Zwei Sentiragenten im Einsatz
14.2.178 n.d.A.
Treffen in Obenza
Zico war pünktlich, wie ein Blick auf die Turmuhr verriet. Jetzt fehlte nur noch der Einsatzleiter. Er schlug den Kragen seines schweren Mantels hoch und genehmigte sich einen Schluck Kaffee. Tau hatte sich auf den Fensterscheiben gebildet. Um die Gaslaternen tanzten Motten. Hinter ihm lag, schwarz und schlafend, das Einsatzschiff.
Zicos Atem verwandelte sich in Dampf, während er langsam vor dem Hangar auf und ab ging. Die regennassen Straßen spiegelten die Lichter von Obenza. Sein glatter Greifschwanz wand sich, ein sichtbares Zeichen seiner Anspannung. Es war selten, dass man gleich zwei Sentir schickte, und diesmal waren es nicht Mentor und Schüler, wie zu solchen Gelegenheiten üblich, sondern zwei erfahrene Agenten von beträchtlichem Rang und Namen. Der Auftrag musste es in sich haben, wenn man zu dieser Maßnahme griff.
Sein Greifschwanz erstarrte, als sein achter Sinn Alarm schlug. Etwas unsagbar Machtvolles erhob sich in der Luft wie ein aufziehendes Unwetter. Der andere Sentir war nirgends zu hören oder zu sehen, aber Zico spürte dessen Präsenz überdeutlich. Sie fühlte sich vertraut an. Konnte das...?
Als er die Augen schloss, versank seine Umgebung für ihn nicht im Dunkel. Stattdessen änderte sich die Ansicht. Was er nun sah, waren die Informationen, die ihm der elektrische Sinn lieferte, der vom großen Denker des Taudis, Kadir Kametinka, als achter Sinn definiert worden war: Die Stadt lag jetzt als graue Kulisse ohne jedwede Details vor ihm. Aber da, wo sich Energie konzentrierte - dort, wo Leben herrschte - glommen strahlende Lichter. Alles Leben erzeugte Elektrizität. Ratten glitten wie weiße Kometen das Dunkel des Rinnsteins entlang. Motten schwirrten wie Glühwürmchen um schwarze Gaslaternen. Eine Gruppe von Personen ging wie eine weiße Geisterarme in Richtung Unterstadt. Aus einer Seitenstraße aber quoll eine flimmernde Springflut durch die Gassen. Sie strömte durch die Straßen, lange bevor ihre Quelle für das Auge ersichtlich wurde. Zico öffnete die Lider und blickte dorthin, wo er den Neuankömmling erwartete.
Geraume Zeit später bog die muskulöse Gestalt von Darius um die Ecke. Der alte Ausbilder trat an seinen ehemaligen Welpen heran. Minimale Falten gruben sich in seine Mundwinkel: Ein strahlendes Lächeln für jene, die das graue, grobe Gesicht des Sentir lesen konnten. Die Glatze trug ihr Übriges zu dem einschüchternden Anblick bei.
«Morgen», brummte Darius mit seinem heiseren Bass.
«Morgen«, antwortete Zico mit hellerer, klarerer Stimme, mit der er Sänger werden könnte. Während er einen Schluck Kaffe nahm, betrachtete den anderen über den Rand seines Bechers. Sein Sinn hatte ihn nicht getäuscht: Ihm wurde die Ehre zuteil, mit seinem alten Ausbilder zusammenzuarbeiten. Normalerweise vermieden ihre Auftraggeber solche Konstellationen, um die Bindung fertig ausgebildeter Agenten nicht zu eng werden zu lassen. Dass Zico heute wieder unter der Verantwortung von Darius arbeiten sollte, zeigte, welches Vertrauen man in seine Fähigkeiten setzte. Man erwartete ein Höchstmaß an Professionalität trotz der gemeinsamen Vorgeschichte. Zico hatte nicht vor, dieses Vertrauen zu enttäuschen.
Und dennoch spürte er Freude. Man sah sie ihm nicht an, als er den Becher senkte, doch Darius, der ihn besser kannte, als jeder andere, würde sie an seiner Stimme hören. Zico besaß, wie alle Sentir, die steinerne Mimik eines Türstehers. Die Modulation seiner Worte bildete den Ersatz: Zico lächelte mit dem Klang seiner Stimme.
»Bleiben wir heute wirklich zu zweit oder kommen die anderen zu spät?», fragte Zico. «Ich habe von meinem Benutzer keine Details zu dem heutigen Einsatz erfahren. Er meinte, dass du mir eine Einweisung geben würdest.«
Darius schaute auf Zico herab, da er über zwei Meter groß war. Zico hingegen war nicht größer als ein durchschnittlicher Mann. Der ältere Agent zog eine Packung Rauchstangen aus dem Mantel und klemmte sich eine Fluppe zwischen die grauen Lippen, ehe er auch Zico eine anbot. Der nahm sie mit Nicken zum Dank an. Darius gab ihnen beiden Feuer.
«Wir sind allein», sagte er, wobei die Rauchstange auf und ab wippte.
Misstrauen überschattete Zicos Freude. Wann immer etwas zu seinen Gunsten entschieden wurde, rechnete er mit einer Falle. Sein Benutzer ahnte sicher, dass er gern wieder mit seinem alten Ausbilder zusammengearbeitet hätte. Das war gefährlich. «Was ist unser Auftrag?», fragte er.
Darius wechselte zur mentalen Kommunikation. Alle Informationen, die nun folgten, waren für niemanden hörbar, der nicht über ihre Sinne verfügte. ‹Wir haben uns in Naridien nach einem der unseren umzuschauen. Sichern oder exekutieren, das übliche Spiel. Schauen wir uns den Unsympathen mal an. Bereit? Auf dem Rückweg haben wir noch ein Päckchen abzuholen.›
‹Naridien, aha. Dann werden wir eine Weile unterwegs sein. Ich habe Proviant dabei, Früchtekuchen, schön süß. Er reicht für zwei. Wir müssen unterwegs also nichts kaufen.›
Darius quittierte es mit einem kaum sichtbaren Schmunzeln. ‹Dein Früchtekuchen klingt nach einer logischen, effektiven Energieversorgung. Vor allem ist er preiswert. Sparst du noch immer auf dein großes Geheimnis?›
Zico nahm einen Zug und blies den Rauch hinauf in den Nachthimmel, wo er im dem Licht der Gaslaterne wie Nebel davon waberte. ‹Muss ich sonst noch etwas über die Zielperson wissen?›, fragte er, ohne auf die Frage einzugehen.
Darius schenkte ihm einen langen Blick aus seinen braunen Augen. ‹Der entlaufene Sklave ist eine Sie, das musst du über ihn wissen. Das Oberhaupt möchte sie gesichert wissen. Das Übliche: Ob sie überlebt, ist irrelevant. Für mich sind Frauen mit Gabe verschwendetes Potential. Wichtig ist, dass sie keinem anderen in die Hände fällt, der Konkurrenz zu uns aufziehen könnte. Noch wichtiger aber ist das Päckchen. Wir holen es in einem Hotel ab. Weiteres später›, übermittelte Darius. Der Hüne schnipste die Rauchstange weg, drehte sich auf dem Absatz um und betrat das schlafende Luftschiff.
Zico löschte seine Rauchstange, indem er die Glut an seiner Stiefelsohle abstrich. Die übrige Hälfte steckte er für später in seine Manteltasche. Den leeren Pappbecher warf er in den Rinnstein, als er Darius folgte.