Beiträge von Sodo Mio



    Zu der Zeit, als ich in Rakshanistan unterwegs war, konnte ich das Verhalten der Trolle beobachten. Ausgerechnet ein Ork wurde zum Spielball eines hinterhältigen Überfalls. Er trug sich während meiner Reise von Drakenstein nach Tamarant zu - mitten in der Wildnis der Tamjara.


    Der Sucher

    Wie ein Ork zum Spielball eines hinterhältigen Überfalls wurde


    Ich drückte mich zwischen die Felsen, als der Wind mir den unverwechselbaren Geruch von Trollen in die Nase trieb. Sie rochen nach Pfeffer, scharf und ein bisschen muffig. Kurz darauf kamen sie in Sicht, eine sogenannte Kette, eine Gruppe auf Wanderschaft. Ihre Haut und die Mähne hatten sie zum Schutz vor der Sonne mit weißer Asche eingerieben. Die schwarzen Punkte, die sie mit den Fingern darauf getupft hatten, verriet, dass sie dem Stamm der Sandpanther angehörten. Das wusste ich, weil es der Stamm meines Freundes und Söldnerkameraden Cherax war.


    Zwei Sammler führten ein Wesen mit sich. Die unregelmäßig verteilte Asche auf seiner Haut wirkte, als sei es unfreiwillig damit eingerieben worden. Stammespunkte trug es jedoch nicht. Es sah ihnen ähnlich, aber besaß weder Stoßzähne noch die typische Haarmähne der Trolle, die den halben Rücken hinab wuchs. Es ist mir unangenehm, davon zu berichten, doch es handelte sich um einen männlichen Ork. Darum blieb ich, um zu beobachten, was geschehen würde, auch wenn mich das Leben der Trolle nichts anging.


    Sie gingen sorgsam mit ihm um: Er war ihr Sucher. Er witterte und spürte die Knollen und Wurzeln im Sand auf, die sie sonst nicht finden würden. Ohne ihn hätten sie ihre Zeit und Kraft damit vergeudet, ziellos durch den endlosen Sand zu streifen um nach Nahrung und Wasser zu suchen. Ich wusste von mehreren Orks, die aufgrund ihrer guten Nase versklavt wurden, und der Anblick erfüllte mich mit einer wiedersprüchlichen Mischung aus Gehässigkeit und Scham.


    Der Anführer der Trolle blieb stehen. Etwas war nicht in Ordnung. Er stieß ein Wort aus und die Kette stoppte. Alle warfen sich hinter Felsen oder dorniges Gestrüpp, um sich mit der Landschaft zu tarnen, einschließlich des Orks. Aber die Staubwolke über ihren Köpfen hing wie eine Fahne in der heißen Luft und senkte sich nur langsam. Die Eindringlinge hatten sie bemerkt und die Tarnung war zwecklos. Als die zweite Gruppe von Trollen näher kamen, sprangen die Krieger aus ihren Verstecken und warfen sich auf die Eindringlinge. Die Sammler und ihre kostbare Ladung blieben im Hintergrund. Ein blutiger Kampf entbrannte, aber der Anführer der Sandpanther hielt sich zurück. Er war zu wertvoll, um sein Leben zu riskieren. Seine Krieger kämpften weiter, obwohl sie in der Minderheit waren. Als sie ihre Speere nicht mehr halten konnten, schlugen, würgten, kratzten und bissen sie, während sie zu einem wehrlosen Knäuel zusammengedrückt wurden. Der Anführer war der letzte Krieger, der fiel.


    Nach den verteidigenden Kriegern machten die Eindringlinge auch kurzen Prozess mit den Sammlern. Bald war von der ursprünglichen Kette nichts mehr übrig, außer dem Sucher, der das Blutbad gleichgültig hinnahm.


    Der Anführer der Eindringlinge wandte sich an den Ork. Unter großen Schwierigkeiten wechselten sie ein paar Worte. Schließlich willigte der Sucher ein, sie zum Dorf seiner Herren zu bringen. Er war schließlich ein Sucher und es war ihm egal, wem er diente. Der Anführer der Eindringlinge schickte zwei Krieger zurück in seine Heimat, um Sammler zu holen. Es gab viel Beute und Krieger schleppen nicht. Ein Drittel seiner Männer ließ er außerdem zurück, um die Knollen und Wurzeln der Besiegten zu bewachen. Daneben wälzten sich einige seiner Gefährten blutüberströmt im Sand. Keiner der Trolle, die sich in Richtung Heimat aufmachten, trug einen Verwundeten mit sich. Wie gesagt: Krieger schleppen nicht.


    Den Rest führte er mithilfe des Suchers zu einem Überfall. Sie kamen nur langsam voran, da Orks sich in der Hitze nicht so schnell bewegen können, so dass es mir nicht schwer fiel, ihnen zu folgen. Sie bewegten sich am felsigen Kamm eines Gebirgszuges entlang. In der flirrenden Mittagshitze erschien am Horizont das erste Zelt. Es stand im schützenden Schatten einer großen Höhle, dahinter standen weitere. Der Platz war gut gewählt, kühl und gut zu verteidigen, das erkannte auch der Anführer der Eindringlinge. Es gab nur einen Zugang. Nachdem er seine Krieger versteckt und sich so nah wie möglich herangepirscht hatte, lugte er vorsichtig über einen Felsen. Die Siedlung der Sandpanther war gut bewacht , wie die meisten Trollsiedlungen. Es würde schwierig werden.


    Leise ging er zurück zu seinen Kriegern und dem gefangenen Sucher. Mit viel Mühe und den wenigen Worten, die er mit dem Ork gemeinsam hatte, gab er ihm seine Anweisungen. Dabei klang er freundlich. Der Ork wirkte verwirrt. Schließlich schien er zu verstehen und machte sich auf den Weg zu seinem Heim.


    Die Wächter der Sandpanther richteten sich auf, als sie den einsamen Sucher den staubigen Abhang hinaufklettern sahen. Ich kam nah genug heran, um ihre Worte zu verstehen. Sie fragten ihn, was er dort machte und warum er mit seiner wertvollen Nase allein in der Wüste herumlief. Der Ork berichtete pflichtgemäß, dass die Kette nicht weit von hier überfallen worden war. Als sie ihn nach mehr Details fragten, wirkte er zunehmend überfordert. Je mehr Fragen die Wächter ihm stellten, desto unsicherer wurde er. Seine fremdsprachlichen Fähigkeiten waren kaum vorhanden und der Druck wurde ihm zu viel. Er schlug die Arme über den Kopf und sank auf den Boden.


    Bei dem Anblick verzog ich gequält das Gesicht. Es war schwer zu verstehen, was in dem Ork vorging. Die Wächter verstanden es auch nicht. Das Einzige, was sie aus ihm herausbekommen hatten, war, dass eine ihrer Ketten angegriffen worden war. Sie riefen die Krieger der Siedlung, bildeten einen Kampftrupp und rannten in die Richtung, die der Sucher ihnen genannt hatte.


    Kaum waren sie weg, führte der Anführer der Angreifer seine Krieger aus der anderen Richtung in die Siedlung hinein. Er hob den am Boden liegenden Sucher auf und schüttelte ihn durch, bis er bereit war, sie in die Höhle zu führen, in der die Zelte standen. Auch ich bahnte mir lautlos meinen Weg.


    Hinter dem Eingang waren noch ein paar zurückgelassene Krieger, aber sie wurden bald zum Schweigen gebracht, und die Eindringlinge drangen rasch weiter vor. Den unglücklichen Sucher vor sich schubsend, gelangten der Anführer und seine Krieger immer tiefer in die Höhle. Ich folgte ihnen in sicherer Entfernung. Die Luft wurde schwerer und stickiger. Der Sucher floh schließlich aus dem Gang in eine Seitenkammer, die von einem staubigen Lichtstrahl erleuchtet wurde, der durch ein Loch in der Außenwand fiel. Seine Besitzer begrüßten ihn, verstummten aber, als hinter ihm fremde Krieger erschienen. Der Tod brach über die Höhle herein. Die Eindringlinge töteten jeden, den sie fanden, ließen aber den wertvollen Sucher in Ruhe. Er war vor Entsetzen zusammengebrochen und würde vorläufig niemandem mehr nützen.


    Die Krieger streiften weiter durch die Höhle. Durch die Löcher in ihrer Decke fielen Säulen aus Licht, in denen Staub schwebte. Die Krieger und Kinder töteten sie sofort. Auch die Alten erfuhren keine Gnade. Diejenigen, die schnell genug waren, um zu fliehen, wurden ignoriert und hasteten an mir vorbei hinaus in die Wüste. Die Eindringlinge waren auf wichtigere Beute aus.


    Normalerweise schickte der Anführer der Eindringlinge nach einem erfolgreichen Überfall Boten in die Heimat zurück, die mit Sammlern zurückkamen, die den eroberten Ort plünderten. Alles gehörte dem Häuptling. Der Anführer hatte jedoch etwas anderes vor. Er schickte diesmal keine Boten in die Heimat und befahl, die Frauen zu verschonen. Das war ungewöhnlich, denn normaler Weise rottete man einen rivalisierenden Stamm aus.


    Der ganze Überfall war ungewöhnlich verlaufen mit einem naiven Ork als Werkzeug, der von den Trollen nichts anderes kannte, als dass sie Wurzeln wollten. Was der Anführer getan hatte, war anders als sonst. Er selbst war anders. Und so, wie er sich in der eroberten Siedlung umsah, ahnte ich, worauf er aus war.

    Trennungshelfer


    Ein wüstes Fluchen riss mich aus dem Schlaf. Rex durchwühlte seine Taschen und verteilte alles auf dem Boden, als er nach dem kleinen Silberrelikt suchte. Als er es nicht fand, zog er sich auch Nias Gepäck heran, um jedes Fach und jede Seitentasche zu kontrollieren. «Nia, du hast mir etwas zu erklären. Wo ist das Relikt, das ich in meiner Hosentasche hatte?»


    Kurzerhand schüttete er ihren Rucksack aus.


    Nia sah ihm verständnislos zu. «Wovon redest du, Rex? Ich weiß nichts von einem Relikt. Und ich habe auch nichts aus deiner Hosentasche genommen.»


    «Lüg mich nicht an», brüllte er. «Relikte lösen sich nicht einfach in Luft auf.»


    «Ist es möglich, dass du es schlichtweg verloren hast?», fragte sie.


    «Hältst du mich für blöd?», schnauzte er. «Meine Hosentaschen sind verschließbar. Ich transportiere ständig Kleinkram darin und nie ist etwas herausgefallen. Du hast mir das Relikt gestohlen!»


    Nia hob abwehrend die Hände. «Du leidest unter Verfolgungswahn, wie immer, wenn du nach einem Tavernenbesuch wieder nüchtern wirst. Ich habe dir nichts gestohlen. Ich liebe dich mehr, als du dir vorstellen kannst.»


    In dem Moment fand Rex das Relikt mitten in ihrem Werkzeug liegen. Na so was aber auch. Triumphierend hielt er die kleine Silberkugel in die Luft. «Das glaube ich dir nicht, Nia», sagte er mit erstickter Stimme. «Du hast mich nie geliebt. Du hast mich nur benutzt, weil du eine schlechte Reliktjägerin bist!»


    «Jetzt hört es aber auf», schrie Nia. Doch nun schien ihr die gefährlich angespannte Körperhaltung von Rex aufzufallen, denn sie wich ein Stück zurück. Einen Reliktjäger, der einen derart anstarrte, sollte man nicht weiter reizen. Leise fügte sie hinzu: «Das ist alles nicht wahr. Ich liebe dich. Ich liebe dich wirklich, Rex. Bitte glaube mir.»


    «Nein, Nia», grollte er und verpasste ihrem Rucksack einen Tritt. «Das glaube ich dir nicht länger. Du hast mich für schnelles Geld verraten, hast mein Vertrauen ausgenutzt. Dafür wirst du bezahlen.»


    Rex griff nach Nias Eisenarmbrust, die schussbereit neben ihrem Schlafplatz lag, zielte auf sie und drückte ab. Es knallte und der Bolzen zischte knapp über Nias Schulter, um gegen den Fels zu prallen. Steinchen spritzten und prallten klimpernd von den Eisenteilen der Rüstungen ab. Nia ließ alles stehen und liegen. Sie rannte, was ihre Beine hergaben, das steinerne Band entlang und dann eilte sie polternd die Eisentreppe hinauf. Rex folgte ihr ein Stück und verschwendete zwei weitere Bolzen, ehe er wutschnaubend zu seinem Lager rückkehrte.


    «Na, wenigstens ist das Relikt wieder aufgetaucht», sagte ich unschuldig.


    «Halt dein Maul», brüllte Rex mich an, «halt einfach dein Maul!» Dann sackte er in sich zusammen und vergrub heulend die Maske in seinem gesunden Arm.


    Die beiden Reliktjäger, die mit uns am Tisch gesessen hatten, lagerten auf meiner anderen Seite. Unweigerlich hatten sie den Streit mitbekommen. Sie packten guter Dinge ihre Sachen. Sie stiegen ebenfalls die Eisentreppe hinauf, ohne ihre gute Laune auch nur im Mindesten zu verschleiern. Es fehlte nur, dass sie ein Liedchen pfiffen. Die beiden erinnerten mich an zwei Aasfresser. Rex ließ sie ziehen, so wie er auch Nia hatte ziehen lassen. Er würdigte sie keines Blickes und sagte nichts. Noch immer wurde er von einem heftigen Gefühlsausbruch durchgeschüttelt. Ich ließ ihn in Ruhe und rauchte. Als er wieder vernünftig atmen konnte, reichte ich ihm auch eine Rauchstange.


    «Danke, Sodo», sagte er erstickt. «Du bist ein wahrer Freund.»


    «Keine Ursache, Rexi. Dafür sind Freunde da.» Er würde nie verstehen, wie ich diesen Satz meinte.


    Gemeinsam rauchten wir und starrten in den Abgrund vor unseren Füßen.


    Ende


    Zurück im Riss


    Immerhin fiel Rex nun auf, dass ich keinen Platz mehr am Tisch hatte, rückte etwas zur Seite und winkte mich dazu. Jetzt saßen wir zu fünft um das winzige Möbelstück.


    «Wieso nennt der Kerl dich eigentlich Rexi?», fragte Nia leise.


    Aber Rex lachte nur und griff nach seinem Schnaps. Nia starrte ihn noch eine Weile fordernd an, um eine Antwort zu erzwingen, doch weil er hartnäckig schwieg, widmete sie sich schließlich wieder den anderen beiden. Rex konnte stur sein, das hatte ich auch schon erlebt, doch meistens war er umgänglich. Für ihn hörte der Spaß erst dann auf, wenn er sich verraten und verlassen fühlte, doch ansonsten war er kaum außer Fassung zu bringen. Er beobachtete mit bemerkenswerter Ruhe, wie seine Freundin vor seinen Augen mit den beiden Reliktjägern scherzte. Den zwei Burschen war augenscheinlich schnurz, ob Nias Partner mit am Tisch saß, während sie mit unverhohlenem Interesse ihre Chancen ausloteten. Wie weh Nia dem armen Rex damit tat, bemerkte sie nicht. Vielleicht war es ihr auch schlichtweg egal oder sie quälte ihn mit Absicht, um ihm zu zeigen, dass sie auch einen anderen Reliktjäger haben konnte oder gleich ein Doppelpack. Auch wenn sie eine Frau war, durfte man nicht vergessen, dass sie vor allem eines war: eine Reliktjägerin.


    Nia bemerkte irgendwann, dass Rex sie unentwegt beobachtete, und legte ihre Hand auf seine. «Was ist denn los? Du siehst so nachdenklich aus. Ist etwas nicht in Ordnung?»


    «Ich bin nur ein bisschen müde. Es war ein langer Tag.» Seine starken Schmerzen verschwieg er. Seine Sorgen ebenfalls.


    «Wir haben viel geschafft», pflichtete Nia ihm bei. «Wir können stolz auf uns sein.»


    «Ja, wir ergänzen uns gut.»


    «Das finde ich auch, Rex. Wir sind ein gutes Team. Und so viel mehr als das.» Ihre Finger schlossen sich fester um seine Hand.


    «Ja, das sind wir», wiederholte er so sanft, dass ich unwillkürlich das Gesicht verzog.


    «Du liebst mich, nicht wahr, Rex?», säuselte Nia.


    «Natürlich liebe ich dich. Wie könnte ich dich nicht lieben? Du bist die schönste, die klügste, die mutigste Frau, die ich je getroffen habe. Du bist mein Leben, Nia. Mein Licht in der Dunkelheit und ich werde dich nie verlassen.»


    Mir faulten fast die Ohren weg bei dem Gesülze. Ich schlürfte noch einen Schluck pilzig schmeckendes Taudisbräu.


    «Das ist schön, Rex», sagte Nia erleichtert. «Ich liebe dich mehr, als du dir vorstellen kannst. Du bist mein Fels in der Brandung. Ich wünschte, du würdest deine Zweifel vergessen, mir einfach vertrauen und dich in meine Arme fallen lassen.»


    «Ich zweifle nicht, Nia. Ich glaube es dir doch. Ich glaube es dir wirklich.»


    So schnell konnte sich der Sinn eines Mannes wandeln. Rex legte den gesunden Arm um Nia und kuschelte seufzend den Helm in ihren Federkragen hinein. Die anderen beiden Reliktjäger musterten ihn ungerührt. Vielleicht überlegten sie, wie sie ihn loswerden konnten, aber da er seiner Freundin keine Grenzen aufzeigte und ihnen auch nicht in die Quere kam, würde das wahrscheinlich gar nicht notwendig sein.


    «Dann sei glücklich, Rex», sagte Nia. «Lass uns die Nacht genießen und die Welt vergessen. Lass uns heute nur an uns denken. Komm, Rex. Unser Schlafnest wartet.»


    Nia stand auf und zog Rex mit sich. Hand in Hand gingen sie aus der Taverne. Im Gehen schmusten sie. Augenscheinlich waren sie glücklich. Oder vielleicht auch nicht.


    Die zwei anderen Reliktjäger sahen ihnen nach und starrten dann missmutig auf ihre Getränke. Das war wohl nichts gewesen – zumindest nicht heute.


    «Für mich wird es auch Zeit.» Ich erhob mich, klopfte zum Abschied auf den Tisch und ließ die beiden allein zurück. Ich bezahlte und dann stieg auch ich durch den Spalt zurück nach draußen in die Dunkelheit. Im Restlicht, das nach draußen fiel, entzündete ich meine Sturmlaterne, hängte sie an den Rucksack und machte mich auf den Weg.


    Wenn man der Eisentreppe ein Stück hinauf folgte, kam irgendwann ein breites Band in der Felswand, ein Vorsprung, auf dem man bequem gehen konnte. Er führte zu mehreren Felsnischen, in denen die Reliktjäger schliefen, nachdem sie in der Taverne zu Gast gewesen waren. Auch ich hatte dort mein Nest eingerichtet, so dass ich hören konnte beziehungsweise musste, was Rex und Nia nun trieben. Sie gaben sich hemmungslos ihrer Leidenschaft hin und vergaßen für eine Weile alles andere. Fast wäre mich das schlechte Gewissen überkommen, als ich an das gestohlene Relikt dachte. Aber nur fast. Irgendwann kehrte Ruhe ein und auch mir fielen die Augen zu.

    Unter vier Augen


    Wir gingen ein paar Schritte über den Schotterweg am Grund der Schlucht. Ich reichte ihm eine Rauchstange und zündete sie ihm an. Auch ich selbst gönnte mir eine. Da man Gewicht sparen musste, das Rauchen hier unten ein seltener Luxus.


    «Woher kennst du Nia eigentlich?», wollte ich wissen.


    Er nahm einen langen und tiefen Zug, den er sichtlich genoss, bevor er ihn langsam aus seinen Lungen entweichen ließ. «Wir haben uns bei einer Reliktjagd kennengelernt. Es war eine ziemlich große und schwere Cavernia-Klasse. Sie hat sie nicht allein fortbekommen. So habe ich ihr geholfen und wir teilten den Gewinn halbe-halbe. Seither waren wir ein paarmal gemeinsam unterwegs. Es ist praktisch, nicht immer wochenlang allein zu sein. Und irgendwie auch schön, nach einem anstrengenden Tag nah beieinanderzuliegen.»


    Armer Rex. «Was meinst du, wie sie für dich fühlt?», fragte ich offen. «Glaubst du, dass sie dich liebt?»


    Es wippte ein wenig auf den Füßen und nahm noch einen Zug, ehe er antwortete. «Ich möchte es gern glauben. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr vertrauen kann. Ich habe Angst, dass sie mich eines Tages hintergeht oder einfach verlässt, wenn sich eine bessere Gelegenheit für sie ergibt. Ich habe Angst, dass sie mich nur benutzt. Und dass sie mich nicht wirklich liebt.»


    «Und was ist mit dir?», fragte ich. «Was fühlst du für sie?»


    «Ich liebe sie, aber ich bin vorsichtig. Ich versuche, ihr nahe zu sein, weil mir das guttut, aber ich halte trotzdem eine gewisse Distanz. Es ist schwer zu beschreiben und noch schwerer zu ertragen. Wir arbeiten zusammen, aber ich überprüfe manchmal, wohin sie geht und mit wem sie sich trifft. Ich versuche, ihr zu vertrauen, aber du hast ja gesehen, wie sie mit den anderen Reliktjägern umgeht. Es ist schwer zu sagen, ob sie nur Spaß macht.»


    «Und warum hast du ihr nicht gesagt, dass sie dir mit dem Verband den Arm abschnürt?»


    Er versuchte, seine Sorgen weg zu grinsen, ich sah sein lückenhaftes Gebiss aufblitzen. Dann lachte er leise und schüttelte den Kopf. Den verletzten Arm hielt er angewinkelt und fest an den Körper gepresst, ein Zeichen großer Schmerzen. Ich griff wortlos seinen Ärmel und zog ihn lang, bis er vorsichtig den verletzten Arm aus der Jacke gefädelt hatte. Dann löste ich den Verband noch einmal, der viel zu fest gewickelt war und ihm in die Wunde schnitt.


    «Ich weiß, du warst deine ganze Kindheit lang allein», sagte ich, während ich die grauenvoll behandelte Wunde mit einem vernünftigen Druckverband versorgte. «Und du magst es nicht, allein durch den Taudis zu wandern. Aber muss es ausgerechnet diese Frau sein?»


    «Es gibt nicht viele Frauen, die wochenlang in irgendwelchen Höhlen herumkriechen würden. Nia begleitet mich fast jedes Mal und sie beschwert sich nie. Das will ich nicht einfach wegwerfen.»


    Rex hatte extreme Angst, erneut verlassen zu werden, so wie damals als Kind von seinen Eltern. Er neigte zum Klammern und darum verzieh er fast alles. Nia wusste das. Der Verband war fertig, Rex zog seine Jacke wieder richtig an. Wir rauchten noch zu Ende und warfen die Stummel zwischen das Geröll zu den zehntausend anderen Stummeln.


    «Hey, Rexi.»


    «Ja?»


    Ich umarmte ihn fest.


    Er guckte verdutzt, ertrug aber meinen Trost. Ich klopfte ihn sanft ab. Dass ich auch sein Gesäß bedachte, durfte er deuten, wie er wollte. Währenddeessen ließ ich unbemerkt das silberne Relikt aus seiner Hosentasche in meine Hand wandern. Dann gab ich Rex wieder frei und wir kehrten in den Riss zurück.

    Nia Nachtigall


    Der Gangart nach vermutete ich eine Frau, auch wenn man das bei jemandem in Rüstung nicht immer eindeutig feststellen konnte. Ihr Hals wurde von einem üppigen Kragen aus braunen Vogelfedern gewärmt. Zu meinem Missfallen marschierte sie schnurstracks an unseren Tisch, quetschte sich zwischen Rex und mich, obwohl da überhaupt kein Platz war, und pflückte mir das Tuch aus der Hand. «Danke, das übernehme ich.»


    «Was zum Taudis?!», rief ich in einer Mischung aus Empörung und Verstörtheit.


    Sie schnaubte nur und setzte, ohne aufzusehen, meine Arbeit fort.


    Rex grinste verschämt. «Darf ich vorstellen? Nia Nachtigall, meine, äh ... Partnerin. Nia, das ist Sodo, ein alter Bekannter.»


    So, jetzt war ich also plötzlich kein Freund mehr, sondern nur noch ein Bekannter.


    «Aha», sagte sie.


    Verärgert beobachtete ich ihr Treiben, während Rex stolz vor sich hin grinste.


    Das männliche Pärchen gegenüber fühlte sich durch die unerwartete Gegenwart einer Frau anscheinend genau so gestört wie ich. Sie zahlten und gingen. Der Riss war eigentlich eine männliche Domäne, ein Schutzraum vor eifersüchtigen Ehefrauen und nervigen Geliebten. Nia brachte alles durcheinander.


    «Aber genug geplaudert», sagte Rex, und würgte damit seine Geschichte ab, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Zeig mir, was du gefunden hast.» Er beugte sich über den Tisch, um an Nia vorbeisehen zu können.


    «Na gut», murrte ich. «Schau dir das hier mal an.» Ich holte eine kleine Kugel aus Metall heraus, die mit seltsamen Symbolen bedeckt war. Sie glänzte im Licht und schien leicht zu vibrieren.


    Er nahm die Kugel in die freie Hand und drehte sie hin und her, während er versuchte, die Symbole zu entziffern.

    «Tamjidische Majuskeln», klärte ich ihn auf. «Aber in einer Sprache, die ich nicht kenne. Frag mich also nicht, was sie bedeuten. Kannst du damit etwas anfangen?»


    Er zuckte zusammen, als Nia kräftiger an seiner Wunde rieb. Eine Weile ertrug er stumm den Schmerz, dann hielt er die Kugel wieder ins Licht. «Keine Korrosion. Das könnte Silber sein.»


    «Das dachte ich auch, aber es ist wahrscheinlich zu leicht dafür. Man müsste es alchemistisch überprüfen.»


    «Was soll es denn sonst sein, so ganz ohne Korrosion?»


    «Keine Ahnung, vielleicht eine Legierung, oder es könnte auch nur mit Silber beschichtet sein. Es ist auf jeden Fall ein interessantes Objekt. Wenn es erst bestimmt und klassifiziert wurde, dürfte es einiges wert sein. Es braucht noch ein wenig Vorarbeit für einen lukrativen Verkauf, aber es hat Potenzial. Wie sieht es aus, hast du Interesse?»


    Wir wurden uns schnell handelseinig. Für einen fairen Preis wechselte mein Relikt seinen Besitzer. Ich sparte mir die mühsame Recherche und konnte gleich wieder hinabsteigen, um nach weiteren Objekten zu suchen. Rex, der selten lange unten bleiben wollte, konnte seinerseits an der Oberfläche einen guten Gewinn erzielen.


    Nach dem Handel ging ich kurz mal austreten und mir am Tresen ein neues Bier holen.


    Als ich wiederkam, war der Arm von Rex stümperhaft mit dem Tuch verbunden. Das hätte ich besser hinbekommen. Er und Nia hatten inzwischen eine großzügige Menge an leeren Bechern vor sich stehen.


