NaNo-Beitrag 2019 von Niva

  • [block]Noah&Rachel[/block]


    Ich hatte wieder so einen Traum. Ich war unten auf der Straße vor meinem Elternhaus. Ich verließ den 49zigsten Platz, bog von dort aus links auf die Dallas Lane ab und folgte der Straße, bis sie mich auf den Wanderweg führte. Ich folgte einfach dem langen Wanderweg den Elm Creek entlang, wie ich es früher immer getan hatte, bis ich den Elm Creek Damm hinter mir ließ und einfach immer weiter lief. Schritt um Schritt. Ich hatte viel Zeit nachzudenken, aber ich dachte an gar nichts. Ich fühlte wie die frische, kühle Luft um mich herum meine Lunge füllte. Ich atmete gleichmäßig, ein und aus. Ich lauschte dem ruhigen Windspiel der Blätter, einzelnen Vogelrufen, dem seichten fernen Rauschen des Flusses.
    Und obwohl eben noch die Nacht Dunkelheit über alles um mich herum gelegt hatte, war es im Schatten der Bäume, die den Weg säumten und über mir ihr herbstlich buntes Blätterdach ausbreiteten, plötzlich Tag geworden. Ein kühler Herbstmorgen.
    „Ist das nicht schön?“ Zufrieden sog sie neben mir laufend die Luft ein. Ihre Schritte waren das Echo meiner eigenen. Sie hatte die Hände in ihre Taschen gesteckt. Der Fellrand ihrer Kapuze umrahmte ihr rundes Gesicht. Sie sah mich an und sie verzog ihre Lippen zu einem Lächeln. Die vereinzelten Sonnenstrahlen, die durch die Blätter über uns hindurch brachen, warfen helle Flecken auf ihre Erscheinung. Auf die blasse Haut in ihrem Gesicht, die geröteten Wangen, den braunen Stoff ihrer Jacke und die Jeans. Ihre wunderschönen grünen Augen blickten zu mir auf. Diese unvergleichlichen Augen. Mir ging auf, dass es zu lange her war, dass ich sie so deutlich vor mir hatte sehen können, dass ich so tief in sie hineinblicken konnte. Ein Teil von mir war sich des Traumes bewusst. Mir war bewusst, dass sie nicht wirklich hier sein konnte, bei mir. Es war wie ein Fragment aus meiner Vergangenheit, die die Gegenwart trist und grau machte.
    Wir waren stehen geblieben. Und ihr Lächeln erstarb mit einem Mal. Ihre Augen hatten sich nicht von mir abgewendet, aber sie fixierten jetzt einen Punkt in meinem Gesicht. Mitleidig verzog sie das Gesicht und das Lächeln, das sie dann zaghaft lächelte, war ein trauriges.
    „Noah.“, seufzte sie. Sie streckte ihre Hand nach meinem Gesicht aus, legte die weiche behandschuhte Hand an meine Wange und strich sanft mit dem Daumen die Träne fort, die sich davongestohlen hatte, ohne dass es mir aufgefallen war.
    „Weine doch nicht.“, flüsterte sie, „Ich habe mich so gefreut dich wiederzusehen. Bitte weine jetzt nicht.“ Ich erwiderte ihr nichts. Da waren keine Worte, weder auf meiner Zunge, darauf wartend ausgesprochen zu werden, noch formte sich irgendetwas, das ich ihr hätte sagen können in meinem Kopf. Dabei wusste ich, dass es viele Dinge geben musste, die ich ihr unbedingt sagen wollte. Eben war da noch eine ganze Menge gewesen. Ich konnte es daran spüren, dass sich mein Innerstes so schmerzlich zusammenzog.
    „Weißt du, dass du dich kaum verändert hast?“, fragte sie leise. Ihre Stimme war ein sanftes Säuseln. Meine Ohren hatten beinahe diesen herrlichen Klang vergessen.
    „Ich wäre so gern bei allem dabei gewesen.“, sprach sie weiter, „Es tut mir so leid, Noah.“ Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und fast automatisch beugte ich mich ein Stück zu ihr herunter. Sie hauchte einen zarten Kuss auf meine Lippen. Sehnsucht stieg in mir an. Ich hätte sie gern festgehalten. Aber meine Hände blieben wo sie waren. Tief in meinen Manteltaschen ballte ich sie zu Fäusten.
    „Komm zurück.“ Mein sehnlichster Wunsch sprang mir über die Lippen. Ihr Gesicht verlor allen Ausdruck. Dann blinzelte sie perplex. Ihr Blick glitt von mir ab und sie neigte den Kopf.
    „Es tut mir leid.“, sagte sie, „Das kann ich nicht.“
    „Dann sag mir, wo du bist. Sag mir doch endlich, wo ich dich finden kann.“, verlangte ich verzweifelt.
    „Noah, bitte. Hör auf.“ Als sie nun das nächste Mal zu mir aufblickte hatte sie begonnen zu weinen. Ihre Wimperntusche verlief ihr unter den Augen und färbte die Tränenrinnsale grau. Ihre Schultern bebten. Ich zog sie in meine Arme, spürte das Gewicht ihres Kopfes auf meiner Brust. Ich drückte sie ganz fest an mich. Ihre Finger krallten sich in den dunklen Stoff meines Mantels.
    „Rachel, es tut mir leid, aber...aber ich kann nicht. Bitte, verlange das nicht von mir. Ich kann nicht aufhören. Das mache ich nicht, niemals.“
    Sie lachte unter ihren Tränen freudlos auf.
    „Ich weiß.“, sagte sie gedämpft durch den dichten Stoff vor ihrem Gesicht und schniefte.
