Der Heimweg war merkwürdig. Obwohl es nach Hause ging, wollte sich kein freudiges Gefühl einstellen. Der Weg war lang und anstrengend und die Stimmung unter den Alben geteilt. Sie hatten das schrecklich verwüstete Schlachtfeld vor Dunkelbruch gesehen, sie hatten sich vorbereitet, körperlich wie mental und dann waren sie unverrichteter Dinge wieder abgezogen. So fühlte es sich zumindest für viele der Krieger an, wie Baldur aus ihren Gesprächen deutete. Einmal, als er unmittelbar neben zwei jungen Alben gegangen war, hatte er sich schließlich in deren Unterhaltung eingemischt. „Entschuldigt“, hatte er höflich begonnen, „doch findet ihr nicht, dass es viel Gutes an unserem Einsatz gibt? Wir haben dazu beigetragen, dass es Frieden gibt. Und wir sind alle noch am Leben, das allein ist doch das größte Geschenk.“ Als Antwort hatte er abschätzige Blicke geerntet. „Solange nur ein einziger Rakshaner lebt, kann es keinen Frieden geben!“, knurrte der größere der beiden. „Wir hätten sie vernichten sollen, als wir die Chance dazu hatten.“ Die Knöchel des Mannes traten weiß hervor, als er seinen Speer fester packte. „Doch sind es auch nur Lebewesen aus Fleisch und Blut, die der Schlacht überdrüssig waren. Ihr habt doch mit ihnen gespeist…“, versuchte Baldur es erneut, woraufhin der zweite Soldat ausspuckte. „Nein. Das habe ich ganz sicher nicht und jeder, der es tat, sollte sich was schämen.“ Baldur gab auf. Er hoffte nur, dass nicht allzu viele die Meinung dieser beiden teilten. In einem ruhigen Moment sprach er Blitzsohn darauf an, ohne die Namen der Männer preiszugeben. „Natürlich weiß ich, dass viele so denken“, entgegnete der Oberst. „Denkt Ihr, ich habe das alles nicht gründlich abgewogen? Trotzdem bin ich froh, so gehandelt zu haben. Lieber habe ich ein paar mürrische Krieger in meinen Reihen als ein verwüstetes Land, Tod und Leid zum Empfang. Die einzige Meinung die zählt, ist die des Regenten. Wenn er mich ebenfalls gestraft sehen will, so werde ich abdanken. Alles andere interessiert mich nicht und wer sich beschweren will, der soll kommen und es mir ins Gesicht sagen.“ Dass sich dies keiner traute, wussten sie beide.
Tage wurden zu Wochen und es wurde zusehends kälter. Bald schneite es und ein zugiger Wind blies durch die Ebenen. Zermürbung machte sich langsam aber sicher breit und Baldur hoffte, sie würden bald ankommen. An einem klaren Morgen durchbrach schließlich das Eintreffen eines Lichtreiters die Monotonie. Eine ganze Weile sprach er mit Oberst Blitzsohn, während unter den Kriegern die wildesten Spekulationen die Runde machten. Nervosität nahm Baldur in Beschlag. Was war an Avinars Grenze geschehen? Hatte der Bote des Chaos‘ seine Leute noch früh genug erreicht? Am liebsten wäre er sofort zu Blitzsohn geeilt, nachdem der Lichtreiter wieder abgehoben hatte, doch er wagte es nicht. So musste er sich mit den anderen gedulden, bis der Oberst seine Kommandanten und Gefreiten losschickte, die Neuigkeiten zu verbreiten. Erleichterung rollte durch die Reihen der sonst so gesetzten Alben. Baldur sah, wie sich einige in den Armen lagen, wie gejubelt wurde und an mancher Stelle gar geweint. Oril sei Dank. Der Tarrik hatte Wort gehalten. Avinar war vorerst sicher… Nach Ankunft dieser Neuigkeit war auch die Stimmung insgesamt besser. Mittlerweile waren die Kandoren am Horizont erkennbar und ein jeder sehnte sich danach, Familie und Freunde zu sehen und endlich heimzukehren. Sie nahmen wieder den Weg über die Nordküste und Baldur wagte zu hoffen, gleich in Calorod bleiben zu können. Er sah das kleine Haus vor dem inneren Auge, den Gemüsegarten und das warme Gesicht seiner geliebten Frau. Diese Hoffnung wurde ihm jedoch schon am nächsten Tag zerstört.