    Nia war in einer ausgelassenen Stimmung. Sie schlürfte einen Becher Wein mit dem Trinkrohr und lachte und plauderte mit zwei weiteren Reliktjägern, von denen einer plötzlich auf meinem Platz saß. Der zweite blockierte den letzten freien Stuhl an diesem Tisch. Verärgert nahm ich dort platz, wo zuvor die beiden männlichen Turteltäubchen gesessen hatten. Abserviert von Nia Nachtigall. Von Rex herabgewürdigt zu einem Bekannten. Ich senkte den Blick. Auf die Tischplatte hatte jemand aus einem Bierfleck ein Herz gemalt.


    Nia erzählte den zwei Neuen gerade von ihren Abenteuern und Entdeckungen, von den Gefahren und Schätzen, die sie mit Rex in den Tiefen des Taudis gefunden hatte. Dabei neckte sie die beiden immer wieder mit anzüglichen Sprüchen.


    Rex hingegen brütete in einer nachdenklichen Stimmung vor sich hin. Er trank einen Becher Bier und beobachtete missmutig, wie Nia mit den zwei anderen Reliktjägern sprach und lachte.


    Auch mich brachte der Anblick zum Nachdenken. Ich fragte mich, was Nia wirklich dachte und fühlte – und was Rex wirklich wollte und brauchte.


    «Rexi, mein alter Freund», sagte ich, «auf ein Wort.» Ich wies mit dem Kopf in Richtung des Felsspalts. Er erhob sich und wir quetschten uns nach draußen.

    Ankunft im Riss


    Nachdem ich einige lange und anstrengende Tage im Taudis verbracht hatte, erreichte ich den Riss. Die Kneipe war heute ziemlich voll. An den Möbeln, die aussahen, als entstammten sie einem Schrottplatz, saßen dicht gedrängt die Reliktjäger. Ich sah einige alte Bekannte, aber auch Kollegen, die mir bisher noch nicht begegnet waren.


    Ich drängte mich zum Tresen und bestellte mir ein Bier. Dabei spürte ich ihre Blicke auf mir. Einige waren neugierig, andere misstrauisch, wieder andere feindselig. Ich ignorierte sie und quetschte mich an einen schiefen kleinen Tisch. Dort schlürfte ich mein Bier durch eines der eisernen Trinkröhrchen, wie sie in Reliktjägerkneipen zu den Getränken ausgegeben wurden, damit man seine Maske nicht abnehmen musste.


    Es war ein selbst gebrautes Bier, das Zorn aus verschiedenen Zutaten herstellte, die er im Höhlenlabyrinth fand. Er nannte es einfallsreich «Taudisbräu» und behauptete, dass es die beste Medizin für einen Reliktjäger sei. Er sagte, es würde Kraft und Mut verleihen, um die Gefahren der Tiefe zu überstehen. Er sagte auch, dass es den Reliktjäger helfen würde, ihre Schmerzen und Sorgen zu vergessen. Und jeder, der den einbeinigen und einarmigen Wirt sah, der seine letzten Jahre im selbstgewählten Exil der Tiefe verbrachte, erkannte, dass Zorn wusste, wovon er sprach. Er hatte viele Stammkunden, die sein Bier liebten und lobten. Natürlich gab es auch unzufriedene Kunden, die es widerwärtig fanden, was an den eigenwilligen Zutaten lag. Zorn kümmerte sich nicht um sie und schenkte ihnen kein Bier mehr aus. Er war stolz auf sein Bier, und er wollte es nicht ändern.


    Ich blickte mich suchend um. Der Jäger, mit dem ich mich treffen wollte, war noch nicht eingetroffen. So vertrieb ich mir die Zeit damit, die anderen zu beobachten und ihren Gesprächen zu lauschen. Die Kneipe mit ihren natürlichen Steinwänden sah aus wie eine gemütliche Höhle. Der Boden bestand aus Sand, der mit unglaublich staubigen Teppichen bedeckt war. Als Zimmerdecke diente ein Metallgerüst, an dem eine einzelne flackernde Sturmlampe hing, die zwischendurch immer mal wieder ausfiel. Darüber verlor sich die Felsspalte in ewiger Dunkelheit.


    Es war eng im Riss, man konnte kaum gehen, ohne jemandem mit dem Messergriff am Gürtel eine zu verpassen oder mit seinem Hintern einen Becher von einem Tisch zu reißen. Es blieb nicht viel Raum für Individualdistanz. Die meisten meiner Rivalen waren Einzelgänger und man nahm die erzwungene Nähe nur widerwillig hin. Doch mir gegenüber saßen zwei Reliktjäger in stummer, beinahe schon harmonischer Eintracht nebeneinander. Mit ihren behandschuhten Fingern schrieben sie sich geheime Botschaften in den Dreck auf den Tisch, die sie gleich wieder verwischten. Sie gehörten vermutlich zu jenen, die im Taudis für immer ihr Refugium - und vielleicht sogar ihr Glück - gefunden hatten und überhaupt nicht mehr an die Oberfläche zurückkehrten.


    Ein Beben erschütterte das Gestein, der Eisenstuhl vibrierte unter mir. Die Gäste der Kneipe blieben ruhig und warteten ab. Jeder Reliktjäger kannte die unterirdischen Erschütterungen, die einer der zahllosen Gründe waren, einen Helm zu tragen. Die Sturmlaterne flackerte und fiel für einen Moment komplett aus. Für zwei Atemzüge saßen wir in vollständiger Finsternis.


    Als das Licht zurückkehrte, knirschte und ächzte es im Eingang. Ich wandte den Kopf. Ein weiterer Gast quetschte sich durch die Gesteinsspalte, welcher die Kneipe ihren Namen verdankte. Es war Rex, pünktlich und verlässlich, beides keine sonderlich häufigen Eigenschaften unter Reliktjägern. Ich hob die Hand, damit er mich bemerkte.


    Er hob ebenfalls die Hand. «Sodo! Du alter Hund!» Gut gelaunt kam er auf meinen Tisch zu. Er war groß und kräftig, trug eine Lederjacke, eine metallbesetzte Hose und einen Helm mit einem Visier. An seinem breiten Waffengurt hingen ein Dolch und ein Bastardschwert.


    Rex war ein ehemaliger Söldner, den ich im Taudis kennengelernt hatte, ein harter Brocken, der keine Angst vor Gefahren kannte. Er war stur und eigensinnig, ein Experte für den Nahkampf und die Überlebenskunst im Äußeren Taudis. Aber er war auch loyal, weshalb er zu den wenigen Reliktjägern gehörte, mit denen mich eine Freundschaft verband. Unter den Reliktjägern genoss er einen guten Ruf, hatte aber gleichzeitig viele Feinde, deren Abneigung über bloße Rivalität hinausging. Leider war er auch risikofreudiger, als gesund für ihn war. Ihn wiederzusehen war nicht selbstverständlich, und ich freute mich, dass er wohlauf war.


    Er erreichte meinen Tisch und umarmte mich. Er roch nach Schweiß, Rauch und nach Blut. Ich erwiderte seine Umarmung und klopfte ihm auf den Rücken. «Lange nicht gesehen, Rexi. Lass das nächste Mal früher wieder von dir hören.»


    «Besorgt gewesen?»


    «Quatsch. Ich wollte wissen, ob ich endlich deine Gebeine plündern kann. Aber nein, der Herr ist einfach mal wieder monatelang auf Expedition.»


    Er lachte und klopfte mich kräftig, damit ich es unter meiner Schutzkleidung spürte. Ich trug eine Lederrüstung, darüber ein Kettenhemd mit einem Waffengurt um die Hüfte sowie Eisenschienen an den Unterarmen und Schienbeinen. Über dem Kettenhemd trug ich einen kurzen Wappenrock mit seitlicher Schnürung, der jedoch kein Wappen zeigte, sondern einfarbig schwarz war, denn ich kämpfte in diesen Tagen für niemanden. Dazu gehörte natürlich stets der Helm. Auf meinem Rücken lagen über Kreuz meine beiden Kurzschwerter, am Gürtel trug ich mein Jagdmesser. Jeder Reliktjäger hatte seinen eigenen Stil, doch gänzlich unbewaffnet und ungerüstet stieg niemand in den Taudis.


    Er ließ mich los und setzte sich neben mich an meinen Tisch. Er bestellte sich einen Schnaps und grinste mich durch die Mundöffnung seines Helms an. Dabei zeigte er seine Zähne, von denen einige fehlten. Er war ein guter Freund, aber auch ein gefährlicher Gegner. «Hast du etwas Interessantes für mich dabei, Sodo?»


    Ich nickte. «Das will ich meinen. Ich habe ein paar Sachen gefunden, die dich vielleicht interessieren könnten. Aber zuerst erzähl mir, wie es dir geht. Wie war dein letzter Ausflug in den Taudis?» Ich lehnte mich zurück, auf eine gute Geschichte hoffend, denn die Wochen und Monate im Taudis konnten trotz aller Gefahren manchmal recht eintönig und langweilig werden.


    «Es war eine harte Reise, Sodo, das sag ich dir. Ich bin auf eine Höhle gestoßen, die voller Grubenasseln war, groß wie Ochsen. Ich hätte mich durchkämpfen müssen, um zu der Kammer zu kommen, in der ich das Relikt vermutete. Siehst du die Abdrücke?» Er fädelte seinen blutverschmierten Arm aus der Jacke. Seine Hautfarbe verriet, dass er ein Mensch war. Er zeigte mir eine nässende Bisswunde an der Schulter.


    Ich beugte mich herüber, um sie zu betrachten. «Das sieht übel aus.» Mehr als das! Er hatte Glück gehabt, dass er nicht verblutet war. «Halt mal still.» Ich zog meinen Rucksack heran, der auf dem Boden unter dem Tisch stand, und holte ein Tuch hervor, das ich in seinen Schnaps tauchte. Vorsichtig begann ich, die Krusten zu lösen und die Wunde zu reinigen. Trotz der Schmerzen, die ich im zweifellos zufügte, hielt er still und ließ mich die Behandlung durchführen.


    Derweil trat ein weiterer Reliktjäger durch den Riss.

    Straßenleben

    «Es ergibt keinen Sinn», hörte ich einen jungen Konstabler sagen. «Die Diebstähle häufen sich, und wir haben keine Spur. Es ist, als würde der Dieb aus dem Nichts auftauchen und wieder verschwinden.»


    Ein anderer mit einem Bart runzelte die Stirn. «Wahrscheinlich ist das kein einzelner Täter. Diesen Herbst wimmeln die Straßen von Landstreichern. Die Bürger werden unruhig, und die Händler beschweren sich über ihre Verluste. Wenn das so weitergeht, bin ich meinen Posten los.»


    Ich lehnte mich noch tiefer in den Schatten eines Hauseingangs, während die Staatskonstabler über mögliche Verdächtige und Strategien diskutierten. Der Wind schob raschelndes Laub über die Straße.


    Der junge Konstabler kratzte sich am Kopf. «Bei Dunkelheit ist es am schlimmsten, aber man kann doch keine Ausgangssperre verhängen. Die Tage werden kürzer, die Händler sind auf die abendlichen Verkäufe angewiesen. Die Umsätze würden einbrechen. Und irgendwann müssen die Bürger nach einem langen Arbeitstag schließlich noch einkaufen können.»


    Ich grinste in mich hinein. Dunkelheit war das richtige Stichwort, doch bis sie dahinter kamen, mochte noch viel Zeit vergehen. Würde die Sicherheitskommission die Märkte besser ausleuchten, wäre der Vorteil dahin, den ich zu nutzen gelernt hatte. Inzwischen konnte ich sehr gut einschätzen, wie viel – oder besser gesagt, wie wenig – die Menschen nachts sahen. Ohne künstliche Beleuchtung waren sie so gut wie blind, während mir das Licht der beiden Monde vollkommen ausreichte, um selbst Farben im Dunkeln unterscheiden zu können.


    Um es wie ein Naridier zu formulieren: Meine Sinne waren in diesen Tagen mein wertvollstes Kapital.


    «Wir müssen die Einsatztaktik anpassen und härter durchgreifen», sagte der ältere Konstabler. «Und den Bürgern zeigen, dass der Hohe Richter ihre Sorgen ernst nimmt. Wir rücken heute mit drei Gruppen aus. Du gehst mit Gruppe zwei die Strecke um den Markt. Ich werde mit Gruppe eins die Straßen zwischen den Ständen im Auge behalten. Gruppe drei wird außerhalb in den Gassen patrouillieren. Diese Diebe sollen sich nirgends sicher fühlen.»


    Ich lauschte aufmerksam, als sie sich aufteilten, um ihre Patrouillen fortzusetzen. Wie freundlich von ihnen, mir ihre Pläne zu offenbaren. Als die Schritte in der Ferne verhallten, trat ich aus meinem Versteck hervor. Mein Blick streifte die schmalen Gassen und die herabgefallenen Blätter, die den Boden bedeckten. Alles war in Ordnung, vom Knurren meines Magens abgesehen. Ich war nicht mehr so schwach wie noch vor einigen Wochen, doch die ständige Kälte sorgte dafür, dass ich dennoch immer Hunger verspürte. Es war zum einen das ständige Zittern, das viel Energie verbrauchte, aber auch die Notwendigkeit, sich ständig zu bewegen. Wurde es zu kalt, durfte ich nicht stehen bleiben oder mich gar niederlegen, das wäre mein Tod gewesen. Ich musste laufen, die ganze Nacht durch. Erst, wenn Alvashek aufging und die Temperaturen wieder stiegen, wagte ich, mich unter einer Brücke oder in einem verlotterten Hinterhof einzurollen, um zu schlafen.

    Jetzt aber war es abends und somit Zeit, mich um das Essen zu kümmern.


    Der Duft von Gewürzen und exotischen Kräutern hing in der Luft, mischte sich mit dem reichen Aroma frisch gebackenen Brotes. An den Ständen der Obst- und Gemüsehändler lag der süße Geruch reifer Südfrüchte, während der Wind die herabgefallenen Blätter aufwirbelte und den erdigen Geruch des Herbstes in die Nacht trug. Die Juweliere hatten ihre Schätze in funkelnden Vitrinen ausgestellt, die im schwachen Licht der Laternen schimmerten wie Sterne am Nachthimmel. Das Klappern von Metall auf Metall verriet, dass einige Schmiede ihre Stände noch nicht geschlossen hatten, und das Flackern von Schmiedefeuer erzeugte tanzende Schatten auf den Wegen.


    Der Markt war belebt, wenn auch anders als tagsüber. Landstreicher und Bürger, die unter den Laternen standen, um etwas zu essen oder sich zu unterhalten, teilten sich den Raum mit nächtlichen Händlern, die mit allerlei Waren handelten. Der Klang von feilschenden Stimmen und das Lachen von Nachtschwärmern vermischten sich zu einem konstanten Hintergrundgeräusch.


    Mein Magen knurrte vor Hunger, als ich an den Ständen mit gebratenem Fleisch vorbeiging. Der verlockende Duft von Gewürzen und gegrilltem Fleisch stach mir in die Nase, und ich konnte das Brutzeln auf den heißen Platten hören. Die Versuchung war groß, doch ich musste mich beherrschen, um den richtigen Augenblick abzuwarten, ohne mich vorher verdächtig zu machen. Als zerlumpter Landstreicher einen Stand zu betrachten, erweckte sofort Misstrauen. Ich durfte nicht stehenbleiben. Die Händler waren wachsam. Man konnte eine gute Gelegenheit nicht erzwingen, nur die Augen danach offenhalten. Erwischt zu werden konnte ich mir nicht leisten. Falls ich jemals in den Fokus der Händler oder gar der Staatskonstabler geriet, würde ich nie wieder unbehelligt über diesen Markt schlendern können, darum war Vorsicht das oberste Gebot.


    Doch das nahmen sich offenbar nicht alle Landstreicher zu herzen.


    Ein zierlicher Bursche mit kurzem braunen Haar widmete sich intensiv filigranem Schmuck, den er sich offensichtlich nicht leisten konnte. Viel zu lange betrachtete er eine Kollektion juwelenbesetzter Halsketten. Als ich näher kam, verriet mir meine Nase, dass es sich in Wahrheit um eine junge Frau handelte.


    Der Händler behielt sie ebenfalls im Auge. Doch der Winter kam ihr unvermittelt zur Hilfe: Der Schnee eines Hausdaches löste sich und rutschte polternd über die Dachkante. Der Keramikstand gegenüber wurde unter lautem Getöse verschüttet. Das Zelt brach ein, die Stangen brachen und hunderte Stücken Geschirr gingen zu Bruch.


    In dem Moment griff die junge Frau zu.


    Blitzschnell packte ich ihr Handgelenk und bog es nach oben. Die juwelenbesetzte Kette glitzerte zwischen ihren Fingern im Schein der Straßenlaternen. «Du willst doch nicht etwa stehlen?», sagte ich mit falscher Freundlichkeit. Dabei grinste ich breit, so dass sie meine scharfen Zähne sah.


    «Lass mich los, Froschgesicht!», schrie sie und trat mir gegen das Knie. Ich trat zurück, was ihr das Bein wegriss und sie stürzen ließ. Hätte ich sie nicht am Handgelenk gehalten, wäre sie gestürzt. Ich zog sie wieder auf die Füße. «Na, na», tadelte ich.


    «Meine Opalkette», rief der Schmuckhändler entsetzt, der endlich verstanden hatte, was hier gerade passierte. Ich entwand der Diebin das Schmuckstück und reichte es dem Händler zurück, der sich überschwänglich bedankte. Inzwischen hatte auch jemand nach den Stako gerufen, die sich mit grimmigen Gesichtern durch die Menge drängten, die langen Kampfstäbe in den Händen. Erst jetzt gab ich die zappelnde Diebin frei.


    «Dafür wirst du büßen», keifte sie und rannte davon. Die Staatskonstabler folgten ihr mit polternden Stiefeln. Ob sie die Diebin fassen konnten, weiß ich nicht, da ich mich ganz auf den Händler konzentrierte, der mir zum Dank für die Hilfe eine großzügige Menge Münzen in die Hand rieseln ließ. «Es sollte mehr ehrliche Leute wie sie geben», sagte er froh.


    «Jeden Tag eine gute Tat», sprach ich salbungsvoll. Würde nur jeder Abend so gut verlaufen!


    Ich begab mich auf direktem Weg zu dem Stand mit dem gebratenen Fleisch, wo ich mir ein Festessen schmecken ließ.

    Die beiden folgenden Kapitel spielen zwischen "Das Gasthaus" und "Flammen und Klingen".

    Betteltage

    Lichtstrahlen spiegelten sich in den Schaufenstern der Stadt. Die Scheiben trennten mich von all den Reichtümern und Köstlichkeiten. Mir blieb nur das, was das Leben auf den Straßen zu bieten hatte, aber ich war nicht der Einzige, der Hunger litt.


    Die Landstreicher suchten jetzt, da der Winter vor der Tür stand und es nichts mehr in der Natur zu holen gab, die Sicherheit der Stadt. Sie lungerten in Hauseingängen und Hinterhöfen, immer nur so lange, bis man sie vertrieb. Es gab nur wenige Plätze, an denen ich mich längere Zeit am Stück ausruhen konnte.


    «Bitte, meine Dame, ein kleines Kupferstück für einen hungernden Wanderer», murmelte ich, meine Stimme von der Kälte und Erschöpfung brüchig. Meine ausgestreckte Hand zitterte leicht.


    Die meisten Passanten taten, als wäre ich unsichtbar. Einige wandten ihren Blick ab, als ob meine Not sie nicht berührte. Andere eilten vorbei, als hätten sie ihre eigenen Ängste vor der Dunkelheit in ihren Taschen versteckt.


    Nur wenige wagten es, mich mit zusammengekniffenen Lippen anzusehen. Meine Hilferufe prallten gegen die Mauern ihrer Gleichgültigkeit.


    So lief es Tag um Tag. Die Straßen und Gassen, die anfangs einem Labyrinth glichen, offenbarten mir während der endlosen Streifzüge nach und nach ihre Geheimnisse und ihre Gesetze. Diese waren nicht mit den Gesetzen Naridiens identisch, sondern kamen dem nahe, was ich aus der Wildnis kannte, und das man in Shakorz ‹das Gesetz der Jäger› nannte.


    «Bitte, ein Stück Brot würde genügen, eine Kleinigkeit, um den Hunger zu stillen.»


    Manche hörten kurz auf, zögerten einen Moment, doch ihre Blicke verrieten Misstrauen und Ekel, und dann setzten sie ihren Weg fort. Andere sahen mich drohend an, während sie schnellen Schrittes vorbeigingen.


    Das erste Gesetz des Jägers besagte: Es gibt Jäger und es gibt Beute.


    Der Himmel verdunkelte sich, und ein Nachtwächter ging herum, um die Straßenlaternen zu entzünden. Eine Nacht war wie die andere, kalt und trostlos. Mit jedem verstrichenen Tag schwand meine Hoffnung auf Mitgefühl. Ich bettelte immer seltener und irgendwann nicht mehr. Ich wurde zu einem Schatten, der vom Strom der Passanten übersehen wurde, während er jeden Tag ein Stück mehr verblasste.


    Als ich spürte, dass mir wortwörtlich das Leben aus dem Körper wich, das ich tatsächlich begann, zu sterben, besann ich mich endlich, dass ich ein Jäger war. Meine Nase war so fein wie die eines Wolfs und meine Augen so scharf wie die einer Raubkatze. Ich besaß ein Gebiss, mit dem ich menschliche Finger hätte kauen können wie knackiges Wurzelgemüse. Ich hatte den Nachtmantel bezwungen, den König des Waldes. Was kümmerte mich ein Gesetz, dass mich verhungern ließ? Ich würde nicht länger darauf warten, dass sich jemand erbarmte, sondern von dem Recht Gebrauch machen, dass das Blut in meinen Adern mir gab: das Recht des Jägers.


    Und fortan wendete sich das Blatt.

    Der Riss

    Auf dem Weg zum "Riss" musste man einen gefährlichen Weg durch den Taudis zurücklegen. Der Taudis war eine labyrinthartige Welt aus Tunneln, Höhlen und Spalten, die sich unter der Oberfläche von Asamura erstreckten. Er war das Revier der Reliktjäger. Sie orientierten sich mit Karten, Kompassen und Sturmlaternen. Sie mussten ständig auf der Hut sein, um nicht in einen Hinterhalt zu geraten oder beim Klettern abzustürzen.


    Um zur Kneipe zu gelangen, musste man im äußeren Taudis einen rostigen Hebel finden und umlegen. Dabei öffnete sich eine Falltür. Während sich der Hebel langsam wieder zurück in seine Ausgangsposition bewegte, Schloss sich auch ratternd die Falltür wieder, man hatte also nicht viel Zeit. Danach stieg man eine Eisentreppe hinab, die inmitten einer Schlucht sehr weit in die Tiefe führte, ehe man den Grund erreichte. Dort unten fand man Schotter und Dunkelheit, doch die vielen herumliegenden Kippen, leeren Konservendosen, zerbrochenen Flaschen und abgenagten Knochen verrieten, dass es hier noch mehr geben mussste. Auch war im Schotter ein Weg freigeräumt, dem man folgen konnte. An seinem Ende fiel schließlich aus einem Felsspalt ein Streifen Licht.


    Die Kneipe war die letzte Bastion der Zivilisation. Sie hieß "Der Riss", und sie war nur durch einen schmalen Spalt in der Felswand zu erreichen. Die Reliktjäger mussten sich durch den Spalt zwängen, um in die dunkle Höhle zu gelangen, die als Schankraum diente. Dort erwartete sie ein schäbiger Tresen. Von der Decke hing eine Sturmlaterne, die ein flackerndes Licht warf. An den Tischen saßen Gestalten in Leder und Metall, die ihre Erfahrungen austauschten, ihre Relikte begutachteten oder feilschten. Sie trugen Masken, um ihre Gesichter zu verbergen. Viele prahlten mit ihren Abenteuern im Taudis. An den Tischen einzuschlafen war in Ordnung.


    Falls jemand Zweifel hegte, dass man ein echter Reliktjäger sei, musste man ein Rätsel beantworten:


    ♦♦♦

    "Ich bin das Herz des Taudis,

    ich bin der Zeuge der Zeit,

    ich bin der Fluch der Reliktjäger

    ich bin der Schlüssel zur Macht.


    Wer bin ich?"

    ♦♦♦


    Die korrekte Antwort lautet: "Ein Relikt." Wer das Rätsel nicht löste, galt als Spion der Außenwelt und sein letztes Stündlein hatte geschlagen.


    Die Sitzgelegenheiten in der Kneipe waren spärlich und unbequem. Die Tische waren aus grobem Holz gezimmert, das mit Rissen und Kerben übersät war. Die Stühle waren aus Metallstangen und Lederfetzen zusammengeschweißt, die kaum Polsterung boten. Die Bänke waren aus Steinblöcken gehauen, die kalt und hart waren. Die Reliktjäger kümmerten sich nicht um den Komfort, solange sie einen sicheren Platz hatten. Sie saßen dicht gedrängt an den Tischen, die oft mit Krügen, Tellern und Waffen übersät waren. Sie achteten darauf, niemanden anzustarren und es mit rauen Spielchen hier unten nicht zu übertreiben, denn das konnte leicht zu einem Streit oder einem Kampf führen. Hier unten galt schließlich der Oberflächenfrieden nicht, weshalb man auch seine Waffen nicht abgab.


    Der Wirt der unterirdischen Kneipe war ein alter Reliktjäger, der aufgrund seines körperlichen Zustands nicht mehr selbst nach Relikten suchen konnte. Er war maskiert, um seine Identität und seine Verletzungen zu verbergen. Er hieß Zorn, und er war eine Legende unter den Reliktjägern. Er hatte in seiner Karriere unzählige Relikte gefunden und verkauft, aber auch viele Feinde gemacht. Er war in viele Kämpfe und Konflikte verwickelt, die ihm Narben und Wunden zugefügt hatten. Er hatte einen Arm und ein Bein verloren und die Götter wussten, was noch alles, und er konnte nur noch mit einer Krücke laufen. Er hatte sich aus dem Geschäft mit den Relikten zurückgezogen und die Kneipe eröffnet, um seinen Lebensabend im Taudis zu verbringen. Er war ein strenger Wirt, der keine Unordnung oder Unruhe in seiner Kneipe duldete. Er schenkte Bier und Schnaps aus, die er selbst braute oder destillierte. Er kochte auch Essen, das er aus den Zutaten zubereitete, die er im Taudis fand. Er verlangte faire Preise für seine Waren, aber er akzeptierte keine Relikte mehr als Zahlungsmittel. Damit hatte er endgültig abgeschlossen.


    Der “Riss” war ein sicherer Ort für die Reliktjäger, denn sie respektierten Zorn, der selbst kein Jäger mehr war, und sie alle brauchten diese Kneipe, um sich zu stärken, bevor sie im Taudis auf sich allein gestellt waren. Deshalb ließen sie die Kneipe in Ruhe und überfielen sie nicht.


    Am Ende des Tages

    Das Schicksal hat viele Gesichter. Eines ist olivgrün und war von langer Kälte und tiefem Schmerz gezeichnet. Ich hatte das Rad herumgerissen, zu spät für Dolwin, doch für mich noch rechzeitig.