    „Das weiß ich ja.“ Sie legte den Kopf in den Nacken und sie fing meinen Blick fest ein.
    „Aber ich wünschte, du könntest es.“, sagte sie bestimmt mit weinerlich unterlegter Stimme. Die Intensität, die dabei in ihrem Blick lag und das Gesagte untermauerte, erschreckten mich.
    „Sag das nicht.“, bat ich.
    Um uns herum zogen dichte Nebelschwaden auf. Sie türmten sich auf und schlängelten sich durch die Umgebung. Sie verschluckten den Wald, die Bäume und den Boden unter unseren Füßen, die Blätter über unseren Köpfen, waberten milchig um unsere Körper. Sie drohten uns zu verschlingen und in ein Nichts zu tragen. Mein Körper begann sich seltsam taub anzufühlen und ich wusste, der Nebel würde uns wieder voneinander trennen. „Rachel.“, flehte ich, „Ich liebe dich.“ Ich umklammerte sie noch fester. Doch ich spürte, wie ihre Finger sich um den Stoff des Mantels lösten. Sie hob die Mundwinkel zu einem schmalen Lächeln an, aber die Traurigkeit, die ihr in dem Moment innewohnte, ließ nicht zu, dass es ihre Augen erreichte.
    „Ich weiß.“, sagte sie.
    Der Nebel nahm sie mit sich fort und da war nichts mehr in meinen Arme, außer dem so real erscheinenden Gefühl, jemanden gehalten zu haben.
    Ich lag unter meiner Bettdecke in meinem Schlafzimmer. Das Kissen unter meinem Kopf war feucht und die rauen Rückstände salziger Tränen klebten unter meinen Augen.
    Sechs Jahre. Eine halbe Ewigkeit her. Vor sechs Jahren hatte ich sie zum letzten Mal gesehen. Rachel. Bevor sie spurlos verschwunden war.


    Ich stütze mich auf meinem Arm ab, um mich aufzusetzen und schwang die Beine über die Bettkante. Ich starrte die dunklen Umrisse meines schmalen Bücherregals an und darüber in die Tiefe meiner aufgewühlten Gedanken. Das unsagbar große Verlangen nach Maple Grove zu fahren und dort den Medicine Lake Wanderweg entlang zu gehen zerrte an mir. So stark hatte ich das schon lange nicht mehr empfunden. Es war beinahe intensiv genug, dass ich aufgesprungen wäre, mir den Mantel tatsächlich übergeworfen hätte und unten in den Wagen gestiegen wäre. Ein dunkelroter Polo 6n2. Es war eigentlich gar nicht mein Wagen, sondern ihrer. Vielleicht war es ungesund, dass ich ihn von ihren Eltern angenommen und behalten hatte. Aber er hatte zu ihr gehört wie Hüftjeans, abstrakte Sonnenbrillen, bunte Kreolen, Blumenmuster und Shirts in schrillen Farben. Wenn ich nur eine Sache hatte, die ihr gehörte, hatte ich das Gefühl, ich war ihr noch irgendwie nah. Es stimmte nicht, aber ich wollte, dass es so war.
    Ich fuhr mir frustriert stöhnend mit den Händen mehrmals über mein Gesicht. Dann stand ich auf und trat durch die schmale Tür in der gegenüberliegenden Wand neben dem Regal in das kleine Badezimmer, das zu meiner Einzimmerwohnung in Virginia gehörte, die es eigentlich gar nicht geben durfte, in einer anderen, besseren Gegenwart, die ich in der Vergangenheit für selbstverständlich gehalten hatte. Ich drückte den Lichtschalter herunter und die Lampe über dem Spiegelschrank, der über dem Waschbecken hing, glomm hell auf.
    Ich musterte mein Spiegelbild. Mein Gesicht war fahl, fast krankhaft blass. Das Licht, das es von oben herab anstrahlte, verstärkte den Eindruck. Meine Wangen wirkten eingefallen und meine dunklen Haare lockten sich stumpf und zerzaust bis über meine Ohren. Ich zog das Haargummi von meinem Handgelenk und band mir das Haar am Hinterkopf zusammen. Ein paar Strähnen waren zu kurz um davon gehalten zu werden und sie fielen zurück in mein Gesicht. Ich stütze mich auf das Waschbecken und starrte hinab auf das gewölbte Porzellan. Ich würde nicht nach Maple Grove fahren. Ich würde es nicht tun.
    Ich kehrte nicht einmal zu Weihnachten nach Hause zurück, auch nicht zu Geburtstagen, also würde ich jetzt auch nicht wegen irgendeines verrückten, irrationalen Verlangens zurückfahren, das ein Traum in mir erweckt hatte. Denn sie würde nicht wirklich dort sein. Ich öffnete den Wasserhahn und formte meine Hände zu einer Mulde, in der ich das kalte Wasser auffing, um mein Gesicht hinein zu tauchen. Ich war so verloren zwischen jetzt und gestern. Ich konnte weder die Vergangenheit loslassen, noch die Gegenwart akzeptieren und die Zukunft ohne das Mädchen, das ich so lange schon geliebt hatte, dass ich mich nicht an eine Zeit davor erinnerte, drängte sich mir übel auf.
    Als ich wieder auf meiner Bettkante saß, hielt ich mein Telefon in der Hand. Ich wählte die Nummer meiner kleinen Schwester. Es war erst vier Uhr früh, aber ich brauchte dringend jemanden zum Reden. Nach dem zweiten Klingeln ging sie ran. „Hallo?“ Ihre Stimme klang belegt, verschlafen, aber aufgeregt. „Noah?“, hörte ich sie fragen, als könnte sie nicht glauben, dass ich es wirklich war.
