(Einige Wochen davor)
Sie jagten ihn seit Stunden. Die Hitze des Tages war gewichen und nun war es Nacht. Er trug den Sommer auf der Haut, barfuß, in kurzen Lumpen und mit braungebrannter Haut, die sein helles Haar leuchten ließ. Er verbrachte fast den gesamten Tag unter freiem Himmel, schlug sich mit kleinen Diebstählen und Betteln durch. Dafür, dass er auf der Straße lebte, war er gut in Form, denn wer gut aussah, hatte es leichter, sich die eine oder andere Mahlzeit ausgeben zu lassen oder sonstige Geschenke zu erhalten. Dahingehend ging es ihm seit zweieinhalb Jahrzehnten ganz gut. Doch die Nacht warf schwarze Schatten und die Sommerhitze wich der Kälte der Sterne und der beiden Monde.
Antoine hatte schon das eine oder andere Mal am öffentlichen Pranger gestanden, doch heute war er zu weit gegangen. Die Leibgarde des Großherzogs Höchstselbst war ihm auf den Fersen. Er glaubte nicht, dass er noch lange genug durchhalten würde, um den nächsten Sonnenaufgang in Freiheit zu erleben. Warum sie ihn so erbittert jagten, wusste Antoine nicht. Der feuchte Staub von herabgebröckeltem Putz verklebte seine Zehen, als er durch das verlassene Industriegebiet rannte. Lagerhallen und schweres Gerät zum Verladen dominierten das Viertel. Bei Nacht war hier nichts los, die Arbeiter waren nur am Tage zugegen. Es gab hier entsprechend kaum Licht, dem er ausweichen musste, von dem der beiden Vollmonde abgesehen.
Zwölf Mann waren es, die an seinen Fersen klebten, in enge schwarze Kleidung gehüllt, von einer leichten, ebenfalls schwarzen Rüstung geschützt, die Gesichter von Visierhelmen verdeckt. Antoine hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihm derart weit vom Palast weg folgen würden. Er war davon ausgegangen, dass sie bald umkehren und die Büttel der Stadtwache informieren würden, so dass er ein Zeitfenster erhielt. Stattdessen jagten sie ihn gnadenlos wie ein Rudel ausgehungerter Raubtiere einen einsamen Hirsch. Schnelligkeit war immer sein Freund gewesen, doch die Leibgardisten waren ausdauernd wie Wölfe und genau so gerissen. Sie schienen seine Fluchtroute vorherzusehen und hatten sich aufgeteilt, um ihm alle Wege abzuschneiden. Vier waren unmittelbar hinter ihm. Sie zeigten sich offen, gaben sich keine Mühe, in Deckung zu gehen, waren immer gerade weit genug weg, als dass er die Hoffnung nicht ganz verlor, sie vielleicht doch noch abzuhängen und weiter rannte, anstatt aufzugeben. Er wusste, dass sie ihn erschöpfen wollten. Er wusste es und war doch machtlos dagegen.
Antoine kletterte eine verrostete Eisenleiter hoch und rannte über ein Laufgitter, das um das Gebäude herumführte. Seine Fußsohlen waren steinhart von Hornhaut und das Eisen störte ihn so wenig wie zuvor der scharfkantige Schutt. Die Leibgardisten legten die behelmten Köpfe in den Nacken und sahen ihm nach. Sie teilten sich erneut auf, zwei folgten ihm hinauf und zwei rannten unter dem Gitter entlang.
Antoines Füße hämmerten auf dem Eisen, Rost rieselte hinab. Er konnte nicht mehr rennen, er schleppte sich nur noch vorwärts. Die Leibgardisten waren besser trainiert, agierten wie ein Mann, der sich in mehreren Körpern befand. Sie waren ein perfekt eingespielter Trupp von Elitekämpfern und sie hatten ihn bald. Was dann geschehen würde, wusste er nicht. In Anbetracht dessen, dass er im Anwesen des Ducs herumgeschlichen war, auf der Suche nach lohnenswertem Diebesgut, wurden ihm vielleicht die Hände abgehackt. Immerhin war er ins Heiligtum der Krone eingedrungen, das war noch etwas anderes, als auf dem Markt ein paar Würstchen zu entwenden oder bei einer einsamen Dame im Gegenzug für Schmeicheleien Geld zu leihen, dass er niemals zurückzahlte.
