Die Gliedmaßen fühlten sich schwer an, als Farael allmählich sein Bewusstsein wiedererlangte. Sein Schlaf war lang nicht so erholsam, wie er diesen nach der letzten Nacht gebraucht hätte. Er fuhr sich mit der Rechten über die Stirn, schließlich ein paar Centimeter herab, an der er mit Zeigefinger und Daumen seinen Nasenrücken massierte. Offensichtlich hatte er sich doch überanstrengt. Die Verletzungen brannten, die Muskeln streikten und auch die Müdigkeit konnte er nicht wie sonst einfach abschütteln.
„Guten Morgen“, grüßte er schließlich in den Raum herein. Neben sich spürte er keinerlei Gewicht. Vermutlich war Ana bereits aufgestanden und saß am Tisch. Doch es war viel zu ruhig in seinem Haus. Langsam öffnete Farael seine Augen und hob den Kopf an. Wo ist sie hin? Im gesamten Raum war nichts von der Schönheit zu sehen, mit der zuvor noch das Bett geteilt und sich letzten Abend – gestritten hatte. So sehr hatte er sich gewünscht, es nach seinem Schlaf einfach zu vergessen. Zumindest hatte es für eine kurze Zeit funktioniert.
Doch jetzt lag er da und ließ seinen Kopf wieder in das Kissen sinken. Sein Blick gen Decke gerichtet, überschlug er noch einmal die Geschehnisse vom vorherigen Abend. Konnte man dies wirklich einen Streit nennen? Sicherlich war dies kein Grund, einfach zu verschwinden oder ihn allein zu lassen. Zumindest nicht, ohne ihm Bescheid zu geben.
Müheselig richtet sich Farael auf und setzte die Füße auf den Boden. Von ihren Sachen war keine Spur zu sehen. Vielleicht war sie doch einkaufen gegangen? Augenblicklich schüttelte er mit seinem Kopf. Sie hatte kein Geld, wie sollte sie einkaufen gehen? Eine Ahnung kroch durch seinen Kopf. Augenblicklich bildete sich ein Knoten in seinem Bauch. Jedoch konnte er sich bei einer Sache sicher sein: Sie würde niemals ohne ihre Laute gehen. Das Instrument bedeutete ihr zu viel. Das war sein Anhaltspunkt. Dieser würde Gewissheit schaffen.
Tief in sich spürte er Angst aufkeimen, Unsicherheit. Wollte er es wirklich wissen? Hin- und hergerissen zwischen Wissen und bewusster Unwissenheit waren seine Füße bereits von allein zur Kommode gelaufen. Der Durst nach Gewissheit ließ seine Hand zum untersten Fach seiner Kommode vorschnellen und diese öffnen.
In diesem Moment wünschte er sich, er hätte diese verdammte Schublade niemals geöffnet.
Ihr Lautenkasten war verschwunden. Ebenso ihre Kleidung und jede einzelne Habseligkeit von ihr. Inklusive Faraels Hemd. Sie konnte nicht einfach gegangen sein. Ohne ein Wort. Ohne ihn zu wecken. Ohne sich zu verabschieden. Das konnte nicht sein. Farael konnte sich nicht so sehr in einem Menschen irren. Erst recht nicht Gefühle für diesen Menschen entwickeln, wenn er nicht vertrauenswürdig war.
Damit war sich Farael auch sicher, dass Ana im Laufe des Tages zurückkehren würde und ihm davon berichten sollte, was sie getrieben hatte. Sicher grinste Farael, als er seine Vermutung als richtig ansah. Ana zog es immer wieder zum Meer. Ihrer wahren Heimat. Sie hatte offensichtlich nur genug von der stickigen Luft der Stadt und hatte sich eine Brise des Salzwassers holen wollen. Vor seinen Augen zeichnete sich das Bild der jungen Norkara ab, die am Strand von Obenza mit ihrer Laute den Tag begrüßte.
Also wartete Farael auf seine Freundin. Den neuen Tag nutzte er, um sein Haus auf Vordermann zu bringen. Es war lang überfällig gewesen, dass er sich dem Chaos in seinen eigenen vier Wänden widmete. Auch an seiner Waschstelle, dort wo Zuber, Waschbrett und Wäscheleine waren, brauchte es Pflege. Dort fand er auch die schmutzigen Sachen Anas, die er im selben Zug ebenso wusch und aufhing.
