Räuberleben
Meine Aufnahme in die Reihen der Gemeinschaft wurde mit einem Fest besiegelt. Die bislang zurückhaltenden Männer und Frauen begrüßten mich herzlich. Von den Kindern abgesehen, die sich noch immer vor mir fürchteten, schien es niemanden zu stören, dass ich ein Halbork war. Es, wie man es mir erklärt hatte: In Naridien bedeutete die Ethnie nichts.
Anschließend zeigte mir Dolwin die Burg. Nun durfte ich auch die verschlossenen Bereiche betreten. Die überwucherten Mauern erzählten eine Geschichte von Stolz und Widerstand, von einem Adel, der sich mit aller verbliebener Kraft gegen den Wandel der Zeiten wehrte. Ich konnte förmlich das Echo der vergangenen Schlachten in den Rissen und Trümmern der einst prächtigen Burg spüren und Dolwin erklärte mir auch, dass der Baum der Edlen von Niederau auf dem Wappen einst in grünem Laub gestanden hatte.
«Wenn dieses Land wieder rechtmäßig uns gehört und wir die Burg wieder aufbauen, dann wird auch die Weide von Niederau erneut ergrünen», erklärte Dolwin mit einem Lächeln.
Die Weide war ein biegsamer Baum mit weichem Holz, ein sanfter Baum. Doch Dolwin verheimlichte mir nicht, dass es auch Adelshäuser gab, die den Zorn der Bauern und Arbeiter zu Recht auf sich gezogen hätten.
«Geldgier und das ewige Lechzen nach Macht», sagte er angwidert. «Sie machen vor niemandem halt, egal, ob er ein Wappen trägt oder nicht. Böse Menschen gibt es überall, ungeachtet ihres Standes. Trotzdem denke ich, dass Naridien in den Händen eines fähigen Fürsten besser aufgehoben wäre als in den raffgierigen Klauen des Hohen Rates.»
Ich selbst enthielt mich einer Meinung. Politik war mir vollkommen gleichgültig. Für mich zählte nur das, was ich sah, und das war die Gemeinschaft der Burgruine am Fuße der Kandoren.
Dolwin führte mich manchmal durch die verfallenen Gänge und Gemächer, um mir die alten Geschichten zu erzählen. Mir schien, er war froh, einen so wissbegierigen Zuhörer zu haben, der nicht müde wurde, nach Details zu fragen, egal wie lange Dolwin schon geredet hatte. Seine Schritte waren dabei stets gemessen, um nicht zu sagen, feierlich. Es bestand kein Zweifel daran, dass er diese Burg als sein zu Hause betrachtete, ganz gleich, in welchem Zustand sie war, und niemals woanders leben wollte. Seine Erzählungen aber waren mehr als nur Geschichten. In seinen Worten lagen die Erinnerungen einer Zeit, die wirklich einst gewesen war, seine Worte waren das Echo der Vergangenheit.
«Was du hier siehst, Serak», erklärte Dolwin eines Tages, «diese Ruine, das ist die letzte physische Manifestation unseres Adels. Als die Naridische Republik ausgerufen wurde, zerstörten die neuen Gesetze all das, wofür unsere Familie stand. Alles wurde modernisiert. Der Adel wurde ohne Unterschied enteignet und der Staat riss alle Ländereien an sich. Das bedetete nicht nur unseren finanziellen Ruin, sondern für die Menschen auch den Verlust der alten Werte und Traditionen. Fortan durfte kein Mensch mehr eigenes Land besitzen. Ich verstehe diesen Wunsch der Bauern und Arbeiter, die oft viel weniger besaßen als andere, aber hat die Republik ihr Leben wirklich verbessert?»
Dolwin seufzte und ich wusste, dass er an die Fabriken dachte, über die er so oft schimpfte, an die engen Stadtwohnungen und an die Erzminen von Trux. Er stieg mit mir gemeinsam auf die Zinnen herauf, wo wir Wenk begrüßten.
