Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten Emilia an der Nase, als sie aus ihrem Schlaf erwachte. Das Fenster über ihrem Kopf stand leicht geöffnet, doch weder hörte sie das fröhliche Zwitschern der Vögel, noch das geschäftige Rumoren der hauseigenen Köchin. Etwas Anderes hatte sie aus ihren Träumen gerissen und es schwebte noch immer in der Luft. Verschlafen setzte sie sich auf und schob sich beiläufig die braunen Locken aus dem blassen Gesicht. Sie konnte das frische Brot riechen und die Feuchtigkeit des vergangenen Regens. Die Gerüche bahnten sich ihren Weg durch das Haus, machten keinen Halt vor Türen oder Fenstern, zwängten sich durch jede Ritze und jeden Spalt, schlängelten sich die Treppen hinauf und erquickten die junge Frau, welche sie alle tief in ihre Lunge inhalierte.
Abrupt hielt Emilia in ihrem Schnuppern inne, als sie realisierte, was sie geweckt hatte. Ihr Blick glitt drei Meter nach unten, wo sich die Tür befand, welche in den Flur und in den Rest des geräumigen Hauses führte. Ihr Vater hatte für sie das Zimmer mit vielen Klettermöglichkeiten ausgestattet. Dazu gehörten auch Liegeflächen, die horizontal in verschiedenen Höhen wie eine Treppe an der runden Wand des Türmchens befestigt waren. Geschickt, doch um einiges vorsichtiger und langsamer als in ihren Katzengestalten kletterte und sprang sie schliesslich, bis sie festen Boden unter den nackten Füssen hatte. Ihre Zehen gruben sich in den flauschigen Teppich. Sie liebte alles, was sich besonders anfühlte und einen kurzen Moment gab sie sich dem Gefühl hin und stellte sich das Alpaka vor, das die Wolle einmal getragen haben mochte. Als Kind hatte sie oftmals ihre Nase hineingesteckt, um die Duftnoten besser unterscheiden zu können.
Heute hatte sie jedoch keine Zeit für solche Dinge. In ihrem weiten Nachthemd tapste sie zur massiven Tür, um sie vorsichtig zu öffnen. Die Klinke fühlte sich kalt und abweisend unter ihren Fingern an, doch Emilia liess sich nicht beirren.
Die Laternen waren über Nacht heruntergebrannt, doch die junge Frau meinte noch den Geruch der kokelnden Dochte erahnen zu können.
Ihre Augen hatten sich schnell an die Dunkelheit des Flurs gewöhnt. Auch hier waren Teppiche ausgelegt, die ihre Schritte abfederten. Rechts war das Bad, welches ihr alleine gehörte. Daneben das Schlafzimmer ihrer Zofe. Gisela mochte noch tief und fest schlafen, sie war keine Frühaufsteherin und es war kein Licht unter dem Türspalt zu erkennen.
Jetzt bog der Flur um die Ecke, kein Teppich dämpfte mehr ihre Schritte, der Vater hatte das nicht gewollt, stattdessen schmückten Hirschgeweihe die kahlen Wände.
Der Geruch, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte, wurde plötzlich intensiver. Er roch süsslich und zugleich so bekannt. Ihre Sinne sogen ihn in sich auf, versuchten ihn einzuordnen. Emilia spürte verwundert ihr inneres Raubtier nahe an der Oberfläche kratzen, und verscheuchte es mit einem unwilligen Kopfschütteln, so dass ihre Locken flogen.
Sie verlangsamte und blieb unschlüssig kurz vor dem Schlafgemach stehen. Wie gerne hätte sie jetzt gehorcht, ob ihr Herr Papa sich gerade unruhig in seinen Bettlaken wälzte, oder ob er sich bereits anzog, um den Tag zu begrüssen.
Vielleicht pfiff er in diesem Moment bereits eine fröhliche Melodie?
Emilia verneinte sich selbst.
Nein, sie hatte ihn noch nie pfeifen gesehen im Gegensatz zum Knecht oder den Mägden. So etwas gehörte sich nicht für einen adligen Herrn. Trotzdem gefiel ihr der einfache Gedanke daran.
Plötzlich jedoch konzentrierte sie sich wieder auf die Duftnoten. Eine unbekannte war dabei, eine, welche sie in diesem Haus noch nie zuvor gerochen hatte. Und sie hatte eine sehr gute Erinnerung.