    „Ja, hi. Ich bin‘s.“ Ich hatte sie schon eine ganze Weile nicht mehr angerufen. Das letzte Mal lag bestimmt zwei Monate zurück.
    „Noah, ich hab deine Nummer auf dem Display gesehen. Ich weiß, dass du es bist.“, lachte sie verlegen.
    Ich stieg in das verlegen Lachen mit ein.
    „Ja, stimmt. Ich meine...natürlich.“ Für einen Moment grinste ich sogar. Aber es hielt nicht lange an. Ich zupfte verunsichert an dem Stoff meiner Jogginghose und wartete darauf, dass sie etwas sagte. Ich hörte sie am anderen Ende seufzen.
    „Ach Noah.“, sagte sie und sie klang dabei so erwachsen, dass mir ganz anders wurde.
    „Willst du mir sagen, wie es dir geht?“, fragte sie hoffnungsvoll.
    „Nein...eigentlich...nicht.“, antwortete ich stammelnd, obwohl genau das Gegenteil der Fall war. Mein Herz pochte seltsam aufgeregt. Wieder entfuhr mir ein verlegenes Lachen und ich fuhr mir über die Haare, hob die losen Strähnen dabei aus meinem Gesicht. Ich hatte plötzlich Angst, dass wir uns meinetwegen irgendwann fremd würden.
    „Warum rufst du dann an? Hast du wieder schlecht geträumt?“, hakte sie nach und traf genau ins Schwarze. Ich legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke, bemüht die Tränen weg zu blinzeln, die die sich in mir ausdehnende Traurigkeit erneut mit sich brachte, weil ich immer noch an Rachel denken musste, immer noch von ihr träumte, selbst nach so vielen Jahren noch und weil Piper immer älter wurde, ohne dass ich etwas davon mitbekam. Ich senkte den Kopf wieder und schluckte. Ich fühlte mich schuldig, weil sie ihren Bruder missen musste und ich schämte mich, weil ich davongelaufen war und einfach nicht damit aufhören konnte. Ich wusste nicht, wann es enden würde. Ich fürchtet mich davor, dass es nie enden würde. Aber das konnte ich ihr nicht sagen.
    „Nein. Ach, nein, weißt du, ich konnte einfach nicht schlafen.“, behauptete ich wenig überzeugend.
    „Achso.“, murmelte sie. Es schmerzte mich, wie enttäuscht sie klang, weil ich mich ihr nicht öffnete, ihr nicht die Wahrheit sagte. Aber sie bohrte nicht nach. Ich hatte sie sicher bereits schon einmal zu oft zurückgewiesen.
    Eine Weile lang schwiegen wir uns an. Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte. Mir lag eine Ewigkeiten alte Entschuldigung auf der Zunge, die ich aber, wie alles andere auch nicht auszusprechen wagte. Es fühlte sich seltsam an, lasch.
    „Noah?“, setzte sie schließlich fragend an und beendete die Stille. „Ja, Piper?“ Sie überlegte noch einen Moment, wie sie mir sagen sollte, was ihr selbst auf dem Herzen lag. Aber am Ende entschied sie sich, wie ich doch nichts zu sagen. Stattdessen stieß sie ein resigniertes Seufzen aus.
    „Du solltest Mum anrufen.“, meinte sie bloß.
    „Ja...ich weiß.“, seufzte ich nun. Schon wieder Stille. Ich schämte mich nur noch mehr wegen Allem, je länger unser holpriges Gespräch andauerte.
    „Gut...Dann lass mich mal weiterschlafen. Ich hab morgen Schule.“, hob sie schließlich an.
    „Achso, ja. Natürlich. Tut mir leid, dass ich dich mitten in der Nacht angerufen habe.“, entschuldigte ich mich.
    „Schon gut. Nacht, Noah.“, verabschiedete sie sich.
    „Gute Nacht Piper. Ich hab dich lieb, vergiss das nicht, in Ordnung?“, bat ich flehentlich.
    „Mach ich nicht.“, versprach sie sanft, „ Hab dich auch lieb Noah.“
    Bevor sie auflegte atmete sie noch einmal hörbar auf, als wollte sie doch noch loswerden, was sie belastete. Ich konnte mir gut vorstellen, worum es dabei ging. Aber sie ließ es bleiben und ich fragte sie nicht. Stattdessen war die Leitung keine Sekunde später unterbrochen.

  • (Nachtrag)
    Ungefähr zwanzig Minuten saß ich nur so da.
    Dann bekam ich nur passiv mit, wie ich aufstand, meine alte Sporttasche neben dem Schreibtisch aufklaubte und auf mein Bett warf und wie im Rausch hastig begann irgendwelche Sachen zum Anziehen aus den Schubladen der Kommode am schräg gegenüberliegenden Ende des Zimmers, neben der Küchenausbuchtung zu ziehen und auf dem Bett in die Tasche zu stopfen. Ohne mich groß umzuziehen, schlüpfte ich eilig mit nackten Füßen in meine ausrangierten Turnschuhe und warf halbherzig meinen Mantel über. Nachdem ich die Tür zu meiner Wohnung hinter mir zugezogen und mit vor Aufregung zitternden Fingern kaum dazu in der Lage gewesen war abzuschließen, nahm ich die Treppen nach unten im Laufschritt. Eiskalte Nachtluft umfing mich vor der Haustür und ich flüchtete in den Wangen, wo ich die Sporttasche schwungvoll nach hinten auf die Rückbank warf.