    Vier Tagen lief ich dem aufziehenden Winter entgegen, bis ich die Söldner einholte, welche die Räuberfamilien nach Norden eskortierten. Ich betrat die Wiese inmitten der Wildnis und sah das Rastlager. Zu allen Seiten ragten schroffe Felsen empor und bildeten einen schützenden Kessel. Die Salzstraße, die mitten hindurch lief, war das Einzige, das darauf schließen ließ, dass dieses abgelegene Gebiet Anschluss an die Zivilisation besaß. Ein stark qualmendes Feuer kämpfte gegen den Wind, der mir Schnee ins Gesicht bließ. Halb eingesunkene Zelte aus Planen und frisch geschlagenen Stämmen standen schief zwischen den Felsen. In diesen notdürftigen Behausungen hatte man die Frauen und Kinder untergebracht. Die Männer bauten sich zum Schlafen Nester aus den Zweigen von Krüppelkiefern, nur den Mantel zum Schutz. Aufgrund der Zivilisten gab es nicht ausreichend Zelte für alle.


    Der Geruch von verbranntem Holz lag in der Luft und vermischte sich mit dem frischen Duft des Schnees. Die Räuber hielten sich bei ihren Familien in der Nähe der Zelte auf. Die Söldner drängten sich um das schlecht brennende Feuer herum. Die Flammen spiegelten sich auf dem Eisen. Ihre Rüstungen waren dreckig, ihre Gesichter müde und stoppelig. Es wurde nicht viel geredet. Manche nippten an ihrem verdünnten Wein, den sie in einem Topf erhitzt hatten oder löffelten die wässrige Suppe, die aus den letzten Vorräten gekocht worden war. Andere starrten stumm ins Feuer. Wer schlafen wollte, holte sich einen großen heißen Stein aus dem Feuer, wickelte ihn in Kleidung und rollte sich mit dieser einzigen Wärmequelle in ein Kieferzweignest ein, um die Nacht zu überstehen. Die meisten schliefen allein, doch manche drängten sich auch zu zweit oder zu dritt zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen.


    Man sah ihnen die Unzufriedenheit an. Der Überfall der Radhora hatte die Pläne des Kommandanten völlig über den Haufen geworfen. Wahrscheinlich hätten die Söldner nun eigentlich in unserer Burg residieren und sich von unseren Frauen bedienen lassen wollen, anstatt bei Wind und Wetter in der Wildnis zu kampieren. Es würde kein bequemes Leben werden, das auf mich zukam, doch wann hatte ich das je gehabt? Meine Entscheidung stand.


    Ein lautes Grummeln und eine imposante Gestalt erhob sich. Cherax breitete seine Arme aus und lächelte mich an. «Serak! Das wurde ja auch Zeit», brüllte er. Sein grollendes Lachen durchdrang die Stille und hallte über die Wiese. War ich schon jemals derart herzlich begrüßt worden? Ich glaube nicht. Als ich seine Raubtieraugen erwartungsvoll auf mir ruhen sah, musste ich lächeln. Wortlos umarmte ich den massigen Troll, froh, nach Dolwins Tod nicht völlig allein zu sein.


    Eine weitere Gestalt trat hinzu. Mauli legte ihre Hand auf meine Schulter. «Serak, du alter Haudegen! Lass dir von Cherax’ Geschwätz nicht den Kopf verdrehen. Man könnte fast glauben, er hat dich vermisst», sagte sie mit einem schelmischen Lächeln, das ihren markanten Gesichtszügen schmeichelte. Auch sie war wohl kein Mensch, zumindest kein ganzer.


    «Es ist gut, in solchen Zeiten Freunde zu haben», erwiderte ich. Cherax’ warmer Atem hüllte mich in Dampfwolken, während wir uns gegenseitig klopften. Mit etwas Mühe gelang es mir, mich aus der Umarmung des Trolls zu befreien und ließ mich auch von Mauli herzlich drücken. Anschließend erzählte ich den beiden in wenigen Worten, was geschehen war.


    Während der Wind über die Wiese fegte und unsere Stimmen in der kalten Luft verwehten, wurde mir bewusst, wie besonders diese Augenblicke waren. Inmitten der Kälte standen wir gemeinsam, eine ungewöhnliche Gruppe von Kämpfern, die füreinander da waren. Gemeinsam würden wir dieser eisigen Welt trotzen, bereit für jeden Kampf, der uns bevorstand.


    Eine weitere Gestalt stapfte durch die wachsende Schneedecke zum Feuer. Die Schritte waren schwer und bestimmt, jede Bewegung von einer Aura der Autorität umgeben. Garlyn, der unnachgiebige Kommandant der Söldnertruppe, trat vor mich und sein Blick durchdrang mich wie der Stahl eines Schwertes. «Serak, du wankelmütiger Narr! Du denkst wohl, du könntest einfach so zu uns zurückkehren?» Seine Worte klangen streng, doch ich hatte das Gefühl, dass er sie nur halb ernst meinte. Wahrscheinlich betrachtete er es als seine heilige Pflicht, erst einmal zu meckern, weil ich seinem Angebot nicht sofort gefolgt war.


    Ich stellte mich aufrecht hin, so wie es für einen Halbork angemessen war, und erwiderte seinen Blick. «Ich hatte meine Gründe, um fortzugehen. Aber ich habe auch meine Gründe, zurückzukehren.» Ich hätte ihm von meinem erwachten Kampfwillen berichten können, von meinem Abscheu gegenüber der Radhora und dem Wunsch nach blutiger Vergeltung. Stattdessen wies ich mit dem Kopf kaum merklich in die Richtung meiner beiden neuen Freunde.


    Garlyn sah mich lange an. «Serak», sagte er schließlich, «du bist ein merkwürdiger Kauz und hast ziemlich lange zum Überlegen gebraucht, aber du kennst den Wert von Kameradschaft. Dann will ich mal Gnade walten lassen. Willkommen in unserer Mitte.»


    «Danke, Garlyn. Dein Weg ist mein Weg.»


    Er winkte ab, als ob ihm so viel Pathos unangenehm sei. «Dein Wort in den Ohren der Götter.» Dann wandte er sich rasch ab. Scheinbar war sein heutiges Pensum an Freundlichkeit erschöpft und er hatte nur noch Kapazitäten für Gemecker, wie der nächste Söldner zu spüren bekam. Aber er hatte mir gestattet, meinen Platz in den Reihen seiner Kämpfer einzunehmen.


    Ich fand einen Platz am Rande des Feuers und ließ mich nieder. Das Knistern des Holzes und das gelegentliche Zischen der Glut waren die einzigen Geräusche, die die Stille durchbrachen. Ich lauschte den gedämpften Gesprächen und den leisen Flüchen. Mittendrin vernahm ich auch bissigen Humor und leises Lachen. Mauli drückte mir eine Eisentasse voll Suppe in die Hand, die hauptsächlich aus geschmolzenem Schnee, Wiesenkräutern, etwas Salz und ein paar gekochten Getreidekörnern zu bestehen schien. In die andere Hand drückte mir Cherax eine zweite Tasse, gefüllt mit heißem, stark verdünntem Wein. Außerdem meinte ich, einen Hauch von Trolltrank im Dampf zu riechen. In die Tassen waren mit krummer Schrift die Namen ihrer Besitzer graviert.


    Ich lächelte, weil sie nicht nur Speis und Trank, sondern auch ihre persönlichen Gefäße mit mir teilten.


    Sie ließen sich rechts und links von mir nieder. Gemeinsam beobachteten wir das Feuer, das aufgrund der Nässe stark qualmte und uns dennoch wärmte. Auch Mauli und Cherax mussten den vergangene Kampf noch verarbeiten, der die Truppe ein Drittel ihrer Kämpfer gekostet hatte. Auch sie hatten Leute verloren, die ihnen wichtig gewesen waren. Wir alle hatten Verluste erlitten. Jeder von uns trug Narben, die tiefer schnitten als die Klinge eines Feindes. Und doch waren wir hier, jeder auf seine Weise ein Kämpfer, der gegen den Strudel der Vergangenheit ankämpfte und seine eigene Bestimmung suchte. Wir schwiegen und lauschten dem Knistern und Knacken des Feuers. Ich schloss die Augen und atmete tief ein, ließ all meine Sorgen und Zweifel mit dem Rauch des Feuers aufsteigen.


    Die zunehmende Dunkelheit legte sich um uns wie ein schützender Mantel, und in diesem Moment waren wir eins. Wir waren Krieger, Träumer, die sich an der Kante des Abgrunds befanden und sich weigerten, aufzugeben. In der aufziehenden Nacht loderte eine Flamme der Entschlossenheit in unseren Herzen, und sie brannte hell und heiß.

    ENDE


    Abschied

    Wie lange es dauerte, bis das Leben aus ihm gewichen war, vermochte ich nicht zu sagen. Nach einer gefühlten Ewigkeit standen wir immer noch um den Galgen, an dem Dolwin von Niederau starb oder schon gestorben war.


    Das Erhängen war eine unehrliche Strafe, die ein Begräbnis ausschloss. Die im Laufe des Verwesungsprozesses einzeln herabfallenden Glieder warf man in die Knochengrube unter dem Blutgerüst. Man würde sich nicht die Mühe machen, die Fixierung nach dem Eintritt des Todes zu lösen. Selbst im Tode würden Dolwins Hände gefesselt sein. Wenn man einen verrotteten Leichnam fand, der keinerlei Hinweise mehr auf seine Todesursache bot, waren überkreuzte Hände immer ein Hinweis auf den Tod durch Erhängen.


    Die Eiskrähen sprangen, flatterten, pickten bereits an seinen Augen. Ich musste den Blick abwenden. Die Menge beann sich zu zerstreuen. Während die Blutreiter dem Hohen Richter einen freien Weg vorbereiteten, stieg Solwin von Niederau gemessenen Schrittes von der Tribüne. Was mochte er fühlen, oder war sein Inneres genauso hart gefroren wie meins? Er sah nicht nach links und rechts, als er durch das Spalier seiner Leibwächter schritt, und noch weniger zurück.


    Das Kommando über seine Sicherheit hatte der imposante Blutreiter im weißen Waffenrock inne, dessen Gesicht von einem Maskenhelm verborgen war. Die Köpfe der übrigen waren heute frei, da sie keinen Angriff erwarteten. Einer der letzten, die auf der Tribüne standen, um den Rücken des Hohen Richters zu schützen, war ein kleiner, zart gebauter Blutreiter im roten Waffenrock der Mannschaftsdienstgrade. Der zierliche Bursche erregte meine Aufmerksamkeit. Ich sah genauer hin, die von der Kälte gerötete Himmelfahrtsnase kam mir bekannt vor.


    Von wegen Bursche! Arvida war das, die dort oben stand! An ihrer Hüfte hing ein Säbel. Wahrscheinlich war sie sogar bei dem Überfall auf die Burg dabei gewesen und hatte im Wald unsere Frauen und Kinder abgeschlachtet. Ihre Anwesenheit verriet mir, dass die Blutreiter nicht nur ein elitärer Eingreiftrupp waren, sondern auch ein Netzwerk von Agenten und Spionen unterhielten. Da war sie, die undichte Stelle. Das Gesicht des Verrats hatte Sommersprossen und eine Himmelfahrtsnase. Darum also hatte sie so rücksichtslo versucht, Teil der Räuberbande zu werden, und war bereit gewesen, mich zu opfern. Warum war ich nicht früher auf die Idee gekommen, das hinter so viel Skrupellosigkeit vielleicht etwas anderes steckte als blanker Überlebenswille? Und warum war Dolwin so gütig zu ihr gewesen, obwohl sich früh abgezeichnet hatte, dass man ihr nicht trauen konnte?


    Die Antwort war bitter und schmerzlich: Weil er stets ein Herz für die Armen gehabt hatte. Für mich, für viele andere unsere Bande, die von den Straßen zu ihm gekommen waren, und auch für Arvida.


    Ich sah in ihrem Antlitz jedoch keine Trauer, kein Anzeichen für ein schlechtes Gewissen. Dies war kein plötzlicher Sinneswandel. Arvida war nie ein Straßenmädchen gewesen, sondern war schon damals eine Agentin der Blutreiter.


    Niemand, der eine Waffe am Gürtel trägt, ist unschuldig. Auch ich tat vieles um zu überleben, das nicht im Einklang mit den Gesetzen des Landes stand, auf dessen Boden ich mich bewegte. Doch Arvidas Weg war ein anderer als meiner, denn sie hatte jemanden, der es aufrichtig gut mit ihr meinte und damit auch sich selbst verraten.


    Ich nahm nicht mein Jagdmesser zur Hand, sondern den von Rosgar gestohlenen Dolch. Er schien mir die geeignete Waffe zu sein. Ich hatte nie ein Mörder werden wollen, doch dass Moral fürs Überleben kein geeigneter Maßstab war, hatte ich bitter gelernt. Meine Finger schlossen sich fest um den Griff, während meine Augen das Ziel fixierten.


    Ein Wurf aus dem Handgelenk, kurz und kraftvoll. Die Klinge zischte durch die Luft, war kaum mit dem Auge zu verfolgen, flog an Köpfen und Hüten vorbei und fuhr bis zum Heft in ihr Ziel, vollkommen lautlos.


    Arvida strauchelte. Ihr Blick glitt nicht hinab zu dem Dolch, der bis zum Anschlag in ihrer Brust steckte, sondern hinauf zum grauen Himmel, wo die weißen Krähen kreisten. Sie wirkte entrückt, beinahe ein wenig verträumt. Arvida fiel und niemand fing sie auf.


    Ich wandte mich ab, noch bevor Arvidas Körper den schneenassen Bretterboden der Tribüne berührte. Raschen Schrittes verließ ich den Richtplatz. Es gab hier nichts mehr zu tun. Die meisten Menschen waren schon gegangen. Nach einem kurzen Moment des Erstaunens begriffen die verbliebenen Zuschauer, was geschehen war. Doch niemand blickte sich nach mir um. Im Moment des Wurfes waren alle Augen fest auf den Galgen gerichtet gewesen. Niemand hatte gesehen, woher der Dolch gekommen war.


    Die Blutreiter drängten sich mit erhobenen Schilden um Solwin von Niederau, um ihn abzuschirmen. Ihr Kommandant in der weißen Robe rief Befehle. Die Staatskonstabler schwärmten aus. Schwere Stiefel polterten über das Pflaster, die Menge wich zur Seite. Niemand wusste, wer der Mörder war. Doch ich das Glück auf die Probe zu stellen, war für einen Rotmondgeborenen noch nie eine gute Idee gewesen. Und so verschwand ich leise aus der Wahrnehmung der Menschen von Vellingrad, nur ein Vagabund von vielen.


    Ich würde auf Nummer sicher gehen und nichts dem Zufall überlassen. So betrat ich eine Seitengasse, die mir gut bekannt war. Dort löste ich das Gitter eines Abwasserschachts und glitt hinein. Hinter mir verschloss ich die Öffnung sorgfältig. Dann schritt ich über die erhabenen Trittsteine in die nasse Dunkelheit. Falls jemand meinen Fluchtweg beobachtet hatte, so war es dennoch unwahrscheinlich, dass die Konstabler mir in dieses Labyrinth folgen würden. Mich dort in der Dunkelheit zu fassen, war nahezu unmöglich. Und es gab so viele Öffnungen, das unklar war, durch welche ich zu entkommen gedachte.


    Meine Schritte hallten im Untergrund wieder, doch oben war im Alltagslärm nichts davon zu hören. Die Konstabler unternahmen keinen Versuch, mich hier unten zu erwischen. Sie riefen, sie rannten, sie durchsuchten die Menschen. Sollten sie nur, ich hatte nicht vorgehabt, zurückzukehren. Mein Weg führte mich fort.


    Das entlegene Gitter unterhalb der Stadtmauer von innen zu lösen hatte etwas Arbeit gekostet und sehr viel Kraft, doch hier war ich nun, ein zweites Mal aus dem übelsten nur denkbaren Dreck neu geboren. Wie einst aus der Sickergrube der Bruthöhlen stieg ich nun aus der Kanalisation von Vellingrad empor. Was für ein Held ich doch war.


    Nachdem ich die Böschung erklommen hatte, erreichte ich die Straße, die nach Norden führte. Sie war in alle Richtungen frei. Ich verließ Vellingrad zum letzten Mal, an meinen Füßen die Stiefel, die Dolwin mit geschenkt hatte, an meinem Körper die Kleider eines Räubers, der lange vor meiner Ankunft gefallen war. Vielleicht würden die Blutreiter ermitteln und die Tatwaffe untersuchen. Vielleicht würde Rosgar Dachsendom seinen geworfenen Dolch erkennen und Aussage machen. Womöglich würde bald mein Steckbrief dort prangen, wo zuvor der von Dolwin gehangen hatte, vielleicht mit einem noch höheren Kopfgeld, doch in Vellingrad würde mich niemand mehr finden.


    Im Spätherbst war ich hier eingetroffen und im Spätherbst verließ ich diese Station meines Lebens. Dolwin hatte mir ein Leben geschenkt und seines endete hier.


    Im Obsthain grub ich die Schwerter aus, meines und das von Dolwin. Dann machte ich mich auf den Weg zurück in den Wald. Ich würde noch einmal an der Räuberburg vorbeikommen, die schweigend im Wald stand und endgültig zur Ruine verkam. Als ich dort eintraf, waren alle Räume durchwühlt, die Habseligkeiten aus den Schränken gerissen und die Kisten ausgekippt. Die Hälfte der Burg war verbrannt, weil irgendwer Feuer gelegt hatte, doch aufgrund der Witterung hatten die Flammen nicht alle Räume erfasst.


    Dort holte ich meine unfertige Fluchkette ab, mein Notizbuch, Schreibzeug und einige Lehrbücher. Für Jithir fand ich eine passende Schwertscheide. Da zwei Klingen unbequem um die Hüfte lagen, schlang ich mir die Waffengurte über Kreuz um den Oberkörper. Schwer lagen nun die beiden Schwerter auf meinem Rücken. Über meine Schultern ragten die Griffe. Ich deckte mich noch mit anderem Kleinkram ein, wie einem Kompass und einer Schnur. Auch einen schweren Wollmantel nahm ich mit. Andere Dinge, die zu schwer waren, aber die ich für nützlich hielt, vergrub ich, damit sie den Plünderern der Radhora, die schon hier gewesen waren und wiederkehren würden, nicht in die Hände fielen. Ich nahm an, dass man die Burg vollständig schleifen würde und berücksichtigte das bei der Wahl meines Verstecks.


    Dann verließ ich den Ort, der mein zu Hause gewesen war. Jeder Atemzug verursachte Dampfwolken, während ich in gleichmäßigem Lauf der nassen Straße folgte. Ich wusste, wo mein nächstes Ziel lag. Bald würde ich am verlassenen Grenzturm vorbeikommen und der Straße hinaus in die Wildnis folgen, um unsere Truppe einzuholen. Ich gedachte, der Einladung von Cherax zu folgen und als Söldner anzuheuern. Dolwin hatte seine Zeit nicht an mich verschwendet. Ich war erwachsen und ich war ein Krieger.


    Es galt, seinem letzten Befehl zu folgen: «Aufgeben ist keine Option.»

    Kein Held

    Wie ungleiche Augen glotzten die Monde gleichgültig auf uns Sterbliche hinab: weiß und groß Oril, und daneben, tiefer hängend, klein und rötlich wie ein Himmelsgeschwür, Daibos. Reglos lag ich auf dem Dach, lautlos zitternd. Ein kaltes Rosa kroch vom Osten über den Horizont, als die Soldaten unseren Karren aus den Stallungen holten, gezogen von unseren beiden gutmütigen Ochsen. Nun bemerkte ich, dass die Schlafenden am Fuße der Mauer in Wahrheit Tote waren. Auf einer Seite, sorgsam gebettet, die gefallenen Soldaten. Auf der anderen Seite, achtlos hingeworfen und zum Teil übereinander liegend, die besiegten Räuber. Jene in ihrem Blute zu sehen, mit denen ich einen Tag vorher noch gegessen und getrunken hatte, erfüllte mich mit einem Gefühl tiefer Sinnlosigkeit.


    Der Tau glitzerte auf den Mauern der Ruine. Kurz döste ich weg, trotz Kälte und Grauen, und sah im Halbschlaf die Gesichter meiner Leute. Die Überlebenden mussten auf ihrem Marsch unter Garlyns Kommando schon ein gutes Stück hinter sich gebracht haben. Jetzt, da es wärmer wurde, legten sie wahrscheinlich eine Rast ein. Ihr Leben ging weiter. Das der anderen nicht. Alles, wofür ich jetzt noch hier weilte, war Dolwin.


    Die Soldaten traten ihm in die Seite, damit er aufstand. Meine Hand ballte sich zur Faust. Mühsam kämpfte er sich auf die Beine. Seine Kleidung hing in dunkelroten Fetzen von seinem Körper. Erde und Blut verklebten die Haut. Das war sie also, die Zivilisation, die Begriffe wie «Humanität» und «Menschlichkeit» geprägt hatte.


    Der leuchtende Saum von Alvashek erhob sich über den Wald. Die Zinnen warfen lange Schatten, doch die Außenmauer leuchtete warm im Morgenlicht. Langsam kehrte das Gefühl in meine Finger zurück, doch nicht in mein Herz. Eine tiefe innere Kälte hatte von mir Besitz ergriffen. Mein Gesicht war hart und starr wie das einer Statue, während ich die Soldaten beobachtete. Einige aßen etwas, während andere sich bereits marschfertig machten. Sie gingen ihrem Dienstalltag nach, während Dolwins Leben mit jedem Blutstropfen ein wenig mehr aus ihm heraussickerte. Bald bewegte die Radhora sich mit ihrem kostbaren Gefangenen durch das Tor nach draußen in den Wald, der Dolwins Familie gehörte und den sie heute mit seinem eigenen Blut entweiht hatten.


    Ich wartete, bis sie außer Hörweite waren, ehe ich herunterkletterte und mich an die Verfolgung machte. Zügig setzte ich meine Schritte, mied den gepflasterten Grund und folgte den Wurzelwegen und Wildpfaden, die sich parallel zur Straße durch den Wald wanden. Ich konnte ausreichend Abstand lassen, um mich nicht in Gefahr zu bringen, denn ich kannte hier jeden Winkel. Als sie die Talstraße erreichten, teilten sie sich auf. Die Hauptstreitmacht wanderte nach Osten in Richtung Turm, so wie Garlyn es geahnt hatte. Eine kleine Abordnung samt des Karrens mit den Toten und ihrem berühmten Gefangenen im Schlepptau wandte sich nach Westen, in Richtung Vellingrad. Dieser folgte ich. Ihr Ziel war vorhersehbar und bestätigte sich im Verlauf des Marsches: Vellingrad.


    Hätte es etwas genutzt, die marschierende Armee mit Nadelstichen zu stören und zu traktieren? Konnte ein einzelner Mann eine professionelle Militäreinheit aufhalten, wenn sein Herz nur tapfer genug war? Falls ja, so war ich dieser Mann nicht.


    Als ich die Stadt erreichte, war später Vormittag und die Soldaten freuten sich auf das wartende Mittagessen. Ihre Toten würden in einer Zeremonie bestattet werden, in denen der die Magistrate der Stadt ihnen für ihren Dienst dankten. Die Angehörigen würden ihr Beileid und ihre Abfindung erhalten.


    Was aber auf Dolwin wartete, stand in den Sternen.


    Bevor ich Velingrad betrat, vergrub ich meine Waffen und die Rüstung in einem Obsthain unter einem knorrigen Apfelbaum. Alles militärische nahm ich ab, rieb mit nassem Gras meine Haut und meine Kleider zumindest so sauber, dass ich als einer der vielen Landstreicher durchgehen konnte. Unbewaffnet und ungerüstet würde niemand Anstoß daran nehmen. Kapuze und Schal verdeckten den Großteil meines Gesichts. So lange ich nicht an die Radhora oder die Stako geriet, spielte mein Äußeres keine Rolle. Der kleine Mann hatte andere Sorgen, als sich mit einem verdreckten Landstreicher zu befassen, der den Gestank des Todes auf dem Leib trug.


    Ich strich durch die Straßen, doch weil ich zu viel Zeit mit meiner Säuberung verbracht hatte, verlor ich Dolwins Spur. Ob sie ihn in die Kaserne brachten oder ins Rathaus, wo auch das Stadtgefängnis sich befand, wusste ich nicht. Und ich konnte schlecht jemanden fragen. Aber seien wir ehrlich: Es wäre auch egal gewesen. Man brach nicht mal eben in ein naridisches Gefängnis ein und befreite den Delinquenten. Wenn jemand wusste, wie man jemanden effektiv einsperrte, dann die Naridier.


    Fürs Erste war Dolwin verschwunden. Ich würde warten.


    So bezog ich den verwilderten Apfelhain, wo ich mich von vergessenem Fallobst ernährte, das war vorerst genug. Schlaf fand ich nur tagsüber, wenn die Temperaturen es erlaubten, nachts musste ich in Bewegung bleiben, um nicht zu erfrieren, und strich durch die Straßen. Kannte ich diese Situation nicht bereits? Der Kreis begann sich unaufhaltsam zu schließen. Im Gegensatz zu damals spürte ich tiefe Abgestumpftheit, die nicht einmal Raum für Trauer oder Wut ließ. Ich konzentrierte mich nur auf die nächste Handlung und dachte kaum nach.


    Drei Tage später kündigten die Herolde Dolwins anstehende Hinrichtung an.


    Als die Menge sich versammelte, war ich einer von vielen. Die weißen Eiskrähen umkreisten den Richtplatz am Galgenberg. Ihr tiefes Krächzen, das an das Knarren von Bäumen erinnerte, klang durch den Herbstnebel. Die Menge drängte nach vorn. Ich bewegte mich schweigend unter den Menschen, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und den Schal bis zu den Augen hoch. Ich hörte, wie sie sich über die zerschlagene Räuberbande unterhielten, aber auch über geradezu grotesk banale, alltägliche Dinge, wie das spätere Mittagessen. Die großen Pflastersteine waren glitschig vom Morgentau, man musste langsam gehen.


    Als wir den Richtplatz erreichten, der von der Radhora gesichert wurde, drängte ich mich nach vorn. Die Menge stand so dicht, dass ich zeitweise ziemlich brutal dabei vorgehen musste. Bis in die erste Reihe schaffte ich es nicht, doch ich fand einen Platz, von dem aus ich das Geschehen im Auge behalten konnte. Die Holztribüne aber, auf welcher der Hohe Richter zum Volk sprechen würde, war umgeben von Blutreitern, einige zu Pferd, andere zu Fuß.


    Meine Augen waren jedoch auf Dolwin gerichtet, der in diesem Moment zum Ort seiner Hinrichtung geführt wurde. Mit verbundenen Augen und auf den Rücken gefesselten Händen stieg Dolwin von Niederau auf das Blutgerüst, auf dem der mehrstöckige Galgen stand. Vier Folterknechte halfen dem maskierten Henker bei der Verrichtung seiner Arbeit. Man legte Dolwin ein dickes Hanfseil um den Hals. Ein schweres Kaltblutpferd wartete hinter dem Blutgerüst, weiß wie die kreisenden Eiskrähen.


