>> Beginn der Reise von Artok Petraniol
>> Beginn der Reise von Rósa und Lysa vom Wolfsclan
Das Licht des Morgens vertrieb gerade die dunkle Nacht, als der ausgemergelte Wolf aus dem Wald hervorhuschte, um am Quellfluss der Nimmerberge seinen Durst zu stillen. Seine Ohren waren gespitzt und er lauschte auf die Geräusche der Umgebung. Keine Gefahr schien zu drohen, der gefährliche Dravac, der in diesem Revier auf der Lauer lag, hatte sich wohl zum Schlafen in seine Höhle zurückgezogen. Man musste sich vor ihm in Acht nehmen. Durch diesen kräftigen Räuber hatte der Wolf bereits seinen Gefährten verloren.
Hier, am Rand des Gebirgszuges bedeckte Schnee den gefrorenen Boden. Im Wald bemerkte man nicht viel davon, denn die Bäume schirmten den Boden von dem gröbsten Schneegestöber ab.
Der Wolf hinterliess eine Spur aus Pfotenabdrücken, als er zum Wasserlauf trottete.
Er musste sich eine gut erreichbare Stelle suchen, denn überall versperrten mächtige Felsen den Zugang zum kalten Wasser.
Endlich vermochte er seinen Durst zu stillen.
Plötzlich jedoch zuckte sein Kopf nach oben, und seine feine Nase zitterte in der Luft. Sie witterte einen Geruch, der nicht hierher gehörte. Mit angespanntem Körper beobachtete der Wolf die Umgebung. Da!
Zwischen zwei Felsblöcken in einer Art Grube konnte er ein Wesen wahrnehmen. Es schien ein dickes Fell zu besitzen, aber er wusste, dass es nicht der Dravac war. Dieser roch viel strenger.
Eine Weile verharrte der Wolf, als sich jedoch nichts rührte, schlich er sich näher heran. Der Geruch von Tod und Düsternis umgab das Wesen, doch es war nicht der Gestank von Verwesung.
Der Wolf blickte sich hungrig um. Kein Mitstreiter da, der mit ihm um die Beute kämpfen würde. Langsam und siegessicher näherte er sich dem scheinbar toten Körper. Der süsse Duft von Blut hing in der Luft und dem Wolf tropfte der Sabber von den Lefzen.
Gerade, als seine Nase das dicke Fell berührte, das den Leib umhüllte, ging ein Zucken durch das Wesen. Erschrocken sprang der Wolf zurück, mit gesträubtem Fell und in geduckter Haltung beäugte er seine Beute. Sie lebte noch, doch sie war schwach. Er müsste einfach abwarten…
In diesem Augenblick fegte ein Windstoss durch die Felsen und trug ein neues Geräusch an die wachsamen Ohren des Wolfes heran…“eine Pause… etwas Essen würde gut tun… ausruhen“. Stimmen!
Das wurde dem Wolf nun doch zu viel. Er war nicht mehr der Jüngste und mochte sich keiner Auseinandersetzung stellen. Mit einem letzten Blick auf das mehr tot als lebendige Fellbündel wandte er sich ab und huschte wie ein Schatten in den schützenden Wald zurück.
Einige hundert Meter entfernt ritten Rósa und ihre Tochter Lysa auf ihren beiden strubbeligen und vollgepackten weissen Ponys durch den Schnee. Rósa hielt Ausschau nach einer geeigneten Stelle, um zu frühstücken. Sie waren beim ersten Tageslicht aufgebrochen, doch nun musste eine Rast eingelegt werden, bevor die Reise weitergehen konnte.
„Mamma, ich habe gerade einen Wolf gesehen“, erklang Lysas aufgeregte Stimme, „er sah ziemlich hungrig aus… und verschreckt!“
„Vermutlich hat er uns gehört und hat reis aus genommen“, meinte Rósa ruhig. Es war nichts Ungewöhnliches, das es in solch abgeschiedenen Gegenden Wildtiere gab, und da war ein einsamer Wolf noch die harmloseste Variante.
Das Gebiet war nicht leicht zu begehen und Rósa war dankbar für die Trittsicherheit und Gelassenheit, mit welcher die Ponys sich ihren Weg bahnten.
Bald war das Rauschen des Quellflusses zu hören. „Wir haben die Nimmerberge erreicht“, murmelte Rósa. „Wir werden in der Nähe des Wassers Rast machen. Dann können die Pferde etwas trinken. Es gibt hier zwar nicht viele Gräser, die sie ausscharren können, aber gegen Mittag werden sie dann wieder die Gelegenheit dazu bekommen, wenn wir wieder weiter in der Ebene draussen sind. Am besten folgen wir einfach in einigem Abstand dem Fluss. Er sollte uns wieder in bewohnte Gegenden führen.“ … von denen wir uns jedoch fernhalten müssen, solange dort Norkara leben, fügte Rósa mit einem besorgten Blick auf ihre Tochter hinzu.