Als sie jedoch zum Mittag noch immer nicht erschienen war und Farael selbst die Zeit ausging, um auf sie zu warten, schrieb er ihr kurzerhand einen Zettel.
ZitatA.
Ich bin auf der Arbeit, mich mit den anderen treffen und weiter an dem Projekt arbeiten.
F.
Diesen Zettel klemmte Farael an seiner Tür, schloss diese ab und machte sich auf den Weg zum alten Söldnerlager. Wie immer um die Mittagszeit waren die Straßen voll und die Bewohner gingen ihren Geschäften nach. Von seinem Haus aus war es ein weiter Weg bis zum Söldnerlager, einen Umstand, den er in Zukunft zu ändern gedachte. Doch stimmte zu dem Zeitpunkt weder die Kasse, noch die Möglichkeit etwas daran zu ändern. Dabei gingen seine Überlegungen in jene Richtung, schon Aufträge anzunehmen und zu verteilen, um die ersten Gewinne und somit Investitionsmöglichkeiten zu erzeugen. Doch ohne feste Unterkunft, hätte er Sodo, Cherax und Bolgur einen ungeheuerlichen Anteil zahlen müssen, damit sie sich selbst versorgen konnten. Da wäre nichts übriggeblieben. Also schob er diese Gedanken beiseite.
Kaum war er bei dem alten Söldnerlager eingetroffen, traf er sich wie üblich mit den drei Söldnern. Sie fuhren ihre gemeinsame Arbeit fort, unterhielten sich, lernten sich besser kennen und schafften obendrein ein gutes Stück der Arbeit. Doch von Ana blieb keine Spur. Langsam kroch Farael das Gefühl der Sorge die Kehle hinauf. Seine Gedanken kreisten die meiste Zeit um sie und ihren Verbleib. War sie wirklich einfach gegangen? Schon wieder diese Frage in seinem Kopf, die er nicht beantworten wollte. Vehement redete er sich ein, dass sie wiederkommen würde. Dabei war er sich ganz sicher.
Entgegen jeder seiner Erwartung und Hoffnung, bekam Farael Anas wunderschönes Gesicht an diesem Tag nicht mehr zu sehen. Am Abend versuchte er sein Glück in einigen, nahegelegenen Schenken, doch konnte er sie auch dort nicht finden. Geschlagen begab er sich am selben Abend nach Hause, nur um den Zettel vorzufinden, wie er ihn hinterlassen hatte. Sie war nicht einmal zurückgekehrt. Das wollte und konnte Farael nicht akzeptieren. Das aufkeimende Gefühl, von ihr verlassen worden zu sein, war absurd. Diese Frau hatte sich vor ein paar Tagen in sein Leben begeben. Doch er fühlte diese unheimliche Leere, wenn sie nicht in der Nähe war. Das durfte nicht wahr sein!
Doch es wurde wahr. Und gestaltete seine Zeit, nach der Ana spurlos verschwunden blieb. Die erste Woche verging langsam, beinahe quälend. Weiterhin wollte sich Farael nicht mit den Gedanken abfinden, dass Ana einfach gegangen war, weil sie eine einfache Bettgeschichte dargestellt hatte. Es musste einfach wesentlich mehr dahinterstecken, als es schien. Entgegen der Situation glaubte er fest daran, dass ihr etwas zugestoßen sein musste. Häufig fand sich Farael nach der Arbeit im Söldnerlager auf den Straßen Obenzas wieder, um nach ihr Ausschau zu halten. Nebenbei musste er noch Geld mit kleineren Aufträgen verdienen, damit er nicht aus seinem Haus flog oder kein Essen mehr hatte.
Ana blieb derweilen verschwunden. Sporadisch erhielt Farael die Information von Wirten und trunkenen Männern, dass seine verschwundene Geliebte in einer Taverne gesichtet wurde. Doch sie schien ein Händchen dafür zu haben, ihm aus den Weg zu gehen. Immer mehr wandelte sich seine verzweifelte Hoffnung in bittere Wahrheit. Nach der dritten Woche nach Anas Verschwinden gab er schließlich seine Suche ganz auf. Widerwillig hatte er akzeptieren müssen, dass Ana nicht gefunden werden wollte und eine Meisterin darin war, in der Stadt unterzugehen. Der Gedanke, dass sie sich mit anderen Männern oder Frauen traf, um mit diesen das Bett zu teilen, ließ Farael keine Ruhe.
