Kapitel 34 - Der Aal und der Skolopender

  • Der Aal und der Skolopender

    Bei seinem Rundgang fand Garlyn keine Leichen mehr, sehr zu seinem Bedauern. Seit das ledwicker Militär gelandet war und für Ordnung sorgte, gingen die Aufräumarbeiten rasch und gut organisiert vonstatten. Die almanischen Tugenden Fleiß und Disziplin konnte man an der Ruine von Burg Drakenstein gut studieren, wenn man sich die Zeit nahm, die Arbeiter und Aufseher zu beobachten. Die Steine wurden gewissenhaft sortiert. Ein Heer von Steinmetzen überprüften sie nach ihrer Wiederverwendbarkeit. Es war womöglich geplant, Drakenstein wieder aufzubauen oder vielleicht sollten die Steine anderswo eingesetzt werden.


    Garlyn beobachtete das Ganze mit eher mittlerem Interesse. Er war kein Handwerker und interessierte sich auch nicht sonderlich für städtebauliche Maßnahmen, wenn sie nicht die Wehranlagen betrafen. Burg Drakenstein war eher repräsentativer Natur gewesen. "Was ist hier eigentlich passiert?", fragte er einen der Arbeiter, einen Einheimischen, der gerade mit einem leeren Schubkarren an ihm vorbeikam.


    Der Mann blieb stehen und setzte den Karren ab, offensichtlich war er froh über die Gelegenheit einer Pause. Er stemmte die Arme in die Hüften, sein Blick strich über die Ruine, die einem Ameisenhaufen glich, sowohl was die Form als auch was die Menge der Arbeiter betraf. "Ein Anschlag ist hier passiert. Aufgrund des Ausmaßes ist jedem hier klar, dass eine fremde Regierung dahintersteckt. So was plant kein einfacher Irrer. Die ganze Burg ist in die Luft geflogen! Und welche Regierung das ist, ist auch klar - schau dir die Soldaten an, die angereist sind, angeblich, um uns zu helfen. Alles hier ist voller Ledwicker!" Mit angewidertem Gesicht machte er eine raumgreifende Geste.


    "Ist doch nett, dass sie beim Aufräumen helfen", fand Garlyn.


    Der Mann spuckte aus. Diese Angewohnheit war scheinbar von Souvagne herübergeschwappt. "Die Hilfe ist nur der Vorwand, um hier Militär auffahren zu können. Mein Bruder ist bei den Streitkräften, drum weiß ich ein bisschen mehr als andere. Die Ledwicker sind nicht nur hier in Drakenstein, die sind inzwischen in ganz Ehveros! Sie sind in allen großen Ortschaften aufgekreuzt. Sie fragen nicht danach, ob sie helfen dürfen, sie lassen sich nicht wegschicken, sie schlagen einfach ihre Lager auf und bleiben. Es kam bereits zu Auseinanersetzungen. Das hier ist eine Invasion unter dem Deckmantel der Hilfe! Ledwick hat erst unseren Großherzog umgebracht und nun versuchen sie, unser Land zu erobern! Vermutlich haben sie auch seine Tochter vergiftet, unsere geliebte Ricarda von Ehveros."


    "Möglich", stimmte Garlyn zu. "Das ist alles nicht unwahrscheinlich. Erst eroberte Souvagne das Himmelsgebirge, dann folgte die Hochzeit von Sovagne und Ledwick und dann fielen Farisin und Niewar. Warum also nicht auch Ehveros? Die interessante Frage ist, wann sie anfangen, sich gegenseitig zu verschlingen - und wer am Ende als Einziger übrig bleibt. Na, ich will dich nicht weiter aufhalten. Frohes Schaffen noch."


    "Schönen Tag dir auch." Der Mann hob die Griffe des Schubkarrens an und folgte der Straße in Richtung Baustelle.


    Garlin sah ihm einen Augenblick nach, dann spürte er einen Windhauch, der nicht vom Wind selbst stammte. Ein Gefühl wie das Wehen eines Mantels.


    "Auf der Jagd, Skolopender?", fragte eine leise Stimme direkt hinter seinem Genick.


    Als Garlyn sich demonstrativ gelassen umdrehte, blickte er in ein bekanntes Gesicht. Seine Mundwinkel zogen sich auseinander. Die beiden Beißer begrüßten sich mit einem Handschlag. Sie setzten sich auf die nächstbeste Bank, von wo aus sie einen guten Blick auf die Aufräumarbeiten hatten, um ein wenig zu plaudern.


    "Jagd kann man das hier eher nicht nennen, ich bin eher ein Sammler", meinte Garlyn.


    "Hm, bei deinem Namen hätte ich mir einen offensiveren Stil vorgestellt."


    "Der Skolopender verschmäht kein Aas", stellte Garlyn klar. "Warum sollte er auch? Aber wenn ein Skolopender kämpfen muss, dann kämpft er mit allem, was er hat. Er trägt einen Panzer, der ihn schützt und ihn ausgesprochen zäh macht. Er ist wendig und weiß Lücken und Spalten für sich zu nutzen. Das ist das ganze Geheimnis."


    "Nicht zuletzt ist er ein gefühlloser Gliederfüßer und kein kuscheliges Säugetier, nicht wahr? Zumindest ist es das, was er einem zeigt. Er ist ein guter Lügner. Seine wenigen Fressfeinde vermag er geschickt zu täuschen - sein Hinterleib sieht auf den ersten Blick aus, als wäre es sein Kopf und ist auffällig gefärbt. Seinen Hintern präsentiert er jedem bereitwillig und ohne Scham, aber seine empfindliche Seite trägt der Skolopender getarnt. Wo diese empfliche Seite liegt, erfährt man nur, wenn man sich die Zeit nimmt, ihn zu beobachten und sich nicht gleich von seinem Schauspiel abschrecken lässt." Er wies mit dem Kinn in Richtung der Burgruine. "Das Unglück ist schon ein paar Tage her. Ist das Fleisch hier nicht langsam zu alt?"


