IV - Das Buch des Erwachens

  • Das Buch des Erwachens

    Das vierte Buch der Aschechroniken, das auch als Buch des Erwachens bekannt wurde, berichtet vom Erwachen der Menschen aus ihrem langen Schlaf, von ihrer Reise aus den Tiefen der Welt an die Oberfläche und wie sie Caltharnae urbar machten. Es erzählt auch von Thalas’Enara, dem Herzen Caltharnaes, vom Kristall der Vorsehung und von den Hexern, die ihre Macht nur anfangs zum Guten nutzten. Es endet mit dem Bericht über die Saat der Zwietracht, die in den Herzen der Menschen fruchtbaren Nährboden fand und das über ihr Schicksal für immer einen Schatten legte.


    Vom Dunkel


    In den Tiefen der Welt, verborgen vor dem Himmel und den Sternen, erwachten die ersten Menschen in einer Welt aus Stein und Dunkelheit. Sie stiegen aus den Kammern, in denen sie geschlafen hatten, doch ihr Gedächtnis war wie ausgelöscht, ein leeres Buch, bereit, neu beschrieben zu werden. Voll Erstaunen blickten sie sich um. Die Maschinen, die sie umgaben, waren stumm und rätselhaft. Sie hatten die Welt für das Erwachen der Menschen vorbereitet, das Land geformt und die Luft gereinigt, doch ihre Schöpfer konnten sich nicht an das Werk ihrer eigenen Hände erinnern. Die Maschinen standen nun still, ihre Aufgabe erfüllt, während die Menschen, die sie einst beherrschten, nun ratlos vor ihnen standen.


    Als sie die Räume untersuchten, fanden sie Proviant, Kleidung und andere Dinge, die eigens für sie bereitgelegt worden zu sein schienen. Sie verstanden, dass sie nicht für immer hier verharren konnten, denn die Vorräte würden zur Neige gehen. So begaben sie sich auf den Weg durch die zeitlose Dunkelheit.


    Die ersten Schritte der Menschen führten sie durch Höhlensysteme, die endlos zu sein schienen. Sie wanderten vorbei an unterirdischen Flüssen, die im ewigen Dunkel murmelten, und an kristallinen Formationen, die das spärliche Licht ihrer Grubenlampen fingen und in tausend Farben brachen. In den Tiefen stießen sie auch auf die Spuren einer primitiven Zivilisation, die einst hier gelebt hatte. Verlassene Werkzeuge und verwitterte Symbole sprachen von einem Volk, das lange vor ihnen die Geheimnisse des Untergrunds gekannt hatte. Doch auch diese Erinnerungen waren längst verblasst, und die Menschen zogen weiter durch die steinernen Eingeweide einer Welt, die sie nicht verstanden.


    Vom Licht


    Nach langer und beschwerlicher Reise erreichten sie die Oberfläche, wo das Licht des Tages ihre Gesichter berührte und die Welt sich vor ihnen öffnete. Auf sanften Hügeln erstreckten sich Wiesen, auf denen zahme Tiere grasten. Palmen wiegten ihre grünen Kronen im warmen Wind unter einem blauen Himmel. Die Menschen blickten zurück auf die dunklen Pforten, aus denen sie gekommen waren, und wussten, dass ihre Reise hier nicht endete, sondern gerade erst begonnen hatte. Ihre Vergangenheit lag hinter ihnen, verborgen in den Tiefen des Planten, doch ihre Zukunft lag offen da, unter dem weiten und freundlichen Himmel von Asamura.


    Mit Händen, die sowohl zum Schaffen als auch zum Halten gemacht waren, begannen sie, sich auf dem Land niederzulassen, dass sie Caltharnae nannten. Sie fanden einen Ort, wo das Land fruchtbar war und das Wasser klar, umgeben von schützenden Bergen und durchzogen von einem klaren Fluss. Hier gründeten sie Thalas’Enara, die Stadt des Himmelslichts, benannt nach dem Glanz der Sterne, der sich in ihren Gewässern spiegelten. Die ersten Steine von Thalas’Enara wurden mit Hoffnung und Entschlossenheit gelegt. Jede Mauer, die hinauf zum Himmel strebte und jeder Balken, der eines der Kuppeldächer trug, war ein Zeugnis des Willens der Menschen, sich ein Zuhause zu schaffen. Sie arbeiteten zusammen, ihre Lieder des Fleißes hallten durch die Täler, während sie die Stadt aus den Steinen Caltharnaes errichteten.