«Was gibt es Neues?», fragte Dolwin.
Wenk wiegte den Kopf. «Das weiß ich nicht. Ich warte noch auf die Kundschafter. Sie kommen heute spät.»
«Geben wir ihnen noch etwas Zeit, bevor wir einen Suchtrupp entsenden.»
Dann stiegen Dolwin und ich einen der beiden intakten Türme hinauf. Von dort aus blickten wir nach Westen. Die ersten zarten Strahlen des Tages hüllten die Steine in ein warmes Licht und ließen die lange verblasste Pracht der einstigen Festung erahnen. Frieden und Ruhe lagen in der Luft, Frost glitzerte auf den welken Blättern der Bäume, doch es war ein trügerischer Frieden, wie das Gespräch mit Wenk gezeigt hatte.
Plötzlich durchdrang ein ohrenbetäubendes Geräusch die Stille. Ein markerschütternder Schrei, der mir den kalten Schauer des Entsetzens über den Rücken jagte. Und dann ertönte aus dem Wald der Ruf eines Kriegshorns der Radhora.
Fast gleichzeitig antwortete Wenk mit seinem eigenen Horn – der Alarmruf für alle Bewohner der Burg. Der Klang drang mir durch Mark und Bein. Einen Moment lang erstarrte ich, unfähig, diesen plötzlichen Wandel zu begreifen. Gerade war meine Welt noch in Ordnung gewesen, im nächsten Moment erbebte sie bis auf die Grundfesten.
Dolwin aber reagierte sofort. Er rannte die Treppe hinab und schrie Kommandos. Im Wald erklang Hufgetrappel, vielfach, hundertfach. Ich sah große schwarz-weiße Tiere durch den Wald jagen und erinnerte mich daran, dass sie Pferde hießen. Ihre Reiter trugen schlanke Säbel und Ovalschilde, weiß bemalt mit einem roten Astgeflecht darauf. Sie schlugen jeden nieder, der sich außerhalb der Burgmauern befand, die im Wald arbeitenden Männer genau so wie die Frauen, die Bucheckern sammelten oder spielende Kinder. Sie machten keinen Unterschied. Ich konnte nicht begreifen, was ich dort sah. Diese Menschen töteten nicht im Blutrausch, wie es die Plündertrupps der Orks manchmal taten, sondern kaltblütig und mit System.
«Dolwin», brüllte Wenk, «sie nähern sich dem Tor!»
Und Dolwin fällte eine Entscheidung, die mir in ihrer brutalen Endgültigkeit die harten Gesetze eines Menschenkrieges aufzeigte: «Schließt das Tor! Alle Schützen rauf auf die Mauer!»
Die Männer drehten die Winden, knarrend setzten sich die uralten Torflügel in Bewegung. Ich sah, wie die Menschen draußen verzweifelt die Treppe zum Berg hinauf rannten, während der Durchgang sich immer weiter schloss. Die Schützen eilten ins Arsenal, um ihre Bögen zu holen.
Die Angreifer trugen unter ihren leichten Rüstungen rote Waffenröcke. Ihr Anführer war vollständig in Weiß gekleidet. Sein gleichfalls weißes Banner flatterte im Wind. Darauf prangte ein kahler Baum, wie jener von Dolwin, und er leuchtete scharlachrot.
Rot wie das Blut der Erschlagenen. Rot wie Daibos, rot wie mein Verderben.
Meine Knie wurden weich und einen Moment strauchelte ich. Vor lauter Schock war ich unfähig, mich zu irgendeiner Handlung zu zwingen.
«Das sind Solwins Blutreiter», schrie Wenk, woraufhin das Chaos in der Burg sich noch verdoppelte. Die Frauen und Kinder flüchteten aus dem Burghof in die Gebäude, die Schwertkämpfer sammelten sich beim Feuer. Die Schützen aber rannten die Treppen zum Wehrgang hinauf.
