Rückblick, Thogrim, Dorf des Bärenclans
Eine Menschentraube hatte sich um das große Lagerfeuer im Zentrum des rudimentären Dorfes des Bärenclans versammelt. Das stetige Murmeln der Anwesenden wurde einzig von dem Knistern der verbrennenden Holzscheite begleitet. Kadlin war erst am heutigen Abend von einer mehr oder weniger ernüchternden Jagd zurück gekehrt. Nur ein einziger Schneehase hatte sich in einer ihrer ausgelegten Fallen verfangen, ansonsten war sie mit leeren Händen zurück gekehrt. Mürrisch beäugte die unzufriedene Jägerin das Geschehen, wandte sich dann an den nächst besten Mann und fragte: „Was ist denn hier los?“. Der Kerl hatte ihr nur mit einem halben Ohr zugehört, seine Augen ruhten auf einem alten Mann, der für den Moment noch schweigend einen dampfenden Becher in den klammen Fingern hielt. Der Alte saß ihnen zugewandt auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers und blickte abwesend in die tanzenden Flammen. Der Mann sah fremd aus mit seinen leicht schief gestellten, beinahe schwarzen Augen und dem spärlichen Bart. „So ein komischer Vogel… Was der wohl hier will?“, raunte die junge Norkara und sprach dabei mehr an sich selbst gewandt, als dass sie tatsächlich eine Antwort auf ihre Frage erwartete. „Er nennt sich selbst ‚Der Wanderer‘.“, erklang eine wohlvertraute Stimme direkt hinter ihr. Eine große, von Schwielen besetzte Hand legte sich auf ihre Schulter und bewirkte, dass Kadlin augenblicklich erstarrte. „Bruder…“, entgegnete die Jägerin kühl und widerstand nur schwer dem Drang einfach fortzulaufen. Hätte sie gewusst, dass die Wahlfänger während ihrer Abwesenheit zurück gekehrt waren, so wäre sie gewiss heute nicht hier erschienen.
Gerade als Kadlin all ihren Mut zusammen genommen hatte, sich der Anwesenheit ihres Bruders zu stellen, erklang ein lautes Räuspern. Augenblicklich, man mochte es kaum glauben, wurden alle Gespräche eingestellt und die Aufmerksamkeit galt einzig dem fremden, alten Mann. Der Alte schloss die Augen und begann mit einer tiefen Stimme zu erzählen. Sein Akzent klang fremd und irgendwie vermochte die Singsang ähnliche Betonung es Kadlin voll und ganz für sich einzunehmen: „Groß wie ein ausgewachsenes Pferd, das Fell weiß wie frisch gefallender Schnee, die Fänge lang wie Dolche und Augen so kalt wie Eis. Wo ER auftaucht, zieht Verderben über das Land, tödliche Kälte die einem die Luft in den Lungen gefrieren lässt. Niemand, der versuchte IHN zu erlegen, ist jemals von der Jagd zurück gekehrt…“. Ein lautes Raunen ging durch die Reihen der Zuhörer, doch der Greis vermochte erneut durch eine Handbewegung Herr der Lage zu werden. Dann fuhr er unbeirrt fort: „Der Geisterwolf von Arashima wird er genannt und man munkelt er wurde von den Frostalben geschickt um Schrecken und Verderben über das Land zu bringen. Geboren aus Schnee und Eis, bringt ER den lautlosen Tod über mein Volk. Keine Falle vermag IHN zu halten, kein Pfeil vermag IHN zu treffen und kein Mann vermag IHN zu töten. Allein SEINE Anwesenheit bringt ewigen Winter…“. Ein kleines Mädchen kauerte sich Angst erfüllt in die Arme seiner Mutter, einige Männer schauten stur zu Boden, um ihre Gefühle nicht zu zeigen. Ein prickelnde Gänsehaut zog sich über Kadlins Körper und ihr Herz begann wie wild zu schlagen. „Der Geisterwolf von Arashima…“, wiederholte sie leise die Worte des Fremden.
Gegenwart, Arashima, Herz des Winters
Ein tiefes Knurren erklang aus Norgrims Kehle. Irgendetwas schien dem Rüden Angst einzujagen, vielleicht hatte er auch bereits Witterung aufgenommen. Leichter Schneefall setze ein und einzelne Schneeflocken verfingen sich in dem kastanienbraunen Haar der Norkara. Kadlin zog sich mit den Zähnen einer ihrer warmen Fäustlinge aus und strich mit ihrer zierlichen Hand beruhigend durch das silbergraue, dichte Fell Norgrims. „Ruhig mein Großer…“, flüsterte sie leise. Sie waren bereits seit einigen Tagen unterwegs, niemand war ihnen in dieser Zeit begegnet. Die Jägerin hatte stets die Augen offen gehalten und nach Spuren im Schnee Ausschau gehalten, doch der immer wieder einsetzende Schneefall machte ihr zu schaffen. Sie war eine Norkara und die Kälte gewohnt, auch die Einsamkeit bereitete ihre keine Schwierigkeiten. Und dennoch… Dieses Land war ihr durch und durch fremd und löste tief in ihr eine gewisse Unruhe aus. Niemand würde an diesem Ort nach ihr Suchen, niemand würde sie retten, wenn sie einen Fehler beging. Sie durfte einfach keine Fehler machen! Norgrim leckte sich nervös über die Schnauze und blickte zu seiner Herrin auf. Diese treue Seele würde sie niemals im Stich lassen, sie gehörten zusammen wie Pech und Schwefel. Ein entschlossenes Lächeln legte sich auf Kadlins Lippen und während sie dem Blick Norgrims folgte, sagte sie entschlossen: „Wir werden es allen zeigen! Und wenn ich ihnen den Kopf des Wolfes zu Füßen lege, dann wird mich niemand mehr wie ein kleines Mädchen behandeln!“. Ihre Stimme schien innerhalb weniger Augenblicke vom dichten Nadelwald verschluckt zu werden und erneut legte sich eine unheimliche Stille über die Gefährten.