Kapitel 1 - Ein aussichtsloses Unterfangen
Shamin rieb sich die Schläfen und seufzte tief, die Augen in Resignation geschlossen. Warum? Womit hatte sie das verdient? Namon konnte ihr tausendmal ins Ohr flüstern, dass es eine Ehre sei, dass man sie nur ausgewählt hatte, weil sie die beste war; es änderte nichts. Diese Aufgabe war schlicht und ergreifend eine Pein, ein schlechter Witz, der Versuch, ihr eins auszuwischen und Schwachstellen an ihr zu offenbaren. Nicht mehr und nicht weniger. Sie waren nun bereits zehn Minuten über der Zeit und noch immer fehlte mehr als die Hälfte der Anwärter. Hinzu kam, dass einige der anwesenden sich kaum mit mehr als körperlicher Präsenz rühmen konnten. Über die ganze Entfernung, auf die Shamin stets im Kontakt mit anderen Wert legte, mit Ausnahme vielleicht von Namon, konnte sie den süßlichen Gestank von Alkohol riechen, und die bissige Note ungeputzten Gefieders. Das waren ausnahmslos junge Leute, die hier vor ihr standen oder, um für den Großteil zu sprechen, eben nicht! Wie konnten sie sich derart gehen lassen? Shamin schüttelte es innerlich, doch sie schluckte ihren Ekel hinunter und öffnete die Augen. Auch diese Gruppe würde sie formen, wie jene davor und die davor, bis sie entweder hinwarfen oder als fähige Krieger und Kriegerinnen neue Aufgaben erhielten und endlich dazu beitrugen, ihr Volk vor dem peinlichsten und schändlichsten Aussterben zu bewahren, dass die Welt je gesehen hatte.
„Wo ist der Rest?“, blaffte sie ohne Begrüßung. Unsicher sahen die Harpyien sich an und versuchten den stechenden Augen ihrer neuen Trainerin auszuweichen. Schließlich räusperte sich ein junger Mann leise. „Sie… äh, sie schlafen noch.“ Shamins Augen verengten sich zu Schlitzen. „Es ist Trainingszeit“, knurrte sie bedrohlich. „Es ist 6 Uhr morgens“, warf ein anderer ein und der vorwurfsvolle Ton in seiner Stimme ließ Shamin mit den Zähnen knirschen. „Du!“, polterte sie dem ersten Sprecher zu. „Geh sie holen! Sofort. Alle anderen: Runden laufen! Ich stoppe die Zeit und die entscheidet, ob es Mittagessen gibt.“ Zögernd machte sich der schlaksige Junge auf den Weg zu den kleinen Hütten, die den Anwärtern als Wohnraum dienten, doch die anderen rührten sich nicht von der Stelle. „Besser, ihr fangt an“, ertönte Namons sanfte Stimme. „Sie kann sehr ungemütlich werden.“ Er zwinkerte Shamin zu, die weiterhin finster in die Runde blickte. „Laufen?!“, löste sich eine Harpyie aus ihrer Starre. „Wozu sollen wir laufen? Wir haben Flügel.“ Shamin stemmte die Hände in die Hüften. „Laufen stärkt den Charakter“, erwiderte sie trocken. „Und es gibt euch Zeit zum Nachdenken. Los jetzt.“
Widerwillig setzte sich einer nach dem anderen in Bewegung. Shamin hatte die Laufstrecke selbst angelegt, wie alles in dem kleinen Hüttendorf. Die Bahn umrundete die Ausbildungsstätte einmal, nahm dabei aber keineswegs den direkten und ebenen Weg. Bergauf, bergab, schlängelte sich der Pfad und maß in der Länge bestimmt das Doppelte der benötigten Strecke. Shamin hatte sich in die Luft erhoben und kontrollierte mit Argusaugen, ob die Neuankömmlinge sich an den Weg hielten und die Täler nicht im Flug überbrückten. Wann immer einer dies versuchte, schickte sie einen kleinen Wirbelwind hinab, der die Schummelei unmöglich machte.