    Das Blutgerüst selbst erinnerte an eine Bühne, gezimmert aus massiven Balken und sauber verplankt. In jeder Ecke stand eine Säule des mehrstöckigen Galgens. Ganze Räuberbanden konnten hier zeitgleich gehängt werden. Mit einem derart imposanten Galgen konnte Vellingrad überzeugend die örtliche Blutsgerichtbarkeit demonstrieren. Darum befand er sich weit sichtbar auf einer Erhöhung, genau dort, wo die viel befahrene Salzstraße in die Stadt hinein führte. Was auf dem Blutgerüst geschah, war eine Machdemonstration, aber auch eine Abschreckung.


    Inmitten dieses Blutgerüsts stand Dolwin von Niederau.


    Auf die Tribüne kam nun der Hohe Richter geschritten, zu Fuß begleitet von mehreren Blutreitern. Solwin von Niederau war persönlich gekommen, um seinen eigenen Vater zu richten. Er trug das gleiche braune Haar, doch er hatte es kurz rasiert, um sich von den Gepflogenheiten des alten Adels zu distanzieren, und einen gepflegten kurzen Wangenbart. Gekleidet war er in eine elegante schwarze Robe mit einem Stehkragen, welche die Würde und Autorität des Amtes ausdrücken sollte. Um seine Taille wurde sie anstelle eines Gürtels von einer silbernen Kette mit einem Vorhängeschloss zusammengehalten. Das Schloss zeigte das Wappen Naridiens, den schwarzen Kraken. Die Kette symbolisierte, dass der Richter in seinen Entscheidungen an die Gesetze Naridiens gebunden war. Auf den Rücken und die Brust der Robe aber war die blutrote Winterweide von Niederau gestickt.


    Eine Fanfare erklang und ein Herold rief: «Ich bitte um Ruhe! Seine Exzellenz, der Hohe Richter zu Vellingrad, Solwin von Niederau, ist bereit, das Urteil zu verkünden.»


    Die Wortwahl fiel mir auf, denn tatsächlich verkündete er das Urteil heute nur – gefällt hatte er es schon vor Jahren.


    Solwin blickte von der Tribüne aus auf die Menge, die sich um das Blutgerüst versammelt hatte. Dann schweifte sein Blick zu seinem Vater.


    «Bürger von Naridien, heute ist ein großer Tag für die Gerechtigkeit. Heute wird ein lange gesuchter Verbrecher seine gerechte Strafe erhalten. Heute wird ein Feind der Republik sein Ende finden. Heute wird ein Vater von seinem Sohn gerichtet.

    Ja, ihr habt richtig gehört. Der Mann, der dort der Vollstreckung harrt, ist mein Vater Dolwin von Niederau. Er ist der Anführer der Räuber, die unser schönes Land seit Jahren heimsuchen, die Händler überfallen und die Schmuggler sicher über die Grenze geleiten. Er ist der Anführer der Rebellen, die unser Gesetz missachten. Er ist der Anführer der Verräter, die unser Volk seit Jahren peinigen, Steuern hinterziehen und den Handel schädigen.»


    Er ließ den Blick seiner blauen Augen über die Menge schweifen. Die optische Ähnlichkeit zu Dolwin war so offensichtlich, dass es mir weh tat, die Kälte in diesen Augen zu sehen.


    «Ich weiß, was ihr denkt», fuhr er fort. «Ihr denkt: Wie kann ein Sohn seinen eigenen Vater verurteilen? Wie kann ein Sohn seinen eigenen Vater richten? Wie kann ein Sohn seinen eigenen Vater hassen?


    Ich sage euch, wie. Ich sage euch, warum. Ich sage euch, wofür.


    Ich verurteile meinen Vater, weil er ein Mörder ist. Er hat unschuldige Menschen getötet, nur weil sie wohlhabend waren und er ein armer Schlucker ist, der den Wandel der Zeiten nicht begriff. Er hat kein Erbarmen gezeigt, kein Gewissen, keine Reue. Er hat sich selbst zum Richter und Henker der Unschuldigen gemacht. Er hat sich über das Gesetz gestellt.


    Ich richte meinen Vater, weil er ein Lügner ist. Er hat mir falsche Werte beigebracht, falsche Ideale, falsche Hoffnungen. Er hat mir erzählt, dass die Republik uns unterdrücken und ausbeuten würde. Er hat mir erzählt, dass wir uns wehren müssten, dass wir uns befreien müssten, dass wir uns rächen müssten. Er verschwieg mir, wie wichtig ein hohes Maß an Steuern und Abgaben für den Wohlstand und die Sicherheit einer Nation sind.


    Ich hasse meinen Vater, weil er ein Versager ist. Er hat nie mit eigenen Händen gearbeitet, sondern anderen die Früchte ihres Fleißes geraubt. Er klammert sich an das vergangene Fürstentum und an die veralteten Werte einer Zeit, die aus den Köpfen gestrichen und in die Geschichtsbücher verbannt gehört. Die Zeit des Fürstentums Naridien ist vorbei und die Zukunft gehört der Freien Naridischen Republik.


    Ich verurteile meinen Vater zum Tode durch den Strang!»


    Er hob den silbernen Hammer, der die Macht seiner Entscheidungen symbolisierte, und schlug damit auf seinen Tisch.

    Die Zuschauer lauschten dieser Rede wie gebannt. Sie wussten, dass dies ein historischer Moment war, einmalig und unwiederholbar. Sie waren Zeugen eines Dramas, das sie nie vergessen würden, waren Zeugen eines Konflikts, der sie nie loslassen würde - Zeugen einer Szene, die sie nie verstehen würden. Die Blutreiter blickten derweil grimmig in die Menge und die Staatskonstabler hielten die Zuschauer vom Galgen fern. Es gab keine Möglichkeit, einzuschreiten.


    Mein Herz raste, ich hörte das Pumpen dumpf in meinen Ohren. Der Henker drehte den Knoten nach hinten, zu Dolwins Nackenwirbelsäule, und drückte das Seil vorn in die weiche Halsmulde unterhalb des Adamsapfels. Er zog es händisch fest, damit es nicht verrutschte, wenn der Zeitpunkt gekommen war. Kalter Schweiß brannte in meinen Augen. Zwei alte Frauen geiferten, dass ihnen der Speichel aus den zahnlosen Mündern spritzte. Die Menschen um mich herum stanken nach dem Getreidebrei ihres Frühstücks, nach Lampenfett und altem Schweiß.


    Das Erhängen zählt im naridischen Grenzgebiet zu den häufigsten Tötungsmethoden. Ich will ehrlich sein: Auch wir Räuber hatten uns die Hände am Blut unserer Opfer schmutzig gemacht. Über das Erhängen wusste ich Bescheid. Bäume wachsen überall und ein Seil ist schnell gefunden. Im Wort ‹Galgenbaum› ist die eigentliche Herkunft des Tötungsinstruments noch zu hören. Selbst das Eichenholz, das dafür als Baumaterial dient, hat seinen Ursprung in der Praxis, jemanden an Thayar, dem heiligen Eichbaum, zu erhängen. Der Galgen ist bekannt für seinen raschen und sicheren Tod. Darum war er beliebt. In der Praxis starben die meisten Delinquenten langsam unter Todesqualen.


    Ein kalter Wind trieb raschelndes Laub über den Richtplatz. Hinter mir hustete jemand, rechts und links applaudierten die Menschen, als der Henker seinem Gehilfen das Signal gab. Das Seil um Dolwins Hals zog sich straff, als der Folterknecht das Kaltblut antrieb.


    Dolwin stand einen Moment auf den Zehenspitzen, dann lösten seine Schuhe sich vom Grund. Das langsame Hinaufziehen verhinderte, dass seine Halswirbel brachen und zögerte den Eintritt des Todes hinaus. Ich wusste, dass die tiefe Lage des Seils ihm den Adamsapfel in den Hals drückte, der ihm die Luftröhre verschloss. Man erzählte sich, dass es extrem schmerzhaft sei, aber nicht lange dauern würde. Langsam zog das Seil ihn hinauf in den grauen Morgenhimmel. Und dort hing er. Die Menge schrie, die Raben krächzten. Ich schwieg, mein Hals fühlte sich genau so zugezogen an wie der des Mannes, der bis zum höchsten Punkt des Galgens gezerrt wurde, dem Platz für die schlimmsten Verbrecher.


    Es würde von einem schwachen Charakter zeugen, nun das Unrecht der Welt zu beklagen. Wir waren Räuber und kannten die Strafe. Aber Trauer ist erlaubt. Das Tuch, das ich über Nase und Mund trug, schmeckte nass und salzig. Vom Himmel fielen schwere Tropfen, klatschten laut auf das Pflaster.


    Feierlich erhob der Hohe Richter sich noch einmal, um zu der versammelten Menge zu sprechen.


    «Bürger von Naridien», rief Solwin, «heute ist ein großer Tag für die Gerechtigkeit. Heute wird ein Vater von seinem Sohn gerichtet. Und heute wird ein Sohn von seinem Vater befreit. Ich bin der Hohe Richter von Naridien. Ich bin der Hüter des Gesetzes. Ich bin der Diener des Reiches. Ich habe meinen Vater zum Galgen geführt. Ich habe meinen Vater zum Schweigen gebracht. Ich habe meine Pflicht erfüllt und meine Ehre bewahrt. »


    Es sah aus, als würde er in die Runde blicken, doch ich hatte das Gefühl, er würde eher über die Köpfe aller hinweg sah, zu einem Punkt in der Ferne.


    «Ich bin nicht mehr sein Sohn», sagte er. «Und er ist nicht mehr mein Vater. Er ist nur ein Fremder, der zufällig mein Blut teilt. Er ist nur ein Feind, der zufällig mein Gesicht trägt. Er ist nur ein Verbrecher. Lasst euch dies eine Mahnung sein, dass die naridischen Gerichte keine Gnade kennen. Gegenüber niemandem und aus keinem Grund.


    Das Urteil wurde vollstreckt, die Versammlung ist beendet.»


    Erneut klang der Schlag des silbernen Hammers.

    Der Ruf der Toten

    Ich spürte einen Schlag auf meine Schulter. Ich öffnete die Augen und sah Garlyn, den Söldnerkommandanten, über mir stehen. Sein roter Bart war länger als gestern, seine Augenringe tiefer.


    «Aufstehen, Halbork!», rief er. «Die Sonne geht bald auf. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die naridischen Hunde schlafen nicht. Sobald sie etwas sehen, werden sie sich auf den Weg hierher machen. Wir müssen uns noch vor dem ersten Tageslicht in die Wildnis absetzen.»


    Ich stöhnte und setzte mich auf. Mein ganzer Körper schmerzte und mein linker Arm war kaum brauchbarer als gestern. Ich war noch müde von dem Kampf in der Burgruine. Es war keine rein körperliche Erschöpfung. Mein Kopf fühlte sich an, als sei er mit Watte gefüllt. Langsam quälte ich mich auf die Beine und sah mich um.


    Dieser alte Grenzturm war ein verwitterter Überrest aus einer längst vergangenen Zeit. Er stand einsam auf einem Hügel, umgeben von dichtem Wald, der inzwischen so hoch gewachen war, dass man das Bauwerk von weitem kaum noch saß. Er war aus grauem Stein gebaut und besaß einen runden Grundriss. Zwanzig Meter ragte er in den Himmel und hatte vier Stockwerke. Durch die schmalen Fenster, die mehr an Schießscharten erinnerten, sah ich die Sterne, die langsam verblassten.


    Der Turm war Teil einer Reihe von Türmen, die entlang der Grenze verteilt waren. Sie dienten früher nicht nur zum Eintreiben von Zoll, sondern auch dazu, Eindringlinge zu entdecken und zu melden. Ihre Dächer waren mit Signalfeuern ausgestattet, die bei Gefahr entzündet werden konnten.


    Doch dieser Turm war schon lange verlassen und verfallen, denn dahinter lag nur noch Wildnis. Die Zeit der großen Kriege zwischen den Großmächten war vorüber und Naridien wollte sparen. Der Grenzturm war von Moos und Efeu überwuchert. Er hatte Risse und Löcher in den Wänden. In den Ecken kroch der Schimmel hinauf und Spinnweben hingen von der Decke. Eine dicke Schicht Staub und Schmutz bedeckte den Boden. In den Ritzen wimmelte das Getier.


    Der Turm war kein gemütlicher Ort zum Verweilen. Er war kalt und feucht und auch ein wenig gespenstisch. Seine Mauern waren voller Erinnerungen an vergangene Kriege und Leiden, genau wie die Burgruine, nur war die Atmosphäre noch drückender. Doch der Turm war die einzige Zuflucht für die Räuber und die Söldner, die vor den Naridiern geflohen waren.


    Ich kontrollierte meine Kleidung und den Sitz meiner Ausrüstung. Es erwies sich als nicht leicht, das zweite Kurzschwert so zu verstauen, dass es mich nicht behindern würde oder verletzten konnte. Am Ende blieb mir nur, es in einen vermoderten Lumpen zu wickeln.


    Die Räuber und Söldner bereiteten sich ebenfalls auf den Abmarsch vor. Ihr Atem bildete beim Sprechen Wolken vor ihren Gesichtern. Wir hatten es eilig, denn es ging das Gerücht, der Radhora sei unser Versteck im Turm bekannt.


    «Wer auch immer uns beim Sturm auf die Burgruine verraten hat, weiß auch über alles andere Bescheid», meinte Mauli gerade zu Cherax. «Wenn ich den Verräter in die Finger kriege...!» Sie machte eine Bewegung, als würde sie jemandem das Genick brechen.


    «Wo genau soll es jetzt überhaupt hingehen?», wollte ich wissen. Da Mauli mit den Schultern zuckte, blickte ich zum Troll. «Weißt du es?»


    Er schnürte gerade seine Stiefel. «Wir bringen die Frauen und Kinder nach Kaisho. Dort sind sie in Sicherheit.»


    «Das liegt doch am Arsch der Welt», stöhnte ich.


    Cherax nickte. «Fernab aller Sorgen. Wenn alle Stränge reißen, können sie sich über die Grenze nach Arashima in Sicherheit bringen. Aber ich denke, Kaisho ist ein guter Ort für einen Neuanfang.»


    «Und die Söldner?», hakte ich nach.


    «Wir», fuhr Cherax unbeirrt fort, «kehren zurück in die östliche Wildnis. Wo es dann hingeht, entscheidet Garlyn.» Er lächelte mir zu. «Hast du Familie unter den Zivilisten? Bleibst du bei ihnen?»


    «Familie? Ich?» Ich schüttelte den Kopf, ein bitteres Lächeln auf den Lippen. «Wohl kaum.»


    Cherax schien auf diese Antwort nur gelauert zu haben. «Du könntest dich uns anschließen», platzte er fröhlich heraus. «Man verdient gutes Geld und wie du siehst, wird das Leben nicht langweilig.»


    «Aber hallo», freute sich Mauli. «Neue Leute werden immer bei uns gesucht und wie es scheint, kannst du mit dem Kurzschwert umgehen. Das heißt, du müsstest nicht erst ewig ausgebildet werden sondern kannst von Anfang an dabei sein. Es würde dir bei uns gefallen.»


    Ich lächelte. «Das glaube ich gern. Aber mein Platz ist woanders.»


    Ich nickte ihnen zum Abschied zu, dann ging ich die Treppe herunter. Draußen standen schon die ersten Söldner und Zivilisten, die für den Abmarsch fertig waren. Auch Garlyn war darunter. Ich sagte ihm Bescheid, damit er die Räuber über meinen Verbleib informieren konnte, falls jemand fragte. Mir war nicht danach, mich von jedem einzeln zu verabschieden und jedem noch einmal die gleiche Erklärungliefern zu müssen.


    «Garlyn? Auf ein Wort», bat ich.


    Der Söldnerkommandant beendete sein Gespräch und ging mit mir ein paar Schritte abseits. «Hab nicht viel Zeit», murrte er.


    «Ich habe nur eine einzige Frage», sagte ich. «Was ist mit Dolwin? Haben wir seinen Leichnam geborgen?»


    Er schüttelte den Kopf. «Nein. Wie denn auch? Wir haben nur diejenigen mitgenommen, die aus eigener Kraft laufen konnten, die Lebenden und die Leichtverletzten.»


    Ich senkte den Blick und sah meine besudelte Kleidung. Schlamm und Blut bildeten eine stinkende Kruste. Wie viel davon Feindesblut war und wie viel mein eigenes, war unmöglich zu sagen, doch ich schien mit ein paar Kratzern davongekommen zu sein. Was aber war mit Dolwin? Ich konnte nicht glauben, dass er tot war. Er hatte mich aufgenommen, als ich von den Orks verstoßen wurde. Er hatte mir gezeigt, wie man überlebt und kämpft. Er hatte mir eine Familie gegeben und daran geglaubt, dass ich ein Krieger werden würde.


    «Das kann ich nicht akzeptieren», sagte ich. «Ich muss zurück zur Burgruine. Ich muss Dolwin finden und ihn bestatten. Er verdient ein ehrenvolles Begräbnis. Und vielleicht ist er gar nicht tot?»


    Nun mischte auch Cherax sich ein, der mir hartnäckig hinterhergekommen war. «Das ist Wahnsinn, Serak. Du kannst nicht allein zurückgehen. Die Naridier werden dich töten. Oder schlimmer, sie werden dich gefangen nehmen und foltern. Wir alle zusammen konnten sie nicht abwehren. Wie willst du das allein schaffen? Du hast keine Chance gegen sie.»


    «Das ist mir egal», sagte ich. «Ich schulde es Dolwin. Er war mein Freund. Er war mein Anführer. Er war mein Vorbild. Ich kann ihn nicht einfach so zurücklassen.»


    Der Söldnerkommandant drehte sich eine Rauchstange aus einem getrockneten Kräuterblatt von der Größe seiner Hand. «Wenn du dir das wirklich antun willst, halte ich dich nicht auf», sagte er, «aber ich halte es für Dummheit. Die Lebenden können dich sicher besser gebrauchen als die Toten. Dass wir hier in Sicherheit sind, wurde von deinen und meinen Leuten mit ihrem Blut bezahlt. Vergiss das nicht.»


    «Wie könnte ich das je vergessen», sagte ich leise. «Aber es gibt Dinge, die man tun muss.»


    «Du bist ein Narr», sagte Garlyn. «aber du bist erwachsen und wirst es schon wissen. Ich kann dich nicht zwingen, mir zu folgen. Du musst deine eigene Entscheidung treffen. Aber bedenke, dass du damit dein Leben aufs Spiel setzt. Und dass du vielleicht nie wieder deine Freunde siehst, die noch leben.»


    Ich wusste, dass er recht hatte. Aber ich hatte mich entschieden. Ich musste Dolwin die letzte Ehre erweisen. Erst, wenn ich seinen Leichnam gesehen hätte, würde ich glauben, dass er tot war. «Ich danke dir für alles, Garlyn.»


    Er grunzte etwas unverständliches, steckte seine Rauchstange in den Mund, zündete sie an und widmete sich rauchend seinen Söldnern.


    Cherax aber blieb noch. «Willst du wirklich nicht mit uns kommen?» Ich hätte nicht gedacht, dass jemand mit so einem grobschlächtigen Erscheinungsbild derart traurig schauen konnte. Der Troll erweckte sonst den Eindruck, als könne er Schädel mit bloßen Händen zerquetschen, doch jetzt bot er ein Bild des Jammers. Seine langen Ohren hingen genau so herab wie seine Mundwinkel.


    Ich schmunzelte über seine Hartnäckigkeit, doch unsere Wege würden sich heute trennen. «Danke», sagte ich, «aber ich suche nach Dolwin.»


    «Du wirst nichts finden, das dir gut tut», sagte der Troll sanft. «Tu dir das nicht an.»


    «Wer soll ihn bestatten? Soll er von wilden Tieren gefressen werden, weil ich mich selbst schonen wollte? Und was ist, wenn er noch lebt? Das nicht wenigstens nachgeprüft zu haben, könnte ich mir nie verzeihen.» Ich klopfte meine Ausrüstung. «Danke für das Angebot und für eure Hilfe, aber unsere Wege trennen sich hier. Alles Gute für euch.»


    Cherax griff nach meinen Schultern und zog mich fest an sich heran. Ich musste eine innige Trollumarmung über mich ergehen lassen. Tröstend tätschelte ich ihm den breiten Rücken, während er mich fast an seiner Brust erstickte. Wahrscheinlich hätte er mich gern zum Freund gehabt. Dann ließ er mich los.


    Mauli gab mir die Hand. Auch sie wirkte nicht zufrieden mit meiner Entscheidung. Wir drei wussten nicht, ob wir uns jemals wiedersehen würden, doch es war unwahrscheinlich.


    «Lebt wohl.» Ich tippte mir zum Abschied an die Schläfe.


    Damit verließ ich die Söldner und die überlebenden Söldner und Räuber samt ihren Familien und kehrte zurück in den nächtlichen Wald. Diesmal rannte ich nicht, denn es gab keinen Grund. Besser war es, unentdeckt zu bleiben. In der Ferne sah ich Lichter. Als Menschen konnten die Naridier sich bei Nacht im Wald ohne künstliche Beleuchtung nicht effektiv bewegen, da sie nichts sahen, doch sie bereiteten sich anscheinend auf den ersten Lichtstrahl des Tages vor, um auf den Turm zu marschieren. Wer war nur für all das verantwortlich? Wer hatte uns erst die Söldner auf den Hals gehetzt und sie dann verraten? Mir fiel keine Antwort ein.


    Über den Hochpfad kehrte ich zur Burgruine zurück. Es roch nach Blut, Schweiß, Urin und Fäkalien. Der Geruch war so scharf, dass ich genau sagen konnte, wo ein Toter oder Schwerverletzter gelegen hatte. Das Laub war aufgewühlt, das Unterholz niedergetrampelt, die Moospolster abgerissen, Steine von ihrem alten Platz fortgerollt. Die Baumstämme, die unsere Leute von oben heruntergestoßen hatten, hatten Schneisen der Verwüstung geschlagen und junge Bäume abgeknickt, umgebogen oder entwurzelt. Hier und da lagen Gegenstände, die verloren worden waren.


    Da ich mich gut auskannte, wusste ich eine Stelle, wo ich die Mauer mithilfe eines Baumes erklimmen konnte. Leise kletterte ich auf den Wehrgang. Die Radhora hatte hier oben nur sehr wenige Wachen, da sie nicht mit einem Angriff rechnete. Die meisten Wachen hatten beim Tor ihren Posten bezogen, so dass ich mich wie ein Schatten auf den oberen Ebenen der Ruine bewegen konnte. Ich musste nur wenigen Soldaten ausweichen und das fiel mir nicht schwer. Sie fühlten sich sicher und schliefen oder unterhielten sich. Doch ihre Gespräche brachten nichts Interessantes zu Tage.


    Auf einem Dach bezog ich meinen Posten und beobachtete den Innenhof. Und da sah ich Dolwin, der gut bewacht in Ketten auf dem Boden lag. Er war schwer angeschlagen, aber er war der einzige Räuber hier, der noch lebte!

    Sturm auf die Burg

    Unter den beiden Mondsicheln hatten sich alle Anwesenden im Burghof versammelt, Räuber wie Söldner, Alte und Junge. Der kalte Nachwind schob dicke Nebelschwaden durch den Wald und verschleierte ihre Stiefel, so dass sie im fahlen Licht wie schwebende Geister anmuteten.


    Dolwin hob seinen schwarzen Stein hoch, so dass jeder ihn sehen konnte. «Die Männer mit den schwarzen Steinen stehen unter meinem Kommando», rief er. «Wir bilden die Verteidigung.»


    Nun hob Garlyn seinen weißen Stein. «Die Männer mit den weißen Steinen stehen unter meinem Kommando», dröhnte seine Stimme über den Burghof. «Unsere Aufgabe ist es, die Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen.»


    Zerknirscht blickte ich auf den weißen Stein, der mich von Dolwin trennen würde.


    «Die Aufgabe der Verteidiger ist es, den anderen so viel Zeit wie möglich zu verschaffen», rief Dolwin, «damit sie die Frauen und Kinder in Sicherheit bringen können. Wir sind das einzige, was zwischen ihnen und den Klingen der Radhora stehen wird.» Dolwin sah ernst von einem zum anderen. «Garlyn und seine Männer aber haben nur eine einzige Aufgabe: Den Kreis der Angreifer erfolgreich zu durchbrechen und dafür zu sorgen, dass sie diesen Ort so schnell wie möglich und so weit wie möglich hinter sich lassen können. Ich verlasse mich auf euch.»


    Dabei sah er mir fest in die Augen, meinen Zweifel wohl erahnend. «Und danach?», fragte ich.


    «Das liegt allein bei euch. Ihr lauft, bis alle in Sicherheit sind.»


    Mein Atem stockte für einen Moment, als mir klar wurde, was geschehen sollte. Während die anderen Kämpfer mit dem weißen Stein mit ihrem Los keineswegs unglücklich wirkten, bedeutete es für mich, den Mann im Stich zu lassen, der mir das Leben gerettet hatte, ihn und die Räuber, die an seiner Seite bleiben würden. Die Söldner waren mir egal.


    Dolwin umschloss meine olivgrünen Hände mit seinen starken, von zahllosen Trainingsstunden geschwollenen Fingern. «Ich habe dir den Stein gegeben, weil ich dir vertraue, dass du ihn nicht verschwenden wirst.»


    «Ich will ihn tauschen», sagte ich. «Jemand anderes mag leben. Mein Platz ist an deiner Seite.»


    «Dein Platz ist dort, wohin ich dich schicke», sagte er und drückte meine Hände. «Heute musst du zum Krieger werden und dein schwaches Herz besiegen. Dies ist deine letzte Prüfung. Aufgeben ist keine Option. Ich erwarte, dass du siegst.»


    Ich biss mir auf die Lippe und mein Gesicht verzog sich in inneren Qualen. Unter Aufbietung aller Willenskraft gelang es mir, ein Nicken zustande zu bringen. Dolwin ließ meine Finger los und wandte sich ab, um die Verteidigung zu organisieren. Ich spürte noch die väterliche Wärme seiner rauen Hände.


    Ich stand da mit hängenden Schultern, als mich jemand von hinten knuffte. Ich wandte mich um. Mit hochgezogener Braue wartete ich ab, was Cherax wollte. «Mach dir keine Sorgen», sagte er und fand in dieser schweren Stunde irgendwo in seinem Inneren die Kraft für ein Lächeln.


    Hinter mir hörte ich Dolwins feste Stimme. Jeder nahm seinen Posten ein. Die Flucht musste schnell gehen. Es blieb keine Zeit mehr, die Welt drehte sich nicht um mich. Und so folgte ich Cherax zu seinem Kommandanten.


    Garlyn und zwei seiner Männer schoben soeben die Abdeckung von einem trockenen Brunnen. Dolwin hatte ihm natürlich alles erklärt. Cherax nahm einige großzügige Schlucke aus seinem Trinkschlauch und reichte ihn mir. «Nimm vier große Schlucke. Das wird dir über die ersten Stunden hinweghelfen.»


