Floh, wie ihre Freunde sie immer nannten, da sie sogar für eine Goblinfrau sehr klein gewachsen war, bibberte vor Aufregung. Heute würde sie endlich ihre Lieblingsband hören!
Auf dem grossen Markt hatten die Leute eifrig gemunkelt, dass Ghuls’n’Goblins in der Taverne zum Schluckspecht spielen würden. Ghuls’n’Goblins! Nur schon der Name sagte doch alles aus! Eine spritzige Mischung von gut aussehenden Goblins und… nun ja, einem nicht ganz so attraktiven Ghul. Doch das mochte man ihm verzeihen, wenn man erst hörte, welch wundervolle Klangfarben er seiner Knochenflöte entlockte.
Verträumt hüpfte sie deshalb an diesem Abend in einem Kleidchen, das viele bunte Flicken aufwies und ihre stämmigen Goblinbeinchen zur Geltung brachte, den beleuchteten Weg entlang, der zu der weithin bekannten Gaststätte führte. Ihre pinkgefärbten Haare hatte sie mit getupften Bändern zu zwei vorwitzigen Schwänzen zusammengebunden. Ihre langen spitzen Lauscher waren mit bunten Ohrsteckern versehen. Ihre Mutter nannte sie zwar oft liebevoll Schlappohr, doch trotzdem mochte Floh ihre leicht hängenden Ohren gerne.
Ausnahmsweise trug sie sogar ein Paar Schuhe, was sie normalerweise nicht für nötig befand, weil sie lieber die Freiheit hatte, mit den Zehen herum zu wackeln. Nichts desto trotz hatte sie sowohl die Finger- als auch die Zehennägel passen zu ihren Haaren lackiert.
Die Nacht war bereits hereingebrochen und so herrschte ein reges Treiben vor dem Schluckspecht. Eine riesige Schlange hatte sich vor dem Eingang gebildet und alle möglichen und unmöglichen Kreaturen warteten darauf, eingelassen zu werden. Es herrschte ein reges Gedränge und bereits waren genervte Stimmen zu vernehmen.
Floh trippelte unruhig von einem Fuss auf den anderen und versuchte einen Blick auf die Tür zu erhaschen. Einmal mehr schimpfte sie über ihre Grösse – sie erreichte gerade einmal 88cm, obwohl sie immer steif und fest behauptete 90cm gross zu sein. Leider nützten ihr diese Behauptungen im Augenblick wenig, denn obwohl auch viele Goblins anwesend waren, um die Band zu sehen, war sie eindeutig die kleinste Persönlichkeit hier.
Als ein junger Alb sie beinahe über den Haufen rannte, funkelte sie ihn wütend an und schimpfte ihn einen Kamelfuss, was ihr jedoch keine weitere Beachtung einbrachte.
Kurz überlegte Floh, sich durch die vielen Beine hindurchzuzwängen, doch schnell verwarf sie diesen lebensmüden Gedanken wieder. Nicht einmal einen Blick durch eines der Fenster konnte sie erhaschen, denn zu viele andere hatten sich bereits dort versammelt und kämpften darum, einen Blick ins Innere des Hauses zu erhaschen.
Frustriert kickte das Goblinmädel nach einem Stein, welcher wie eine kleine Kanonenkugel davonspickte. „Miiiaaaauuu!“, erklang ein schmerzliches Fauchen und eine getigerte Katze huschte wie vom Blitz getroffen um die Ecke herum davon. Schuldbewusst zuckte Floh zusammen. Sie war zwar im Allgemeinen keine Tierliebhaberin, aber bei Katzen machte sie da eine Ausnahme. Der eigensinnige und unabhängige Charakter faszinierte sie, ebenso wie die berechnende Intelligenz dieser Wesen. Da sie momentan sowieso nicht näher ans Haus herankommen würde, beschloss sie, kurz nach der Katze zu sehen. Womöglich war sie verletzt. Und vielleicht gab es hinter dem Haus ja doch noch ein Fenster, wo sie in den Schankraum blicken oder wenigstens die bombastische Musik mithören konnte!
Ohne zu zögern nahm sie ihre Beinchen in die Hände und rannte der Katze hinterher.