    Ich lehnte mich in das weiche Polster des Fahrersitzes zurück und stieß die vor Anspannung aufgestaute Luft aus. Die Hände umklammerten bereits scheinbar ohne mein Zutun das Lenkrad. Ich mahlte angespannt mit dem Kiefer und schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete hatte die Dunkelheit der Nacht vor der Windschutzscheibe bereits mit dem Dämmerlicht des anbrechenden Tages getauscht. Jeder Versuch mich selbst vom Losfahren abzuhalten schien von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen zu sein.
    Ich startete den Motor. Die Digitaluhr im Armaturenbrett zeigte sechs Uhr siebzehn an. Die Scheinwerfer flammten auf und erhellten die heruntergekommen wirkende, bröckelige Ziegelsteinfassade des Wohnkomplexes, in dem ich inzwischen seit fast fünf Jahren eine von acht Einzimmerwohnungen mietete. Ich starrte nach draußen. Auf die Haustür, deren Lack abblätterte und auf die verdeckten Fenster an der Front. Das war der trostlose, wenig einladende Ort, an den ich meine Zukunft verbannt hatte, die Zeit ohne Rachel, bis zu gerade diesem Moment.
    Ich war schon oft in dieses Auto gestiegen, mit genau demselben drängenden Vorhaben zurückzufahren und nie hatte ich es wirklich durchgezogen. Aber dieses Mal war es anders.
    Heute gab es einen bedeutenden Unterschied zu allen Malen davor. Ich hatte mir eine Tasche gepackt. Sie grinste mir im Rückspiegel frech entgegen. Sie wusste, dass all der halbherzige Widerstand, der noch in mir wohnte, dieses Mal nicht gewinnen konnte. Ich würde nach Maple Grove fahren.
    Ich atmete frustriert zischend zwischen zusammengebissenen Zähnen aus. Mein Herzschlag gab sich einem vor blanker Nervosität beschleunigtem Rhythmus hin. Ich sah über die Schulter aus dem Heckfenster und ließ den Polo von seinem Parkplatz rollen. Ich verließ die Chestnutstreet in Richtung Westen.

  • Fassungslos starrte sie mich an. Ihr glitt die Tasse aus den Händen und obwohl ich mich noch danach ausstreckte, um sie aufzufangen, fiel sie mit einem lauten Knall zu Boden und zerbrach. Der Tee hatte sich warm auf ihren Rock und die Ärmel meines Mantels ergossen.
    Ich stieß einen gedämpften Fluch aus, nicht zuletzt, weil ich mich ohnehin schon wie ein reines Nervenbündel fühlte. Ich wollte mich gerade eilig bücken, um die Scherben aufzuheben, da hörte ich wie sie zu wimmern angefangen hatte. Ihre schmalen Lippen zitterten erbarmungswürdig, als ich mich wieder aufrichtete und sie ansah. Sie presste die Hände krampfhaft ineinander verschränkt an ihre Brust.
    „M-Mum.“, stammelte ich schuldbewusst und umschloss mit meinen Händen behutsam die ihren. Sie ließ zu, dass ich sie auseinander zog und jede in einer meiner Hände festhielt. Ich drückte sie sanft.
    „N-No-Noah.“, bebte ihre Stimme. Sie befreite ihre Hände und legte sie mir behutsam an mein Gesicht. Ihre Fingerspitzen drückten auf meine Wangenknochen, umschmeichelten dann meinen Kiefer und streichelten mir über die Wangen, über den rauen Bartschatten. Sie musterte mich von oben bis unten, legte ihre schmalen Hände auf meinen Schultern ab.
    „Wie siehst du bloß aus...“, raunte sie vorwurfsvoll, „Du bist ja schrecklich dürr geworden.“
    Das Volumen ihrer Stimme war von tiefer Besorgnis geschmälert.
    „Ich erkenne dich kaum wieder.“
    Sie wischte sich mit den Daumen die feuchten Spuren unter den Augen fort und verzog ihre Miene, nahm dann eine der locker in mein Gesicht herab hängenden Haarsträhnen prüfend zwischen ihre Fingerspitzen. „Ich werde dir die Haare schneiden müssen.“, stellte sie nüchtern fest. Ich umschloss mit meiner Hand zaghaft ihre und führte sie von mir und meinem Gesicht weg. Ich räusperte mich unbeholfen.
    „Nein Mum, das musst du nun wirklich nicht.“, widersprach ich gedämpft. Ich fühlte mich noch benommen von der langen Fahrt und ich glaubte nicht, es verdient zu haben, dass sie auch nur das kleinste Bisschen für mich tat. Aber sie sah mich aus ihren großen braunen Augen so liebevoll an. Mein Gewissen wog umso schwerer für das, was ich ihr angetan hatte. Die Jahre, in denen sie um mich und mein Wohlbefinden gebangt hatte, weil ich nicht oft genug angerufen hatte, nie nach Hause gekommen war und sie mich, wenn überhaupt bloß in Virginia hatte besuchen kommen können, die wenigen Male jedes Jahr, weil ich nichts besseres zu tun gedacht hatte, als in Selbstmitleid und Trauer zu versinken, allein.
    „Lass mich das doch machen.“, bat sie und langsam nickte ich schließlich. „Gut.“, gab ich mich einverstanden. Ich durfte es ihr nicht abschlagen.
    „Dann komm mal rein.“ Sie setzte ein schmales Lächeln auf und trat bei Seite, damit ich an ihr vorbei auf den Hausflur treten konnte. Ich trat über die Schwelle und atmete auf. Ich war wirklich hier. Ich wagte kaum, es für möglich zu halten. Aber so war es.
    Meine Mutter bückte sich hinter mir, um die größeren Scherben ihrer Tasse aufzuheben.
