Der persönliche Abgrund
Hector musterte Arbogast mit einem Blick so kalt wie Packeis, als er ihn als Gruppenmitglied erkannte. Er nickte der Gruppe knapp zu und schwang sich auf seinen Rappen.
"Mir nach!", sagte er knapp, während der schwarze Hengst kurz tänzelte.
Einen Augenblick später stob das Pferd mit einem gewaltigen Satz davon, die Gruppe folgte im gleichen Atemzug. Im gestreckten Galopp ging es bis nach Shohiro. Hector schien sich keine Gedanken darum zu machen, wie fest seine Begleiter im Sattel saßen. Da er niemanden stürzen hörte, ließ er seinem Hengst freien Lauf. Sie ritten Stunde um Stunde, bis sich der Tag fast dem Ende neigte. Wolken zogen auf, verhingen den Himmel und langsam stieg die Nacht auf. In der Dunkelheit hatten sie Shohiro erreicht.
Langsam führte Hector sie durch die dunklen Gassen der Hauptstadt Naridiens. Wohin der Schwertmeister wollte, hatte er mit keinem Wort gesagt. Aber er schien zu wissen, wohin er wollte, denn er führte sie extrem zielstrebig. Natürlich mit ein paar kleinen Schlenkern und Umleitungen, um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand folgte.
Schlagartig standen sie vor einem unscheinbaren Haus, es unterschied sich nicht groß von den anderen Häusern in der Nähe. Es stand frei und Hector führte die Gruppe hinter das Gebäude. Dort ließ er sich von seinem Pferd rutschen und wartete auf seine Begleiter. Gemeinsam betraten sie das Haus, dass drinnen genauso nüchtern eingerichtet war, wie es von außen den Anschein hatte. Arbogast fragte sich einen Moment, wem das Haus gehörte und weshalb Hector davon einen Schlüssel besaß. Keinem seiner "Verwandten" konnte er dieses nichtssagende Gebäude zuordnen. Hector hatte hinter ihnen wieder abgeschlossen, bemerkte Arbo mit Unbehagen.
Vor dem Kamin blieb das Grauen stehen, betätigte in einer bestimmten Reihenfolge einige Steine und eine Tür glitt zur Seite. Ohne zu Zögern stieg er in die Dunkelheit hinab. Sie befanden sich in einem Keller. Staub tanzte hier in der Luft, alte Weinfässer standen in den Ecken und boten den Wollmäusen Schutz. Hector trat an eines der Fässer heran und entriegelte eine weiter unsichtbare Tür. Erneut verschwand das Grauen in noch finsterer Dunkelheit.
Kaum im zweiten Kellergeschoss angekommen sahen sie altbekannten Luxus. Seidene Tapeten in blutroter Farbe schmückten die Wände. Kerzen erhellten hier sonst die Räumlichkeiten und überall standen diese seltsamen mechanischen Spielzeuge, die Archibald so liebte. Dazwischen lagen Puppen die mit toten Augen die Besucher anstarrten und uralte Teddybären die die Pfoten nach ihnen ausstreckten.
Ein Museum der Kuriositäten für all jene, die niemals die zweite Kellerebene samt ihrer Zellen gesehen hatten und schon gar nicht die dritte.
Auf einem Beistelltisch standen rote Kerzen, die in einem besonderen Muster angeordnet waren. Sie umrahmten in Sand gezeichnete Symbole. Kakko erkannte die Zeichen, sein Meister trug sie auf der Haut. Ein Totenschädel ruhte mittig auf dem Tisch, von dem jeder im Raum schlagartig wusste, dass dies ein echter menschlicher Schädel war. Die Zellen die sonst Archibalds Spielzeuge enthielten waren leer und verweist. Hector strich mit einer fast liebevollen Geste über die blutigen Gitterstäbe, ehe er sie tiefer in die privaten Räumlichkeiten des wahren Zuhauses von Archibald führte.
Das Schlafzimmer war dekadent eingerichtet. Auch hier die schweren, seidenen Tapeten. Das Zimmer hätte der Baronin oder einem Monarchen gehören können. Auf einem großen Schminktisch standen auch hier allerlei Spielzeuge. Eine Wand nebem dem gewaltigen Bett war mit einem Bild verziert, dass einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Das "Ding" das dort abgebildet war, wirkte wie aus einer anderen grauenvollen Welt.