Weil er nicht wusste, wo er sonst hin ausweichen sollte, kletterte hinauf er auf das Flachdach. Und dort standen drei Männer in Schwarz. Antoine konnte in seinen Gedanken regelrecht ihr gehässiges Grinsen hinter den Visieren sehen. In selbstsicherer Manier schlenderten sie auf ihn zu. Er blickte unter sich die Leiter hinab. Dort standen zwei weitere Gardisten und warteten. Sie kamen nicht hinterhergeklettert, sondern blickten nur hinauf. Er war gefangen, hing zwischen Himmel und Erde auf den rostigen Metallstreben, die nur wackelig mit der Wand verbunden waren.
Er war kein Leichtgewicht, sondern war groß und stand gut im Futter. Jetzt im Sommer besonders, wo es überall in den Vorgärten Früchte zu holen gab und Vogelnester, die man plündern konnte. Er hielt die Leiter fest umklammert und ruckte mit dem ganzen Körper nach hinten, ein Mal, zwei Mal. Beim dritten Mal riss sie aus der Verankerung und kippte mit ihr über die eiserne Brüstung hinweg nach hinten. Der Horizont kippte ebenfalls. Antoine löste seine Füße und hielt sich nur noch mit den Händen fest, während er samt Leiter fiel. Die Leiter wurde immer weiter aus der Wand gerissen, die Schrauben lösten sich aus der Wand und flogen wie Geschosse durch die Luft. Fluchend gingen die Leibgardisten in Deckung.
Etliche Meter über dem Boden traf sich die Leiter mit dem Geländer, das Eisen bog sich kreischend durch. Antoine ließ los und fiel die letzten Meter. Der Stoß des Aufpralls breitete sich in seine Beine aus und schien in seinen Knien zu explodieren. Er stürzte und rappelte sich langsam wieder auf, zu langsam.
Ein Tritt in den Rücken schickte ihn wieder zu Boden. Erschrocken fuhr er herum. Die Vier Gardisten, die ihn gehetzt hatten, zogen ihren Kreis enger, die drei vom Dach seilten sich gerade ab. Antoine kam auf Hände und Knie und kassierte einen Schlag ins Gesicht. Sein Kopf flog herum, erneut landete er im Dreck. Diesmal blieb er liegen, in der Hoffnung, weiteren Misshandlungen zu entgehen.
»Ich ergebe mich«, keuchte er. »Aufhören!« Er hob im Liegen die Hände. Eine gepanzerte Stiefelspitze wurde von hinten zwischen seine Beine gerammt und Antoine quollen die Augen aus den Höhlen. Er kotzte einen Schluck Magensäure aus. Seine Arme wurden auf seinen Rücken verdreht und fest miteinander verschnürt.
»Aufstehen!« Die Gardisten traten ihn in die Seite, bis er mit tränennassem Gesicht auf die Füße kam. Wacklig blieb er stehen. Einer der Gardisten hatte sich vor ihm aufgebaut. Der Körperhaltung nach musste er sich zusammenreißen, den Dieb nicht an Ort und Stelle zu einem blutigen Klumpen zu verarbeiten. Antoine konnte sich nicht erklären, warum die Typen ihn dermaßen auf dem Kieker hatten, nur weil er in den Palast eingedrungen war! Er war nur ein lausiger Kleinkrimineller auf der Suche nach etwas Handlichem, das er mitgehen lassen konnte und jagten ihn wie einen Serienmörder.