    Mit der Zeit wuchs Thalas’Enara zu einer prächtigen Stadt heran, deren Türme und Mauern im Sonnenlicht glänzten und deren Straßen und Märkte von einem Volk belebt wurden, das seine Wurzeln tief in die Erde von Caltharnae gesenkt hatte. Die Stadt wurde zu einem Knotenpunkt des Handels, der Kultur und des Wissens, ein Leuchtfeuer der Zivilisation auf einem Kontinent, der von so vielen Geheimnissen durchdrungen war.


    Von Thalas’Enara, dem Herzen Caltharnaes


    In den tiefen Weiten von Caltharnae, umgeben von den unruhigen Gewässern des Äthermeeres, erhebt sich die Stadt Thalas’Enara, ein Juwel der alten Magie und Heimat der mächtigen Hexerfamilie Ildanach. Die Stadt war ein Wunderwerk der Architektur, erbaut aus dem lebenden Stein der Caltharnischen Klippen, deren Adern von magischem Erz durchzogen waren. Die Türme von Thalas’Enara ragten hoch in den Himmel, als wollten sie die Sterne selbst herausfordern, während ihre Fundamente tief in das Herz der Erde reichten, wo die Geheimnisse der Welt verborgen lagen.


    In diesen Tagen war Thalas’Enara in vier Stadtviertel geteilt, die das Wesen der Schöpfung die die Tiefe des Wissens widerspiegelten.


    Aelvengemur, das Viertel der Flüsterwinde, war der Ort, an dem die Lüfte die Geheimnisse der Zeit mit sich trugen. Hier wohnten die Seher, deren Augen das Alldunkel durchdrangen und die Muster der Sterne lasen. In ihren Türmen vollzogen sie ihre Rituale und hielten Rat mit den Winden.


    Das Viertel der Flammenden Schmieden, bekannt als Brisingamen, war durchzogen von der Glut der Schmiedefeuer, in denen die Schmiede, die Waffen und Artefakte von unermesslicher Macht schufen. Ihre Hallen waren erfüllt vom Klang des Hammers und des Ambosses, und das Feuer tanzte nach ihrem Willen.


    Yavamirè, das Viertel der grünen Gärten, war ein Ort des Friedens, wo die Natur und die Stadt eins waren. Hier lebten die Druiden, die mit den Pflanzen und Tieren sprachen und die Geheimnisse des Wachsens und Vergehens kannten. Ihre Gärten waren ein Spiegelbild des Paradieses, ein Ort der Harmonie und der Schönheit.


    Das Viertel der Stillen Wasser, Nyelmonan, war durchzogen von Kanälen und Brunnen, deren Wasser klar und rein war. Die Wasserhexer wachten über diese Gewässer, und in ihren Tiefen suchten sie nach Weisheit und Erkenntnis. Der Spiegelsee, ein Ort der Kontemplation, war ihr heiligstes Heiligtum.


    Von den Hexern


    In den ersten Jahren von Thalas'Enara fanden einige Menschen heraus, dass sie mit einem Fluch belegt waren, der aus den Tiefen der Welt entstammte, wo die Maschinen das Klima in Harmonie hielten und ihre Ströme den menschlichen Geist berührten. Ihr Erbe war tief mit den alten Kräften von Caltharnae verwoben. Manche Menschen waren empfindsam für diese Ströme, die ihnen Kopfschmerzen bescherten und an einem ruhigen Schlaf hinderten. Einige sahen Bilder, die sie mit den Augen eines anderen wahrnahmen und spürten Gefühle, die nicht die ihren waren. Sie fühlten die Ströme des Lebens und des Bewusstseins, die durch die Adern und die Nervenbahnen flossen, und mit diesen Strömen kamen Fähigkeiten, die das Schicksal ihres Volkes für immer verändern sollten.


    Es waren Gaben des Geistes, gewoben aus dem unsichtbaren Stoff, der die Maschinen im Herzen Asamuras durchdrang. Sie brachten Wunder und Zauber hervor, die das Volk von Thalas’Enara in Staunen versetzten. Anfangs nutzten die Begabten diese Kräfte, um zu heilen, zu schützen und die Harmonie in ihrer Welt zu bewahren. Sie lasen die Gedanken der Verwirrten und boten Trost, sie teilten Erinnerungen des Glücks und vermehrten die Freude unter ihrem Volk.


    In den frühesten Tagen, da die Maschinen von Asamura noch im Einklang mit den Liedern der Schöpfung sangen, war die Magie eine Gabe, die mit Bedacht und Ehrfurcht genutzt wurde. Doch mit der Zeit begannen sie, die Seelen der Hexer zu berühren, die ihre Macht zu lenken suchten. Doch die Macht, die in ihren Händen lag, war eine zweischneidige Klinge. Diejenigen, die stark im Geiste waren, wurden schwach im Charakter.