    Der Troll besaß eine einnehmende Art. Obwohl ich ihn kaum kannte, vertraute ich ihm und würgte artig die geforderten vier Schlucke seines Schnapses herunter. Es war eine Tortur, das beißende Zeug zu trinken. Ich spürte, wie die feurige Hitze des Trankes sich in meinen Muskeln ausbreitete. Mein Bewusstsein wurde so klar, als würde ich ein zweites Mal aus dem Schlaf erwachen. Ich fühlte mich übertrieben wach und meine Sinne schienen doppelt so scharf wie sonst. Nachdem meine Augen aufgehört hatten zu tränen, sah ich jedes noch so winzige Detail meiner Umgebung und hörte jeden noch so leisen Laut. Er reichte den Schlauch weiter herum. Als er leer war, packte er ihn wieder ein.


    «Mir nach», raunzte Garlyn.


    Wir folgten dem Söldnerführer die Leiter hinab in den Brunnenschacht. Als der letzte unserer Gruppe hinabgestiegen war, schob einer der Verteidiger die schwere Holzplatte von außen wieder darüber. Es wurde stockfinster. Nicht einmal ich konnte noch etwas sehen.


    «Haltet euch mit einer Hand am Gürtel eures Vordermanns fest», hallte Garlyns Stimme. «Mit der anderen tastet ihr euch die Wand entlang. Wir gehen langsam, damit wir nicht stolpern. Und ab sofort sind wir leise.»


    Ich ertastete den Waffengurt des Trolls und schloss meine Finger darum. Er zog mich langsam vorwärts. Meinen Gürtel hielt ebenfalls jemand gepackt. Meine Nase verriet mir, dass es der weibliche Kumpan von Cherax war. Meine Fingerspitzen fanden das glitschige Gestein des Geheimgangs. Der Boden aber bestand aus weicher, feuchter Erde.


    Anfangs lief alles reibungslos, als draußen mit einmal ein fürchterliches Gebrüll erklang. Die Radhora hatte die Burg erreicht. Eine Frau in unserem Gefolge versuchte, so leise wie möglich zu weinen. In meinen Adern aber kreiste der Trolltrank und ich spürte nichts als meinen eisernen Willen und meinen wachen Geist, der so klar, kalt und tief erschien wie ein Gletschersee. Das gefiel mir sehr gut, denn mein Name – Serak – bedeutet Gletscher.


    Stärke und Kontrolle fühlten sich gut an, denn ich wollte kein Klotz am Bein sein, sondern jemand, auf den Verlass war.

    Während wir den Schacht durchquerten, tobte über uns das Gefecht mit wachsender Intensität. Schwere Gegenstände polterten den Hang hinab rollten mitten durch die feindlichen Truppen. Ich wusste, dass es sich um Steinkugeln und Baumstämme handelte, die wir nach dem letzten Überfall überall positioniert hatten.


    Eine Mutter versuchte, ihr weinendes Kind zu beruhigen. Egal, wie leise wir uns bewegten, Kinder waren in solchen Situationen unberechenbar. Der Geruch der muffigen Luft änderte sich, ein frischer Wind fuhr mir ins Gesicht.

    Zum zweiten Mal in meinem Leben musste ich mir meinen Weg durch einen dreckigen Schacht zurück ins Licht bahnen.


    «Alle stehenbleiben», sagte Garlyn. «Ich kundschafte die Lage aus.» Seine Schritte entfernten sich, während wir warteten. Ich spürte meinen heftigen Herzschlag.


    Nach einer Weile kehrte der Söldnerführer zurück. Sein Atem ging schwer, weil er anscheinend gerannt war. «Es wird schwierig, sie sind einfach überall. Ein geschlossener Kampf ist für uns aussichtslos. Wir müssen darauf vertrauen, dass Dolwin und die anderen oben für ausreichend Ablenkung sorgen. Wir haben nur dann eine Chance, wenn wir uns verteilen. Jeder muss allein fliehen.»


    «Das hat Dolwin aber anders angeordnet», raunzte ich.


    «Ist Dolwin hier?», blaffte Garlyn zurück. «Konnte er die Situation vorhersehen? Lasst ausreichend Abstand und dann lauft, so schnell ihr könnt.»


    «Wo ist der Treffpunkt?», fragte Cherax.


    «Am Grenzturm», antwortete Garlyn. «Von dort aus ziehen wir gemeinsam weiter.» Und er rannte. Seine Schritte waren bald nicht mehr zu hören. Der nächste Söldner floh. Nach einer Pause folgte ihm eine Frau mit Kind auf dem Arm. Nach und nach verließen alle den Brunnenschacht. Manchmal bildeten Männer, Frauen und Kinder kleine Gruppen, die entgegen der Anweisung gemeinsam flohen. Wen sollte ich beschützen?


    «Bleib bei Mauli und mir», sagte Cherax.


    Mauli ... fast hätte ich gelacht, doch tief im Inneren war ich froh darüber, dass wir drei zusammenbleiben würden. Wir rückten nach und standen in der gemauerten Öffnung, die von Spinneben und Efeu fast ganz verdeckt wurde. Nun war es an uns.


    Cherax startete durch. Ich und die Kameradin hinter mir, die wohl besagte Mauli war, folgten ihm. Geraume Zeit hörte ich nur noch meine schnelle Schritte und meinen keuchenden Atem. Durch den Nebel bewegten sich die Silhouetten der feindlichen Soldaten. Sie kannten nur einen Weg – nach oben. Dafür ließen sie sogar zu, dass wir entkamen. Ihre Befehle schienen sich ganz auf das Erstürmen unseres zu Hauses zu konzentrieren.


    «Sie brechen durch», brüllte jemand von oben. «Am Nordhang!»


    Ich rannte, was meine Beine hergaben, wobei ich versuchte, Cherax und Mauli nihct aus den Augen zu verlieren. Erde und Laub stoben unter meinen Stiefeln. Hinter mir erklang ein ohrenbetäubendes Gepolter. Ich konnte mich gerade noch zur Seite retten, als ein riesiger Baumstamm den Hang hinabpolterte, der mehrere Soldaten mit sich gerissen hatte, ehe er zwischen den Bäumen verkeilt stecken blieb.


    «Ich bin es, den ihr wollt», hallte Dolwins Stimme durch den nächtlichen Wald. «Kommt und holt mich, ihr Feigl-»


    Mitten im Wort riss seine Stimme ab. Ich hörte einen Aufschlag und ein erneutes Poltern. «Dolwin!» Ich fuhr herum. Cherax und Mauli würden ohne mich fliehen müssen. Die Frauen und Kinder hatten genügend Wächter, mein Weg war ein anderer. Ich rannte zurück, alle Vorsätze und Befehle missachtend. Ich sah Dolwin oben auf den Zinnen kämpfen. Mehrere Soldaten hieben auf ihn ein. Er benötigte meine Hilfe.


    Mit der Energie des Trolltrankes in den Adern kämpfte ich mich vorwärts. Nun wurden die Soldaten auf mich aufmerksam. Ich hob den Schild, um einen tödlichen Hieb abzuwehren. Der Aufprall erschütterte meinen Arm bis in die Schulter. Gleichzeitig stieß ich mein Kurzschwert nach vorn. Die Klinge drang bis zur Hälfte ein. Ich drehte sie herum, wie ich es gelernt hatte, und riss sie zurück, schubste den Gegner aus meinem Weg und drang weiter vor. Schon hieb der nächste Soldat auf mich ein. Die Angreifer standen über mir am Hang, was ihnen einen Vorteil verschaffte. Die Schläge, die auf meinen Schild einprasselten, rissen mich fast von den Beinen, ehe ich auch diesem Mann ein blutiges Ende bereitete. Ich stapfte weiter nach oben, das nächste Duell begann. In der Regel genügte ein einziger Treffer mit dem naridischen Kurzschwert, ein einziges Herumdrehen und Herausziehen der Klinge, um derart schreckliche Wunden zu reißen, dass der Gegner nicht mehr aufstand, ganz gleich, wo ich ihn traf. Dafür war diese Waffe konzipiert, und für den Platzmangel, dem man im Wald oder bei engen Gefechten ausgesetzt war. Das Training machte sich bezahlt.


    Ich spürte, wie mein Herz in meiner Brust hämmerte, als ich mich hinauf zu Dolwin kämpfte. Ich hatte schon viele Kämpfe erlebt, aber noch nie gegen so viele Feinde auf einmal. Die Soldaten aus Naridien waren gut ausgerüstet und ausgebildet, sie waren harte Gegner. Mein größter Vorteil war meine bessere Sicht in der Dunkelheit, vielleicht auch meine Kraft, aber im großen und ganzen war ein trainierter Menschenmann mir ebenbürtig. Ich war zu wenig Ork, um sie allein mit roher Kraft überwinden zu können. Mir wurde bewusst, dass ich auf Dauer keine Chance gegen ihre Übermacht haben würde, aber ich konnte Dolwin nicht allein lassen. Er würde nicht allein sterben müssen, ich wäre bei seinem letzten Atemzug an seiner Seite, bevor auch ich mich zur Ruhe legen durfte. Ich war ein Halbork, ein Ausgestoßener, ein Gejagter. Ich hatte nichts zu verlieren außer ihn.


    Ich stach mit dem Schwert nach jedem Soldaten, der mir zu nahe kam. Ich traf einen Angreifer unter dem Arm. Der Soldat schrie, als meine Klinge in seine Achselhöhle eindrang, und stolperte zurück. Einem anderen, der ihm zur Hilfe eilte, rammte ich die Schildkante ins Gesicht und ein heißer Regen von Blut ging auf mich nieder. Dann folgte auch für ihn der tödliche Stich und er stürzte zu Boden.


    Ich war der Krieger, der ich immer sein wollte. Alles, was ich gelernt hatte, kam in dieser Schlacht zur tödlichen Entfaltung. Mein Weg zu Dolwin war alles, was noch zähle. Ich kämpfte und verlor bei jedem Schritt, den ich vorwärts kam, ein Stück meines alten Selbst. Auch wenn unsere Feinde uns überlegen waren, wich ich nicht zurück.


    Die Geräusche der Schlacht änderten sich erneut. Bei der Burg sah ich Flüchtende. Leider war das nicht die Radhora. Die Söldner, die an Dolwins Seite hatten kämpfen sollen, rannten in alle Richtungen davon, anstatt weiter gegen die Soldaten zu kämpfen. Anstatt den Rückweg ihrer Kameraden bis zum bitteren Ende zu schützen, wollten sie nur noch überleben.


    Mein Fuß stieß gegen einen Körper, so dass ich stolperte. Ich hatte nicht nach unten sehen wollen, doch um nicht zu stürzen, tat ich es kurz. Dort lag Wenk, die Kleidung dunkel von Blut. Ich sah auf den ersten Blick, dass er tot war. Ich spürte einen Stich in meinem Herzen. Diese Leute hatten mich aufgenommen, als meine eigene Rotte mich verstieß. Sie hatten mir gezeigt, wie man lebt und lacht. Sie hatten mir einen neuen Namen gegeben, mit einem freundlichen Klang der Ironie: Serak der Tapfere.

    Ich wollte ihnen beweisen, dass sie sich auf mich verlassen konnten und dass ich der Krieger war, den Dolwin in mir gesehen hatte. Ich wollte ihnen danken, dass sie mir ein Zuhause gegeben hatten.


    Die Anzahl der Soldaten schien sich noch einmal verdoppelt zu haben. Langsam wurde es eng, und sie sammelten sich auf dem Weg zum Tor. Sie grinsten hämisch auf mich hinab und spotteten über mich. Sie waren viele und meinten wohl, dass ich ein leichtes Opfer war. Sie hielten mich für einen Feigling.


    Sie irrten sich.


    Ich hob Schild und Schwert. Mein Kriegsruf gellte durch den Wald, als ich mich auf sie stürzte. Ich war Serak der Tapfere. Und ich war ein Krieger.


    Ich kämpfte wie der Nachtmantel, in dessen Fell mein Speer gesteckt hatte und durch dessen Adern Gift floss. In meinen Augen brannte salziger Schweiß. Ich stach mit meinem Schwert nach Gesichtern und Hälsen, was auch immer an Haut in mein Blickfeld geriet. Mal rammte ich die Spitze gegen einen Schild, der hastig hochgezogen wurde, und mal in weiches Fleisch. Die Klinge war nun vollständig rot, meine Faust und mein Unterarm tropften von Blut.


    Ein Gegner stellte sich in meinen Weg, als ich Jelir gerade wieder aus einem Körper gerissen hatte, und griff sofort an. Ich wich einen Schritt zurück, rang vor Anstrengung schwer nach Luft, und drängte zwei Stufen hinauf, blockte mit dem Schild seinen schweren Hieb und stach erneut zu. Die Klinge verfehlte ihr Ziel auch diesmal nicht. Jeder Soldat, der zwischen mir und Dolwin stand, musste weichen. Seine Kumpane reagierten verunsichert und als ich einen Weiteren getötet hatte, ergriffen die Übrigen die Flucht. Doch jedes Zustechen kostete mich mehr meiner Kraft. Ihre Zahl schien unendlich und noch immer war ich nicht bei Dolwin angelangt.


    Mühsam erkämpfte ich mir ein paar weitere Stufen. Mein Schild wurde von derart vielen Hieben getroffen, dass mein Arm versagte. Der Linke war schon immer mein schwacher Arm gewesen. Ich warf den nutzlos gewordenen Schild beiseite, während ich mir der Konsequenzen vollumfänglich bewusst war. Die Soldaten formierten sich im Tor, rückten zu einem Schildwall zusammen. In ihren Augen sah ich, dass sie mich nun endgültig töten wollten. Sie höhnten und riefen Beleidigungen, um mich zu einem selbstmörderischen Angriff auf den Schildwall zu provozieren. Ich hörte in ihren Worten, wie sie mich verfluchten und in ihren Stimmen, wie sehr sie nach meinem Blut lechzten. Wie konnte ich es ihnen verdenken?


    Doch was sollte ein einzelner Kämpfer gegen einen Schildwall ausrichten? Mit einem plötzlichen Gefühl von Hilflosigkeit schaute ich auf die menschliche Mauer. Ich roch den Tod, der in der Luft lag, wie Blut, Schweiß und Schmutz sich zu einem schrecklichen Gestank vermischten. Dieses Hindernis konnte ich nicht durchdringen. Meine Beine zitterten bereits seit geraumer Zeit, was mir erst jetzt bewusst wurde. Ich schmeckte Erde, Blut und Salz und den säuerlichen Geschmack von Erbrochenem.


    Verzweifelt blickte ich hinauf zu den Zinnen, wo Dolwin auf die Knie fiel. Der nächste Schlag seines Gegners traf seine Schwerthand.


    Schimmernd im Mondlicht flog sein Kurzschwert hinab. Kurz vor meinen Stiefeln landete es im Laub. Da lag sie, Jithir, die Zwillingswaffe von Jelir. Ich hob mit meiner linken Hand das Kurzschwert auf. Der Arm funktionierte nicht mehr, aber die Finger ließen diese Bewegung zu. Ich hob beide Schwerter, auch wenn das Linke mir lediglich moralischen Beistand leisten konnte, entschlossen, ein letztes Mal gegen den Schildwall anzurennen und mein Leben hier und heute auf eine Weise zu beenden, die ich für würdig hielt.


    Doch etwas riss mir die Beine unter dem Körper Weg. Ich stürzte mehrere Stufen hinab, bis ich von der Treppe herunterkullerte. Ich rollte mich auf den Rücken und hob beide Schwerter über mich, bereit, meinen letzten Kampf auszutragen.


    Über mir stand Cherax. Er sagte nichts, sondern sah mir in die Augen und reichte mir die Hand. Ohne einen Ton von mir zu geben ließ ich mich von ihm auf die Beine ziehen. Er war trotz aller Gefahren und entgegen seiner Befehle zurückgekehrt, um mich zu holen. In meinem Herz, das unter dem Einfluss seines Tranks zu einem glasklaren Gletschersee geworden war, spürte ich wieder einen Funken Wärme. Ich brachte es nicht über mich, die selbstlose Rettung abzulehnen. Noch einmal blickte ich hinauf zu den Zinnen, doch Dolwin war nicht mehr zu sehen. Dafür tauchten Schützen auf dem Wehrgang auf. Cherax legte den Arm um meine Schultern und zog mich zwischen die Bäume in Deckung. Mehrere Pfeile schlugen in die Stämme ein. Es klang, als würde jemand mit einem Hammer auf das Holz schlagen.


    So folgte ich Cherax durch den Wald. Die Geräusche der Schlacht wurden leiser. Die Bäume zogen an meinem Blickfeld vorbei, während ich rannte, doch ich war langsam. Ich sprang plump über Äste und Wurzeln, stolperte über Steine und am Schluss humpelte ich nur noch. Wir kamen in das Areal mit den hohen Tannen. Der Nebel war nun so dicht, dass man kaum noch etwas sah. Er schluckte die meisten Geräusche.


    «Ich kann nicht mehr», japste ich. «Lauf.»


    Doch Cherax blieb.


    Von Moos zu Moos und von Stein zu Stein stolperte ich hinab ins Tal. Rechter Hand sah ich eine Barrikade der Soldaten, hörte die erstaunten Rufe, weil wir sie durch dieses schwierige Gelände einfach umgangen waren, doch sie verfolgten uns nicht. Ich sprintete noch ein letztes Mal, um endgültig aus der Reichweite der Soldaten zu kommen, bis wir schließlich schwer atmend ins Gehen verfielen.


    Vor uns ragte der Grenzturm in den dunklen Himmel. Ich schob Jelir in die Scheide und Jithir lose in den Gürtel. Aus der Ferne hörten wir noch immer den Kampflärm. Ich stieg die Treppe hinauf, wobei ich mich mit dem rechten Arm am Geländer festkrallte. Der Linke nützte mir nichts mehr. Meine Beine waren äußerst wackelig und ich strauchelte mehrmals. In den leeren Räumen fiel ich vor Erschöpfung einfach der Länge nach auf den blanken Boden, genau wie alle anderen.


    Der Hälfte von uns gelang es, den Turm heil zu erreichen.


    Auf den Rest warteten wir vergebens.

    Alles oder nichts

    Es war spät geworden. In der Ruine saßen die Räuber und Söldner in mehreren Reihen im Kreis um das Feuer. Im Zentrum saßen die beiden Anführer und ihre engsten Vertrauten. Ich verfolgte die Verhandlungen mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn. Zwischendurch betrachtete ich die Söldner und versuchte, uns irgendwelche Chancen auszurechnen, doch realistisch betrachtet gab es keine.


    Nach dem steilen Aufstieg zur Burg waren alle verschwitzt. Nahe der Mauer nahm ein hühnenhafter Söldner seinen Helm ab, um die kühle Nachtluft zu genießen. Er kämmte mit den Fingern seinen schwarzen Hahnenkamm, der plattgedrückt kreuz und quer über seinem Kopf klebte. Ich sah genauer hin, weil er ziemlich lange und spitze Ohren besaß. Trotz der Dunkelheit genügte mir das Rechtlicht, um Farben zu sehen. Das Grau seiner Haut war keine Einbildung, das schien sein natürlicher Farbton zu sein. Interessant waren auch seine Hauer, die aus dem Oberkiefer wuchsen und sich wie die eines Wildschweins nach oben schwangen. Anatomisch schien er näher am Ork als am Menschen zu sein, doch er war eindeutig weder das eine noch das andere. Was zum Henker war er?


    Als er meinen Blick bemerkte, zwinkerte er mir mit einem Auge zu. Weil ich zögerte, winkte er mich zu sich heran. Ich blickte mich um. Dolwin und Garlyn sprachen miteinander, auch Vigant und weitere erfahrene Männer saßen bei ihm. Da nichts dagegen sprach, verließ ich meinen Platz und ging zu dem merkwürdigen Kerl herüber, um mich neben ihm im feuchten Laub niederzulassen, das sich vor der Mauer türmte. Aus Gewohnheit setzte ich mich dabei auf einen meiner Füße, damit mein Hintern trocken blieb.


    Der graue Bursche drückte mir einen angesabberten Trinkschlauch in die Hand, aus dem es scharf nach selbstgebranntem Beerenschnaps roch. «Du siehst aus, als könntest du einen tüchtigen Schluck gebrauchen. Trink nur!»


    Weil etwas Deeskalation sicher nicht schaden konnte, trank ich das scharfe Zeug. Sofort bereute ich es. Es fühlte sich an, als würden glühende Kohlen meine Speiseröhre hinabrutschen! Ich verschluckte mich, hustete und bekam die Plörre in die Nase. Mein Gesicht brannte wie Feuer und mir stiegen Tränen in die Augen.


    «Selbst gemacht», sagte der Graue stolz.


    «Schmeckt köstlich», log ich dermaßen offensichtlich, dass er und ich zeitgleich in Gelächter ausbrachen, was uns aus der Gegend um das Feuer herum strenge Blicke bescherte.


    «Es ist ein altes Trollrezept», sagte er leise und zwinkerte mir schon wieder zu. Das schien er gern zu machen. «Und du bist...?!»


    «Ein Halbork», raunte ich.


    «Das sehe ich selbst, ich wollte deinen Namen wissen!»


    Ich grinste schief. «Serak. Und deiner?»


    «Cherax.» Grinsend knuffte er mich mit der Faust. «Darauf trinken wir einen.»


    «Bitte nicht», flehte ich.


    Einer seiner Kameraden lehnte sich zu mir herüber. Sein Helm glänzte im Licht der beiden Monde. «Lass dich nicht abfüllen. Das macht der gern.» Die Stimme verriet, dass es sich um eine Frau handelte, auch wenn die Rüstung alle weiblichen Formen neutralisierte.


    «Spielverderberin.» Cherax nahm mir den Trinkschlauch wieder ab und trank selber einen kräftigen Schluck. «So, den Rest heben wir uns für später auf. Wir wissen ja nicht, was uns heute noch alles erwartet.» Er wirkte sorglos, womit er das Gegenteil von mir bildete. Ich war ein Nervenbündel, aber das gemeinsame Lachen und die wenigen Worte hatten den Knoten in meinem Inneren gelöst. Auch wenn diese Söldner mit Sicherheit gefährliche Burschen waren, so hatte ich nicht länger das Gefühl, dass sie tatsächlich unsere Feinde waren. Aus ihrer Richtung war kein Hass zu spüren. Ihnen ging es, wie uns Räubern, nur ums Geschäft. War das nicht eine gute Basis für erfolgreiche Diplomatie?


    Ich warf einen Blick auf unsere beiden Anfüher, die mit steinernen Gesichtern miteinander verhandelten und meine Hoffnungen auf eine friedliche Lösung schrumpften in sich zusammen. «Denen würde ein Schluck deines Trolltranks wahrscheinlich auch gut tun», murmelte ich.


    Aber Cherax winkte ab. «Entspann dich. Die zwei sind Kommandanten, die müssen so schauen. Uns kann das egal sein. Wir haben den Luxus, gemeinsam etwas trinken zu dürfen. Es wird am Ende nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Würden wir Söldner tatsächlich kämpfen wollen oder ihr Räuber uns unbedingt auslöschen, dann würden wir jetzt nicht hier zusammen sitzen, oder?»


    «Tja ...»


    «Situationen wie diese habe ich schon zu Hauf erlebt. Erst gibt es lautes Säbelrasseln, aber meist ist am Ende alles halb so wild.»


    Ich war mir da nicht sicher und auch seine Kameradin hob die Brauen, sagte aber nichts. Meine Ohren richteten sich zum Feuer aus. Die Töne aus dieser Richtung wurden schlagartig doppelt so laut, während die Geräusche hinter mir sehr viel leiser wurden. Nun verstand ich jedes Wort der beiden Kommandanten.


    «Wer euch schickt, hast du immer noch nicht offenbart», sagte Dolwin aufgebracht.


    «Was geht dich das an?», knurrte Garlyn. «Uns wurde gutes Geld geboten, um euch auszulöschen, das muss dir genügen. Ich gebe dir die einmalige Chance, mit barer Münze zu bezahlen anstatt mit Blut. Ich habe kein Interesse daran, einen Trupp bedeutungsloser Wegelagerer zu vernichten, wenn es Alternativen gibt.» Er machte mit Daumen und Zeigefinger eine reibende Bewegung, wobei er anzüglich grinste. «Seien wir ehrlich, es wäre kein Kampf, sondern ein Abschlachten. Das muss nicht sein.»


    Natürlich, es ging um das Wichtigste im Leben eines Söldnerkommandanten - um Geld. Geld, Geld, Geld, allen Naridiern ging es am Ende nur darum. Allen, außer denen, die das kleine Refugium in der Ruine gewählt hatten.


    «Wenn ich dich recht verstehe», sagte Dolwin mit abweisendem Gesicht, «willst du dich doppelt bezahlen lassen: einmal von deinem Auftraggeber dafür, dass du uns angeblich getötet hast und einmal von uns dafür, dass du es nicht tust.»


    In aller Ruhe klemmte Garlyn Meqdarhan sich eine Rauchstange zwischen die Lippen, zündete sie an und begann zu qualmen. «Es wäre schön, wenn es so einfach wäre», nuschelte er, während die Rauchstange in seinem Mund wippte. «Unser Auftraggeber ist nicht blöd. Ich werde ihm eine glaubwürdige Geschichte unseres Scheiterns auftischen müssen. Die Anzahlung behalte ich ein, aber jedwedes Kopfgeld muss ich verzichten, wenn ich keine Köpfe vorlegen kann. Freilich schadet ein Handel mit dir außerdem dem guten Ruf meiner Einheit. Schon allein deshalb kann ich euch nicht aus reiner Gutmütigkeit laufen lassen und muss die Entlohnung großzügig bemessen.» Nach einem genüsslichen Lungenzug, nahm er endlich die nervig wackelnde Kippe aus dem Mund.


    «Wie viel verlangst du?», fragte Dolwin.


    Garlyn pustete ihm einen Rauchkringel ins Gesicht, der sich um Dolwins Hals legte. «Fünftausend je Kopf.» Er grinste böse. «Freilich gilt das auch für eure Frauen und Kinder, nicht allein für die Männer. Wir sind in Naridien, hier gilt gleiches Recht für alle, im Leben wie im Tod.»


    Das Entsetzen bei dieser Summe führte zu einem allgemeinen Schweigen unter den Räubern. Nun war die Katze aus dem Sack. Der edelmütige Söldnerkommandant hatte sein wahres Gesicht gezeigt.


    «Wir sprechen hier von mehr als einer Viertelmillion», sagte Dolwin schließlich mit mühsamer Beherrschung. «Eine solche Summe habe ich nicht. Garlyn, nicht einmal ein Zehntel davon! Das Angebot ist eine Farce, und ich bin sicher, das weißt du. Was also willst du wirklich? Wir müssen eine andere Lösung finden, oder meine Räuber und ich werden uns bis zum letzten Mann und bis zur letzten Frau, ja, bis zum letzten Kind verteidigen und so viele von euch wie möglich mit in den Abgrund reißen. Lebend bekommt ihr keinen von uns.»


    Garlyn nahm noch einen Zug und lächelte mit seinen gelben Zähnen. Er schien genau zu wissen, was er wollte. Ich war mir sicher, dass er dieses Spiel nicht zum ersten Mal spielte. «Kein Problem», sagte er. «Denken wir pragmatisch: Was ist diese Burg wert und welche Ländereien gehören dazu?»


    Dolwin atmete tief durch. «Diese Burg ist unveräußerlich. Sie ist der einzige Ort auf Asamura, an dem für uns Platz ist. Ohne sie sind wir nichts. Ich werde meine Leute nicht zu einem Dasein als obdachlose Bettler verdammen.»