Draußen war das Durcheinander noch schlimmer. Einige der Ausgesperrten schafften es noch hinein, doch dann gab es einen Rumms und das Tor fiel endgültig zu. Die Männer wuchteten schwere Balken quer davor. Von draußen trommelten die Ausgesperrten verzweifelt dagegen, bis die Blutreiter ihrem Leben ein Ende bereiteten.
Als die ersten Schützen endlich den Wehrgang erreichten und ihre Bögen spannten, wendeten die Reiter ihre Pferde und galoppierten zurück in den Schutz des Waldes. Und dort verschwanden sie. Vergebens schossen die Krieger ihnen ihre Pfeile hinterher. Sie prallten gegen die Baumstämme oder versanken im Waldboden. Kein einziger Angreifer wurde getroffen.
Wie gelähmt starrte ich vor mich hin, den Schild auf dem Rücken und das Schwert am Gürtel, und vollkommen nutzlos.
Vor den Mauern senkte sich eine unheimliche Ruhe auf das Umland, während im Inneren der Burg noch immer Unruhe herrschte. Und doch folgte alles einer vorbestimmten Ordnung. Mich überraschte, dass selbst die Frauen und Kinder nicht weinten und schrien, sondern jeder wusste, was zu tun war und wohin er laufen musste. Bald war kein Zivilist mehr zu sehen.
«Das war der Vergeltungsschlag für unseren letzten Überfall», hörte ich einen der mit einem Bogen bewaffneten Räuber sagen.
Vorsichtig lehnte ich mich über die Zinnen und blickte auf den Bereich vor dem Tor. Die blutüberströmten Körper türmten sich dort, weitere Menschen lagen im Wald verstreut. Einige regten sich schwach.
«Gebt uns Feuerschutz», befahl Dolwin und ließ das Tor einen Spalt weit öffnen. Die Schwertkämpfer quollen nacheinander heraus und formierten sich um die blutigen Körper herum. Sie formten einen schützenden Ring, während ihre Kameraden die übel zugerichteten Körper rasch ins Innere der Burg zogen.
Endlich gelang es mir, mich aus meiner Schockstarre zu lösen. Ich nahm den Schild von meinem Rücken, zog Jelir aus der Scheide und rannte die Treppe herunter. «Was soll ich tun?», rief ich ziemlich hysterisch, als ich mich durch das Tor drängte und meine Stiefel im Blut standen. Dolwin beachtete mich nicht, er war mit seinem Kommando beschäftigt.
«Hau ab», sagte ein Mann, der mir am nächsten stand. «Oder willst du als Hackfleisch enden? Du hast hier draußen nichts verloren!»
«Ich kann nicht tatenlos zusehen», sagte ich mit überschlagender Stimme.
«Du sollst abhauen, du stehst uns nur im Weg rum», schnauzte ein anderer Schwertkämpfer. «Zurück mit dir!»
Mit einem Gefühl tiefer Schuld kehrte ich in die schützenden Mauern zurück.
Die Schwerverletzten oder Toten, die in die Burg gezogen worden waren, wurden sofort von dem alten Mann begutachtet, der Dolwins Vater war. Ihm zur Seite stand eine alte Frau, die mit ihren Helferinnen Verbände herbeibrachte. Doch es war zu spät. Keiner von denen, die niedergehauen worden waren, konnten noch gerettet werden. Die Verletzungen waren zu tief und zu grausam, Schädel, Schultern und Rücken wurden durch die Hiebe gespalten wie geschlagenes Holz.
Hilflos herumstehend ließ ich mein Schwert sinken, während das Weinen und Klagen der Familien über mich hereinbrach. Die Zeit verstrich, das Chaos legte sich. Als alle Aufgaben verteilt waren, jeder Wächter auf seinem Posten stand und alle Opfer des Überfalls aus dem Wald geborgen worden waren, versammelten einige der Männer sich in Dolwins Raum. Auch ich durfte mich dazu setzen, tief beschämt und mit hängendem Kopf.