Von dem Tier war weit und breit nichts zu erkennen, was vielleicht aber auch an der Dunkelheit liegen mochte. Hier war der Geräuschpegel nur noch gedämpft zu vernehmen. Leider auch die Trommel- und Flötenklänge, welche nun plötzlich eingesetzt hatten. Sie wurden von lauten Jubelrufen untergraben und Floh ballte wütend und verzweifelt zugleich ihre kleinen Fäuste.
„Das ist doch Mäusemist!“, schimpfte sie. Wann kam es schon einmal vor, dass sie am Abend nicht arbeiten musste und gleichzeitig noch Ghuls’n’Goblins ein Konzert gaben? NIE!
Und ausgerechnet jetzt hatte sie sich keinen Platz ergattern können.
Plötzlich hörte sie ein Rascheln und ihr Blick wanderte erschrocken in die Höhe. Doch es war nur die Katze, welche sich auf einen Brennholzstapel geflüchtet hatte, der an der Wand der Gaststätte angelehnt war. Die orangefarbenen Augen leuchteten vorwurfsvoll und Floh murmelte eine halbherzige Entschuldigung. „Jetzt sind wir aber quitt, du hast mich auch erschreckt!“, brummte sie der Katze zu. Diese drehte sich um, und zottelte mit hoch erhobenem Schweif über den Stapel hinweg davon.
Floh stutzte plötzlich. Ihr Blick war an einem Fenster hängen geblieben, welches sich nur etwa eineinhalb Meter über dem ordentlich gestapelten Holzhaufen befand. Ihr Herz jubelte vor Freude auf, als sie erkannte, dass der Schimmer einer Lampe hervorzüngelte und es einen Spalt breit offen stand, damit der Bewohner in den Genuss der kühlen und erfrischenden Nachtluft kommen konnte.
Einen Moment zögerte sie. Ihre Mutter hatte ihr oft erklärt, dass ihre Kletterkünste keine Tugend seien und sie besser wichtigere Fertigkeiten präzisieren sollte. Denn Floh hatte ihren Namen nicht nur allein wegen ihrer Grösse, sondern auch, weil sie wie ein Floh alles zu erklimmen vermochte, was ihr im Weg stand oder einfach darunter hinwegkroch.
Als jedoch die Menge im Haus erneut aufjubelte und somit den grossen Ginimo stürmisch begrüsste, war dies für das Goblinmädel Ansporn genug. Sie musste in den Schluckspecht hineingelangen- koste es, was es wolle!
In ihrem Eifer flogen die Schuhe in hohem Bogen davon und verfehlten nur um Haaresbreite die Katze, welche sich neugierig wieder näher gewagt hatte.
Dieses Mal hatte Floh jedoch keinen Gedanken für das Tier übrig, stattdessen konzentrierte sie sich auf ihre weiteres Vorgehen. Tatsächlich war es eine Leichtigkeit, den Brennholzstapel zu erklimmen. Ihre beweglichen Zehen nutzten jeden hervorstehenden Ast und ihre kräftigen Finger klammerten sich an das raue Holz, während sie so zwei Meter in die Höhe kletterte.
Oben angekommen liess sie sich bäuchlings auf die Hölzer plumpsen. Sie war etwas aus der Übung und es hatte sie einiges an Anstrengung gekostet. Mit spitzen Fingern klaubte sie einige Spiessen aus ihren Handflächen, welche sich schmerzhaft hineingebohrt hatten.
Als jedoch ihr Lieblingsbarde zu trällern begann im Takt mit den Trommeln und der Laute, schob sie ihre Müdigkeit beiseite. Wenn sie sich nicht beeilte, wäre das Konzert schon vorbei, wenn sie endlich drin war!
Etwas kritischer betrachtete sie nun die Wand vor sich. Glücklicherweise war das Haus aus grobem Sandstein gebaut und schon länger nicht mehr richtig saniert worden. Überall ertastete sie bei der Suche Einbuchtungen, wo ihre Finger und Zehen Halt finden würden. Die ersten zwei Versuche schlugen trotzdem fehl und sie landete unsanft auf ihrem üppigen Hintern. Sie beglückwünschte sich dafür, nicht der neuesten Mode der jüngeren Goblinfrauen zu folgen und Diät zu machen, denn dann wäre die Landung um einiges unangenehmer ausgefallen. Sie würde mit ein paar blauen Flecken davonkommen, doch das ist es allemal wert!