    „Mum, warte. Lass mich doch-“, setzte ich an. Doch sie hob abwehrend die Hand.
    „Nein, lass nur. Ich mach das schon. Geh du nach oben zu deiner Schwester und sag ihr Bescheid, dass du hier bist, ja? Sie wird sich unheimlich freuen.“
    Sie sah nur kurz wieder zu mir auf, während sie sprach, dann klaubte sie die Überbleibsel der Tasse weiter auf. „Okay.“, sagte ich, „In Ordnung.“
    Bevor ich die Treppe in die obere Etage emporstieg, sah ich mich jedoch noch ein Mal nach ihr um. Wie heute Nacht bei meiner Schwester lag mir eine Entschuldigung auf den Lippen, die ich irgendwie nicht aussprechen konnte.
    Der cremefarbene Teppich der auf der Treppe ausgelegt war, ließ meine Schritte dumpf erklingen. Während ich nach oben ging, sah ich im Augenwinkel neben mir an der Wand all die aufgehängten Kinderfotos und mein reumütiges Herz ballte sich beinahe krampfhaft in meiner Brust. An einem Bild blieb ich hängen und hielt inne. Das Abschlussfoto. Ich selbst war in der Mitte abgebildet, Piper und Mum jede an einer meiner Seiten. Ich hielt mein Abschlusszeugnis in den Händen, war in eine hellblaue Robe gekleidet und trug die dazugehörige Absolventenkappe, unter der vereinzelt schwarze Locken hervorlugten. Inzwischen waren meine Haare tatsächlich deutlich gewachsen. Mein Lächeln wirkte versteinert und eher bitter, als fröhlich.
    Ich erinnerte mich unangenehm zurück, dass es noch ein solches Foto gab, auf welchem ich zwischen Mr. und Mrs. Green gestanden hatte. Nadine und Adam.
    Ihre Tochter hätte an dem Tag vor knapp sechs Jahren auch die Highschool beendet, nur dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits spurlos verschwunden gewesen war. Meine Mutter hatte es für eine nette Idee gehalten, die beiden trotzdem einzuladen und sie durch mich an dem Erlebnis dieses Meilensteins teilhaben zu lassen, dem auch sie gemeinsam mit ihrer Tochter entgegengefiebert hatten. Doch an diesem Tag war Rachels Abwesenheit spürbarer gewesen, als je zuvor. Andere Eltern, Mitschüler, das Lehrpersonal hatten uns ständig daran erinnert, dass jemand an unserer Seite fehlte. Als ob wir es hätten vergessen können. Es hatte eine Rede gegeben über sie, gehalten von einem Menschen der sie kaum bis überhaupt nicht gekannt hatte und über Verlust und Bewältigung. Danach hatte es eine weitere über glänzende Zukunft gegeben und über all das, was uns junge Menschen noch im Leben erwarten würde, wenn wir nicht müde wurden hart zu arbeiten. Ich erinnerte mich, wie mir das übel aufgestoßen war, weil ich vor allem Angst gehabt hatte, das Rachel gar keine Zukunft mehr haben würde und ich eine ohne sie. Ja, ich fürchtete mich schon damals die ganze, verdammte Zeit davor, dass sie tot war und ich war mir nur zu bewusst, dass es hier in Maple Grove niemanden mehr gab, der etwas anderes geglaubt hätte. Schon sehr lange wusste ich nicht mehr, was ich selbst glaubte.
    Adam und Nadine hatten schüchtern und nur zurückhaltend in die Kamera gelächelt. Dies war nicht der freudige Augenblick, den man sich vom letzten Tag des Abschlussjahres seines Kindes versprach.
    Ich wand mich von dem Foto ab und schluckte, setzte meinen Weg nach oben fort. Bevor ich jedoch auf der linken Seite an Pipers Zimmertür klopfte, zog es mich zu dem Zimmer auf der rechten Seite hin, das neben dem kleinen Bad in der Mitte lag, das meine Schwester und ich uns damals geteilt hatten, als ich noch Zuhause gewohnt hatte. Ich drückte die Klinke herunter und gab der Tür einen kleinen Schubs, sodass sie in den Raum aufschwang. Ich tat einen Schritt in den Raum hinein und sah mich verstohlen darin um, als wäre es das Zimmer von jemand anderem und ich wäre unberechtigt eingedrungen.
    Hier hatte sich nichts verändert. Es hatte höchstens ein bisschen Staub angesetzt, wie ich überrascht feststellte, aber ansonsten war alles ganz so geblieben, wie ich es zurückgelassen hatte. Ich wusste nicht, wie ich mich deshalb fühlte, ob ich mich deshalb freute oder ob es mich eher melancholisch stimmte, traurig. Es fühlte sich an, als wäre all das aus einem anderen, entsetzlich fernen Leben und doch auch, als wäre ich gerade gestern erst hier gewesen. Fremd und doch zugleich selbstverständlich vertraut. Ein Gefühl, das stumpf, doch drängend an der Oberfläche kratzte.
    Feine, leichte Staubflocken tanzten durch die abendlichen, goldenen Lichtstrahlen, die durch die Vorhänge blitzten.
    Als zöge es mich durch Fremdbestimmtheit an, ging ich geradewegs mit bedächtig gesetzten Schritten über den grauen Teppich auf das Fenster zu, das dem Nachbarhaus zugewandt war. Ich legte meine Hand an den dichten, unter meinen Fingerspitzen spürbar rauen, dunkelblauen Stoff des Vorhanges und hob ihn ganz langsam und zögerlich an. Ich hatte unwillkürlich den Atem angehalten. Gegenüber von meinem Fenster lag das Zimmerfenster von Rachel.