Doch sie müssten dort vorbei, denn Rósa hatte sich vorgenommen, ihre Tochter in die Sicherheit zu führen, auch wenn dieser Weg auf einen anderen Kontinent führen würde. Dorthin, wo Magie nicht verpönt war und man ihre Tochter deswegen nicht ächten würde.
Bald hatten sie denselben Pfad erreicht, dem zuvor der Wolf gefolgt war. Sie stiegen von den Ponys ab und machten es sich so gut als möglich bequem. Während Rósa das karge Frühstück, etwas getrocknetes Fleisch und hartes Brot, vorbereitete, schickte sie Lysa aus, um die Wasserbehälter aufzufüllen.
Geschickt kletterte das Mädchen zwischen den Felsen hindurch zum Wasser hinunter. Wie zuvor der Wolf, blickte sie sich aufmerksam um, bevor sie sich hinabbeugte, und die Lederhüllen ins Eiswasser tauchte.
Plötzlich erstarrte das Kind und die Flasche rutschte ihr aus der Hand und platschte ins Wasser. Ein Geräusch hatte es verschreckt und der ängstliche Blick tastete die Felsen ab. Da war es wieder! Ein leises Stöhnen. Ein Tier?
Dann blieben ihre Augen an dem Fellbündel hängen. Ohne zu überlegen, machte Lysa kehrt und rannte zu ihrer Mutter zurück, um ihr von dem Fund zu berichten. Die Wasserflasche blieb im Wasser vergessen.
„Mamma, Mamma! Da ist etwas! Ein wildes Tier!“, ausser Atem rannte sie der Mutter in die Arme. Sofort war Rósa auf den Beinen: „Wo ist es? Was ist es für ein Tier? Hat es Dich gesehen?“
„Ich weiss nicht recht… es hatte ein dickes Fell. Es hat sich nicht bewegt, aber ich habe gehört, wie es Geräusche von sich gegeben hat. Vielleicht ist es verletzt!“
Rósa dachte darüber nach. Dann entschied sie, nach dem Tier zu sehen. Wenn es wirklich verletzt oder bald tot war, könnten sie es verarbeiten und das Fell und Fleisch nutzen.
„Du bleibst hier und passt auf die Pferde auf!“, ermahnte sie das 6 – jährige Mädchen mit ernster Stimme.
Dann schlich sie sich mit einem kurzen Speer und einem Dolch bewaffnet vor, immer auf der Hut und bereit, sich bei Gefahr zu wandeln und ihr Kind zu beschützen.
Sie erreichte das Tier bald und blieb wie angewurzelt stehen, als sie den Irrtum ihrer Tochter bemerkte. Der Mensch, denn Rósa hatte noch nie einen Alben gesehen und wusste nicht, wenn sie einen vor sich hatte, hatte sich bewegt, und gab nackte Beine und einen Arm frei. Der Rest des Körpers war von einem wärmenden Fellmantel umhüllt. Trotzdem würde in Kürze die Kälte alle seine Knochen durchziehen.
Auf der einen zierlichen Hand schien ein dunkles Symbol eingebrannt zu sein und bei dem Anblick machte sich ein beunruhigendes Gefühl in der Mutter breit. Bevor sie jedoch weiter darüber nachdenken konnte, durchbrach eine bekannte Stimme die Stille: „Es ist eine Frau!“
Rósa wirbelte herum.
Hinter einem Felsen blinzelte ihre Tochter entschuldigend, doch mit neugierigem Blick hervor. „Ich hatte Dir doch gesagt…“, im selben Moment regte sich der Körper. „Wir müssen sie in wärmende Decken packen. Hol eins von den Wolfsfellen und schneid einige Fetzen raus, die wir ihr um die Füsse wickeln können. Und bring eine der Lederhosen und ein Oberteil, das übrig ist, damit sie nicht erfriert. Beeil Dich!“
Kaum war Lysa verschwunden, näherte sich Rósa behutsam der Frau. „Hallo, ich bin Rósa. Können sie mich hören? Können sie mich verstehen? Ich möchte ihnen helfen. Meine Tochter holt ihnen warme Sachen… sie sind in Sicherheit.“
Rósa wusste nicht, ob die Frau sie hörte oder überhaupt verstehen konnte, doch sie bemühte sich um einen beruhigenden Klang, um die Verletzte nicht zu verängstigen. Wie war sie wohl hierhergekommen? Und woher kam die Frau? Weshalb trug sie nur einen Fellmantel an ihrem Leib? Hatte man sie ausgeraubt? Befand sie womöglich eine gefährliche Räuberbande in der Nähe?