Auch ihre Haarschwänze lösten sich zunehmend und einige Haarsträhnen standen frech in alle Richtungen ab. Nur ihr Kleidchen war noch mehr in Mitleidenschaft gezogen worden. Es hatte sich immer wieder im Holz verfangen, war an vielen Stellen eingerissen oder durchlöchert.
Mit einem letzten Kraftakt hievte sich Floh mit einem lauten Schnaufen auf den Fenstersims. Sie hatte sich etwas überschätzt. Ihr Atem ging heftig und sie klammerte sich am Rahmen fest, als es ihr plötzlich schwindlig wurde. „Wuuooh“, kreischte sie auf, als sie trotzdem das Gleichgewicht verlor, und kopfvoran in das Zimmer hineinpurzelte. „Auu“, stöhnte sie auf. Sie hatte sich an einem harten Gegenstand den Kopf gestossen und Sternchen tanzten vor ihren Augen. In einer Stunde sähe sie vermutlich aus wie ein Einhorn.
Offensichtlich befand sich keiner im Raum, denn niemand schien sich ab ihrer Anwesenheit zu stören. Langsam erlangte sie ihr Sehvermögen wieder zurück. Von unten Pochte der Bass der Trommel herauf und das euphorische Kreischen des Publikums war zu hören. Mindestens die Hälfte des Konzerts musste bereits um sein!
Floh rappelte sich etwas umständlich hoch und klopfte den Staub von ihrem Flickenkleid. Dann liess sie den Blick durch den Raum schweifen und erstarrte.
Das Flackern einer Öllampe, die wohl jemand in der Hektik vergessen hatte zu löschen, tauchte das Zimmer in ein warmes Licht, liess jedoch gespenstische Schatten an den Wänden tanzen.
Doch dies war es nicht, was die kleine Goblinfrau in eine Starre versetzt hatte.
Ihre Augen krallten sich in das Bild, das nur einige Meter entfernt hing. Es zeigte eine wirklich künstlerisch ausgearbeitete Zeichnung der drei Musiker – in Vollformat!
Anscheinend war sie im Zimmer eines Fans gelandet.
Im selben Moment erinnerte sie sich jedoch auch wieder, weshalb sie hier war. Mit wenigen Schritten hatte sie die Tür erreicht, stellte sich auf die Zehenspitzen, zog die Klinke nach unten, um die Tür schwungvoll aufzureissen und… - die Tür liess sich nicht öffnen!
Erst wütend, dann verzweifelt zerrte Floh an der Türfalle, stemmte sich gegen das Holz und klopfte mit den Fäusten dagegen. Doch die Tür blieb verriegelt und in dem Tumult der unten vorherrschte bestand kaum die Chance, dass jemand sie hören würde.
Niedergeschlagen liess sich Floh hinabsinken und blieb mit ausgestreckten Stummelbeinchen an die Tür gelehnt sitzen. Ihre Schultern hingen herab und ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle.
Warum musste das ausgerechnet ihr passieren? Warum konnte sie nicht einmal im Leben wenigstens einen Funken Glück haben?
Immer trat sie in irgendein Fettnäpfen und wurde von allen nur mitleidig belächelt oder mit einem Kopfschütteln bedacht. Was ja auch verständlich war, wenn man ihre jetzige Situation betrachtete.
Wütend stand sie auf, und lief wie ein Tiger im Käfig herum. Sie achtete dabei nicht auf ihre Umgebung, so sehr drehten sich ihre Gedanken im Kreis. Wie gerne wäre sie doch ein Stockwerk tiefer gewesen, hätte der Musik gelauscht, wäre im Takt mitgehüpft und hätte mit seeligen Blicken die drei Bandmitglieder angeglubscht. Sie hätte es sogar in Kauf genommen, wenn ihr dabei jemand auf die Zehen getreten wäre!
Im Flackerschein übersah sie beim Herumtigern einen herumliegenden Gegenstand, und wäre beinahe wieder auf dem Bauch gelandet. Das war für Floh das i – Tüpfelchen. Ihren ganzen Zorn legte sie in den Tritt, als sie ihren nackten Fuss voller Schwung gegen einen in der Nähe befindlichen Gegenstand donnern liess. Es gab ein lautes Knacksen, ein dumpfer Klang wie von einer Trommel tönte durch den Raum und das schmerzliche Aufquietschen von Floh war zu hören.