    Von hier aus konnte ich ihren Schreibtisch sehen, auf dem sich immer noch Magazine stapelten und die bunt gepunktete Dose mit Kugelschreibern und Markern in verschiedenen Farben. Ich überlegte, ob es wohl immer noch die alten Magazine waren oder ob Nadine ihrer Tochter vielleicht immer neue hinlegte, in der Hoffnung sie würde sie irgendwann lesen.
    Auch da drüben schien sich nichts verändert zu haben. Als gäbe es einen Ort auf dieser Welt, zwei miteinander verbundene Orte, in denen die Zeit doch noch stehen geblieben war.
    Ich legte eine Hand auf die kühle Glasscheibe und schloss die Augen. Ich stellte mir vor, wie sie da saß. Eine dunkelblonde, lange Haarsträhne rutschte hinter ihrem Ohr weg und sie strich sie wieder zurück. Nachdenklich zog sie die Brauen zueinander und balancierte einen Stift auf ihrer Oberlippe. Sie kippelte mit ihrem Stuhl. Den Kopf hatte sie auf ihren Handballen abgestützt. Die Ellenbogen auf ihren Tisch gestemmt. Ein Augenaufschlag und sie sah mich an, ließ ihren Stuhl in die Ausgangsposition kippen, nahm den Stift von den hervor geschobenen Lippen. Herausfordernd hob sie eine Braue und grinste, bevor sie eilig etwas auf ihren Block kritzelte und ihn an die Fensterscheibe drückte. ‚Wie lange starrst du mich schon an?‘, stand darauf.
    Ich öffnete die Augen wieder. Nebenan saß niemand und da war auch keine Nachricht hinter der Scheibe. Natürlich nicht. Ich seufzte bedrückt.
    „Noah?!“ Ich fuhr herum. Piper quietschte aufgekratzt. „Noah, Noah, Noah!“, rief sie lauthals und nahm die kurze Distanz zwischen Tür und Fenster, zu mir, in langen, schnellen Schritten, als würde sie Anlauf nehmen. Aber es dämmerte mir nicht rechtzeitig. Ohne Vorwarnung sprang sie mich an, schlang Arme und Beine um meinen Oberkörper, wie sie es schon ständig getan hatte, als wir noch klein gewesen waren, mit dem bedeutenden Unterschied, dass sie jetzt viel größer und wie es aussah auch viel stärker geworden war als früher und schwerer. Diese Mal war ich vollkommen unvorbereitet, im Gegensatz zu damals. Ich ächzte, stieß mir durch den Schwung ihres Sprungs und den Aufprall den Kopf an der Fensterscheibe und mir entfuhr vor Schmerz und vor allem vor Schreck ein Aufschrei. Wir prallten unterlegt von einem lauten Rums auf dem Schreibtisch auf. Ich war heilfroh, dass er es aushielt ohne unter uns in zwei Teile zu zerbrechen. Eine hässliche Delle würde er bestimmt davon tragen. Aber Piper ließ sich von nichts beirren. Sie gluckste vor Freude und schmiegte sich kuschelnd an mich. Sie hatte ihr Gesicht an meinen Nacken geschmiegt. Ich war verkrampft auf den Schreibtisch gestützt und ließ mich schlussendlich kurzerhand darauf absinken.
    „Ich weiß nicht, wie lange der Tisch uns beide aushält, Piper.“, gab ich zischend zu Bedenken. Mir bollerte der Kopf. Ich presste die Augenlider aufeinander und biss die Zähne zusammen, bis das Gefühl allmählich abebbte und nur noch ein dumpfer Druck zurückblieb.
    Piper schnaubte amüsiert. „Ist mir doch scheißegal.“, erwiderte sie vergnügt.
    „Na ja, mir aber nicht.“, erklärte ich stöhnend.
    „Du darfst hier aber nicht mehr mitreden.“, stellte sie süffisant klar. Ob der Heiterkeit, mit der sie sprach, war ihre Stimme nun scharf unterlegt. Ich seufzte ergeben.
    „Ja, ich schätze dieses Recht habe ich mir vor einiger Zeit verwirkt.“, stimmte ich resigniert zu.
    „Ganz genau.“, erwiderte sie schnippisch und beugte ihren Oberkörper zurück, sodass ich sie festhalten musste, damit sie nicht nach hinten weg kippte und uns beide in eine Bruchlandung auf den Boden manövrierte, nachdem wir die ersten Turbulenzen relativ gut überstanden hatten. Die Kopfschmerzen hatte ich mir wohl mehr als verdient.
    Piper schnaubte schon wieder, aber ihre warmen, braunen Augen strahlten immer noch vor Glück unseres unerwarteten Wiedersehens. Sie hatte mich wirklich vermisst, natürlich, und ich spürte erst jetzt so richtig die ganze Spannweite, nach der mir meine kleine Schwester selbst ganz furchtbar gefehlt hatte. Nach der mir meine Familie unheimlich gefehlt hatte und sogar mein Zuhause. Ich zog Piper mit einem Ruck zurück ganz nah an mich heran und umarmte sie so fest ich konnte, ohne ihr wehzutun. Ich neigte meinen Kopf beschämt über ihre Schulter.
    „Tut mir leid Piper.“, rutschte mir die ungelenke, fade Entschuldigung aus, die schon lange überfällig war. „Arschloch.“, murmelte sie schlicht als Reaktion darauf. Ich grunzte amüsiert.
    „Zicke.“, gab ich ebenso murmelnd zurück.
    „ Du Riesenidiot.“, setzte sie seufzend nach.