Die Räuber hielten sich nicht mit Klagen auf, sondern berieten sich, was heute und in den kommenden Tagen zu tun sei. Daraus schloss ich, dass es sich um Dolwins treueste Kämpfer und zeitgleich seine Berater handelte. Er entschied nicht allein über die Geschicke der Burg, sondern verließ sich in manchen Dingen ganz auf sie. Ich verstand nun, warum es so enorm wichtig war, dass sich jeder auf den anderen verlassen konnte.
«War das Solwin?», fragte ich, als eine längere Pause entstand.
«Nein», sagte Dolwin. «Doch was du gesehen hast, ist sein Banner: Die Winterweide von Niederau, rot auf weißem Grund. Die rote Fabe zeigt an, dass Solwin nun die Blutgerichtsbarkeit innehat.»
«Was heißt das?»
«Es heißt, dass er im Namen des Staates Folter anordnen und die Todesstrafe verhängen darf. Die Männer, die uns überfallen haben, sind seine Blutreiter, seine persönlichen Vollstrecker. Eine grausame Elitetruppe, noch schlimmer als die Staatskonstabler. Solwin ist Hoher Richter des Hochgerichts von Vellingrad. Das war der Lohn für seinen Verrat. Er macht sich die Hände nicht mehr selbst schmutzig, das lässt er nun andere für sich erledigen. Solwin hat das Schwert getauscht gegen die Feder, mit der er die Todesurteile unterzeichnet. Und das erste, das er unterschrieb, beinhaltete meinen Namen und den seiner Mutter.»
Mir fiel auf, dass ich Dolwin nie mit einer Frau gesehen hatte. Ich wagte nicht, nach ihrem Schicksal zu fragen – sein Gesicht war düster. Das Gewicht von Jelir lastete überdeutlich an meinem Waffengurt. Dolwin hatte seinen Sohn an die Republik verloren und ausgerechnet mir dessen Schwert anvertraut. Bei diesem Gedanken spürte ich einen Kloß in meinem Hals.
Für meine Tatenlosigkeit machte Dolwin mir keine Vorwürfe, weder jetzt noch später, da ich noch kein ausgebildeter Krieger gewesen sei, doch das änderte nichts an meinen Gewissensbissen. So war ich froh, als er einen Tag nach der Trauerfeier für die Gefallenen mit meiner Ausbildung begann, und legte mich mächtig ins Zeug. Er hielt sich nicht mit einer Holzwaffe auf, sondern ließ mich sofort mit dem scharfen Schwert trainieren.
Er zeigte mir die Grundhaltung mit Schwert und Schild, die korrekte Schrittstellung und dann den Angriff.
«Naridische Kurzschwerter sind reine Stichwaffen», erklärte er mir. «Ich will nicht sehen, dass du damit in großen Bögen herumschwingst oder wie mit einem Degen fuchtelst. Damit machst du dich angreifbar und erschöpfst zu schnell. So muss das aussehen.» Sein Arm schnellte in einer geraden Linie hervor wie eine zustoßende Viper, mehrmals hintereinander, immer die gleiche Bewegung. «Dein Gegner hält meist einen Schild. Darum stichst du nach seinem Kopf. Den kann er nicht decken, ohne sich selbst die Sicht zu rauben, nicht einmal mit Helm. So! So! So!» Er führte das Schwert in einer Geschwindigkeit, der ich kaum mit dem Auge folgen konnte. «Erstmal stichst du nur nach Hals und Gesicht, bis das ordentlich sitzt. Später kannst du auch den Achseln und nach dem Unterleib stechen. Dabei darf dein Schild niemals sinken. Halte ihn höher – noch höher – so ist es gut, und so bleibst du.»
