Obenza war also der Ort, an dem Fallon nun gelandet war. Nach seiner seltsamen Begegnung mit dem Straßenhund, hatte sich der Söldner in das Gasthaus begeben und den Wirt nach ein paar Informationen über die Stadt ausgefragt. Man musste ja wissen, wo man sich umher trieb und mit wem es zu tun bekommen konnte. Tatsächlich konnte er in Erfahrung bringen, dass Straßenhunde auf wenig Gegenliebe in dieser Stadt stießen. Also hatte seine flüchtige Bekanntschaft nicht gelogen und schien zumindest auf erstem Blick ehrlich zu sein. Warum auch immer sich Fallon für den Auftrag ohne Bezahlung eingelassen hatte.
So lag er nach einer Nacht in seinem angemieten Zimmer im Bett, grübelte darüber nach, wie er dort hinein geraten war. Seine müden Augen starrten der Decke entgegen. Die braunen Holzplanken wiesen verdächtig irrationale Maserungen und gar kleine Löche auf, die man beinahe als Mäuselöcher identifizieren konnte. Bis jetzt hat er aber noch keinerlei Nager gesehen, der diese Löcher hätte verursachen können.
Seiner Kehle entdrang ein Seufzen. Hatte er wirklich nichts besseres mehr zu tun, als eine Decke anzustarren und darüber zu sinnieren, ob sie wohl von Mäusen befallen war? Seine Händen glitten zu seinem Halsband herab, suchten den Verschluss und öffneten diesen. Ohne Mühe gab das weiche Leder nach und somit seinen Hals frei. Wie eine Reliquie erhob er das gute Stück vor seine Augen und betrachtete es. Seine Finger fuhren über das duftende Leder, dass trotz der langen Zeit in der er es nun getragen hatte seinen würzigen Eigengeruch abgelegt hatte. Seine feine Nase nahm den Duft auf und genossen ihn.
Es war nicht ganz drei Monate her, als er die Bauernfamilie verlassen hatte. Das Leben bei ihnen war so schön gewesen, es hatte aber deutliche Spuren an ihm hinterlassen. Dazu musste er nur auf seine Hände schauen, die mittlerweile mehr Wolfspfoten als wirklich noch an menschliche Hände erinnerten. Für diesen Frieden hatte er einen preis bezahlt, der ihn endgültig als einen Gestaltwandler gebrandmarkt hatte. Dabei war es für ihn nichts Schlimmes, doch die meisten Menschen waren für solch eine Gabe nicht bereit und würden ihn verachten.
Schweren Herzens schob er diese Gedanken wieder beiseite, als er sich das wohltuende Halsband um seinen Nacken legte. Es fühlte sich mittlerweile so natürlich an, dass er es schnell vergaß. Das durfte nicht passieren, vor niemanden. Noch einmal seufzte er auf, ehe er sich aufsetzte und herzhaft streckte.
Kaum einige Minuten später hatte er sich seine zweite Haut übergezogen und Fangzahn an seine Seite gebracht, war er auch schon wieder bereits für den Aufbruch. Seine Stiefel hallten durch den Raum, als er zur Tür schritt und hinaus in den Flur des Gasthauses trat. Schon jetzt waren laute Gespräche zu hören und ein Geist aus leckerem Duft umschmiegte seine Nase. War das Braten? Vielleicht sogar Huhn mit Knochen? Der Appetit auf diese Dinge schürte seinen Hunger. Jetzt schon gierig fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Sicherheitshalber überprüfte er noch einmal seinen Geldbeutel, der zu seinem Glück noch angemessen gefüllt war. Dann konnte er sich sogleich etwas Gutes gönnen!
Der unsichtbare Angelhaken zog ihn an der Nase die Treppen herunter in den für die Uhrzeit ungewöhnlich gut besuchten Schankraum. Der Geruch von Alkohol mischte sich zu dem köstlichen Bratenduft. So früh zu trinken würde aber sicherlich nicht Sinn der Sache sein, er musste kühlen Kopf bewahren. Doch der Hahn der gerade über dem Feuer gedreht wurde, ließ ihm endgültig das Wasser im Mund zusammen laufen. Beinahe hechelnd näherte er sich dem Tresen, der Wirt musterte ihn schon irritiert.
