Etwas verstimmt war Rakshor, während er das nächtliche Obenza erkundete. Dal hatte ihn versetzt. Etwas, das er nicht gewohnt war und noch weniger mochte. Als Rakshaner war er zwar selber nicht gerade die Pünktlichkeit in Person, aber seit seinem Amtsantritt als Feldherr hatte man ihn selten warten und noch seltener einfach sitzen gelassen. So viel Ärger nur wegen eines dummen kleinen Kartenspiels! Er hatte ihr dennoch einen Schmutzgeier geschickt, an dessen Bein sich ein Brief befand. Andere Leute versendeten Brieftauben oder Falken, aber als jemand, der den Beinamen Verschlinger trug, bevorzugte Rakshor einen Aasfresser.
Die Nacht war schön und viel Volk war auf den Straßen unterwegs. Truppen von Nachtwächtern mit Hellebarden und Laternen sorgten für die Sicherheit der Bürger, so dass Rakshor nicht ein einziges Mal von Dieben oder anderem Gesocks behelligt wurde. Doch eine Hure missverstand wohl seine spärliche Bekleidung und begleitete ihn, obwohl er ihr schon mehrfach versichert hatte, kein Geld bei sich zu tragen. Er war zu höflich um ihr mitzuteilen, dass er es obendrein nicht nötig hatte, für Beischlaf zu bezahlen. Schon gar nicht mit Geld, der metallgewordenen Pest Asamuras! Dals Unrat, den sie über das Antlitz der Welt verteilt hatte! Die Dame hakte sich bei ihm ein und versuchte, ihn in eine bestimmte Richtung zu führen.
"Noldils Sündentempel bietet Freuden für jeden Geschmack", säuselte sie. "Neben einer Taverne mit hausgebrautem Bier und einer Arena gibt es in den oberen Etagen ein Freudenhaus. Alles sehr gepflegt, die Betten frisch, alle Damen gewaschen und mit guten Zähnen. Es gibt eine Saunalandschaft, ein Schwimmbecken unter freiem Himmel, von dem aus man die Sterne betrachten kann, um sich nach der Hitze der Leidenschaft wieder zu erfrischen. Und ihr werdet ins Schwitzen kommen, dafür bürgt der Tempel mit Noldils gutem Namen!"
"Noldis Sündentempel", sinnierte Rakshor. "Wer hat sich denn diesen Namen ausgedacht? Etwas größenwahnsinnig."
"Wer den Tempel betreibt, weiß niemand. Das Gebäude stand eines Tages plötzlich da, als sei es aus dem Erdboden gewachsen."
Nun hatte die Dame es doch geschafft, Rakshors Interesse zu wecken. Er ließ sich von ihr zu dem imposanten Gebäudekomplex führen, der sich etwas außerhalb der Stadt im Wald erhob. Tempel? Das war ein Schloss! Eine frisch gepflasterte Straße aus rosa Marmor führte von Obenza aus quer durch den Wald dorthin, hell beleuchtet von kunstvoll geformten Öllaternen. Rakshor legte missbilligend die Stirn in Falten ob solcher Dekadenz. Als ob nicht auch ein simpler Trampelpfad genügt hätte und ein Gebäude aus Natursteinen, wenn es schon ein festes Haus sein musste! Ein Festplatz unter freiem Himmel wäre ihm freilich am liebsten gewesen, mit mehreren Feuerstellen. Zu beiden Seiten der sauber verlegten Straße, die im Mondlicht bar jeden Unkrauts glänzte, standen Bäume, die Rakshor bisher nie gesehen hatte. Vermutlich seltene Importe aus exotischen Ländern.
"Darf ich Euch die oberen Etagen zeigen?", fragte die Dame.
Langsam, aber sicher, fühlte er sich belästigt. "Danke, aber ich finde mich allein zurecht." Er versuchte, seinen Arm zu befreien und musste gar etwas grob werden und sie anschnauzen, weil sie gar zu hartnäckig war. Beleidigt stolzierte sie schließlich von dannen und würdigte ihn nicht eines einzigen Blickes mehr. Er erklomm die breite Marmortreppe mit dem Säulendach, das den Eingangsbereich zierte. Die Tür eine solche zu nennen, glich schon fast einer Beleidigung, Portal traf es viel eher! Holz, mit Schnitzereien verziert und teilweise vergoldet, zierte die beiden massiven Torflügel, die geöffnet standen, um die milde Nachtluft hinein und den stickigen Tabakdunst hinaus zu lassen. Das Innere des Erdgeschosses war rustikal gehalten, mit Holzmöbeln und einem abgewetzten Dielenboden und von verschiedenstem Volk besucht. Rakshor entdeckte Menschen unterschiedlichster Herkunft, Alben in ihren furchbaren Trachten und einige Berggipfler, welche die Spezialitäten einer Käseplatte diskutierten.
Rakshor fand nach einigem Suchen den Wirt - eine Mumie tamjidischer Herkunft, die ihn als gebürtigen Rakshaner nicht gerade freundlich begrüßte - und musste lange mit diesem verhandeln, eher er ihn zum Inhaber des Sündentempels vorließ. Rakshor hätte dem grantigen Kerl in seiner roten Weste selbst dann kein Trinkgeld gegeben, wenn er Geld als Zahlungsmittel nutzen würde. Stattdessen nickte er ihm nur ein halbherziges Danke zu und ging. Gleich würde sich zeigen, ob wirklich Noldil persönlich oder nur ein kleiner Aufschneider hinter dem Etablissement steckte!