Die folgenden Tage tat ich kaum etwas anderes, als auf einen aufgerichteten Holzstamm einzustechen. Meine Arme taten so weh, dass ich sie abends kaum noch bewegen konnte. Einmal versagte mein Schildarm mir den Dienst komplett. Da zwang mich Dolwin erst recht weiterzumachen, bis der Krampf sich lösen würde. Die Schmerzen waren kaum zu ertragen und der Krampf blieb. Trotzdem durfte ich mir keinen Tag Pause gönnen, sondern lernte den Umgang mit dem Schwert auf die harte Tour. Aber ich lernte.
Als ich endlich alle Stichtechiken sicher beherrschte – das waren, wie gesagt, nicht sonderlich viele – kämpfte ich mit Dolwin von Mann zu Mann. Auch hier standen wir uns mit der scharfen Klinge gegenüber, jedoch in ausreichendem Abstand, so dass wir uns nicht treffen konnten. Diese Art Kampf glich fast einem Tanz. Wir reagierten auf die Bewegungen des anderen, als würden die Treffer uns erreichen können und ich ärgerte mich maßlos, wenn Dolwins Schwert durchgedrungen wäre und in einem echten Kampf meinen Tod bedeutet hätte. Bald übte ich auch mit anderen Männern, denn jeder hatte einen eigenen Stil, offensiver oder defensiver, zögerlicher oder entschlossener.
Zu jeder Morgendämmerung musste ich gemeinsam mit einigen anderen Männern in voller Rüstung und Bewaffnung einen Lauf durch den Wald absolvieren. Das war Leibesertüchtigung und Patrouille zugleich. Nicht alle Männer waren immer dabei, sie wechselten sich ab, so dass der Großteil in der Burg blieb, doch alle Novizen – außer mir waren das noch zwei Räubersöhne – mussten jeden Morgen mitlaufen. Ich war gut in Form, doch in voller Montur zu rennen war noch eimal eine andere Geschichte als in der leichten Kleidung eines Jägers.
Wir exerzierten auch im Burghof, wir marschierten und formierten uns. Ich lernte die grundlegenden Befehle und wie ich mich in welcher Situation verhalten sollte. Wir kämpften unsere Schattenkämpfe nun in Formationen, die sich gegenüberstanden, jeder mit der Waffe, die erauch im Kampf trug.
Es war tiefer Winter, als die Grundlagen bei mir saßen und ich mich an die chronischen Schmerzen in meinen Armen und Beinen gewöhnt hatte. Dolwin erklärte feierlich, meine Grundausbildung sei beendet. Gefeiert wurde das mit einem gestohlenen Hammel, der auf einem Spieß über dem Feuer röstete. Von nun an musste ich nicht mehr den ganzen Tag meinen Leib ertüchtigen oder den Umgang mit der Waffe bis zum körperlichen Versagen üben, sondern nur noch einige Stunden am Tag. Ab sofort durfte ich Wache halten und manchmal Kundschafterdienste leisten. Damit vertrauten mir dir Räuber ihr Leben an und ich nahm meine Aufgabe äußerst ernst. Das, was ich hatte erleben müssen, durfte sich niemals wiederholen.
Den Rest der Zeit wurde ich jetzt in das Räuberhandwerk eingeführt.
Dieser Teil meiner Ausbildung begann mit der Orientierung in der Wildnis mit Karte und Kompass, aber auch anhand der Gestirne. Ich lernte wertvolle Kenntnisse über das Überleben in der Wildnis, die ich gern schon früher gewusst hätte. Ich übte ein Feuer zu machen, sauberes Trinkwasser zu gewinnen und lernte, Essbares von Nichtessbarem in der naridischen Natur zu unterscheiden. Die Namen hunderter Pilze, Beeren, Bäume, Sträucher und Kräuter musste ich mir einprägen, vielleicht waren es tausende.
Ach ja – das Zählen und Rechnen lernte ich zu dieser Zeit auch, abends nach dem Essen, während die anderen noch lange ums Feuer saßen. Dolwins Vater, von dem ich mittlerweile wusste, dass er Vigant hieß, unterwies mich in dem Geheimnis des Lesens und Schreibens, das mich am meisten faszinierte.