    Der Söldnerführer nickte. «Dir sind deine Räuber wichtig, schön und gut, aber wersuche doch mal, die Dinge wirtschaftlich zu betrachten. Es missfällt den Leuten in Vellingrad, dass ihr hier die Händler abfangt und ausplündert, oder abartige Zölle erhebt und irgendwelche Schutzsteuern erfindet. Gleichzeitig schleust ihr auch noch Schmuggler durch. Jemand hat ein Interesse daran, diese kriminellen Machenschaften zu beenden, die den Handel in dieser Region schädigen. Ich bin das angeheuerte Werkzeug dazu. Aber ist es wirklich dein Wille, all jene, die dir etwas bedeuten, zum Tode zu verdammen?»

    Dolwin seufzte, er antwortete nicht.


    «Ich muss gestehen», fuhr Garlyn unbarmherzig fort, «dass die Summe, die er mir für jeden eurer Köpfe geboten hat, es mir schwer gemacht hat, überhaupt Verhandlungen in Erwägung zu ziehen. Es grenzt an ein kleines Wunder, dass wir nun hier sitzen. Man will uns für das Ausräuchern dieses Räubernestes fürstlich bezahlen, und die Klingen meiner Männer haben schon seit Wochen kein Blut gekostet. Wirf diese Gelegenheit nicht leichtfertig weg.»


    Dolwin presste die Lippen aufeinander, schloss die Augen und ballte eine Faust. «Du setzt mich unter Druck, aber das ändert nichts. Wir haben Familien mit kleinen Kindern. Ohne Burg gibt es für uns keine Zukunft, besonders jetzt im Winter.»


    «Wie wäre es damit: Ich biete dir eine lebenslange Pacht an», schlug Garlyn vor. «Ihr könntet hier wohnen bleiben für einen jährlich zu entrichtenden Betrag in einer fairen Höhe, die problemlos für euch zu stemmen ist. Immerhin seid ihr darin erfahren, euch Geld zu organisieren. Außerdem wünsche ich mir von dir ein paar Gefälligkeiten, wenn es hin und wieder darum geht, ein paar Freunde über die naridische Grenze zu lassen.»


    Dieser Gauner. Wahrscheinlich hatte er von Anfang an nur darauf gewartet, dieses Angebot zu unterbreiten!

    «Ich muss anerkennen», sagte Dolwin würdevoll, «dass man dich nicht allein wegen deines roten Haares Garlyn den Fuchs nennt. Du hast dir deinen Beinamen redlich verdient.»


    Garlyn lächelte selbstgefällig und zog an seiner Rauchstange.


    «Moment mal», mischte ich mich ein. «Gehört ihr zu den Grünen Kadern?»


    Garlyns Augen wurden schmal, als er mich rauchend musterte. «Und was ist mit dir? Welcher Orkrotte bist du entlaufen?»


    «Versuch es gar nicht erst», knurrte ich, «niemand ist so blöd, irgendein Kopfgeld auf mich auszusetzen. Dafür bin ich viel zu bedeutungslos. Mich will niemand zurück haben, sie sind froh, mich los zu sein.»


    «Manchmal muss man nur die richtigen Leute kennen.»


    «Schluss jetzt damit», mischte Dolwin sich ein. Er stützte das bärtige Kinn in die Hand und wirkte unwahrscheinlich alt und müde. Er tat mir leid und gern hätte ich irgendetwas getan, um ihm beizustehen. Stattdessen trank ich mit den Schergen dieses Söldnerkommandanten, als wäre ich einer der ihren. Ich erhob mich, klopfte meine Hose sauber und ging kommentarlos wieder zu Dolwin, um mich in seine Nähe zu setzen. Er sollte wissen, dass ich bei ihm war. Wenn es wirklich hart auf hart kam, würde ich an seiner Seite in der ersten Reihe stehen.


    Noch einmal zählte ich alle durch.


    Uns waren gerade einmal fünfzehn Krieger verblieben. Diese waren von einundfünfzig Söldnern umgeben, bis auf die Zähne bewaffnet. Weitere vierundzwanzig von Garlyns Männern lagen irgendwo auf der Lauer und bewachten unsere gefangenen zwölf Freunde als Geiseln. Ich glaubte, Armbrüste in der Dunkelheit zu spüren, die auf uns zielten. Eine Eskalation wäre sinnlos. Garlyn hatte recht, es würde ein sehr kurzer Kampf werden, vielmehr eine Hinrichtung. Aber vielleicht konnte es mir gelingen, wenigstens Garlyn den Fuchs mit in den Tod zu reißen. Das würde mein oberstes Ziel sein.


    Bevor Dolwin eine Entscheidung fällen konnte, kam einer der Söldner angerannt. Atemlos fiel er neben Garlyn auf die Knie, umarmte ihn fest von der Seite und flüsterte ihm dabei etwas ins Ohr, ehe er ihn wieder freigab. Die Augen von Garlyn waren schreckgeweitet.


    «Wie schnell sich die Dinge doch manchmal ändern», sagte er sehr langsam, während er die Rauchstange sinken ließ. «Dolwin, alter Raubritter: Vergiss alles, was ich dir vorschlug und auch meine Drohungen. Sie sind null und nichtig. Ich habe soeben erfahren, dass meine Truppe ihrerseits verraten wurde. Die Radhora nähert sich dieser Stellung», sagte Garlyn ernst. «Die Talstraße ist in diesem Moment bereits in beide Richtungen blockiert und die Soldaten sind dabei, den Kessel zuzuziehen.»


    Die Radhora. Der Klang dieses Namens sorgte sowohl von den Seiten der Räuber als auch der Söldner für Ausrufe des Entsetzens. «Die Republikanische Armee des Hohen Rates? Hier?», rief Dolwin.


    Garlyn nickte düster. «Scheinbar finden sie es bequem, euch und uns auf einen Schlag gemeinsam zu eliminieren.» Und dann, ganz leise, hörte ich den Söldnerkommandanten sagen: «Wir sind nur eine Kompanie. Die Radhora operiert in Batallionsstärke. Das ist dann wohl das Ende ... für euch und für uns.»


    Doch Dolwin umfasste nun Garlyns Unterarm. «Nicht, wenn wir uns verbünden und Seite an Seite kämpfen. Denken wir pragmatisch. Das hier ist meine Burg und sie ist nicht ungeschützt. Ich habe noch ein paar Asse im Ärmel.»

    Garlyn hob den Blick. Die beiden sahen sich in die Augen, dann nickte der Fuchs. Er erwiderte Dolwins Griff um den Unterarm. Er war ein elender Scheißkerl, aber so, wie er gerade dreinblickte, glaubte ich ihm, dass er es ernst meinte. Der Anführer der Räuber und der Kommandant der Söldner besiegelten damit ihren Pakt.


    Dann sprangen sie auf die Füße und zogen sich für eine kurze Beratung in Dolwins Rittersaal zurück. Wenig später kehrten sie zurück in den Burghof. In ihrer Mitte ging Vigant mit einem bauchigen Tongefäß.


    Was jetzt geschah, war eine Schlachtvorbereitung, wie sie die Krieger dieser Welt nur selten zu Gesicht bekamen: Dolgrim ging mit dem Lostopf herum und jeder zog blind einen Stein. Die beiden Anführer gingen neben ihm her und kontrollierten bei jedem ihrer Männer, was er gezogen hatte.


    Schließlich war ich an der Reihe. Ich wusste so wenig wie jeder andere, wofür Schwarz und Weiß standen, doch wenn ich an mein legendäres Pech dachte, war klar, dass ich die schlechtere Variante ziehen würde. Ich tauchte die Hand ein, spürte die kalten Kiesel und nahm nicht den erstbesten, sondern einen von ganz hinten links. Als ich die Finger öffnete, lag ein schwarzer Stein in meiner Handfläche.


    Dolwin nahm ihn mir kommentarlos weg und legte mir dafür seinen eigenen weißen Stein in die Hand. Den schwarzen steckte er in seine Tasche. Dann gingen sie weiter zum nächsten.

    «Heda», rief Dolwin. «Halt!»


    Einer der Fremden hob seine Faust und die gesamte Truppe kam zum Stillstand, ehe er vortrat. Misstrauisch beäugten sich die beiden Anführer, Dolwin dunkel, Haar und Gesicht voller Asche, der andere das glatte Gegenteil. Sein Kupferrotes Haar leuchtete über einem weißen Gesicht, das trotz der Witterung, der er zweifellos regelmäßig ausgesetzt war, keine Anzeichen von Bräune zeigte, dafür aber einen schmerzhaft aussehenden Sonnenbrand. Er war jünger als Dolwin und mochte etwa dreißig Sommer und Winter gesehen haben, war aber deutlich größer und bulliger. Seine Wangen verrieten, dass er gut im Futter stand. Wie die meisten Mitglieder seiner Truppe trug er einen Dreitagebart.


    «Name und Grund der Durchreise», verlangte Dolwin zu erfahren. Ich stand neben ihm. Auch wenn keiner von uns die Hand auf den Griff der Waffe legte, denn das war eine ernste Drohung, blieb ich äußerst wachsam. Die Situation war nicht einschätzbar.


    Die Fremden trugen als Feldzeichen eine Lanze, an der mehrere echte Fuchsschwänze im Wind wehten. Ihre Rüstungen hingegen wirkten wild zusammengewürfelt. Vom verschlissenen Lederwams bis zur rostigen Schuppenrüstung war alles dabei. So schäbig die Truppe auch aussah, sie wirkte dennoch erfahren.


    «Ich bin Garlyn Meqdarhan. Auch bekannt als Garlyn der Fuchs, Kommandant dieser Söldnerkompanie. Der Grund unserer Durchreise hängt ganz von eurem künftigen Auftreten ab - Dolwin von Niederau.»


    Ich schloss die Finger um den Griff meines Kurzschwertes, doch von hinten legte jemand die Hand auf meine Schulter. Widerwillig löste ich die Finger wieder. Die Männer, die sich als Söldner entlarvt hatten, betrachteten feindselig meine Bewegungen.


    «Was heißt: ‹diese Söldnerkompanie›?», fragte Dolwin unwirsch. «Wer ist euer Auftraggeber, für wen kämpft ihr?»


    «Lasst das unsere Sorge sein», sagte Garlyn. «Heute wünschen wir lediglich, zu passieren. Ich empfehle euch also in aller Freundlichkeit, mir aus dem Weg zu gehen.»


    Diese Söldner waren uns drei zu eins überlegen, aber wir hatten den Vorteil, dass unsere Schützen aus guten Stellungen auf sie zielten. So war es kein Wunder, dass Dolwin nicht klein bei gab. «Üblicherweise erheben wir für Reisende einen Zoll», sagte er. «Als Zeichen des guten Willens gelten für Bewaffnete doppelte Preise.»


    Während er ihnen die Summe vorrechnete, ließ ich den Blick über die Söldner schweifen. Was ich feststellte, erschreckte mich fast zu Tode.


    «Dolwin», raunte ich warnend, doch er winkte ab und fuhr in seinem Gespräch fort. «Dolwin», sagte ich dringlicher, und als er mir wieder das Wort mit einer Geste verbieten wollte, fuhr ich laut dazwischen: «Das sind nicht alle! Das sind nur einundfünfzig!»


    Dolwin fuhr sofort herum und blickte nach hinten, ebenso wie die meisten unserer Männer, doch hinter unseren Rücken war niemand. Ich nahm das Stirnband ab. Nun war es völlig gleichgültig, ob man meine spitzen Ohren sah oder meine grüne Haut erkannte. Meine Ohren waren besser als die meiner menschlichen Kameraden und obendrein beweglich. Als Dolwin sah, wie sie sich ganz von selbst nach oben ausrichteten, folgte er der Richtung mit dem Blick. Zwischen den Ästen der Sandkiefern war keiner unserer Schützen mehr zu sehen.


    Garlyn zog einen Mundwinkel zur Seite, so dass man seine gelben Zähne sah. «Ja, da vermisst ihr jemanden, nicht wahr? Kein Grund, nervös zu werden. Aber vielleicht eine Grundlage, eure Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Meint ihr nicht auch, Edler von Niederau?»


    Es war das erste Mal, dass ich erleben musste, wie Dolwin keine Antwort einfiel. Das Verschwinden der Schützen machte ihm zu schaffen, ich sah es ihm an.


    «Dolwin», hakte ich nach, als zu viel Zeit verstrich und die Söldner langsam unruhig wurden. «Verlange ein Lebenszeichen unserer Freunde und wenn es ihnen gut geht, empfangen wir die Gäste.» Das schien mir der einzige vernünftige Rat zu sein. Übertriebener Stolz war bei dieser Übermacht fehl am Platz, die das Leben unserer Freunde in den Händen hielt.


    Dolwin riss sich zusammen. «Du hast es gehört, Fuchs! Komme dem nach! Beweise, dass es meinen Männern gut geht und du das Recht besitzt, diese Schlucht in einem Stück zu verlassen.»


    Garlyn zog Rotz hoch und spuckte aus - gerade weit genug zur Seite, dass es nicht vor Dolwins Füßen landete. Trotzdem war die beleidigende Absicht kaum verschleiert. «Ihr Adligen habt nichts von eurer Arroganz verloren.»


    Der Anführer der Söldner hob nun beide Arme, blickte nach oben zur Kante der Schlucht und machte mit den Händen lockende Bewegungen. Oben war Bewegung auszumachen. Unsere Freunde traten bis ganz vor an die Kante. Ihre Hände waren leer, die Armbrüste nirgends zu sehen. Hinter ihnen standen zweifelsohne die Söldner.


    Ich zählte rasch durch. «Alle da.»


    «In Ordnung», sagte Dolwin, dem es kaum gelang, seine Erleichterung zu verbergen. «Folgt mir, aber unterlasst alles, was mich dazu bringen könnte, meine Gastfreundschaft zu überdenken.»

    Unheil zieht auf

    Da ich nun zählen konnte (und wollte), kann ich sicher sagen, dass während dieser Zeit drei wunderbare Jahre ins Land gezogen sind. Natürlich mussten wir bei unseren illegalen Geschäften und gelegentlichen Raubüberfällen Vorsicht walten lassen, es kam auch zu kleineren Geplänkeln und zwei Räuber endeten am Galgen, doch in Shakorz lief das Leben unter Kriegern auch nicht anders und so empfand ich es als eine Zeit des Friedens.


    Ich durfte die Bibliothek und das Laboratorium benutzen, wo ich meine Freizeit verbrachte. In den Stunden, die ich früher auf der Jagd gewesen war – früh am Morgen und spät am Abend – fand ich nach wie vor kaum Schlaf. Anstatt mich von dunklen Erinnerungen jagen zu lassen, nutzte ich meine Zeit.


    An jenem schicksalsträchtigen Morgen, als die ganze Burg noch schlief, wog ich verschiedene Metallstücke. Danach beträufelte ich sie in einer bestimmten Reihenfolge mit alchemistischen Substanzen und untersuchte die Reaktion. Meine Beobachtungen schrieb ich gerade in ein Notizbuch, als Dolwin sich zu mir gesellte. Er wartete, bis ich mit langsamen Bewegungen mein Wort zu Ende geschrieben hatte und mich aufrichtete.


    «Guten Morgen, Serak», grüßte er.


    «Morgen, Dolwin.»


    «Darf ich fragen, woran du arbeitest?»


    Ich grinste schief. «Klar. Es ist ja auch dein Labor. Ich untersuche Metallreste, weil ich eine bestimmte Legierung benötige. Messing. Aber das ist gar nicht so leicht in ausreichend großen Stücken zu finden. Ich möchte einen Schutzvorhang aus Fluchketten bauen. Nicht irgendeinen, sondern hochwirksam, und der soll ins Tor.»


    Dolwin betrachtete die dicken Bücher, die sich aufgeschlagen und mit etlichen Lesezeichen versehen auf dem Arbeitstisch stapelten, dann betrachtete er meine umfangreichen Notizen, ehe er sich der angefangenen Kette widmete. «Wozu dient so eine Fluchkette?»


    Mein Grinsen wurde breiter. «Sie verflucht jeden, der nicht willkommen ist, einschließlich Götter und ihre unsichtbaren Helfer. Für die Bewohner der Burg ist das ein Schutz. In Shakorz hängt in jedem noch so kleinen Durchgang ein Vorhang aus Fluchketten. Da ich das hier kaum durchsetzen kann, will ich zumindest den Eingang schützen, durch den wir alle jeden Tag treten müssen. Der Vorhang wird euch gefallen, er klingelt wie Musik, wenn der Wind weht.»


    «So lange er nicht das schnelle Schließen des Tores verhindert, soll es mir recht sein. Ich bin gespannt. Und warum ist deine Wahl auf Messing gefallen?»


    «Es wird in verschiedenen Quellen zur magischen Abwehr empfohlen, weil es die Energien stört und verwirbelt.» Ich legte die Feder beiseite, um in einem dicken Buch nach einer bestimmten Stelle zu suchen. «Der Alchemistische Almanach zitiert einen gewissen Kadir Kametinka, der seine Sklaven mithilfe von Messinghalsreifen ihrer Magie beraubte. Es gibt dazu eine interessante Zeichnung ... Jedenfalls will ich es damit versuchen.»


    Gemeinsam schauten wir in das Buch, das zu gleichen Anteilen aus Illustrationen, Erklärungstexten und alchemistischen Formeln bestand. Unter dem Portrait eines leidend dreinblickenden Sklaven, für die ich mich ziemlich orkisch begeistern konnte, befand ich ein Schema, wie die Halseisen die Energiströme veränderten. Ich legte meine eigene stümperhafte Zeichnung dazu, auf der ich mit Pfeilen illustriert hatte, wie ich mir die Fluchabwehr des Vorhangs vorstellte.


    Dolwin nickte. «Alchemie ist nicht mein Fachgebiet, aber wir werden ja sehen, ob du Erfolg hast. Kadir Kametinka gilt als einer der größten Universalgelehrten aller Zeiten. Leider ist sein Werk im Original kaum aufzutreiben und man kann froh sein, wenn er zumindest hin und wieder zitiert wird. Aber weshalb ich eigentlich hier bin, ist ein Kontrollgang. Im alten Grenzturm steigt Rauch auf. Das Feuer wurde anscheinend gelöscht, als die Sonne aufging, aber Wenk hat es von der Mauer aus noch gesehen. Ich möchte dich bitten, nachzuschauen, ob sich dort wieder mal ein Landstreicher häuslich niedergelassen hat.»


    «In Ordnung. Falls ich einen antreffe, soll ich ihn rauswerfen?»


    «Er kann die kommende Nacht noch bleiben, aber danach muss er sich eine andere Unterkunft suchen, vielleicht auf einer Weidehütte oder in einem Stall. Gib ihm ruhig ein paar Münzen mit auf den Weg, das sorgt meist dafür, dass sie friedlich ihrer Wege ziehen.»


    «Verstanden, ich mache gleich los. Soll ich noch aufräumen?»


    «Wenn du dann noch weiterarbeiten möchtest, kannst du alles so stehen lassen, nur die Gewichte der Waage müssen bitte noch in ihr Kästchen zurück, bevor du gehst. Wir sehen uns spätestens heute Abend.»


    Dolwin verließ das Laboratorium, um seine morgendlichen Anweisungen zu verteilen, und ich sortierte die winzigen Gewichte, mit denen ich die Metallstücken akribisch gewogen hatte, zurück in ihre Holzschatulle. Dann zog ich meine leichte Rüstung an, zog die Waffengurte fest – ich besaß einen für das Schwert und einen für das Messer – und schulterte den Schild. In gemütlichem Tempo trabte ich durch den Wald. Tau glitzerte im Morgenlicht und die Vögel lieferten sich einen Wettgesang. Ich bewegte mich hauptsächlich auf den Hochpfaden und mied die Talstraße, da sie zu gut einsehbar war. Zum Grenzturm war es ein gutes Stück. Doch bis dorthin musste ich heute gar nicht laufen.


    Bei der Hälfte der Strecke lag eine tiefe Steilschlucht. Als ich sie überqueren wollte, stockten meine Schritte. Dort unten kam gerade die Ursache des nächtlichen Feuers entlangmarschiert. Misstrauisch beobachtete ich die schwer bewaffnete Kolonne, die sich unter meinen Füßen durch die felsige Schlucht bewegte. Es war Frühling und die Reisezeit begann, doch das da unten waren weder Reisende noch Händler. Es sei denn, diese trugen neuerdings Helme und Rüstungen. Die Radhora war das jedenfalls nicht. Ich hielt mich in der Deckung knorriger Kiefern und aufragender Felsen, um sie zu beobachten. Die Ausrüstung wirkte zusammengewürfelt, ähnlich wie bei uns Räubern. Wer auch immer diese Männer waren, ihre Bewaffnung spach eine eindeutige Sprache.


    Plötzlich flog kreischend ein kleiner Vogel auf. Der Anführer der Bewaffneten blickte beim Gehen nach oben und untersuchte genau die Kante der Schlucht, als erwarte er einen Hinterhalt, doch die Zweige einer Sandkiefer verbargen mich. Ich wagte kaum zu atmen. Sein Blick ruhte eine Weile auf der Stelle, wo ich zuvor noch gestanden hatte, dann sah er wieder in die Richtung, in die er ging. Ich blieb vorerst unentdeckt, doch die Situation war heikel.


    Die Bewaffneten zogen weiter durch die Schlucht. Als ich sicher war, dass sie sich in Richtung unserer Burg bewegten, brach ich die Beobachtung ab und rannte auf den Hochpfaden durch den Wald zurück nach Hause.


    «Wo ist Dolwin?», keuchte ich schon von weitem.


    Die Tagwache wies mir den Weg. Zum Glück befand er sich gerade im Burghof, wo er gerade einige erbeutete Kisten überprüfte. So musste ich nicht lange suchen. «Dolwin, es ist wichtig», sagte ich, als ich schwer atmend bei ihm stehen blieb.


    Er hob den Kopf. «Was ist los? Du ziehst ein Gesicht, als wärst du dem Tod begegnet.»


    «Vielleicht bin ich das auch. Durch die Schlucht nähern sich sechsundsiebzig Bewaffnete unserer Burg.»


    «Was sagst du? Sechsundsiebzig?!»


    Ich nickte. Mir war genau so unwohl wie ihm. Sechsundsiebzig mag sich nicht viel anhören, aber wenn man bedenkt, wie wenige wir waren, handelte es sich dabei um eine bedrohliche Streitmacht. Beim Überfall der Blutreitern hatte es sich etwa um fünfundzwanzig Mann gehandelt, und die Eingreiftrupps der Stako waren in der Regel noch kleiner, weil alle Kräfte im Norden gebraucht wurden. Naridien besaß nicht die Kapazitäten, jeden Winkel seines Territoriums vollständig abzusichern, und wir wohnten hier sehr abgelegen. Da lagen die Prioritäten anders, so lange wir uns von Vellingrad fernhielten. Die Richter und andere wichtige Persönlichkeiten reisten ja ohnehin stets unter bewaffnetem Schutz. Eine Streitmacht von dieser Größe, wie sie da nahte, hatte seit dem Umbruch nicht mehr vor den Toren dieser Burg gestanden.


    «Das ist eine ganze Kompanie samt Kommandant», stöhnte Dolgrim.


    Ich überlegte. «Vielleicht eine Truppenbewegung? Oder die Radhora rekrutiert?»


    «Das muss vorerst Spekulation bleiben.» Dolwin stemmte die Hände in die Hüften, sein Blick war entschlossen. «Kommen sie von Osten oder von Westen?»


    «Von Osten aus der Wildnis.»


    «Dann sind es mit hoher Wahrscheinlichkeit Fremde. Wahrscheinlich wissen sie nichts von dieser Burg.»


    «Soll ich herausfinden, wer sie sind und was sie hier wollen?»


    Dolwin betrachtete mich, während er nachdänklich auf der Innenseite seiner Wange kaute. «Dein grünes Gesicht könnte sich als Nachteil erweisen. Wir wissen nicht, wie diese Burschen auf Halborks zu sprechen sind.»


    «Dann maskiere ich mich eben. Das wäre ja nicht das erste Mal.»


    Dolwin schüttelte den Kopf. «Für einen Unterhändler ist das keine gute Idee. Ich werde persönlich gehen und du begleitest mich zusammen mit den anderen Kämpfern. Mein Vater wird hier mit den Frauen und Novizen alles vorbereiten.»


    Ich grinste böse. «Für einen gastlichen oder für einen blutigen Empfang?»


    «Diese Entscheidung, Serak, obliegt ganz den Fremden.» Dolwin wandte sich zu den anderen um und brüllte: «Ausrüsten und Kampfbereitschaft herstellen!»


    In die Räuber kam Bewegung. Dieser Befehl war nicht das erste Mal gestellt worden und alles verlief zügig. Die Frauen räumten die Gegenstände an vereinbarte Plätze. Manches wurde versteckt, anderes taktisch klug positioniert, so dass es als Hindernis für die Feinde, als Deckung oder auch als Wurfgeschoss dienen konnte. Die älteren Kinder griffen ihre Schleudern und kontrollierten die Steinhaufen, die sie zu diesem Zweck bereitliegen hatten.


    Als alle gerüstet waren, schmierten wir uns Ruß in die Gesichter und ins Haar, damit nichts Helles im Dunkel des Waldes leuchten konnte. Helme besaßen wir nicht. Dolwin erklärte die heutige Aufstellung. Er entschied sich für eine Riegelstellung, mit der wir unseren Opfern bei einem Hinterhalt den Weg abzuriegeln pflegten. Ich sollte als sein Leibwächter direkt an seiner Seite stehen. Mit dem Ruß im Gesicht und dem Schweißband, das über der Stirn und meinen spitzen Ohren lag, war ich kaum von einem muskulösen Menschen zu unterscheiden, so lange ich den Mund nicht aufmachte. Ob das eine Rolle spielen würde, musste sich zeigen.


    Dolwin gab das Singal und wir liefen los.

    Räuberleben

    Meine Aufnahme in die Reihen der Gemeinschaft wurde mit einem Fest besiegelt. Die bislang zurückhaltenden Männer und Frauen begrüßten mich herzlich. Von den Kindern abgesehen, die sich noch immer vor mir fürchteten, schien es niemanden zu stören, dass ich ein Halbork war. Es, wie man es mir erklärt hatte: In Naridien bedeutete die Ethnie nichts.


    Anschließend zeigte mir Dolwin die Burg. Nun durfte ich auch die verschlossenen Bereiche betreten. Die überwucherten Mauern erzählten eine Geschichte von Stolz und Widerstand, von einem Adel, der sich mit aller verbliebener Kraft gegen den Wandel der Zeiten wehrte. Ich konnte förmlich das Echo der vergangenen Schlachten in den Rissen und Trümmern der einst prächtigen Burg spüren und Dolwin erklärte mir auch, dass der Baum der Edlen von Niederau auf dem Wappen einst in grünem Laub gestanden hatte.


    «Wenn dieses Land wieder rechtmäßig uns gehört und wir die Burg wieder aufbauen, dann wird auch die Weide von Niederau erneut ergrünen», erklärte Dolwin mit einem Lächeln.


    Die Weide war ein biegsamer Baum mit weichem Holz, ein sanfter Baum. Doch Dolwin verheimlichte mir nicht, dass es auch Adelshäuser gab, die den Zorn der Bauern und Arbeiter zu Recht auf sich gezogen hätten.


