aber machtvoll hinter ihnen.


    "Abrücken", sagte er freundlich und deutete den Gang hinab. Er klopfte an eine Tür an der sie vorbeigingen.

    "Beim nächsten mal zeige ich Dir die Eisleichen", sagte er gut gelaunt.