    Garlyn stutze einen Moment ob der Beschreibung seines Jägertieres. "Eine interessante Deutung", sagte er langsam, wobei er den Mann, der sich Aal nannte, von der Seite musterte. "Für mich ist das Fleisch hier jedenfalls nicht zu alt. Seit einem Zwischenfall ernähre ich mich von einer strengen Fleischdiät."


    Der andere Beißer, den Garlyn abgesehen von seinem Jägernamen nur als 'Onkel Timo' kannte, schmunzelte und hob die Brauen. "Ahhh", sagte Timo gedehnt, "verstehe. Du bist unter die Unsterblichen gegangen. Für einen Beißer ist dieses Dasein sicher nicht unangenehm. Und wie geht es dir sonst so? Es ist ja schon eine Weile her, dass wir uns das letzte Mal begegnet sind. Ich wusste nicht, dass es dich nach Ehveros verschlagen hat."


    "Nur vorübergehend, um die Gelegenheit beim Schopfe zu packen, meine Vorräte aufzustocken. Abgesehen davon, dass ich tot bin, geht es mir gut, danke der Nachfrage. Ich diene bei dem Söldnerlager bei Obenza als Ausbilder. Wegen einem Brand ist es momentan allerdings stillgelegt und sein Alter Inhaber hat sich dünne gemacht, aber im Frühjahr soll es seine Tore wieder öffnen. Bis dahin lebe ich von meinem Ersparten."


    "In der souvagnischen Strafkompanie war es dir wohl zu langweilig?"


    "Langweilig nicht direkt, aber ziemlich ruhig, seit der mir von dir anvertraute Schützling die Kompanie verließ. Außerdem wurde diese Strafkompanie mit der Fertigstellung des Nordwalls aufgelöst. Darum war meine Zeit dort bald nach Robbys Versetzung ebenfalls zu Ende. Manchmal wüsste ich gern, was aus ihm geworden ist."


    "Denkst du oft an ihn?"


    "Manchmal. Er war mein Ohnezahn, er war anfangs so hilflos wie du gesagt hattest, aber ich habe den Beißer in ihm erweckt. Hoffentlich dauerhaft. Mein erster und einziger Welpe, mein Vermächtnis für diese Welt, wenn ich schon sonst nichts hinterlassen kann. Wobei ich nicht weiß, ob er sich überhaupt noch immer Schwarzer Skorpion nennt oder ob er diesen Namen inzwischen wieder abgelegt hat."


    Timo lächelte. "Er trägt ihn noch und das mit Stolz. Inzwischen hat er bei der Baronin vorgesprochen und sich die Zähne verdient."


    Garlyns Augen wurden groß. "Wirklich? Du weißt, was aus ihm geworden ist? Geht es ihm gut? Vielleicht hat er inzwischen einen eigenen Ohnezahn, den er führt und heranzieht. Erzähl!"


    Timo lachte leise und schüttelte den Kopf. "Das sollte er lieber selbst tun. Ich kann dir aber so viel offenbaren, dass dein Engagement nicht vergebens war. Momentan ist Robere auf einer längeren Schiffsreise, aber er wird anschließend nach Souvagne zurückkehren. Er befindet sich im Gefolge von Prince Ciel, er ist der zweite Mann von Unité B der großherzoglichen Leibgarde. Diese Informationen sollten dir genügen, um ihn zu finden. Dann kann er dir selbst seinen Werdegang erzählen, ich möchte schließlich nicht eurem Wiedersehensgespräch vorgreifen. Solltest du ihn partout nicht finden, können dir sicher auch die anderen Beißer weiterhelfen. Wo wohnst du in Drakenstein?"


    Garlyn lachte und winkte ab. "Mein Versteck hier behalte ich für mich. Es genügt, wenn du weißt, wo du mich dienstlich findest. Sonst bin ich zwar nicht so eigenbrödlerisch, aber du hast mir auch nie deine Adresse verraten."


    Timo erhob sich. Er strich seinen Mantel glatt. "Diese Entscheidung akzeptiere ich natürlich. Nun denn, meine Zeit ist knapp bemessen, ich muss fort. Es war mir ein Vergnügen. Ich hoffe, wir sehen uns in nicht allzu ferner Zukunft einmal wieder. Jetzt, wo ich weiß, wie ich dich unkompliziert kontaktieren kann, sobald das Söldnerlager wieder in Betrieb ist, werde ich dich bei Gelegenheit auf ein gutes Essen einladen. Ich bin regelmäßig in Obenza, dann haben wir sicher Zeit für ein längeres Gespräch." Er tippte vornehm an seinen Hut. "Gehab dich wohl, Meqdarhan."


    "Ja, tschüss auch, Timo."


    Garlyn sah dem anderen Beißer nach. Er hatte völlig vergessen zu fragen, was er überhaupt hier in Drakenstein trieb, aber vermutlich war es irgendetwas furchtbar Langweiliges. Schließlich war der Kerl Buchhalter. Garlyn stand ebenfalls auf, streckte sich und machte sich auf den Heimweg.


    Er bemerkte nicht, dass Timo nur auf diese Gelegenheit gewartet hatte und ihm in großzügigem Abstand folgte.