„Sobald wir innerhalb Avinars Grenzen sind, werden wir nach Nord-Westen ziehen“, sagte Blitzsohn in einer Sitzung mit den Kommandanten, zu der auch Baldur geladen war. „Ich werde Euch und Eure Leute auf die Grenzwachten aufteilen und mit meiner Truppe nach Noldor gehen. Der große Rat muss einberufen werden. Ich muss mit General Sonnensturm und den Priestern sprechen.“ Nachdem alle Aufträge verteilt waren, glitt sein ernster Blick zu Baldur. „Ihr kommt mit mir Baldur. Ich biete Euch eine neue Anstellung.“ Es klang nicht so, als hätte Baldur eine Wahl.
Die Reise war also noch lange nicht zu Ende. Immerhin konnte Baldur einen Besuch zu Hause heraushandeln, während das Heer am Fuße der Kandoren ein Nachtlager aufschlug. Am Gartentor zögerte er kurz. Er sah Alienor in der erleuchteten Küche stehen, Teig knetend, ganz so, als wäre er nie weg gewesen. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt, doch er brauchte ihr Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie traurig und voll Sorge war. Wochenlang war sie nun schon alleine, ohne den blassesten Schimmer, ob er noch am Leben war. Hoffentlich hatte wenigstens Jaro gelegentlich ein kleines Zeichen von sich nach Hause geschickt oder vielleicht hatte sie den Jungen gar in Falathri besuchen können. Langsam und leise ging Baldur weiter. Er wollte sie nicht erschrecken. Sachte öffnete er die Haustüre. „Alienor? Liebling, ich bin es, Baldur“, rief er und hörte augenblicklich schnelles Fußgetrappel. Rutschend kam seine Frau am Ende des Ganges zum Stehen und einen Moment lang starrte sie ihn einfach an. Ihre Brust hob und senkte sich heftig, der Teigstößel fiel ihr klappernd aus der Hand. Mit ausgebreiteten Armen machte Baldur ein paar Schritte auf sie zu, dann schien sie wieder Herrin ihrer Sinne zu werden und stürmte ihm in die Arme. „Oh Oril sei Dank!“, schluchzte sie. „Ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen.“ Baldur strich ihr sanft über den Kopf. „Sch…“, tröstete er sie. „Mir geht es gut, meine Sonne.“
„Oh Baldur… ich habe dich so vermisst; euch beide. Das Haus kam mir so riesig vor ohne euch. Niemand, der mich nach dem Abendessen fragt, niemand, der seine Schuhe an der Türe nicht abklopft, niemand der sein Bett ungemacht zurück lässt…“ Baldur presste ihr in ihrem Redeschwall einen Kuss auf die Stirn. „Ich habe dich auch vermisst. Hast du etwas von Jaro gehört? Wie geht es ihm?“
„Er schickt mir dann und wann eine Karte oder einen Brief. Mittlerweile kann er schon recht gut schreiben, ist das nicht schön? Die Lehre bei Goldanil scheint ihm sehr zu gefallen und wie es aussieht, ist er bei unserem alten Freund sicher.“
„Das freut mich. Jaro ist ein kluger Junge, das wussten wir schon immer, nicht wahr?“ Sie lächelten sich an und Baldur folgte seiner Frau in die Küche. Das Wissen um die Neuigkeiten seinerseits trübte seine Freude zusehends. Er musste Alienor sagen, dass er nicht lange bleiben würde, doch noch brachte er es nicht über das Herz. Freudig plaudernd machte die hübsche Albe sich wieder an die Arbeit. Sie berichtete Baldur von den überschaubaren Geschehnissen in Calorod, von der Ernte, von den Wintervorräten und von Gestaltungsideen, die sie für den Frühling hatte. Zuneigung flutete warm durch Baldurs Adern. Er trat nahe an sie heran und legte seine Arme von hinten um ihren schlanken Körper. „Ich liebe dich“, raunte er und ein paar Atemzüge standen sie einfach so da und genossen die Nähe des anderen. „Du musst wieder gehen“, sagte Alienor dann unvermittelt. Baldur nickte und verstärkte seine Umarmung „Ich wusste es“, fuhr sie fort, ihre Stimme hart. „Ich wusste es und habe Vorkehrungen getroffen. Dieses Mal komme ich mit.“ Erstaunt ließ Baldur die Arme sinken. „Egal, was du sagst, meine Entscheidung steht! Du lässt mich nicht noch einmal alleine zurück, mit der Befürchtung, dass du vielleicht nie wieder kommst! Wohin geht es?“
„Nach Noldor“, sagte Baldur sanft und dreht sie zu sich herum. Er hätte auf sie einreden sollen, dass sie bleiben musste, dass seine Befehlshaber es nicht erlauben würden, dass das kein Ort für sie war. Aber er konnte nicht. Er kannte sie zu gut. Würde Blitzsohn sie abweisen, würde sie alleine hinterher reisen. Sie hatte ihren Entschluss bereits gefasst und nichts würde sie davon abbringen. Also sagte Baldur einfach nichts, sondern küsste sie voller Liebe auf den Mund, zog sie an sich und hob sie schließlich hoch, um sie ins Schlafzimmer zu tragen.
