Kapitel 09 - Der Wyrmgrund

  • Der Wyrmgrund

    Der kurze Moment des Sonnenlichts verging so schnell, wie er gekommen war, doch noch immer rotierten die Wolken um die Stelle, an der sie sich kurz geöffnet hatten. Vorsichtshalber hatte Ditzlin seinen Gefangenen bewusstlos geschlagen, um weiteren magischen Attacken zuvorzukommen. Langsam öffnete Irving die Augen. Tief unter seinen baumelnden Stiefeln zog eine Gebirgskette dahin. Gerade überquerten sie im Flug vier markante Gipfel. Dahinter eröffnete sich überraschend ein weites Tal, das bis zum Meeresufer reichte.


    Und dort lag der Wyrmgrund, der Ort, an dem Wigberg sich niedergelassen hatte. Was er sah, enttäuschte Irving fast. Das Konzept von Stolz schien Wigberg nicht zu kennen, zumindest strahlte ihre Architektur das Gegenteil aus. Die merkwürdig flache und kuppelartige Festung presste sich im Zentrum des Grundes nieder wie eine Schildkröte. Unterwürfig oder lauernd? Es war schwer zu sagen, doch Irving mochte diese Bauwerke nicht. Ob das Haus Wigberg seine wenig repräsentative Burg - den Wyrmstein - nach ihrem Wappentier benannt hatte, oder ob der Wyrm Einzug in ihr Wappen gehalten hatte, weil der Ort Wyrmgrund hieß, war Irving nicht bekannt. Das Anwesen unterschied sich völlig von den Burgen der anderen Häuser.


    Ditzlin ließ seine Taudisschwinge in den Sinkflug übergehen. In langsamen, großen Kreisen senkten sie sich hinab und Irving erkannte weitere Details. Auf schwarzen Bannern wehte der grüne Wyrm, mit einer verlockend roten Rebe in den einzigen beiden Klauen. Verlockend war hier nichts! Flechten und Moos bedeckten das uralte Gestein von Burg und Häusern. Niemand schien sich die Mühe zu machen, es zu entfernen, es machte sogar den Anschein, als würde man sie bewusst kultivieren. Je tiefer sie sanken, umso mehr wurde Irving die tatsächliche Größe der Anlage bewusst. Sie war flach, aber in ihrem Umfang gewaltig. Was die schiere Grundfläche betraf, brauchte der Wyrmstein sich nicht hinter den Anwesen anderer großer Häuser zu verstecken.


    Ein letztes Mal hob Irving den Blick, um die Weite zu genießen, bevor man ihn zweifelsohne erneut einsperren würde. Hinter der mächtigen Panzerkuppe mit ihren schrägen Wänden und dreieckigen Fenstern rauschte die graue, trostlose See. Eine Hafenanlage mit großen Schiffen ließ erahnen, dass Wigberg keineswegs nur Fischfang betrieb. Das Meer ... wie wunderschön. Irving fragte sich, welches der Schiffe Thabit gehörte, den er sich für seine Trophäensammlung auserkoren hatte. Er wusste, dass Thabit zur See fuhr.


    Landwirtschaft konnte Irving keine entdecken, da Wigbergs Boden völlig unfruchtbar war, wie man sagte, schon früh magisch vollständig ausgebrannt. Doch es gab wohl einiges an Bergbau und verarbeitender Industrie, zumindest qualmte und stank es. Noch nie hatte Irving von einer abstoßenderen Festung gehört, sie erinnerte ihn an ein Furunkel und der gesamte Wyrmgrund an eine Krankheit, die Asa Karane befallen hatte, und sich hartnäckig festsetzte und langsam in alle Richtungen kroch.


    Der Schutz zu Land wirkte, von der Festung selbst abgesehen, lächerlich. Eine schmächtige Wallanlage zog sich als dünner Ring mit dem Wyrmgrund als Zentrum um die umliegenden Häuser. Es schien, sie sei nur dazu gemacht, Tieren und die Wesenheiten der Wildnis den Zutritt zu verwehren, als einen menschlichen Angriff abzuhalten. Ein so kleiner Wall vermochte keine Truppen eines anderen Hauses aufzuhalten. Die Verteidigung von Wigberg musste anders gestaltet sein ... doch wie? Irving hielt Ausschau nach weiteren Wehranlagen, fand aber nur den überdachten Wehrgang und einige kleine Türme. Wigberg hätte nicht bis heute überlebt, wenn das alles war, was sie zu bieten hatten. Dieses Mäuerchen war fast schon Hohn, eine Herausforderung, es doch zu versuchen. Die wahre Verteidigung musste für das Auge unsichtbar sein ...


    Wenig später hatte Festung Wyrmstein den Sohn von Kaltenburg verschluckt.

  • Irvings Geist leerte sich, als würde man ein Gefäß ausgießen. All das kaum kontrollierbare Chaos verließ ihn. Er versuchte, magisch seine Umgebung abzutasten, doch es war, als sei er magisch erblindet, ja, als hätte er nie magische Kräfte besessen. Etwas schnitt ihn von einem Teil seiner Wahrnehmung ab, etwas ...


    ... etwas ...


    S t i l l e


    Irving hörte auf zu kämpfen. Angenehme Wärme umfing ihn, drang vom Boden in seine klammen Füße. Nach Dufthölzern riechende warme Luft drang in seine Atemwege. Seine Wangen röteten sich sanft. Die kleinen Fenster der Feste lagen weit oben und der Rest des Raumes eingesenkt in den Boden. Die Feste war nicht nur ein Buckel. Sie kroch tief hinab in den Schoß der Insel. Die Wände waren vollständig gefliest mit Platten aus goldenem Metall, das mit Ätzungen schöne Muster bildete. Und Irving roch den seltenen Duft von echtem Feuer ... nicht von alchemistischem. Die Öfen von Wyrmstein heizten die gesamte Anlage und Irving fragte sich, woher sie das Holz dafür nahmen.


    Ditzlin lächelte, als er mit der Hand über die golden schimmernde Wand strich.


    "Willkommen in Festung Wyrmstein. Dem Ort, an dessen Wänden alle magischen Kräfte sich brechen. Du findest hier die einzige Region auf ganz Asa Karane, die völlig frei von Magie ist und auch nicht gewaltsam magisch durchdrungen werden kann. Komm."


    Irving nickte müde, doch er begriff nicht, warum das so war. Nach dem kurzen Anfall des Schwindels fühlte er sich auf einmal ... frei. Seine Magie war sonst wild, wie eine um sich schlagende Krankheit in seinem Geist - und sie war fort. Es war, als sei diese Krankheit geheilt und das erste Mal in seinem Leben konnte Irving klar denken. Nie hatte er sich so gesund gefühlt, nie so klar. Er war nicht verrückt, seine Magie war es! Irving selbst aber war gesund!


    Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie froh er war, als er Ditzlin tiefer in den Schoß der unterirdischen Feste begleitete.