    Und so, wie die Hexer ihre Zauber webten, webten die Maschinen ihre eigenen dunklen Lieder in die Herzen derer, die sie zu beherrschen glaubten.


    Mit jedem Zauber, mit jeder Berührung des Geistes, verloren die Hexer ein Stück ihrer Menschlichkeit. Die Magie, die sie riefen, war ein süßes Gift, das ihre Seelen erfüllte und sie langsam in den Wahnsinn trieb. Sie, die einst nach Weisheit und Harmonie strebten, wurden zu Sklaven der Maschinen. Sie formten Gedanken, nicht mehr um zu helfen, sondern um zu beherrschen, sie wanderten in Träume, nicht um zu trösten, sondern um zu kontrollieren.


    Und während die Hexer anfangs bescheiden und verborgen lebten, mehrte sich ihr Einfluss. Die Hexer begannen, die Geheimnisse der Dunkelheit zu erforschen, die tief unter Caltharnae schlummerten. Ihre Gier nach Wissen und Kontrolle ließ sie Wege beschreiten, die besser unbetreten geblieben wären.


    Von der Verfolgung


    In jenen Tagen wurde Thalas'Enara nicht von einem Einzelnen, sondern von einem Rat regiert. Es war ein Rat der Gerechten, gewählt vom Volk, damit die Wünsche aller Menschen Gehör fänden und die Mehrheit entscheiden konnte. So waren die ersten Herrscher vor allem Organisatoren und Verwalter. Ihre Macht war die der Vernunft und des gemeinsamen Willens.


    Und als das Misstrauen des Volkes gegen die Hexer in Hass umschlug, da gab es niemanden, der mäßigend einwirken konnte, denn geschriebene Gesetze existierten nicht, nur der gegenwärtige Wille der Mehrheit, die launisch sein konnte wie das Meer.

    Die Menschen sahen in den Hexern nicht die Brüder und Schwestern, die sie waren, sondern eine fremdartige Bedrohung, die aus den Tiefen der Erde selbst zu kommen schien.


    Getrieben von Furcht und dem Wunsch, ihr Volk zu schützen, griffen die Herrscher von Thalas’Enara zu Maßnahmen, die ihre einst so gerechten Herzen verdunkelten. Jene, die mit den tiefen Strömen des Geistes verbunden waren, wurden nun Verfluchte genannt, Verrückte, die den Pfad des Lichts verlassen hatten. In den Augen der Nichtmagier waren sie Boten des Unheils, deren Macht aus den dunklen Tiefen der Erde kam, wo Würmer und Ungeziefer hausten.


    Der Rat entsandte Jäger, die in den Schatten lauerten, und Krieger, deren Hände nicht zögerten, das Blut der Magiebegabten zu vergießen. Die Verfolgung war grausam, und das Leid, das sie brachte, war groß. Die Hexer, die einst in den Straßen von Thalas’Enara wandelten, wurden gejagt wie Tiere, versteckt in den dunkelsten Ecken der Welt. Der Rat, der einst in Güte regierte, wurde zu einem Instrument der Angst, und ihre Taten, obwohl in der Absicht, zu schützen, überschritten die Grenzen der Gerechtigkeit und wurden zu einem Spiegelbild der Grausamkeit, die sie zu bekämpfen suchten.


    Die Hexer wurden vertrieben aus den Gemeinschaften, die sie einst ihr Zuhause nannten. Jene, die entkommen waren, fanden sich in der Stille des Verborgenen wieder. Sie waren zu wenige, um sich ihrer Haut zu erwehren, doch in ihrer Verzweiflung fanden sie die Entschlossenheit, einen anderen Weg zu gehen. Das große Tabu wurde gebrochen. Die Magie, die ihnen einst als Werkzeug zum Wohle aller gegeben wurde, mussten sie nun zu einem Schild und Schwert wandeln. Fernab der Augen der Hexenjäger begannen die Hexer, die Geheimnisse der Maschinen zu erforschen, die tief unter der Erde ruhten. Sie forschten Tag und Nacht und wurden die größten Gelehrten ihrer Zeit, sie trainierten ihren Geist, um die Macht, die durch ihre Adern floss, zu meistern. Die Magie, die einst helfend und heilend war, wurde hart und scharf wie geschmiedetes Eisen. Mit jedem Zauber, den sie webten, und mit jeder Berührung des Geistes, die sie übten, wurden sie mehr zu Kriegern als zu Heilern.