»Es tut mir leid«, ächzte er. »Ich wollte keinem etwas Böses, ich wollte nur irgendwas klauen. Ich bin von der Straße.«
»Es war klar, dass du so geendet bist«, schnauzte der Leibgardist. »Hinterfotzigkeit war schon immer deine bevorzugte Art. Du hast in deinem Leben nie etwas zustande gebracht, hast dich deinen Problemen nie gestellt, sondern versucht, sie zu umgehen. Der leichte Weg, das ist dein Weg.«
Antoine starrte den Leibgardisten mit offenem Mund an. Das Visier war wie eine schwarze Maske aus Eisen mit Luftschlitzen. »Wer seid Ihr? Kennen wir uns?«
»Du wirst mich noch kennenlernen«, schnauzte der Mann. »Bringt die Drecksau ins Verlies B.«
Antoine strengte sein Gedächtnis an, aber er konnte sich beim besten Willen nicht an die Stimme erinnern oder daran, irgendeinen Leibgardisten persönlich zu kennen. Vielleicht kannte er ihn aus einer Taverne? Sie führten den humpelnden und vor Schmerzen stöhnenden Mann zurück zum Palast und warfen ihn dort in einen unterirdischen Kerker. Sie zogen ihn aus und durchsuchten alle Körperöffnungen. Dabei gingen sie gründlicher vor, alses nach Antoines Meinung hätte sein müssen. Sie wechselten sich damit sogar ab und kontrollierten alles mehrmals. Panik stieg ihn ihm auf, als er merkte, in welche Richtung das Ganze sich entwickelte. Sie rückten von allen Seiten enger an ihn heran.
»Leute, ich bin nur ein kleiner Dieb von der Straße«, beschwor er sie. »Ich habe nie irgendwem etwas getan! Nur ein paar Kleinigkeiten geklaut!«
»Lüge, Toni. Ganz böse Lüge«, knurrte der Leibgardist, der gerade mit den Fingern seinen Hintern spreizte und dabei gar nicht sanft vorging.
»Woher kennt Ihr meinen Namen? Hört auf damit!«, ächzte er.
Der Kerl stand auf, packte ihn am Genick und presste ihn an die Wand. »Beine auseinander«, befahl er. Antoine rückte die Füße ein winziges Stück auseinander.
Einer der umstehenden Leibgardisten, der bisher an der Wand gelehnt und zugeschaut hatte, trat nun herzu. Der Statur nach war es derjenige, der Antoine gestellt hatte und vermutlich der Anführer der Einheit. Er war nicht sehr groß, dafür bullig. Er öffnete den Verschluss unter seinem Kinn und nahm den Helm ab. Antoine traf fast der Schlag. Der Kerl hatte eine dicke rosa Narbe vom Mundwinkel bis fast zum Ohr. Wenn er ihn nicht an der Knollnase, den eisblauen Augen und den schwarzen, mittlerweile angegrauten Haaren erkannt hätte, dann an dieser Narbe, die er selbst ihm einst verpasst hatte.
»Hör mal, Boldi...«, begann Antoine versöhnlich.
»Gönn dir deinen Spaß, Robby«, sagte der zu dem Gardisten, der hinter Antoine stand, ohne auf den Gefangenen einzugehen. War das denn die Möglichkeit, der auch hier?! Wie viel Pech konnte man haben!
Der Rest der Truppe stand um sie herum und riss einen blöden Spruch nach dem anderen. Robere machte sich rücksichtslos an Antoine zu schaffen, so wie er ihn schon während ihrer Kindheit gequält hatte. Nur, dass seine Grausamkeit nun, da sie erwachsen waren, jene aus ihrer Kindheit um ein Vielfaches übertraf. Boldiszàr verfolgte das Schauspiel mit ausdruckslosem Gesicht. Er selbst machte sich die Finger nicht schmutzig. Er tat jedoch auch nichts, um seinen Vollstrecker auszubremsen, sondern ließ ihm und den anderen, die mitspielen wollten, freie Hand. Als nacktes Häuflein Elend sank Antoine schließlich in der Zelle zusammen.
Als die Leibgardisten endlich das Interesse an ihrem Spielzeug verloren und von ihm abließen, unterhielten sie sich über den morgigen Dienstplan. Antoine lag wie ein benutztes, zusammengeknülltes und weggeworfenes Taschentuch zwischen ihnen auf dem Boden. Stiefel traten über ihn Hinweg und die Eisentür wurde verschlossen. Antoine kroch in eine Ecke und versuchte, Speichel und die anderen Flüssigkeiten an der Wand abzuwischen. Eingerollt und in der Kälte des Verlieses frierend wartete er auf sein Verhör und seine Verurteilung. Die Hoffnung, dass er hier lebend rauskommen würde, hatte er sich aus dem Kopf geschlagen.