«Ein erfolgreicher Räuber versteht sich in verschiedenen Künsten, um seine Opfer täuschen und überlisten zu können. Aber du bist vermutlich der einzige Halbork, der die gleiche Ausbildung wie ein Adelssohn genießt», sagte er schmunzelnd.
«Tun das nicht alle Räuber hier?», fragte ich verwirrt.
«Nein», sagte Vigant, «nur jene, die lernen wollen, werden auch unterrichtet. Den meisten genügen die praktischen Fertigkeiten, das Kämpfen und die Naturkunde. Du bist der Erste, der sich in diesem Maß an abstrakter Theorie interessiert zeigt. Und darum lehre ich dich alles, wohin deine Fragen dich führen. Grammatik, Geometrie, Alchemie, Algebra ... lass dich von deinen Wünschen treiben und wir werden sehen, wohin sie dich führen.»
Und Vigant hielt sein Versprechen. Fast wie von selbst lernte ich dabei Uncári, die Muttersprache der Naridier, denn es war mir unangenehm, dass sie extra für mich stets auf Asami sprachen, was jedoch nicht alle von ihnen beherrschten. Im übrigen erfuhr ich auch, dass der orkische Dialekt Tsvatnesh genannt wird, was schlichtweg bedeutet: Sprich! Ich wusste bald auch, dass allein er und Dolwin tatsächlich dem Stand nach Ritter und damit echte Raubritter waren. Ihre Getreuen hingegen waren Räuber. Diese Eigenbezeichnung trugen sie durchaus mit Stolz, auch wenn Wenk immer wieder versuchte, sie davon zu überzeugen, sich lieber Freiheitskämpfer zu nennen. Es war ihnen zu sperrig, zu spießig, zu unpersönlich und zu kitschig war es ihnen auch. Sie wollten Räuber heißen. So war Wenk der einzige Freiheitskämpfer, obwohl er das Gleiche machte, wie alle anderen auch.
Dolwin und Vigant lernten ihrerseits bereitwillig von mir, denn das Jagen hatte seit meiner Kindheit zu meinen Aufgaben gehört. Insbesondere, was den Fallenbau und ans Wild angepasste Jagdstrategien betraf, machte mir hier niemand etwas vor. Pelze zu erjagen, zu bearbeiten und auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen wurde meine wichtiste zivile Aufgabe, so dass wir durch meine Wilderei recht gute Einnahmen erzielten. Ich war froh, ihnen etwas für ihr Engagement zurückgeben zu können.
Das Essen war jederzeit ausreichend, nach meinem Empfinden sogar üppig, auch wenn sich die Frauen jedes Mal entschuldigten, dass sie uns nicht noch kompliziertere Gerichte auftischen konnten. Ginge es nach ihnen, würden wir jeden Tag Drei-Gänge-Menüs verzehren, und zwar zu jeder einzelnen Mahlzeit.
Als ob mein Körper das Wachstum nachholen wollte, das sich aufgrund der Zustände in den Bruthöhlen verzögert hatte, wuchs ich von Mond zu Mond mehr in die Höhe und in die Breite. Nacken und Schultern wurden kräftig. Meine Fangzähne oben und unten gewannen an Länge, so dass meine Sprache sich veränderte. Mir wuchs ein richtiges Raubtiergebiss, über dem ich gerade noch die Lippen schließen konnte, mein Schädel wurde breit. Kurzum: Auch wenn ich mein genaues Alter nicht kannte, war ich eindeutig kein Jüngling mehr, sondern ein Mann. Das Haar trug ich nach naridischer Sitte kurz und rasierte meinen spärlichen Bart gänzlich glatt.
Der grausame Überfall, der vor Beginn meiner Ausbildung über uns hinweggebrandet war, blieb vorerst der Letzte, da die Blutreiter und die Radhora vermehrt mit den Söldnern der Grünen Kader zu tun hatten, die sich immer weiter vorwagten.
In diesen Jahren, in denen ich erwachsen wurde, war ich glücklich.