Von den zwanzig Nachkömmlingen, die Namon hierher gebracht hatte, hatten nur zwölf letztlich bleiben dürfen, von denen Shamin sich allerdings einiges versprochen hatte. Hoffentlich war dies nur ein holpriger Start und sie wurde nicht enttäuscht. Später würde sie auch mit ihrem Greifen noch ein ernstes Wörtchen reden müssen, denn mitnichten war ihr entgangen, dass dieser den Abend bei Wein und Kartenspiel am Tisch des Grüppchens zugebracht hatte. Von Dingen wie Kennenlernen, Eingewöhnung und gute Ausgangslage wollte sie dann nichts hören! Es war ein Privileg für die jungen Harpyien, bei ihr aufgenommen worden zu sein, da hatten sie sich gefälligst zu fügen, sonst würden sie sie, Shamin, noch früh genug kennenlernen.
Der junge Harpyier, denn sie weggeschickt hatte, kam erst nach einer halben Stunde zurück, doch Shamin wollte ihm keinen Vorwurf machen. Sie war sich sicher, dass er sich nur nicht getraut hatte, mit leeren Flügeln aufzuschlagen und nun hatte er zumindest vier seiner Kameraden im Schlepptau. Alles klar. Also fehlte die rote, von den Flügelspitzen bis zum Rumpf knallig eingefärbte Kramin oder Krala oder so ähnlich, der hübsche mit dem gescheckten Gefieder und Rangar, doch das verwunderte sie nicht weiter. Von Anfang an war der große Harpyier auf Konfrontation mit ihr gegangen. Sie hatte ihn trotzdem behalten. Er hatte großes Potential und er war eine Herausforderung. Wenn sie ihn klein bekäme, wäre das nicht nur ein persönlicher Triumph, es würde ihren Stellenwert innerhalb der Luftstreitkräfte deutlich anheben und wenn alles glatt ging, eine Privataudienz bei Soshon Nebelkrähe persönlich einbringen. Und mit ein bisschen Glück würde ihr dann – endlich – die ersehnte Magierausbildung zu den höchsten Graden gewährt werden.
Mehr schlecht als recht mühten ihre Schüler sich nun die Laufstrecke entlang und Shamin orderte Namon als Aufpasser, um sich um die Drückeberger zu kümmern. Wie ein heller Blitz schoss sie auf die Hütten zu und landete lautlos vor der Türe. Ihre Flügel schmiegten sich an ihren drahtigen Körper, dann verschwand sie in einer dichten Staubwolke und trat ein. Zum Glück dämpfte ihr Zauber den größten Gestank, doch Shamin rümpfte trotzdem die Nase. Irgendwo dampfte Erbrochenes vor sich hin, der Boden klebte und die Luft war auch ohne ihr Zutun schon stickig und dicht. Die Staubwand breitete sich in dem kleinen Raum aus. Der hübsche Junge kauerte am Boden vor der kleinen Holzpritsche, die eigentlich nur für eine Person gedacht war. Drin lagen jedoch zwei. Das rote Gefieder hob sich deutlich von der schwarzen Pracht Rangars ab, doch Shamins Blick fiel stattdessen widerwillig auf sein Gemächt, das entblößt zur Seite gerutscht war. Shamin kniff die Augen zusammen und verdichtete ihren Zauber, nahm den dreien fast jegliche Luft zum Atmen, bis sie unweigerlich aufwachten, Panik in ihren trüben Augen. Es dauerte einen Moment, bis sie sich orientiert hatten. Japsend griffen sie sich an die Kehle und tasteten blind vor sich in der Luft herum. Rangar stieß das Mädchen von sich und sprang aus dem Bett auf den sich windenden Harpyier am Boden. „Joni?“, krächzte der Schwarze, doch dieser jaulte nur. „Wir müssen hier raus!“ Er stolperte nach vorne, krachte gegen den kleinen Tisch und trat etliche leere Flaschen um, doch Stück für Stück näherte er sich dem faden Lichtschein der geöffneten Tür. Shamin beobachtete alles kalt, ohne den Zauber nur ein kleines Bisschen abzuschwächen. Das Mädchen kämpfte sich dem dunklen Schatten Rangars hinterher, doch der Schönling blieb weiter wimmernd am Boden liegen. „Steh auf, du Weichei!