Die Augen Fallons klebten förmlich am Hahn, der da am Drehspieß verweilte. Mit einem behandschuhten Finger deutete er darauf, fragte: "Wieviel soll das gute Stück kosten?" Er erntete einen fragenden Blick, der dickliche Mann in seiner Schürze suchte vergeblich nach Fallons Kumpanen. "Was? Habe ich etwas falsches gesagt?"
Ein weiterer verwunderter Blickkontakt fand statt. Sekunden des Schweigens vergingen. Schließlich durchbrach ein schallendes Lachen des Wirtes die Stille zwischen ihnen. "Du willst den ganzen Hahn haben? So viel passt doch gar nicht in dich herein!" War das etwa eine Herausforderung?
"So, Ihr glaubt mir nicht?" Fallon setzte sofort ein wölfisches Grinsen auf, wobei einer seiner Fangzähne über die Unterlippe ragte. "Wie wäre es mit einer Wette? Ich verputze den ganzen Gockel und bezahle nur die Hälfte. Wenn ich es nicht schaffe, bezahle ich für ihn das Doppelte." Das Grinsen wurde nur noch breiter, erst recht als der Wirt noch lauter zu lachen begann.
Ohne groß zu zögern nahm er den prächtigen Hahn von dem Drehspieß und legte ihn auf den Tresen. "Na dann. Guten Hunger!", spottete der Wirt. Sein Feixen klang siegesicher. Was er aber nicht wusste war, dass Fallon schon seit ungefähr zwei Tagen nichts mehr gegessen hatte. Dazu besaß er einen nicht zu unterschätzenden Magen, der groß genug war. Dazu ließ er sich noch das Besteck vom Wirt reichen, während sich eine interessierte Menge um ihn bildete.
Kaum hatte Fallon das Besteck in den Händen, legte er es erst einmal beiseite. Mit der bloßen Hand riss er einer der Keulen aus und knabberte das Fleisch von dem Knochen. Das weiße Gold würde er sich für später aufheben. Kaum war die Keule verschwunden, folgte die nächste. So weit so gut, doch nun kam der eigentliche Teil des prächtigen Tieres. Messer und Gabel zur Hand, schnitt Fallon den Hahn an und damit ein saftiges Stück ab. Mit nur wenigen Happen und einem reißenden Abbeißenden verschwand der Hahn. Stück für Stück. Im inneren merkte der Wolf, dass sein Bauch sich kräftig zu füllen begann.
Doch nach knapp weiteren zwanzig Minuten war es vollbracht. Der Hahn komplett im Schlund Fallons verschwunden, der sich mit einem Tuch den Mund abwischte. Die Menge um ihn herum als auch der Wirt selbst waren vollkommen fassungslos. Mit offenen Münden standen sie da, konnten gar nicht begreifen was sie gerade gesehen hatten. Dem konnte Fallon nur ein unschuldiges Lächeln schenken. "Wie viel muss ich bezahlen?", sagte er süffisant.
"Ich ... ähh ..." Ihm stand der Unglaube ins Gesicht geschrieben. "Eigentlich kostet der ganze Hahn zwanzig Taler. Jetzt sind es wohl nur noch zehn..." Augenblicklich kramte Fallon seinen geldbeutel hervor und legte die gewünschte Anzahl auf den Tresen.
"Bitte sehr. War schön mit Euch Geschäfte zu machen." Die komplette Taverne war in Stille versunken, als Fallon sich mit gefüllten Bauch erhob, die Knochen in einer seine Taschen packte und durch die stumm-starrende Menge stolzierte. Fallon genoss dieses Gefühl. Es erfüllte ihn mit einem aufregenden Kribbeln. So war es wirklich lustig, wie sie alle drein starrten. "Einen angenehmen Tag!", rief er über die Schulter, als er letztendlich durch die Tür nach draußen trat.
An der frischen Luft angekommen, umgarnte ihn sofort die salzige Luft Obenzas. Es war ein angenehmer Wind aufgezogen, der den frischen Duft des Ozeans mit sich trug. Es war klar und sonnig, die Völker dieser Stadt geschäftigt unterwegs. Der Wirt hatte Obenza als "Freie Stadt" bezeichnet, wirklich damit anfangen konnte Fallon allerdings nicht viel. Für ihn stand fest, dass er jetzt dort an der Mauer angelehnt auf den Straßenhund warten musste.