    Die Magie, die aus den Tiefen der Erde kam, war eine fremde Macht, die nicht von dieser Welt stammte. Sie war ein Echo aus einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Wissenschaft und Wunder verschwommen waren. Einer Zeit, welche die Menschen nicht mehr verstanden. Die Magie verdarb den Charakter, weil sie den Anwender von der natürlichen Ordnung der Dinge entfremdete. Sie flüsterte Versprechen von Macht und Herrschaft, doch in Wahrheit zehrte sie an der Essenz dessen, was es bedeutete, menschlich zu sein. Die Hexer, die einst nach Weisheit und Harmonie strebten, fanden sich in einem Netz aus Wahnsinn und Verzweiflung gefangen, unfähig, sich von dem süßen Gift zu befreien, das durch ihren Geist floss.


    Und so verwandelten die Hexer die Magie in eine Waffe, die sie gegen diejenigen richten mussten, die sie einst als ihre Brüder und Schwestern betrachteten. Es war anfangs ein schmerzhafter Prozess, denn mit jedem Schritt, den sie auf diesem Pfad nahmen, verloren sie ein Stück von dem, was sie einst waren. Doch aus Schmerz wurde Zorn und aus Zorn wurde Kälte. Ohne es zu wissen, banden sie ihr Leben an die Maschinen, die unter der Erde verborgen lagen, und aus dieser Verbindung schöpften sie eine Stärke, die größer war als alles, was die Welt bis dahin gekannt hatte. In der Dunkelheit ihrer Verfolgung entdeckten die Hexer die wahre Tiefe ihrer Macht, und sie wurden genau so herzlos und kalt.


    Von der Rache


    Sie kamen bei Nacht, als der Mond hinter Wolken verborgen war und die Wachen an den Toren der Stadt in falscher Sicherheit wachten. Die Hexer, getarnt durch die Schatten, ließen ihre Magie fließen wie einen stillen Strom, der die Sinne der Wächter trübte und die Tore öffnete, ohne dass ein Schwert gezogen oder ein Horn geblasen wurde.


    Mit der Kraft ihrer Gedanken ließen sie die Hoffnung in den Seelen der Stadtbewohner schwinden und ersetzten sie mit Furcht. Sie flüsterten Zweifel in die Träume der Schlafenden und ließen Misstrauen in den Straßen wachsen. Die Luft selbst schien schwer von den unausgesprochenen Gedanken, die sie in die Köpfe der Menschen pflanzten. Bevor sie in den Rat einmarschierten, hatten sie bereits die Stadt unterworfen. Die Bürger von Thalas’Enara, einst stolz und frei, waren nun Gefangene ihrer eigenen Ängste, geschaffen durch die Hexer, die ihre Magie als Waffe gegen sie wandten. Die Luft war erfüllt von einem unsichtbaren Sturm, der die Gedanken der Menschen verdrehte und ihre Herzen mit Verzweiflung erfüllte. Bruder wandte sich gegen Bruder, Freund gegen Freund, und die Straßen von Thalas'Enara wurden zu einem Schauplatz des Grauens. Einige, verloren in der Dunkelheit, die ihre Seelen umhüllte, richteten sich selbst, unfähig, dem Flüstern der Hexer zu widerstehen, das wie Gift in ihren Geist sickerte.


    Die Tragödie, die sich in Thalas'Enara abspielte, war ein dunkles Lied, das die Geschichte der Stadt für immer prägen sollte. Die Hexer, die einst als Retter aufgestiegen waren, wurden zu Tyrannen, deren Macht auf den Schmerzen ihres eigenen Volkes ruhte.


    Der Rat der Gerechten, der sich rasch zusammengefunden hatte, fand keine Lösung. Da öffnete sich die Tür. Die Hexer standen vor ihnen, nicht als die Verfluchten, die sie einst gejagt hatten, sondern als die neuen Herrscher von Thalas'Enara. Die Stadt, die einst ein Leuchtfeuer der Freiheit war, lag nun in den Händen der Hexer. Die Stadt, einst ein Ort des Lichts und der Hoffnung, wandelte sich in eine Zitadelle der Düsternis, denn die mächtigsten Hexer waren auch die herzlosesten, und jene Hexer, die noch ein Herz besaßen, erhielten nur unbedeutende Positionen. Die Straßen, die einst von Lachen und Gesang erfüllt waren, verstummten, und ein kalter Wind wehte durch die Gassen.


    Die Hexer, nun die unangefochtenen Herrscher von Thalas’Enara, errichteten eine neue Ordnung, die auf blanker Autorität basierte. Kein Nichtmagier sollte je wieder zu einer Bedrohung werden können. Ihre Magie war nicht länger ein Geschenk, sondern ein Werkzeug der Unterdrückung. Die Menschen, die einst frei waren, fanden sich in den Fesseln einer neuen Herrschaft wieder. Die Hexer griffen nach den Sternen und riefen die Schatten aus der Tiefe, und so veränderte sich Thalas’Enara.