    «Geldgier und das ewige Lechzen nach Macht», sagte er angwidert. «Sie machen vor niemandem halt, egal, ob er ein Wappen trägt oder nicht. Böse Menschen gibt es überall, ungeachtet ihres Standes. Trotzdem denke ich, dass Naridien in den Händen eines fähigen Fürsten besser aufgehoben wäre als in den raffgierigen Klauen des Hohen Rates.»


    Ich selbst enthielt mich einer Meinung. Politik war mir vollkommen gleichgültig. Für mich zählte nur das, was ich sah, und das war die Gemeinschaft der Burgruine am Fuße der Kandoren.


    Dolwin führte mich manchmal durch die verfallenen Gänge und Gemächer, um mir die alten Geschichten zu erzählen. Mir schien, er war froh, einen so wissbegierigen Zuhörer zu haben, der nicht müde wurde, nach Details zu fragen, egal wie lange Dolwin schon geredet hatte. Seine Schritte waren dabei stets gemessen, um nicht zu sagen, feierlich. Es bestand kein Zweifel daran, dass er diese Burg als sein zu Hause betrachtete, ganz gleich, in welchem Zustand sie war, und niemals woanders leben wollte. Seine Erzählungen aber waren mehr als nur Geschichten. In seinen Worten lagen die Erinnerungen einer Zeit, die wirklich einst gewesen war, seine Worte waren das Echo der Vergangenheit.


    «Was du hier siehst, Serak», erklärte Dolwin eines Tages, «diese Ruine, das ist die letzte physische Manifestation unseres Adels. Als die Naridische Republik ausgerufen wurde, zerstörten die neuen Gesetze all das, wofür unsere Familie stand. Alles wurde modernisiert. Der Adel wurde ohne Unterschied enteignet und der Staat riss alle Ländereien an sich. Das bedetete nicht nur unseren finanziellen Ruin, sondern für die Menschen auch den Verlust der alten Werte und Traditionen. Fortan durfte kein Mensch mehr eigenes Land besitzen. Ich verstehe diesen Wunsch der Bauern und Arbeiter, die oft viel weniger besaßen als andere, aber hat die Republik ihr Leben wirklich verbessert?»


    Dolwin seufzte und ich wusste, dass er an die Fabriken dachte, über die er so oft schimpfte, an die engen Stadtwohnungen und an die Erzminen von Trux. Er stieg mit mir gemeinsam auf die Zinnen herauf, wo wir Wenk begrüßten.


    «Was gibt es Neues?», fragte Dolwin.


    Wenk wiegte den Kopf. «Das weiß ich nicht. Ich warte noch auf die Kundschafter. Sie kommen heute spät.»


    «Geben wir ihnen noch etwas Zeit, bevor wir einen Suchtrupp entsenden.»


    Dann stiegen Dolwin und ich einen der beiden intakten Türme hinauf. Von dort aus blickten wir nach Westen. Die ersten zarten Strahlen des Tages hüllten die Steine in ein warmes Licht und ließen die lange verblasste Pracht der einstigen Festung erahnen. Frieden und Ruhe lagen in der Luft, Frost glitzerte auf den welken Blättern der Bäume, doch es war ein trügerischer Frieden, wie das Gespräch mit Wenk gezeigt hatte.


    Plötzlich durchdrang ein ohrenbetäubendes Geräusch die Stille. Ein markerschütternder Schrei, der mir den kalten Schauer des Entsetzens über den Rücken jagte. Und dann ertönte aus dem Wald der Ruf eines Kriegshorns der Radhora.


    Fast gleichzeitig antwortete Wenk mit seinem eigenen Horn – der Alarmruf für alle Bewohner der Burg. Der Klang drang mir durch Mark und Bein. Einen Moment lang erstarrte ich, unfähig, diesen plötzlichen Wandel zu begreifen. Gerade war meine Welt noch in Ordnung gewesen, im nächsten Moment erbebte sie bis auf die Grundfesten.


    Dolwin aber reagierte sofort. Er rannte die Treppe hinab und schrie Kommandos. Im Wald erklang Hufgetrappel, vielfach, hundertfach. Ich sah große schwarz-weiße Tiere durch den Wald jagen und erinnerte mich daran, dass sie Pferde hießen. Ihre Reiter trugen schlanke Säbel und Ovalschilde, weiß bemalt mit einem roten Astgeflecht darauf. Sie schlugen jeden nieder, der sich außerhalb der Burgmauern befand, die im Wald arbeitenden Männer genau so wie die Frauen, die Bucheckern sammelten oder spielende Kinder. Sie machten keinen Unterschied. Ich konnte nicht begreifen, was ich dort sah. Diese Menschen töteten nicht im Blutrausch, wie es die Plündertrupps der Orks manchmal taten, sondern kaltblütig und mit System.


    «Dolwin», brüllte Wenk, «sie nähern sich dem Tor!»


    Und Dolwin fällte eine Entscheidung, die mir in ihrer brutalen Endgültigkeit die harten Gesetze eines Menschenkrieges aufzeigte: «Schließt das Tor! Alle Schützen rauf auf die Mauer!»


    Die Männer drehten die Winden, knarrend setzten sich die uralten Torflügel in Bewegung. Ich sah, wie die Menschen draußen verzweifelt die Treppe zum Berg hinauf rannten, während der Durchgang sich immer weiter schloss. Die Schützen eilten ins Arsenal, um ihre Bögen zu holen.


    Die Angreifer trugen unter ihren leichten Rüstungen rote Waffenröcke. Ihr Anführer war vollständig in Weiß gekleidet. Sein gleichfalls weißes Banner flatterte im Wind. Darauf prangte ein kahler Baum, wie jener von Dolwin, und er leuchtete scharlachrot.


    Rot wie das Blut der Erschlagenen. Rot wie Daibos, rot wie mein Verderben.


    Meine Knie wurden weich und einen Moment strauchelte ich. Vor lauter Schock war ich unfähig, mich zu irgendeiner Handlung zu zwingen.


    «Das sind Solwins Blutreiter», schrie Wenk, woraufhin das Chaos in der Burg sich noch verdoppelte. Die Frauen und Kinder flüchteten aus dem Burghof in die Gebäude, die Schwertkämpfer sammelten sich beim Feuer. Die Schützen aber rannten die Treppen zum Wehrgang hinauf.


    Draußen war das Durcheinander noch schlimmer. Einige der Ausgesperrten schafften es noch hinein, doch dann gab es einen Rumms und das Tor fiel endgültig zu. Die Männer wuchteten schwere Balken quer davor. Von draußen trommelten die Ausgesperrten verzweifelt dagegen, bis die Blutreiter ihrem Leben ein Ende bereiteten.


    Als die ersten Schützen endlich den Wehrgang erreichten und ihre Bögen spannten, wendeten die Reiter ihre Pferde und galoppierten zurück in den Schutz des Waldes. Und dort verschwanden sie. Vergebens schossen die Krieger ihnen ihre Pfeile hinterher. Sie prallten gegen die Baumstämme oder versanken im Waldboden. Kein einziger Angreifer wurde getroffen.


    Wie gelähmt starrte ich vor mich hin, den Schild auf dem Rücken und das Schwert am Gürtel, und vollkommen nutzlos.


    Vor den Mauern senkte sich eine unheimliche Ruhe auf das Umland, während im Inneren der Burg noch immer Unruhe herrschte. Und doch folgte alles einer vorbestimmten Ordnung. Mich überraschte, dass selbst die Frauen und Kinder nicht weinten und schrien, sondern jeder wusste, was zu tun war und wohin er laufen musste. Bald war kein Zivilist mehr zu sehen.


    «Das war der Vergeltungsschlag für unseren letzten Überfall», hörte ich einen der mit einem Bogen bewaffneten Räuber sagen.


    Vorsichtig lehnte ich mich über die Zinnen und blickte auf den Bereich vor dem Tor. Die blutüberströmten Körper türmten sich dort, weitere Menschen lagen im Wald verstreut. Einige regten sich schwach.


    «Gebt uns Feuerschutz», befahl Dolwin und ließ das Tor einen Spalt weit öffnen. Die Schwertkämpfer quollen nacheinander heraus und formierten sich um die blutigen Körper herum. Sie formten einen schützenden Ring, während ihre Kameraden die übel zugerichteten Körper rasch ins Innere der Burg zogen.


    Endlich gelang es mir, mich aus meiner Schockstarre zu lösen. Ich nahm den Schild von meinem Rücken, zog Jelir aus der Scheide und rannte die Treppe herunter. «Was soll ich tun?», rief ich ziemlich hysterisch, als ich mich durch das Tor drängte und meine Stiefel im Blut standen. Dolwin beachtete mich nicht, er war mit seinem Kommando beschäftigt.


    «Hau ab», sagte ein Mann, der mir am nächsten stand. «Oder willst du als Hackfleisch enden? Du hast hier draußen nichts verloren!»


    «Ich kann nicht tatenlos zusehen», sagte ich mit überschlagender Stimme.


    «Du sollst abhauen, du stehst uns nur im Weg rum», schnauzte ein anderer Schwertkämpfer. «Zurück mit dir!»


    Mit einem Gefühl tiefer Schuld kehrte ich in die schützenden Mauern zurück.


    Die Schwerverletzten oder Toten, die in die Burg gezogen worden waren, wurden sofort von dem alten Mann begutachtet, der Dolwins Vater war. Ihm zur Seite stand eine alte Frau, die mit ihren Helferinnen Verbände herbeibrachte. Doch es war zu spät. Keiner von denen, die niedergehauen worden waren, konnten noch gerettet werden. Die Verletzungen waren zu tief und zu grausam, Schädel, Schultern und Rücken wurden durch die Hiebe gespalten wie geschlagenes Holz.


    Hilflos herumstehend ließ ich mein Schwert sinken, während das Weinen und Klagen der Familien über mich hereinbrach. Die Zeit verstrich, das Chaos legte sich. Als alle Aufgaben verteilt waren, jeder Wächter auf seinem Posten stand und alle Opfer des Überfalls aus dem Wald geborgen worden waren, versammelten einige der Männer sich in Dolwins Raum. Auch ich durfte mich dazu setzen, tief beschämt und mit hängendem Kopf.


    Die Räuber hielten sich nicht mit Klagen auf, sondern berieten sich, was heute und in den kommenden Tagen zu tun sei. Daraus schloss ich, dass es sich um Dolwins treueste Kämpfer und zeitgleich seine Berater handelte. Er entschied nicht allein über die Geschicke der Burg, sondern verließ sich in manchen Dingen ganz auf sie. Ich verstand nun, warum es so enorm wichtig war, dass sich jeder auf den anderen verlassen konnte.


    «War das Solwin?», fragte ich, als eine längere Pause entstand.


    «Nein», sagte Dolwin. «Doch was du gesehen hast, ist sein Banner: Die Winterweide von Niederau, rot auf weißem Grund. Die rote Fabe zeigt an, dass Solwin nun die Blutgerichtsbarkeit innehat.»


    «Was heißt das?»


    «Es heißt, dass er im Namen des Staates Folter anordnen und die Todesstrafe verhängen darf. Die Männer, die uns überfallen haben, sind seine Blutreiter, seine persönlichen Vollstrecker. Eine grausame Elitetruppe, noch schlimmer als die Staatskonstabler. Solwin ist Hoher Richter des Hochgerichts von Vellingrad. Das war der Lohn für seinen Verrat. Er macht sich die Hände nicht mehr selbst schmutzig, das lässt er nun andere für sich erledigen. Solwin hat das Schwert getauscht gegen die Feder, mit der er die Todesurteile unterzeichnet. Und das erste, das er unterschrieb, beinhaltete meinen Namen und den seiner Mutter.»


    Mir fiel auf, dass ich Dolwin nie mit einer Frau gesehen hatte. Ich wagte nicht, nach ihrem Schicksal zu fragen – sein Gesicht war düster. Das Gewicht von Jelir lastete überdeutlich an meinem Waffengurt. Dolwin hatte seinen Sohn an die Republik verloren und ausgerechnet mir dessen Schwert anvertraut. Bei diesem Gedanken spürte ich einen Kloß in meinem Hals.


    Für meine Tatenlosigkeit machte Dolwin mir keine Vorwürfe, weder jetzt noch später, da ich noch kein ausgebildeter Krieger gewesen sei, doch das änderte nichts an meinen Gewissensbissen. So war ich froh, als er einen Tag nach der Trauerfeier für die Gefallenen mit meiner Ausbildung begann, und legte mich mächtig ins Zeug. Er hielt sich nicht mit einer Holzwaffe auf, sondern ließ mich sofort mit dem scharfen Schwert trainieren.


    Er zeigte mir die Grundhaltung mit Schwert und Schild, die korrekte Schrittstellung und dann den Angriff.


    «Naridische Kurzschwerter sind reine Stichwaffen», erklärte er mir. «Ich will nicht sehen, dass du damit in großen Bögen herumschwingst oder wie mit einem Degen fuchtelst. Damit machst du dich angreifbar und erschöpfst zu schnell. So muss das aussehen.» Sein Arm schnellte in einer geraden Linie hervor wie eine zustoßende Viper, mehrmals hintereinander, immer die gleiche Bewegung. «Dein Gegner hält meist einen Schild. Darum stichst du nach seinem Kopf. Den kann er nicht decken, ohne sich selbst die Sicht zu rauben, nicht einmal mit Helm. So! So! So!» Er führte das Schwert in einer Geschwindigkeit, der ich kaum mit dem Auge folgen konnte. «Erstmal stichst du nur nach Hals und Gesicht, bis das ordentlich sitzt. Später kannst du auch den Achseln und nach dem Unterleib stechen. Dabei darf dein Schild niemals sinken. Halte ihn höher – noch höher – so ist es gut, und so bleibst du.»


    Die folgenden Tage tat ich kaum etwas anderes, als auf einen aufgerichteten Holzstamm einzustechen. Meine Arme taten so weh, dass ich sie abends kaum noch bewegen konnte. Einmal versagte mein Schildarm mir den Dienst komplett. Da zwang mich Dolwin erst recht weiterzumachen, bis der Krampf sich lösen würde. Die Schmerzen waren kaum zu ertragen und der Krampf blieb. Trotzdem durfte ich mir keinen Tag Pause gönnen, sondern lernte den Umgang mit dem Schwert auf die harte Tour. Aber ich lernte.


    Als ich endlich alle Stichtechiken sicher beherrschte – das waren, wie gesagt, nicht sonderlich viele – kämpfte ich mit Dolwin von Mann zu Mann. Auch hier standen wir uns mit der scharfen Klinge gegenüber, jedoch in ausreichendem Abstand, so dass wir uns nicht treffen konnten. Diese Art Kampf glich fast einem Tanz. Wir reagierten auf die Bewegungen des anderen, als würden die Treffer uns erreichen können und ich ärgerte mich maßlos, wenn Dolwins Schwert durchgedrungen wäre und in einem echten Kampf meinen Tod bedeutet hätte. Bald übte ich auch mit anderen Männern, denn jeder hatte einen eigenen Stil, offensiver oder defensiver, zögerlicher oder entschlossener.


    Zu jeder Morgendämmerung musste ich gemeinsam mit einigen anderen Männern in voller Rüstung und Bewaffnung einen Lauf durch den Wald absolvieren. Das war Leibesertüchtigung und Patrouille zugleich. Nicht alle Männer waren immer dabei, sie wechselten sich ab, so dass der Großteil in der Burg blieb, doch alle Novizen – außer mir waren das noch zwei Räubersöhne – mussten jeden Morgen mitlaufen. Ich war gut in Form, doch in voller Montur zu rennen war noch eimal eine andere Geschichte als in der leichten Kleidung eines Jägers.


    Wir exerzierten auch im Burghof, wir marschierten und formierten uns. Ich lernte die grundlegenden Befehle und wie ich mich in welcher Situation verhalten sollte. Wir kämpften unsere Schattenkämpfe nun in Formationen, die sich gegenüberstanden, jeder mit der Waffe, die erauch im Kampf trug.


    Es war tiefer Winter, als die Grundlagen bei mir saßen und ich mich an die chronischen Schmerzen in meinen Armen und Beinen gewöhnt hatte. Dolwin erklärte feierlich, meine Grundausbildung sei beendet. Gefeiert wurde das mit einem gestohlenen Hammel, der auf einem Spieß über dem Feuer röstete. Von nun an musste ich nicht mehr den ganzen Tag meinen Leib ertüchtigen oder den Umgang mit der Waffe bis zum körperlichen Versagen üben, sondern nur noch einige Stunden am Tag. Ab sofort durfte ich Wache halten und manchmal Kundschafterdienste leisten. Damit vertrauten mir dir Räuber ihr Leben an und ich nahm meine Aufgabe äußerst ernst. Das, was ich hatte erleben müssen, durfte sich niemals wiederholen.


    Den Rest der Zeit wurde ich jetzt in das Räuberhandwerk eingeführt.


    Dieser Teil meiner Ausbildung begann mit der Orientierung in der Wildnis mit Karte und Kompass, aber auch anhand der Gestirne. Ich lernte wertvolle Kenntnisse über das Überleben in der Wildnis, die ich gern schon früher gewusst hätte. Ich übte ein Feuer zu machen, sauberes Trinkwasser zu gewinnen und lernte, Essbares von Nichtessbarem in der naridischen Natur zu unterscheiden. Die Namen hunderter Pilze, Beeren, Bäume, Sträucher und Kräuter musste ich mir einprägen, vielleicht waren es tausende.


    Ach ja – das Zählen und Rechnen lernte ich zu dieser Zeit auch, abends nach dem Essen, während die anderen noch lange ums Feuer saßen. Dolwins Vater, von dem ich mittlerweile wusste, dass er Vigant hieß, unterwies mich in dem Geheimnis des Lesens und Schreibens, das mich am meisten faszinierte.


    «Ein erfolgreicher Räuber versteht sich in verschiedenen Künsten, um seine Opfer täuschen und überlisten zu können. Aber du bist vermutlich der einzige Halbork, der die gleiche Ausbildung wie ein Adelssohn genießt», sagte er schmunzelnd.


    «Tun das nicht alle Räuber hier?», fragte ich verwirrt.


    «Nein», sagte Vigant, «nur jene, die lernen wollen, werden auch unterrichtet. Den meisten genügen die praktischen Fertigkeiten, das Kämpfen und die Naturkunde. Du bist der Erste, der sich in diesem Maß an abstrakter Theorie interessiert zeigt. Und darum lehre ich dich alles, wohin deine Fragen dich führen. Grammatik, Geometrie, Alchemie, Algebra ... lass dich von deinen Wünschen treiben und wir werden sehen, wohin sie dich führen.»


    Und Vigant hielt sein Versprechen. Fast wie von selbst lernte ich dabei Uncári, die Muttersprache der Naridier, denn es war mir unangenehm, dass sie extra für mich stets auf Asami sprachen, was jedoch nicht alle von ihnen beherrschten. Im übrigen erfuhr ich auch, dass der orkische Dialekt Tsvatnesh genannt wird, was schlichtweg bedeutet: Sprich! Ich wusste bald auch, dass allein er und Dolwin tatsächlich dem Stand nach Ritter und damit echte Raubritter waren. Ihre Getreuen hingegen waren Räuber. Diese Eigenbezeichnung trugen sie durchaus mit Stolz, auch wenn Wenk immer wieder versuchte, sie davon zu überzeugen, sich lieber Freiheitskämpfer zu nennen. Es war ihnen zu sperrig, zu spießig, zu unpersönlich und zu kitschig war es ihnen auch. Sie wollten Räuber heißen. So war Wenk der einzige Freiheitskämpfer, obwohl er das Gleiche machte, wie alle anderen auch.


    Dolwin und Vigant lernten ihrerseits bereitwillig von mir, denn das Jagen hatte seit meiner Kindheit zu meinen Aufgaben gehört. Insbesondere, was den Fallenbau und ans Wild angepasste Jagdstrategien betraf, machte mir hier niemand etwas vor. Pelze zu erjagen, zu bearbeiten und auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen wurde meine wichtiste zivile Aufgabe, so dass wir durch meine Wilderei recht gute Einnahmen erzielten. Ich war froh, ihnen etwas für ihr Engagement zurückgeben zu können.


    Das Essen war jederzeit ausreichend, nach meinem Empfinden sogar üppig, auch wenn sich die Frauen jedes Mal entschuldigten, dass sie uns nicht noch kompliziertere Gerichte auftischen konnten. Ginge es nach ihnen, würden wir jeden Tag Drei-Gänge-Menüs verzehren, und zwar zu jeder einzelnen Mahlzeit.


    Als ob mein Körper das Wachstum nachholen wollte, das sich aufgrund der Zustände in den Bruthöhlen verzögert hatte, wuchs ich von Mond zu Mond mehr in die Höhe und in die Breite. Nacken und Schultern wurden kräftig. Meine Fangzähne oben und unten gewannen an Länge, so dass meine Sprache sich veränderte. Mir wuchs ein richtiges Raubtiergebiss, über dem ich gerade noch die Lippen schließen konnte, mein Schädel wurde breit. Kurzum: Auch wenn ich mein genaues Alter nicht kannte, war ich eindeutig kein Jüngling mehr, sondern ein Mann. Das Haar trug ich nach naridischer Sitte kurz und rasierte meinen spärlichen Bart gänzlich glatt.


    Der grausame Überfall, der vor Beginn meiner Ausbildung über uns hinweggebrandet war, blieb vorerst der Letzte, da die Blutreiter und die Radhora vermehrt mit den Söldnern der Grünen Kader zu tun hatten, die sich immer weiter vorwagten.


    In diesen Jahren, in denen ich erwachsen wurde, war ich glücklich.

    Klingenkreis

    Ich spürte, wir mir heiße Flüssigkeit von der Stirn die Nase hinablief. Mein rechtes Auge war verklebt vom Blut und so geschwollen, dass ich es nicht mehr offenhalten konnte. Aber mein schmerzender Schädel war Kleinkram gegen das, was Arvidas höhnisches Grinsen in mir auslöste. Dolwin hatte noch nichts gesagt, doch ich wollte seine Antwort auch gar nicht mehr hören. Alles war umsonst gewesen. Wie hatte ich je die Hoffnung hegen können, eine Gemeinschaft von Menschen würde mich in ihrer Mitte willkommen heißen? Ich war zu viel Mensch, um Ork zu sein, und zu wenig Mensch, um Mensch zu sein. Weder Fisch noch Fleisch. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.


    Ich fischte den Kompass aus der Tasche und händigte ihn zusammen mit der Karte einem der Männer aus. Wie sollte es weitergehen? Bei den Skunks galt ich als Mörder des Häuptlings. Der Rückweg war mir verwehrt, es gab nur den Weg nach vorn. Doch wohin? Vielleicht konnte ich den Winter in den Erzminen von Trux verbringen, allen Warnungen zum Trotz, mir ein Polster ansparen und im Frühling in den Süden reisen. Wenn der nächste Herbst anbrach, würde ich nicht frieren, wenn ich mich am anderen Ende der Welt befand.


    Ich wandte mich ab, um zu gehen, aber auch, um mein Gesicht zu verbergen. Ich wollte nicht, dass jemand mir den Schmerz ansah, besonders nicht Arvida.


    «Wo willst du hin?», fragte Dolwin.


    «Fort», lautete meine Antwort nur und meine Stimme klang erbärmlich.


    «Möchtest du nicht die Entscheidung hören?»


    «Nein.»


    Ich betrat den Pfad, von den wir gekommen waren, aber von dort kam mir unerwartet Wenk entgegen. Was machte der denn auf einmal her und wo kam er her? Er griff meine Schultern, drehte mich um und schob mich zurück vor Dolwin. Dort stand ich erneut, Angesicht in Angesicht mit meinem Verderben, das den Namen Arvida trug. Inzwischen hatte ihr jemand die Hände losgebunden. Frei und stolz stand sie da, siegesgewiss in die Runde blickend.


    «Hier sind wir nun versammelt, um die letzte Aufgabe zu bewerten», sprach Dolwin und sah von einem zum anderen. «Arvida wurde von Serak an den Händen gefesselt und hierher getrieben wie eine Gefangene. Ihre Sicht, wie es dazu kam, kennen wir. Jetzt möchte ich die andere Seite hören. Also, Serak? Was hat sich im Wald zugetragen?»


    Ich hob den Blick meines gesunden Auges und versuchte, Dolwins Gesicht zu lesen. Interessierte ihn meine Sicht überhaupt? Ich war gewohnt, dass mir ohnehin niemand glaubte. Ich schnaufte, ehe ich mich dazu aufraffen konnte, zu antworten. «Wir haben uns nicht einigen können. Darum hat mir Arvida den Kompass geklaut. Als ich versuchte, ihn zurückzuholen, warf sie mir einen faustgroßen Stein ins Gesicht. Der zweite, den sie nach mir warf, war so groß wie mein Kopf. Deshalb habe ich sie niedergeschlagen, verschnürt und mitgenommen.»


    «Lügner», schrie Arvida, dann sah sie hilfesuchend zu Dolwin. «Er lügt», wiederholte sie und sah ihn flehend an.


    Ich schloss resigniert mein Auge. Als ich es wieder öffnete, fühlte ich mich müde.


    «Wenk? Deine Einschätzung?» Dolwin blickte über uns hinweg.


    Der Wächter nickte in meine Richtung. «Es hat sich zugetragen, wie Serak sagt.»


    Verwirrt starrte ich Wenk an. Woher wusste er das? Darauf gab es nur eine Antwort: Er war uns während der Prüfung gefolgt, hatte uns aus sicherer Entfernung beobachtet und belauscht. Natürlich! Der gute Wenk! Wie hatte ich auch annehmen können, dass ein sorgfältig planender Mann wie Dolwin irgendetwas dem Zufall überlassen würde? Ich schämte mich für meine Fehleinschätzung, fühlte tiefe Dankbarkeit gegenüber Wenk und sah erneut Dolwin an, das Herz voll neuer Hoffnung. Oder war es dafür noch zu früh?


    «Du, Serak, hast Arvida weder getötet noch den wilden Tieren zum Fraß im Wald zurückgelassen», stellte Dolwin fest. «Dabei hättest du sie in Notwehr auch anders behandeln können. Warum hast du dich entschieden, ihr nichts anzutun und sie mit zu uns zu nehmen?»


    «Weil ich kein dreckiger kleiner Mörder sein will», antwortete ich. «Ich will Krieger werden.»


    Und nun lächelte Dolwin. Er legte mir die Hand auf die Schulter. «Du hast die Prüfung bestanden, Serak.»


    «Nein», schrie meine Rivalin verzweifelt. «Nein, nein, nein!» Doch niemand beachtete sie. Arvida ging auf die Knie. «Bitte, ich flehe dich an! Ich werde dich nie wieder enttäuschen!» Aber es war zu spät. Sie hatte das Vertrauen des Anführers verwirkt.


    «Es gibt nichts, was ich mehr verabscheue als Verräter. Pack dich, bevor ich dich erschlage», knurrte Dolwin, und als er seine Hand auf den Griff seines Schwertes legte, rannte Arvida.