“, fauchte Shamin und trat mit dem Fuß nach ihm. „Wer ist da?“, druckste er mit zittriger Stimme hervor. „I’semi, bist du es? Wirst du mich für meine Sünden strafen?“ Shamin rollte mit den Augen. „Natürlich nicht! Glaubst du, die Windelementarin nimmt sich Zeit für Ungeziefer wie dich? Hoch jetzt mit dir!“ Mit eisernem Griff packte sie seinen Arm und zerrte ihn ohne Mühe auf die Knie, obwohl sie deutlich kleiner war. Sie scheuchte ihn den anderen hinterher aus der Hütte und erst draußen löste sie den Zauber. Der hübsche Joni erbrach zu ihren Füßen. Fast zeitgleich kreischte die Rote los, an deren Namen Shamin sich noch immer nicht hundert prozentig erinnern konnte. „Willst du uns umbringen?! Ich habe überhaupt keine Luft mehr gekriegt! Überhaupt nicht!“ Sie hatte ihre feuerroten Flügel aufgestellt und echauffierte sich gestenreich. „So schnell stirbst du nicht, dumme Gans“, sagte Shamin gelangweilt und gab dem kauernden Joni einen Schlag mit der Flügelspitze auf den Hinterkopf. „Das ist Körperverletzung! Ich könnte mich beschweren!“, zeterte die junge Frau weiter. „Viel Erfolg.“ Sie starrten sich wütend an, doch bei Shamins Todesblick gab jeder irgendwann klein bei. „Das Training läuft bereits. Besser ihr fangt an, sonst lasse ich euch die ganze Nacht lang rennen.“
„Ich trainiere nicht.“ Das Mädchen verschränkte die Arme vor dem Körper. „Und du kannst mich nicht zwingen.“ Trotz schwang in ihrer Stimme mit. „Kann ich doch“, sagte Shamin kalt und im Bruchteil einer Sekunde hatte sie den Bolzen ihrer Armbrust auf die Stirn der Verweigerin gerichtet. Sie genoss den Moment, die panisch geweiteten Augen, das blinde Tasten nach dem starken Rangar zu ihrer Seite, der sich bislang weder gerührt, noch ein Wort gesagt hatte. Dann löste sie auf. „Will ich aber nicht. Entweder du tust, was ich dir sage, oder du verpisst dich und kommst nie wieder.“ Tatsächlich hatte schon einmal ein Schüler sein Leben gelassen (Shamin sträubte sich gegen die Behauptung, sie hätte ihn umgebracht) und das hatte der Harpyie – so viel Freiheiten sie auch sonst genoss – großen Ärger eingebracht. Wenn es sich irgendwie einrichten ließ, versuchte sie seither alle heil durchzubringen, auch wenn die Anwärter das nicht zu wissen brauchten. „Wie? Du holst mich extra und dann schickst du mich weg?“ Verwunderung mischte sich in ihren Ton. „I-ich kann gehen, wann immer ich will?“ „Natürlich“, brummte Shamin und versuchte den Gedanken an die geforderte Quote ausgebildeter Kämpfer zu ignorieren, „doch wiederkommen brauchst du dann nicht. Und es trotzdem zu tun, ist das letzte, das ich dir rate.“ Die großen Augen der jungen Harpyie schossen zu Rangar, sehr zu Shamins Unmut. Wenn sie Pech hatte, verlor sie schon am ersten Tag ihre große Hoffnung. „Du, Krala, Baby“, sagte er mit tiefer Stimme, „du weißt, dass ich am liebsten gar nicht hier wäre und dir überall hin folgen würde… aber ich kann nicht. Was denken sie, wenn ich nach einem Tag zurück komme? Vater wird…“, er hielt inne und sah Shamin finster an. Sie verstand: es gab Dinge, die sollte sie nicht wissen. „Lass es uns versuchen, okay?“ Er zog Krala an sich heran und grabschte ihr schamlos an den Hintern, die herausfordernden Augen dabei auf Shamin gerichtet. Ohne ein weiteres Wort stapfte diese los, jedoch nicht ohne den Wind zu drehen, sodass das Geflüster von hinten zur ihr hinüber geweht wurde. „Kein Sorge, Baby. Wir machen es uns hier schon noch gemütlich. Und der untervögelten Alten das Leben zur Hölle.“
„Versuch das nur“, antwortete Shamin in Gedanken mit zusammengebissenen Zähnen.