Noldor war atemberaubend. Baldur und Alienor, die Falathri für groß und prächtig gehalten hatten, wussten gar nicht, so sie zuerst hinschauen sollten. Es gab Gebäude, die größer als ganz Calorod waren, Glasfassaden die die Naturgesetze ad absurdum zu führen schienen, Springbrunnen, so groß, dass sie zu dieser Jahreszeit zu glitzernden Eisflächen umfunktioniert wurden und Parkanlagen, die durch den Schnee in den Baumgerippen wirkten wie eine Märchenlandschaft. Am liebsten mochten die beiden die breite Promenade an der hoch gelegenen Steilküste. Die Steinfliesen waren glatt gewetzt von Wind und Wetter und dem Getrappel unzähliger Füße und überall gab es Bänke, auf denen man den Sonnenuntergang über dem Eismeer betrachten konnte. Meer und Stadt färbten sich rötlich ein und trotz der kalten Luft blieben Baldur und Alienor häufig sitzen, bis der Feuerball ganz in den kalten Wogen versunken war. Es war, als wären sie wieder siebzehn und frisch verliebt, sie den Kopf auf seiner Schulter und er den Arm um sie, kaum gewahr, welchen Schatz er in den Händen hielt.
Tagsüber hatte Baldur meist frei. Er hatte gedacht, Blitzsohn würde ihn zu den meisten Sitzungen mitnehmen, ihn verschiedenen Leuten vorstellen oder auf sein Fachwissen im Bezug auf die Zwerge zurückgreifen, doch er hatte sich getäuscht. Seit dem Ankunftstag hatte Baldur den Magier nicht mehr gesehen, zuletzt auf dem Platz vor dem Ratsgebäude. Es lag in Noldors Zentrum und war das größte und prächtigste von allen. Das gesamte Erdgeschoß wurde von Säulengängen getragen und die Meißelungen in der Decke erzählten die Geschichte von Oril bis zur Gefangennahme Rakshors und der Zwangsvereinigung mit Malgorion. Darüber folgten mehrere Stockwerke die allesamt von einer gewaltigen gläsernen Kuppel in der Mitte überragt wurden, unter der sich, wie Baldur wusste, der Tagungssaal befand. Wann immer er daran vorbei kam, fragte Baldur sich, wann er zu einem der Treffen einberufen wurde. Gerne hätte er den Komplex von innen begutachtet. Sein Wiedersehen mit Oberst Blitzsohn kam aber ganz anders und unerwartet. Eines Tages stand der Magier urplötzlich vor seine Türe. Alienor lag noch im Bett und Baldur hatte gerade begonnen Frühstück zu machen. „Guten Morgen. Darf ich rein kommen?“, sagte der Oberst und trat im selben Moment in die kleine Wohnung, die er ihnen beschafft hatte. „Natürlich“, antwortete Baldur unnötigerweise. „Möchten Sie Tee?“ Blitzsohn winkte ab. „Ich bleibe nicht lange.“ Mit verschränkten Händen war er vor einem der großen Fenster stehen geblieben und blickte hinaus. „Wir haben gestern Euren Auftrag diskutiert. Ihr werden weiterhin Kontakt zu den Zwergen pflegen und mir umgehend alles berichten.“ Baldur setzte zu einer Frage an, doch Blitzsohn kam ihm zuvor, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Ein Lichtreiter wird Euch regelmäßig Besuch abstatten und die Botschaften entgegen nehmen. Darüber hinaus erhaltet Ihr aber noch eine viel wichtigere Aufgabe.“ Ohne seine Körperhaltung zu ändern, drehte Blitzsohn sich zu Baldur um und sah ihm ernst in die Augen. „Ihr wisst, dass unser Volk einst über Wissen verfügte, dass unser aller Vorstellungskraft überschreitet.“ Baldur nickte. „Nun. Viele Gelehrten forschen seit Jahren daran und es gab durchaus schon Erfolge. Doch nun haben ein paar Forscher aus Noldor eine neue Spur entdeckt, eine vielversprechende Spur.“ Mit gesenktem Blick begann er auf und ab zu gehen. „Die Erkenntnis traf sie, als sie gewissermaßen in einer Sackgasse feststeckten. Der einzige Grund, warum wir nicht weiter kommen, warum Oril uns nicht erleuchtet, ist, dass der Zugang zu all dem kostbaren Wissen, vor seinem Licht verborgen ist.“ Blitzsohn blieb stehen und sah Baldur direkt an. „Es liegt unterirdisch“, schloss er.