Das Goblinmädel unterdrückte den Tränenfluss mit grösster Mühe und zog unüberhörbar den Rotz in ihrer Nase hoch. Ihre grosse Zehe fühlte sich dreimal grösser an als sonst. Sie liess sich auf den Hintern plumpsen und zog ihren Fuss in einer unmöglichen Verrenkung hoch, um das in Mitleidenschaft gezogene Körperteil in ihren Mund zu stecken und wie ein kleines Kind am Daumen daran zu lutschen.
Als sie sich wieder etwas beruhigt hatte beschloss sie, den Raum genauer unter die Lupe zu nehmen. Eigentlich war es ja ganz interessant, anderer Leute Schlafstätte zu durchwühlen, und wenn er ein Fan war, hatte er vielleicht sogar ein Erinnerungsstück an die Band bei sich.
Mit neuem Schwung humpelte Floh durch das Zimmer, zog Schubladen auf, guckte neugierig in Schränke und Truhen. Was sie entdeckte, liess sie immer erstaunter werden.
Auf dem Schreibtisch entdeckte sie ein Tintenfass, Schreibfedern und viele Blätter lagen kreuz und quer darauf verstreut herum. Was jedoch viel spannender war…, dass es nicht irgendwelche Blätter waren… sondern handbeschriebens Pergament mit Noten und dazugehörigen Liedtexten. Die kraxelige Schrift erinnerte stark an die Künstlerklaue eines Goblins, über den Floh alles zu wissen meinte. Jeder Klatschrunde, jedem Aushang war sie gefolgt, um alles über den grossen Ginimo und seine Kumpanen zu erfahren.
Nun musste sie Gewissheit erlangen. Ungestüm purzelte sie durch den Raum und suchte Anhaltspunkte für ihre Vermutung, nicht ohne dabei ein kleines Chaos zu hinterlassen. Und bald sah sie sich bestätigt. Sie fand unterschiedliche Tinkturen, welche versprachen die Stimme zu ölen, bis selbst das Quietschen einer verrosteten Tür wie Engelsmusik klingen würde. Zudem fand sie eine alte Holzflöte und weitere Zeichnungen und Kritzeleien von den Bandmitgliedern.
Auf einem Stuhl lag ein Kissen, auf dessen Bezug ein Fan in rosaroten Buchstaben „in Liebe dein grösster Fan Rosie!“ gestickt hatte.
Über den Boden war ein Stapel mit Ausschnitten von Plakaten verteilt, welche Floh versehentlich umgestossen hatte. Darauf waren die Schlagzeilen mit Neuigkeiten und Lobreden über die Künstler vermerkt, und immer wieder grinste ihr das langnasige Gesicht von dem grossen Ginimo höchstpersönlich entgegen. In einer Ecke stapelten sich Spitzhüte, wie der Barde und Pianist selbst oft auf seinem Haupte trug.
Floh war im Paradies gelandet!
Vergessen waren alle Unannehmlichkeiten. Das Schicksal meinte es endlich einmal gut mit ihr. Das war tausendmal besser, als unten mit hunderten anderen Fans um einen Platz zu streiten!
Sie führte einen Freudentanz auf und humpelte wie eine Verrückte im Zimmer herum.
Plötzlich fiel ihr auf, dass die Musik ausgesetzt hatte. Machten sie etwa eine Pause? Oder war das Konzert bereits um?!
Erst jetzt registrierte Floh, dass ihre Lage vielleicht doch ein wenig prekär war. Was würde man von ihr halten, wenn man sie im Zimmer des grossen Ginimo entdeckte?! Man würde sie als Diebin und Spannerin abstempeln… man würde sie ins Gefängnis stecken, oder weit Schlimmeres!
Sie musste von hier verschwinden… sie wollte zum Fenster stürmen, doch dann beschloss sie, nicht ohne ein Andenken zu gehen. Sie blickte sich im Raum um und erblickte eine Socke, welche lose über dem Bettpfosten hing. Sie griff beherzt danach und hielt sich die Stinkesocke an den Zinken. Für sie war der muffelige Geruch besser als ein Garten voller Rosen.
Im selben Moment hörte sie, wie der Schlüssel sich im Schloss drehte. „Oh weia!“
Als die Klinke nach unten gedrückt wurde, krabbelte Floh gerade noch unter das Bett des Goblins, ihren neuen Schatz fest umklammert. Sie meinte, dass man ihren Puls bestimmt wie die Trommeln zuvor, durch das ganze Gasthaus hören müsste.