    „Schuldig.“, gab ich mich geschlagen. „Das war‘s jetzt aber oder?“
    „Erstmal.“, bestätigte sie, „Aber zieh dich warm an. Das war erst die Vorrunde.“
    „Verdammt.“ Ich lachte leise.
    Sie löste ihre Glieder, mit denen sie sich an mich geklammert hatte und stellte sich vor mich hin.
    „Und wie ich sehe, turnst du noch?“, fragte ich sie scherzhaft. Sie zog sich ihren Rock über der Strumpfhose wieder in die rechte Position und strich ihn glatt. Sie schüttelte den Kopf.
    „Nein, nicht mehr.“, antwortete sie. „Hab mich dazu entschieden aufzuhören. Die Arbeit in der Schülerzeitung hat mir besser gefallen. Ach, und vor allem Fotografieren.“, erklärte sie. Als sie mich ansah verzog sie entschuldigend das Gesicht. Wir hatten ja nie darüber geredet.
    „Achso.“ Mir war peinlich, dass ich sie vorher nie danach gefragt hatte. „Hm.“ Sie räusperte sich.
    „Mum ist unten?“, hakte sie nach und wechselte damit geschickt das Thema.
    „Ja.“, nickte ich.
    „Gut. Dann lass uns mal zu ihr gehen.“, beschloss sie kurzerhand und tänzelte leichtfüßig aus dem Zimmer in den Flur. Ich blieb zurück, unschlüssig, ob ich ihr gleich folgen sollte. Es hätte sich eigentlich selbstverständlich anfühlen müssen.
    Sie drehte sich in der Tür noch einmal zu mir um.
    „Willst du da Wurzeln schlagen?“, fragte sie verwundert. Ich ließ mir einen Moment Zeit mit der Antwort und sah sie bloß an. Sie hatte sich so verändert. Sie sah dem Mädchen aus meiner Erinnerung bloß noch ähnlich.
    „Nein, lieber nicht.“, entgegnete ich und stieß mich von dem Schreibtisch ab, warf noch einen Blick über die Schulter in das verlassene Zimmer von Rachel. Dann folgte ich Piper.
    Unten in der Küche war unsere Mutter gerade dabei aufzudecken.
    „Da kommt ihr ja gerade richtig.“, nahm sie uns in Empfang und grinste verlegen.
    „Es ist ein bisschen dürftig, weil ich...Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du kommen würdest.“, erklärte sie zurückhaltend an mich gewandt. Sie wischte sich die Hände umständlich an ihrer Schürze ab.
    „Ist schon gut, Mum. Tut mir leid, dass ich nicht angerufen hab. Und...Und sowieso, das alles-“
    Ich stockte. Ich konnte es nicht vernünftig in Worte fassen, sodass es dem gerecht wurde, was ich empfand und es gelang mir ebenso wenig, nicht lahm zu klingen.
    „Lass uns jetzt nicht darüber reden.“, winkte sie entschieden ab, „Wir haben noch genug Zeit zu reden.“ Mir entging der hoffnungsvolle Unterton und die stumme Frage in ihrem Blick nicht, die sie sich nicht zu stellen traute.
    „Ja, natürlich.“, erwiderte ich, um sie zu beruhigen, obwohl ich eigentlich noch gar nicht darüber nachgedacht hatte, wie lange ich überhaupt bleiben würde. Morgen früh würde ich auf der Arbeit anrufen müssen, um mich abzumelden. Ich bezweifelte kaum, dass Katelyn verständnisvoll sein würde. Die Frage war nur, für wie lange ihr Verständnis ausreichen würde.
    Als meine Mutter den Topf Kartoffeln als letztes auf dem runden Esstisch abgestellt hatte, setzten wir uns. „Greift zu.“, sagte sie. Piper wollte gerade nach den Vorlegelöffeln im Kartoffeltopf greifen, als ich ihr die Hand auf den Arm legte. „Warte.“, sagte ich, „Ich mache das.“ Sie zuckte verblüfft mit den Schultern. „Okay, bitte.“ Ich nahm ihren Teller entgegen und trug ihr auf. Erst eine ordentliche Portion Kartoffeln, was sie mit einem „Hey! Nicht so viel!“, quittierte und dann noch von dem Hering in Sahnesoße. „Danke.“, sagte sie, als ich den Teller wieder vor ihr abstellte. Als nächstes nahm ich noch den Teller meiner Mutter entgegen. „Danke, Noah.“, sagte sie vorsorglich.
    „Kein Problem.“, antwortete ich und trug auch ihr eine gute Portion auf. Zuletzt nahm ich mir selbst von beidem ein bisschen.
    „Bist du sicher, dass dir das reicht?“, fragte Piper neckend, während sie zweifelnd mein Essen beäugte. Ich sah sie aus verengten Augen heraus fragend an.
    Sie schnaubte. „Du bist total das schmale Hemd geworden.“, kommentierte sie.
    „Ich hab dich eben oben zu Fall gebracht. Das wäre früher nie passiert.“ Ich sah an mir herunter. Ich wusste, dass ich deutlich abgenommen hatte, seit sie mich zum letzten Mal gesehen hatten. Ganz besonders seit meinem Abschluss. Aber das lag auch daran, dass ich die letzten Jahre keinen Sport mehr getrieben hatte. Dafür hatte mir schlicht jeglicher Antrieb gefehlt.
    „Du hattest einfach das Überraschungsmoment auf deiner Seite.“, seufzte ich, „Das war nichts als pures Glück.“, tat ich es ab.
    Sie schnaubte. „Ja klar!“, höhnte sie, „Wer‘s glaubt!“
    „Außerdem bist du größer geworden.“,stellte ich nüchtern fest. „Und fetter...“, setzte ich noch nach, um sie zu ärgern. Ich grinste in mich hinein.