Aufgewühlt verbrachte er die Nächte in seinem Bett. Er schreckte hoch, wenn er jemanden vor seiner Haustür hörte, der nicht wie ein betrunkener Kerl wirkte. Noch immer lag Anas gewaschene Kleidung auf seiner Kommode. Fein säuberlich zusammengelegt und darauf wartend, dass sich ihre Besitzerin endlich meldete. Doch sie kam nicht und so war die Kleidung Anas dazu verdammt, ein Erinnerungsstück zu sein. Eine Erinnerung die in Verbindung mit seinen Gefühlen, aber auch mit ihren gemeinsamen Nächten zu tun hatte. Auch wenn diese schmerzten, so schaffte er es nicht loszulassen und die Kleidung wegzuwerfen. Etwas hinderte ihn daran. Dabei bemerkte Farael, wie er Ana nicht loslassen konnte. Sie verblieb in seinem Kopf, in seinen Gedanken. Doch ihr Fehlen machte dieses Bild zu einer grausamen Tortur, die er ertragen musste. Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der sich in ein Mädchen verknallt hatte. Er war so naiv. Dennoch zerriss es sein Herz.
Schnell schlug die Trauer in Bitterkeit um. Farael konnte das Geschehene nicht akzeptieren. Genau so wenig, wie er den Schmerz ertrug, den er durch das Verschwinden Anas und ihrem Verhalten erdulden musste. Seine Einnahmen durch kleinere Aufträge wurden deutlich geschmälert, als Alkohol das Schmerzmittel für seinen Kummer wurde. Das Gefühl der Trunkenheit betäubte seine Sinne, besonders zum Abend, als der Schmerz am stärksten wurde.
So kam es, als er eines Abends, vier Wochen nach ihrem verschwunden nach Hause torkelte. Der Geruch von billigem Schnaps und Bier haftete ihm an, verfolgte ihn wie ein Schatten. Seine Hände zitterten etwas, die Welt drehte sich leicht und dennoch war er nicht betrunken. Diesen Zustand konnte er sich nicht leisten. Auch wenn mittlerweile seine Wunden verheilt waren, er kein Geld hatte, was ihm gestohlen werden konnte, und es niemanden gab, auf den er achten musste. Dennoch war es seine Vernunft, die verhinderte, dass er sich allein abschoss und somit sein Leben ruinierte.
Die Nacht war kühl. Auf den Straßen waren die Laternen entzündet worden und die Menschenmassen hatten sich zu zwielichtigen Gestalten und Betrunkenen ausgedünnt. Obenza verwandelte sich nachts zu einer Stadt, in der allein das Wandern mit dem Tod enden konnte. Doch dieser Zustand war Farael egal. Was hatte er noch groß zu verlieren? Seine erste große Liebe war einfach geflüchtet. Obendrein war er pleite und musste sich darüber sorgen, wie er seine Miete, zudem noch Sodo bezahlen sollte.
Da kümmerte es ihn auch nicht mehr, dass eine Gestalt vor seinem Haus herumlungerte. Eine Frau. Vermutlich Ana, ihren Gesichtszügen nach. Doch was sollte es schon? Sie war doch eh nicht da und würde nicht wiederkommen. Also warum sollte er sie schon groß beachten? Eher griff er seinen Schlüssel in seiner Tasche und schloss die Tür auf.
Bis er schlagartig nüchtern wurde. Faraels Blick schoss mit klarem Blick hinunter auf dem Boden neben seiner Tür, neben der Ana saß. Ihre Gesichtszüge waren blass, beinahe kränklich. Hatte sie abgenommen? Ihre Wangenknochen waren deutlicher zu erkennen. Ihre gesamte Gestalt schien schmaler. Dann noch diese ungepflegten Haare. Sie war ein Schatten ihrer Selbst. Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete er das kränkliche Bündel vor sich, welches ebenso baff seinen Blick erwiderte. Zögerlich streckte Farael seine Hand nach ihr aus, berührte ihre Wange, die sich eiskalt unter seiner Berührung anfühlte. „Ana?“, fragte er ungläubig. Für ihn schien es völlig fern von jeder Realität, jene Frau vor sich sitzen zu haben, durch welche er die letzten Wochen durch die Hölle gegangen war.