Und auch dieser süssliche Geruch, war irgendwie beunruhigend.
Mutig trat sie vor, und klopfte beherzt an die Eichentür. Eine Antwort konnte sie kaum erwarten, und so öffnete sie nach einer kurzen Pause die Pforte.
Was sich ihr darbot, liess sie zurückschrecken. Emilia stiess einen Schrei aus, den sie selbst nicht hören konnte und doch war sie sich sicher, dass er durch das ganze Haus dringen musste. Es war jedoch nicht das Bild des Todes, das sie stolpern liess, es war der alles übertönende Geruch des Blutes.
Ihre Augen huschten wie von Sinnen über das Bildnis, vermochten sich an keinem Detail festzuhalten. Rosen, überall Rosen. Mit spitzen Dornen rankten sie sich um den Körper ihres Vaters, setzten sich an der Decke und am Boden fort. Sie bildeten Spiralen und Ringe, verliefen sich im Nichts, um an einem anderen Ort neu zu erblühen. Und mitten drin lag ihr geliebter Herr Papa. So friedlich, als würde er nur schlafen.
Doch vergeblich suchten ihre scharfen Augen nach einem Puls, nach der sanften Hebung seines Brustkorbs unter dem Nachthemd. Als sie einen Schritt vortreten wollte, berührten ihre nackten Füsse eine der roten Rosen. Die klebrige Flüssigkeit färbte ihre Zehen und hinterliess Spuren, als sie sich abwandte und zur Tür hinausstolperte.
Und dieser Geruch!
Emilia presste sich verzweifelt die Hände auf Nase und Mund. Sie konnte ihren Vater überall riechen. Sein Duft schien in jede Pore ihres Körpers überzugehen, nachdem er bereits das gesamte Haus erfüllt hatte.
Luft, sie brauchte frische Luft!
Sie bemerkte nicht die Diener, welche von ihrem Schrei angelockt, zum Zimmer ihres Vaters stürmten.
Endlich hatte sie die Treppe bewältigt und öffnete schwungvoll die Hintertür, welche in eine schmale Gasse führte und schnappte wie eine ertrinkende nach Luft. Sofort verflüchtigte sich der süsslicheiserne Geschmack in ihrem Mund, doch das Bild in ihrem Kopf blieb bestehen.
Seltsamerweise fühlte sie zwar Trauer und Entsetzen, doch auch eine morbide Faszination hatte sich ihrer bemächtigt. Wer auch immer dies getan hatte, ihr Vater lag in Würde in seinem Bett.
Bestürzt über ihre eigenen Gedanken, atmete sie tief ein und schloss die Augen. Das Gesicht ihres lächelnden Herrn Papas löste einzelne Tränen aus, welche ihr ungehindert über die Wangen liefen.
Konzentriere dich auf den Moment, lass alles zurück, sonst fällst du in ein tiefes Loch und kommst nicht mehr heraus!, flüsterte ihre Vernunft.
Emilia lehnte sich an die kalte Mauerwand und spürte den rauen Stein unter ihren weichen Fingern. Um im selben Augenblick roch sie es wieder. Da war eine unbekannte Person in ihrem Haus gewesen, und es war dieselbe, die ihren Vater getötet hatte.
Der Gedanke jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
Als sie sich darauf konzentrierte, erkannte sie den Rosenduft wieder, gepaart mit einer Note aus Schweiss und dem Blut ihres Herrn Papa.
Ohne zu überlegen stiess sich Emilia von der Mauer ab und folgte dem Duft durch die Strassen.
Erst nach einigen Stunden des Herumirrens musste sie sich eingestehen, dass sie die Spur verloren hatte in der Menschenmenge, die sich nun auf den Strassen ansammelte und ihren Geschäften nachging.
Einer der besorgten Knechte fand sie schliesslich weinend und verschmutzt an einer Ecke und führte sie nach Hause. Man war sich einig, dass die junge Frau Ruhe benötigte. Sie war schon immer ein verwirrtes und unstetes Kind gewesen und der Tod des Vaters würde sich noch mehr aus der Bahn reissen.
Hoffentlich nähme sich bald ein mitfühlender Ehrenmann ihrer an, denn wer sollte sonst das Grundstück verwalten und die Löhne auszahlen?