    Sie schnappte empört nach Luft. „Was war das?! Muuum!“
    „Noah.“, tadelte Mum mich, aber sie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Jetzt weiß ich auch endlich, warum es da oben bei euch vorhin so gepoltert hat. Ich dachte schon, ich müsste mir Sorgen machen. Es ist nichts kaputt gegangen?“
    „Nein.“, grinste Piper. „Ich hab meinen Bruder nur gebührend begrüßt. Nicht wahr Noah?“ Sie stieß mir ihren Ellenbogen in die Seite.
    „Verdammt, Piper.“, beschwerte ich mich, aber das kümmerte sie gar nicht weiter. Ich kam nicht umhin zu lächeln, schüttelte aber trotzdem verständnislos den Kopf.
    „Sei mal kein Weichei.“, entgegnete sie bloß und machte sich dann zufrieden summend über ihr Essen her. Während wir aßen sprachen wir kaum mehr. Ich schätzte, das lag hauptsächlich daran, dass keiner von uns an dem Abend richtig wusste, was er hätte sagen können, weshalb wir die Stille vorzogen, um uns erst mal an mein plötzliches Auftauchen und unsere unerwartete Zusammenkunft zu gewöhnen. Ja, ich selbst konnte es tatsächlich auch noch nicht richtig wahrhaben, dass ich wirklich dort war.
    Nach dem Essen wollte ich meiner Mutter noch beim Abwasch helfen, weil ich noch nicht richtig raus hatte, wie ich mich gerade verhalten sollte, aber sie wies meine Hilfe erneut ab.
    „Tut mir leid Noah. Bitte, versteh es nicht falsch. Ich brauche jetzt ein bisschen Zeit für mich.“, entschuldigte sie sich, „Ich freue mich unglaublich, dass du hier bist, aber ich kann es noch nicht ganz begreifen.“ Sie musterte mich mitleidig.
    „Außerdem...siehst du wirklich sehr erschöpft aus. Du hast eine lange Anreise hinter dir. Leg dich lieber schlafen, in Ordnung, Schatz?“ Ich stimmte ihr mit einem Nicken zu. Ich war auf einmal wirklich sehr müde. Ich stand an die melierte Arbeitsfläche gelehnt, unter und über der sich die braunen, antiken Küchenschränke aus massivem Holz reihten und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Durch das kleine Fenster in der Hintertür und das Fenster zum Nachbarhaus hinaus, spähte Dunkelheit zu uns herein. Der Abend war bereits spät geworden.
    Auch Piper war schon nach oben gegangen, um sich schlafen zu legen.
    „Also dann...Gute Nacht, Mum.“, verabschiedete ich mich. „Gute Nacht.“, erwiderte sie. Sie hatte den Blick gesenkt. Ihre ruhige, entspannte Stimme wirkte aufgesetzt.
    Ich stieß mich ab und wollte gerade die Küche verlassen, da hielt sie mich doch noch am Arm zurück. „Noah.“ Sie sah mich aus ihren großen Rehaugen unentschlossen an, so als wäre sie selbst ganz verwirrt und hätte vergessen, was sie eben noch zu mir hatte sagen wollen. Ich erkannte Fältchen um ihre Augen und Mundwinkel herum und feine, ungerade gezogene, gut sichtbare Linien auf ihrer Stirn, die ich noch gar nicht kannte. Auch ihre Haare waren weit mehr ergraut und sie schien sie nicht mehr nachzufärben.
    „Ja?“, fragte ich, nachdem wir uns bloß eine Weile lang angesehen und sie kein weiteres Wort mehr gesagt hatte.
    Dann zog sie mich in eine beherzte, intensive Umarmung. Sie drückte mich fest an sich und ich erwiderte den Druck. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, weil ich etwa einen ganzen Kopf größer gewachsen war als sie.
    „Tu mir das nie wieder an.“, flüsterte sie, „Hörst du? Nie wieder.“
    Ich schluckte. Aber ich sagte nichts dazu. Ich wollte nichts versprechen, von dem ich nicht sicher wusste, das ich es auch einhalten könnte.
    „Ich liebe dich Mum.“, sagte ich stattdessen und sie seufzte.
    „Ich dich auch mein Schatz.“, erwiderte sie. „Ich werde dich immer lieben und das weißt du. Ich bin vermutlich der einzige Mensch, der das bedingungslos kann.“
    Ich nickte zustimmend, beugte mich herunter, um mein Kinn auf ihre Schulter zu drücken. Ich schloss die Augen und genoss einfach, dass Gefühl in den Armen meiner Mutter zu sein, auch wenn sie gerade mein schlechtes Gewissen zu füttern versuchte, damit ich nicht mehr davonlaufen würde. Es war ein tröstliches Gefühl. „Vermutlich.“, stimmte ich ihr vage zu.
    Sie löste sich als erste aus der Umarmung. In ihren Augen glitzerten zum zweiten Mal an diesem Tag, dass ich es sah, Tränen.
    „Nun geh schlafen.“, sagte sie bestimmt. „Wir sehen uns morgen.“
    „Ist gut, schlaf gut, Mum.“ Sie nickte und wand sich von mir ab. Ihre Hände tauchten platschend in das Abwaschwasser ein und sie rumpelte geschäftig mit dem Geschirr, damit ich nicht hörte, wie sie schon wieder leise zu weinen angefangen hatte.
    Ich ging nach oben. Vor meiner Zimmertür blieb ich erst mal eine Weile unschlüssig stehen. Ich hatte die Hand auf den Türgriff gelegt, aber fand irgendwie nicht den richtigen Impuls ihn herunterzudrücken.