    Auf dem Heimweg ging Dolwin neben mir. Ich nutzte die Gelegenheit, ihn auszufragen. «Es ist mir eine Ehre, dass deine Wahl auf mich gefallen ist. Aber vor allem bin ich dankbar, weil ich bleiben darf. Die Gemeinschaft ist mir in den letzten Tagen ans Herz gewachsen.»


    Er lächelte. «Das freut mich zu hören.»


    «Aber ich habe auch Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun. Seit ich in Naridien lebe, ist mir bewusst, wie groß die Unterschiede zwischen Orks und Menschen sind. Damit meine ich nicht das Aussehen, denn das kann niemand ändern, sondern die Sitten. Ich will kein Wilder sein. Mein Vater war Naridier. Auch wenn er nicht mehr lebt, wünsche ich mir, dass er stolz auf seinen Sohn wäre. Ich möchte lernen, wie ein Mensch zu denken und zu handeln.»


    Dolwin nickte wohlwollend. «Ich will dein Lehrer sein, nicht nur im Umgang mit dem Schwert, sondern auch, was das Zusammenleben betrifft. Entscheidend für den Erfolg ist dein Wille – und du willst. So wird dir alles gelingen, was du dir vornimmst. Aber auch ich habe einige Fragen an dich, um dich besser kennenlzulernen. Meine erste: Was, glaubst du, wurde in den letzten Tagen geprüft?»


    «Am ersten Tag wurde geprüft, ob ich den Mut habe, Blut zu vergießen. Das habe ich. Am zweiten Tag, ob ich den Verstand habe, ein Rätsel zu lösen und die wahre Botschaft zu deuten. Das habe ich, aber ich kehrte nicht wohlbehalten heim. Am dritten Tag wurde meine Orientierungsfähigkeit auf die Probe gestellt sowie meine Bereitschaft, zusammenzuarbeiten. Auch das ist mir gelungen, so weit Arvida es zuließ.»


    Dolwins Lächeln wurde breiter, bis es ein Grinsen war. «Das klingt nach einer guten offiziellen Antwort. Doch da du die Aufgaben erfolgreich gelöst hast, erfährst du die Wahrheit. Jede dieser drei Herausforderungen war am Ende nur eine Prüfung deines Charakters. Der Rest diente lediglich dazu, diesem Ziel einen Rahmen zu geben. Die erste Prüfung gab dir die Möglichkeit zu fliehen oder für uns zu kämpfen. Du hast gekämpft. Die zweite Prüfung konfrontierte dich mit einer ungerechten Behandlung. Denn natürlich war das unfair, das sollte es auch sein, für euch beide. Du hast die Zähne zusammengebissen und nicht geklagt, während Arvida ihren Vorteil schamlos ausnutzte. Die dritte Prüfung aber provozierte euch zum gegenseitigen Verrat. Sie hätte erfolgreich gelöst werden können, indem ihr trotz meiner Drohung, nur einen von euch zu erwählen, zusammengehalten hättet. Das lief leider nicht ganz glücklich, doch du hast Arvida trotzdem anständig behandelt. Damit hast du alle drei Prüfungen des Charakters bestanden. Den ganzen Rest – das Kämpfen, die Orientierung in der Wildnis, das Handwerk und so weiter – all das lässt sich lernen. Für so etwas braucht es keine Prüfung, sondern lediglich einen Lehrer.»


    Der Herbstwind strich sanft durch meine Haare und trug den Duft von Laub und Erde mit sich. Gemeinsam mit Dolwin und den anderen Männern kämpfte ich mich durch das Dickicht des Waldes auf dem Weg zurück zu unserer Burg, zurück nach Hause. Während wir wanderten, hörte ich ihren Gesprächen zu und genoss ihr Lachen. Die letzten roten Sonnenstrahlen des Tages erhellten den Wald, während das Herbstlaub unter unseren Füßen raschelte.


    «Hast du Fragen?», erkundigte sich Dolwin, als der Weg wieder erlaubte, nebeneinander zu gehen.


    «Ja, viele. Ich habe mir Gedanken gemacht, was am Wichtigsten für die Zukunft ist. Kannst du mir mehr über die Werte und die Vision unserer Gemeinschaft erzählen?»


    «Eine klug gestellte Frage. Ich begrüße dein Interesse. Dass wir nicht im Einklang mit dem modernen naridischen Recht leben, hast du dir sicher bereits gedacht. Raubritter nennt man uns, und auf jeden von uns steht ein Kopfgeld.»


    «Aber warum das alles?»


    «Die Antwort liegt in der Geschichte und im Wandel der Zeiten. Um uns zu verstehen, musst du wissen, dass wir keine gewöhnliche Bande von Räubern und Dieben sind. Wir sind ein Zusammenschluss von handverlesenen Personen, die den Mut besitzen, noch den alten Traditionen zu folgen aus der Zeit, da Naridien noch keine Republik war, sondern ein Fürstentum.»


    «Wenn ich ehrlich bin, weiß ich immer noch nicht, was ein Raubritter ist. Was macht euch so besonders?»


    «Es ist eine lange Geschichte, die ich dir ein andermal erzählen will. Es ist für mich nicht leicht, darüber zu sprechen, und manchmal zu viel. Was uns im Inneren auszeichnet, Serak, ist unsere Entschlossenheit, für unser Recht zu kämpfen. Wir sind stolze Krieger, die keine Scheu haben, unsere Stärke auch mit der Klinge zu beweisen. Zusammen sind wir eine unaufhaltsame Kraft, die für Gerechtigkeit und Freiheit eintritt. Jeder von uns hat eine einzigartige Vergangenheit und trägt dazu bei, die Tradition am Leben zu erhalten, die Naridien groß gemacht hat. Die Burg gehört meiner Familie seit Jahrhunderten. Sie war ein Leuchtfeuer der Zivilisation, als Vellingrad noch ein Fischerdorf war. Heute bietet sie jenen Zuflucht, die ihren Eid nicht vergessen haben und das Banner noch immer hoch halten.» Er nickte mir zu. «Und jenen, die unsere Gesinnung teilen.»


    Er wies in Richtung der Baumkronen, wo sich in der Ferne die beiden verbliebenen Türme der Burg vor dem Himmel abhoben. In den letzten Tagen war ich an den Rand meiner körperlichen und geistigen Kräfte gegangen. Doch jetzt, mit jedem Schritt, der uns näher zur Burg führte, erfüllte mich Hoffnung. Obwohl die Sonne hinter den Baumwipfeln versank, ging sie für mich auf.


    «Gibt es in Zukunft Aufgaben, die ich erfüllen muss, um ein vollwertiges Mitglied zu werden?»


    «Selbstverständlich, Serak. Jeder muss seinen Teil beitragen, nur so funktioniert eine Gemeinschaft. Auch ich lehne mich nicht zurück, sondern mache mir jeden Tag die Hände schmutzig, und das tue ich gern, denn das ist meine Pflicht als Lehnsherr. Ohne meine Getreuen wäre jeder Kampf vergebens. Gemeinsam sind wir mehr als die Summe aller Teile. Und du bist nun einer von uns. Wir werden dich anlernen und in deine Aufgaben einführen. Es wird nicht immer leicht sein, aber jeder Schritt wird dich deiner Bestimmung als Krieger näher bringen. Und das Schwert für eine gute Sache zu schwingen ist doch etwas anderes, als für Geld, oder?»


    Dolwins Worte waren Musik in meinen Ohren. Hier erwartete mich ein Leben, in dem mein Name und meine Person eine Bedeutung hatten. «Ich bin bereit.»


    Er lächelte. «Das höre ich gern, Serak, doch stelle sicher, dass deine Entschlossenheit sich auch jederzeit in deinem Handeln widerspiegelt. Worte sind allein dann etwas wert, wenn man sich auf sie verlassen kann. Wir alle sind nicht nur eine Gemeinschaft, sondern eine Familie, die zusammenhält und sich gegenseitig stärkt. Darum nehmen wir ausschließlich Leute auf, die hundertprozentig zu uns passen.


    «Was ist mit Arvida?»


    «Sie soll ihr Leben behalten. Ihr elendes Dasein auf den Straßen von Vellingrad wird ihr Strafe genug sein.»


    Als die Nacht hereinbrach und der Himmel sein Gewand aus funkelnden Sternen anlegte, erreichten wir die Ruine. Erstmals im Leben kam ich zu Hause an. Ich spürte in jeder Faser, dass dies ein neuer Anfang war, und könnte tanzen vor Glück.

    Dolwin klopfte mir auf die Schulter. Wir waren gemeinsam zurückgekehrt, trotz der Herausforderungen, die uns heute hätten trennen können. Sie hatten uns zusammengeschweißt. In Zukunft waren wir bereit, uns Seite an Seite jedem Kampf zu stellen, dem Kampf für unsere Burg und unsere Gemeinschaft.


    Im Burghof sollte ich warten. Dolwin ging kurz hinein. Bald kehrte er mit einem Schwert und einem Rundschild zurück. Alle Bewohner hatten sich um uns versammelt. Sie schwiegen, als Dolwin mich zu sich rief.


    Nervös ging ich zu ihm.


    Er sprach feierlich: «Bist du bereit, die Bewohner dieser Burg mit deinem Leben zu schützen und meinem Befehl zu folgen, Serak?»


    «Ich bin bereit, die Bewohner dieser Burg mit meinem Leben zu schützen und deinem Befehl zu folgen, Dolwin», antwortete ich fest.


    Damit überreichte er mir den Schild. Ich schob meinen linken Unterarm durch die ledernen Schlaufen und spürte das Gewicht. Obwohl der Rundschild nicht groß war wog er viel.


    «Und bist du bereit, an meiner Seite für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen, Serak?», fuhr Dolwin fort.


    «Ich bin bereit, an deiner Seite für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen, Dolwin», sagte ich ergriffen.


    «So heiße ich dich in unserer Gemeinschaft willkommen. Mögest du deinen Weg finden und alle Widerstände mit Leidenschaft und Mut überwinden.»


    Damit überreichte er mir auch das Schwert mit dem Heft voran. Die Männer und Frauen jubelten und klatschten, als ich meine Finger darum schloss. Der Griff war kurz und dick, mit rauem Leder umwickelt und einem schweren Knauf am Ende, so dass meine Hand nicht abrutschte. Am Ende besaß er eine Spitze, mit der man vermutlich Schädel einschlug. Es war das erste Mal, dass ich eine solche Waffe hielt. Die Klinge war so lang wie mein Arm und wie der Schild überraschend schwer.


    «Das ist ein naridischer Einhänder», erklärte Dolwin. «Sein Gegenwert ist für niemandem zu bezahlen, der kein reicher Mann ist. Für den Kampf in engen Formationen und im Wald ist ein Einhänder bestens geeignet. Sein Name ist Jelir. Das ist Uncàri und heißt Spalter. Jelir hat meinem Sohn Solwin gehört. Da er ihn nie wieder führen wird, gehört es nun dir.»


    Fasziniert betrachtete ich die Klinge, in der sich das rote Licht von Daibos spiegelte. Feine Zeichen schimmerten eingraviert, vermutlich der Name Jelir. «Es sieht genau so aus wie dein Schwert», stellte ich fest.


    «Abgesehen von der Gravur. Es sind Zwillingsschwerter. Sie wurden vom selben Schmied parallel gefertigt und aus dem selben Eisen gegossen. Der Zwilling deines Schwertes heißt Jithir, Stecher.» Er klopfte auf die Waffe an seinem Gürtel.


    «Und wem gehörte der Schild? Auch deinem Sohn?»


    Dolwin lächelte traurig. «Nein, der Schild an deinem Arm gehört mir. Mein Sohn und ich haben stets den Schild des anderen getragen.»


    Die Männer stellten sich jetzt in einen Kreis, und nahmen mich mit dazu. Gemeinsam hoben wir die Schwerter in den Himmel, wo sich die Spitzen vor den beiden Monden berührten.


    In dieser Nacht, umgeben von den Ruinen unserer Burg, erneuerten die Männer ihren alten Eid und ich nahm erstmalig daran teil.


    Dolwin rief: «Seit´an Seit´, treu allzeit!»


    Und wir antworteten im Chor: «Seit´an Seit´, treu allzeit!»


    So begann eine neue Zeit meines Lebens, die Zeit des Rekruten, getragen von Freundschaft und der Entschlossenheit eines Kämpfers, der immer wieder aufsteht.

    Die letzte Prüfung

    Als wir zu Sonnenaufgang am Feuer im Burghof eintrafen, saß die Gemeinschaft beim Frühstück. Dolwin war nirgends zu sehen. Man reichte jedem eine Tasse Gulasch vom Vortag und heißen Tee. Wenk, der Nachts über die Sicherheit der Burg wachte, grinste, weil wir zu zweit erschienen. Man sah uns an, dass wir kaum geschlafen hatten. Jedoch ging Arvida mit ihrem Frühstück ein paar Schritte abseits, um allein zu essen, und ich setzte mich zu Wenk.


    Ich freute mich, als er mir für die Prüfung viel Erfolg wünschte.


    Nach dem Essen führte mich der Greis, der wie Dolwin einen Wappenrock trug, ins Innere der Ruine. Dort zog er einen schweren Schlüssel hervor. Wir betraten nun einen Bereich, der mir bisher verschlossen geblieben war. Wir folgten einem Gang, der noch immer prunkvoll war wie in alten Zeiten. Die zerstörerische Macht, die einen Teil der Mauern eingeschlagen hatte, war nicht bis hierhin vorgedrungen. Ein grüner Teppich kennzeichnete unseren Weg. Er endete bei einer zweiflügeligen Holztür mit aufwändigen Schnitzereien. Der alte Mann klopfte. Als Dolwins Stimme erklang, trat er zunächst ohne mich ein. Ich hörte, wie sie redeten, konnte aber die Worte nicht verstehen. Kurz darauf öffnete er die Tür, um mich hineinzubitten.


    Ich atmete tief durch und straffte meine Haltung, bevor ich mit festem Schritt den Raum betrat. Ein grüner Kachelofen spendete wohlige Wärme. Die Luft roch nach dem Ruß zahlreicher Kerzen, die auf einem Kronleuchter brannten, der aus Hirschgeweihen gefertigt war. Es war ein wenig stickig. Ich kämpfte meine Aufregung herunter, indem ich meinen Blick durch den Raum schweifen ließ.


    Die blanken Steinmauern verhießen Standhaftigkeit und Stärke. Zahlreiche bunte Banner wehten sanft in der warmen Ofenluft. Dazwischen hingen Gemälde, auf denen vergangene Schlachten, Siege und Niederlagen in lebendigen Details festgehalten waren. Ich sah keinen Staub darauf. Dolwin von Niederau hielt sie in Ehren. Direkt hinter ihm prangte ein Rundschild an der Wand, der mit Ästen und grünem Laub bemalt war. Die Scharten alter Kriege zierten die Oberfläche wie Narben, die nie vergessen werden sollten. Darunter hing ein Speer. Im Mittelpunkt des Raumes stand ein massiver Eichentisch, das Holz war dunkel von zahllosen Jahren. Darauf türmten sich Briefe, Tabellen und Karten. Dolwin organisierte das Leben der Gemeinschaft anscheinend ausgesprochen gründlich.


    Er saß auf einem gewaltigen hölzernen Stuhl – ich bin geneigt zu sagen: Thron. Mein Herz schlug ziemlich schnell. Ich spürte seinen Blick auf mir ruhen. Aber ich blieb aufrecht stehen und sah ihm in die blauen Augen. Was mochten sie schon alles gesehen haben? Wer war Dolwin von Niederau?


    Auch wenn ich ihn kaum kannte, fühlte ich mich ihm nahe, denn ich ahnte, dass er, wie ich, harte Zeiten die Stirn geboten hatte. Mehr noch, ich war sicher: Wenn jemand hier in Naridien meine Situation verstand, dann er. Umso entschlossener war ich, die letzte Prüfung zu meistern. Ich würde mich gegen alle Widerstände behaupten und als Kämpfer beweisen.


    Die Tür wurde hinter mir ein zweites Mal geöffnet. Arvida trat ein. Sie stellte sich neben mich, dann versank sie in einer Verneigung. Das erschien mir merkwürdig, doch ich schwieg, denn es oblag Dolwin, das Gespräch zu eröffnen.


    «Ihr beide seid hier, um eure letzte Prüfung anzutreten», sagte er schließlich.


    «Ja», sagten Arvida und ich synchron, worauf wir einen kurzen Blick wechselten.


    Dolwin reichte uns jeweils einen Gegenstand. Arvida bekam ein zusammengefaltetes Pergament augehändigt und ich einen Kompass. «Eure Aufgabe ist es, den Turm zu finden, der auf dieser Karte eingezeichnet ist. Früher war er von nicht unerheblicher Bedeutung, weil er als Maut- und Zollstelle diente. Außerdem wurde die Einfuhr von Edelpelzen und Torfkohle kontrolliert. Heute steht er leer, ihr könnt euch ihm gefahrlos nähern. Wenn ihr den Turm erreicht hab, werde ich entscheiden ob einer von euch Mitglied unserer Bande werden darf.»


    Erneut wechselten Arvida und ich einen Blick. Nur für einen von uns gab es Platz in Dolwins Gemeinschaft, und trotzdem besaß jeder von uns nur ein einziges Hilfsmittel zur Orientierung. Ich ahnte, dass diese Prüfung in jeder Hinsicht die Schwierigste von allen werden würde.


    Wir verließen die Burg gemeinsam und begannen unsere Reise durch den morgendlichen Wald. Arvida stapfte vorneweg und ich folgte ihr. Dabei beobachtete ich die Kompassnadel, die stets in die gleiche Richtung zeigte, ganz egal, wie oft wir abbogen. Ich hatte noch nie mit einem solchen Instrument gearbeitet, aber der Zweck dieses Prinzip wurde mir rasch klar.

    Nach einer Weile steckte ich den Kompass in meine Tasche und ergriff Arvidas Schulter. «Warte.»


    Widerwillig blieb sie stehen. «Was ist denn?»


    «Momentan folgst du nach Gefühl einer Richtung. Aber es wäre keine Prüfung, wenn es derart leicht wäre, den Turm zu finden. Das hier sind die Ausläufer der Kandoren, die Landschaft wird bald felsig und zerklüftet. Wir brauchen einen Plan. Du hast die Karte und ich den Kompass. Man benötigt beides, um sich zuverlässig orientieren zu können. Dass wir zusammenarbeiten müssen, ist offensichtlich.»


    «Das habe ich gestern Abend schon gesagt.» Sie schmunzelte, doch es wirkte verkrampft. «Gib mir mal den Kompass, damit ich die Karte ausrichten kann.»


    Ich zog einen Mundwinkel zur Seite. «Ich habe einen besseren Vorschlag: Öffne zuerst die Karte und lass uns gemeinsam hineinschauen, bevor ich den Kompass vorzeige.»


    «Die Reihenfolge ist doch völlig egal!»


    «Eben. Es sollte dich nicht stören, den ersten Schritt zu machen.»


    Ihr Lächeln erstarb. «Ich dachte, wir hätten gestern unsere Differenzen aus dem Weg geräumt?»


    «Haben wir», sagte ich, «aber das gilt nur für die Vergangenheit. Dass ich dir verziehen habe, heißt nicht, dass ich dir in Zukunft vertrauen werde.»


    Sie schaute mich bitterböse an. Beleidigt wandte sie sich ab, weil ihr kleines Spielchen bei mir nicht funktionierte.


    Eine Weile stapften wir noch zusammen durch den Wald. Anfangs versuchten wir, durch theoretische Überlegungen eine Lösung zu finden, aber jeder hatte seine eigenen Vorstellungen davon, was der beste Pfad wäre. Verlässliche Fakten gab es ohne eine Zusammenarbeit unserer Hilfsmittel nicht. Alle Überlegungen blieben Spekulation. Wir diskutierten und zankten uns fast die Köpfe ab, versuchten uns gegenseitig zu überreden, den ersten Schritt zu machen, doch keiner vertraute dem anderen.


    Schließlich gingen wir nur noch schweigend hintereinander her. Es war Mittag, als Arvida stehen blieb und auf eine Gesteinsformation starrte, die uns den Weg versperrte. «Diese Felsen sollten dort nicht sein», murmelte sie.


    «Na toll. Und was heißt das? Haben wir uns verirrt?»


    «Vielleicht», sagte sie. «Gib mir den Kompass, ich kontrolliere das nach.»


    «Ich behalte ihn in der Hand und lasse dich schauen, wenn du vorher die Karte öffnest», antwortete ich stur. «Bisher hast nur du einen Blick hineingeworfen.»


    «Und du hast als Einziger Zugriff auf den Kompass!» Sie ballte die Fäuste. «Sobald du den Weg kennst, stößt du mich in die nächste Schlucht und streichst den Erfolg allein ein. Vergiss es!»


    Auch diesmal kamen wir zu nicht zu einer Einigung. Wir sprachen für die weitere Strecke kein Wort miteinander. Da Arvida die Karte besaß, war sie von vornherein im Vorteil und das wusste sie genau. Sobald sie diese nach Norden ausgerichtet hatte, brauchte sie mich nicht mehr. Das war auch der Grund, warum ich mich an ihre Fersen heftete, denn ansonsten hätte ich keinerlei Anhaltspunkt, wo der Turm liegen könnte.


    Als wir nach vielen Stunden eine Schlucht erreichten, die unseren Weg jäh beendete, erfüllte uns beide Hoffnungslosigkeit. Da drehte sich Arvida zu mir herum und sah mir in die Augen, ein schmerzliches Lächeln auf den schmalen Lippen. «An dieser Stelle Danke für alles.» Sie umarmte mich. Ehe ich mich versah, riss sie mir den Kompass aus der Tasche und rannte davon.


    «Stehenbleiben», brüllte ich, doch sie lief, was ihre Beine hergaben.


    Ich kochte vor Wut. Wenn sie mir jetzt entkam, würde sie Mitglied der Gemeinschaft werden. Ich aber müsste den Winter als Landstreicher verbringen, der einen langsamen und einsamen Kältetod starb. Nein, diese Prüfung würde nicht so enden wie die zweite! Dass ich Spuren lesen konnte, erwies sich als Vorteil, denn Arvida hinterließ auf ihrer Flucht sehr deutliche Fußabdrücke. Obwohl ich sie bald aus den Augen verlor, gelang es ihr nicht, mich abzuschütteln. Ich ließ ihr bewusst einen Vorsprung, um sie in Sicherheit zu wiegen, tauchte dann jedoch unvermittelt hinter ihr auf, gönnte ihr keine Verschnaufpause.


    Ich wurde ganz Jäger und behandelte sie wie ein gehetztes Reh. Es waren Ausdauer und Intelligenz, die den Ausschlag geben würden, nicht die Geschwindigkeit. Als ich ihr die Erschöpfung bereits deutlich anmerkte, überholte ich sie in einem weitläufigen Bogen und stieß dann erneut auf ihren Pfad.


    «Buh», sagte ich und trat böse grinsend in ihr Blickfeld. «Kompass und Karte, aber dalli.»


    «Vergiss es», schrie sie und ihr Kopf war rot vor Anstrengung und Wut. Sie schlug einen Haken und rannte schwer keuchend den Pfad zurück, den sie gekommen war. Das Manöver war leicht zu durchschauen. Da sie sich auf den Wegen hielt, war ihre Fluchtroute für mich leicht zu erraten. Was Ausdauer betraf, war ich eindeutig im Vorteil. Die Jahre als Jäger hatten mich trainiert. Arvida pfiff bereits aus dem letzten Loch, während ich noch zahlreiche Reserven hatte. Ich rannte erneut einen Bogen und fing sie ein zweites Mal ab.


    Ich hielt ihr die offene Hand entgegen. «Kompass und Karte, ich sage das kein drittes Mal. Wenn ich dich das nächste Mal stelle, wird es schmerzhaft.»


    Da hob sie einen faustgroßen Stein und schleuderte ihn in meine Richtung. Er traf mich genau zwischen die Augen, wie seinerzeit die Tonflasche von Gory Gierschlund. Wann lernte ich endlich, fliegenden Gegenständen auszuweichen? Es war ein Volltreffer. Ich plumpste mit dem Hintern auf den Waldboden, wo ich benommen sitzen blieb, um mein Bewusstsein ringend Der Wurf war nicht von schlechten Eltern gewesen. Nun aber nahm Arvida einen zweiten, weitaus größeren Stein, den sie mit beiden Händen anheben musste. Sie hielt ihn hoch über den Kopf und kam mit grimmigem Blick auf mich zu.


    «Du wirst nicht länger zwischen mir und meinen Träumen stehen», posaunte sie.


    Ich kam wieder auf die Beine, wankend, aber entschlossen. «Du vergisst, wen du vor dir hast», grollte ich und legte die Hand um den Griff meines Jagdmessers. «Tu jetzt nichts, das du bereuen würdest. Und jetzt her mit den Gegenständen, dann lasse ich dich vielleicht am Leben.»


    Wütend heulte sie auf. «Wer bist du schon, WAS bist du schon?!»


    Sie schleuderte den großen Stein in Richtung meines Kopfes. Diesmal wich ich aus. Polternd krachte er gegen einen Baum, dessen Rinde absplitterte. Wäre das mein Schädel gewesen, wäre ich tot. Nun gab es auch für mich kein Zögern mehr. Ich ging auf Arvida los und eine wüste Schlägerei entstand. Mit dem Knauf meines Jagdmessers setzte ich ihrer heftigen Gegenwehr ein Ende. Schlaff sackte sie zusammen. Ihre Beule war allerdings nichts gegen die stark blutende Platzwunde an meiner Stirn. Die Schwellung begann sich auf mein rechtes Auge auszubreiten, so dass ich damit kaum noch etwas sah.


    Ich setzte mich auf sie und packte ihren Kragen, das Jagdmesser noch immer in der Hand. «Wie wäre es, wenn ich dir die Kehle aufschneide, hm? Wenn ich mich so aufführe wie du, du mieses Stück?»


    Sie wagte nicht zu antworten, doch ihr Blick war voller Hass.


    «Was ist, hast du die Hosen voll? Soll ich die die Kehle aufschlitzen wie einem Stück Wild?»


    Noch immer schwieg sie, ihre Unterlippe zitterte.


    «Ich habe jeden Grund dazu», grollte ich, «aber an dir mache ich nicht mein Messer schmutzig.» Ich wickelte mein Halstuch ab und fesselte ihr damit die Hände hinter den Rücken. «Hoch jetzt!»


    Wankend stand sie auf. Ich nahm ihr Kompass und Karte ab, untersuchte sorgsam den Weg und versuchte, unsere bisherige Strecke zurückzuverfolgen. Das ist nicht leicht, wenn man noch nie eine Karte gelesen hat, doch zum Glück verstand ich bald das Prinzip. Zufrieden packte ich die beiden Hilfsmittel in meine Tasche. Ich trieb Arvida mit dem Jagdmesser vor mir her, bis wir am Nachmittag gemeinsam den Turm erreichten.


    Da sprang eine Truppe von Männern aus ihrem Versteck. Sofort umzingelten sie uns. Einer von ihnen war Dolwin von Niederau. Arvida stieß einen erleichterten Schrei aus. «Hilfe», rief sie. «Der Ork will mich umbringen! Er hat mir die Karte geklaut!»


    Dolwin schaute mich sehr ernst an. Es dauerte, ehe er das Wort ergriff. «Einer von euch hat die Prüfung nicht bestanden», sagte er langsam.