"Oma", lachte Hector seine heisere Lache und deutete auf das Bild, "eine wahre Schönheit".
Genau unter dem Bild war ein Schwerthalter angebracht. Hector zog sich soweit aus, dass er mit nacktem Oberkörper vor der Wand stand, zückte sein Jian und küsste die Klinge. Behutsam legte er das Schwert mit beiden Händen in die Halterung. Unsichtbare Zeichen flammten wie von Geisterhand auf der Klinge auf. Einen Atemzug später flammten ähnliche Zeichen auf der Wand auf, aber von ihr bis zum Schwert war ein dunkler Bereich.
"Da fehlt ein Stück", flüsterte Kirimar ehrfurchtsvoll.
"Ein Talisman", bestätigte Hector.
Das Grauen fasste mit den flachen Händen auf die dunklen Stellen und die Gruppe erkannte, dass das Muster des Schwertes, der Wand und von Hector ein riesiges, großes Gesamtbild an Schriftzeichen ergab. Hector wartete einige Sekunden dann zog er die Hände über dem Schwert zusammen und und drehte sie nach hinnen so dass die Außenseiter seiner Arme nun die Wand berührte. Die Schriftzeichen veränderten sich auf der Wand und sie hörten eine dumpfe Entriegelung von einer mächtigen Tür.
Die Wand schob sich zur Seite und gab einen gähnenden Abgrund preis. Hector stieg hinab und führte die Gruppe in den dritten Kellerbereich. Die Wände hier sahen aus wie geschmolzen. Ein langer Gang von dem mehrere Türen abzweigten. Alle mit jenen seltsamen Symbolen versehen, die Hector auch auf der Haut trug. Kiri schloss zu ihm auf, berührte ihn aber nicht.
"Du bist der Talisman Deines Vaters. Du trägst die Antworten auf der Haut", grinste der Arashi.
Hector grinste als Antwort zurück.
"Das ist ein Tempel, nicht wahr?", fragte Arbo leise.
"Unter anderem, hinter jeder Tür verbirgt sich etwas anderes, unter anderem weitere Zugänge", erklärte Hector.
Wie weit die Zugänge reichten, dass musste Arbogast nicht wissen, schon gar nicht, dass es hier einen direkten Zugang zum Abgrund selbst gab. Jedenfalls hatte es ihm sein Vater einst erzählt. Geöffnet hatte er die Tür noch nie. Das jede Tür bestimmte Voraussetzungen hatte um geöffnet zu werden, verschwieg er genauso wie alle anderen Infos. Heute waren sie hier um sich mit Artefakten einzudecken.
Vor der Tür mit der schwarzen Sonne blieb Hector stehen, auch hier legte er die Hände und Arme in einer bestimmten Geste auf die Tür und sie schwang lautlos auf. Ein Wink mit der Hand und eine unsichtbare Beleuchtung erhellte den Raum in kränkliches Grün. Sie befanden sich in einer Waffenkammer, in ihres gleichen suchte. Diese Waffen waren nicht einfach Waffen, es waren Artefakte des Ältesten. Jeder spürte den finsteren Sog der von ihnen ausging.
Hector zog einen schwarzen Dolch aus der Halterung und hielt ihn Kakko hin.
"Für Dich, führe ihn weise", sagte er freundlich.
Aber deshalb war er nicht gekommen, er schritt durch den Raum und nahm mit beiden Händen eine seltsame Kugel aus ihrer Halterung. Sie so groß, dass sie gut in die Hand eines Mannes passte und hatte ganz ähnliche Zeichen in ihre Oberfläche geritzt. Sie war von so intensivem Schwarz, dass die Kugel gar keine Farbe zu haben schien, sondern alles Licht um sich herum zu absorbieren schien.
Hector grinste von einem Ohr zum anderen. Er kehrte zu Kakko zurück und deutete auf den Dolch.
"Schneide Dir in die Maus und lass das Blut auf den OPAK tropfen. So finden wir Deinen Vater, er findet Blut dass zu Blut gehört. Ich kann ihn lesen", erklärte Hector und nickte aufmunternd.