Emilia warf noch einen letzten Blick zurück in die Gasse, von der sie kamen, bevor die Klappe hinter ihnen zu fiel und ihre Augen sich für einen Moment an das neue Licht gewöhnen mussten.
Als die Gestaltwandlerin bemerkte, wie Dimicus nach ihrer Hand greifen wollte, zog sie sich schnell aus seiner Reichweite zurück. Ihre Wut auf ihn, weil er sie ohne ein Wort des Abschieds bei Gunhilde zurücklassen wollte und wegen des Bildes, war noch immer nicht verraucht, und dass er die beiden Frauen zwei Stunden lang durch die Stadt gejagt hatte, trug ebenfalls nicht zu ihrer Milderung bei.
Stattdessen tastete Emilia nach der Hand ihrer Freundin, und so gingen die beiden nebeneinander her, während sie neugierig die neue Umgebung begutachteten.
Als sie den grossen Raum betraten, staunte Emilia nicht schlecht.
Hier tummelten sich die unterschiedlichsten Gestalten, wobei ihr einige nicht ganz geheuer erschienen. Mit ihrer eigentlich guten, und durch ihren neuen Mitbewohner geschulten, Beobachtungsgabe bemerkte sie rasch, dass die meisten von ihnen bewaffnet waren.
Der Saal mutete wie eine riesige Gaststube an und war ihr seltsamerweise sogleich sympathisch und vertraut. Auch Mirabella schien es nicht anders zu ergehen, denn sie grinste zufrieden, als die Blicke einiger Männer interessiert an ihr hängen blieben.
Als eine Gestalt auf sie zutrat, musste die junge Frau den Kopf heben, um zu ihm aufzuschauen. Das Gesicht zeigte Spuren von Alter, doch auch trotz seiner Bewaffnung machte er einen freundlichen Eindruck.
Shazeem begrüsste die kleine Gruppe und vor Allem Dimicus enthusiastisch.
Emilia verfolgte das Gespräch nicht, sondern blickte sich voller Neugierde um.
Dies sollte als ihr neues zu Hause sein?
Etwas nachdenklich registrierte sie hingegen die vielen männlichen Gestalten. Nur vereinzelt waren auch Frauen unterwegs, rückten sich jedoch nicht so offensichtlich in den Vordergrund, wie es im Bordell der Fall war.
Als die beiden Männer losgingen, blieb den beiden Freundinnen nichts Anderes übrig, als ihnen zu folgen. Auch Emilia war das bleiche Gesicht ihres Begleiters aufgefallen und Sorge mischte sich in ihren Blick.
Wäre es nicht besser gewesen, noch ein oder zwei Tage abzuwarten? Glaubte er in so grosses Gefahr zu schweben, dass er seine Gesundheit aufs Spiel setzten musste?
Inzwischen begann sich Mirabella mit dem Tamjid zu unterhalten und sogar Emilia bemerkte die interessierten Blicke, welche er der jüngeren Frau zuwarf.
Dimicus hingegen torkelte inzwischen mehr, als dass er lief. Besorgt ging die Gestaltwandlerin näher neben ihm her ohne ihn jedoch zu berühren, um ihn notfalls stützen zu können.
Beinahe entsetzt starrten die beiden Frauen in den kleinen Raum, als Shazeem ihnen die Tür öffnete und das Zimmer präsentierte.
„Hier sollen zwei Menschen wohnen?!“, meinte Mirabella und runzelte zweifelnd die Stirn, womit sie genau Emilias Gedanken in Worte fasste. Zum Glück besassen weder sie noch Dimicus allzu viel, sonst hätten sie sich einiger Dinge entledigen müssen.
Mirabella tauschte noch einige Worte mit Shazeem aus, klimperte ihn mit ihren langen Wimpern an, doch er zuckte nur schwach mit den Schultern. Offensichtlich hatte er kein grösseres Zimmer im Angebot. Schliesslich verschwand er wieder und die Prostituierte blickte ihm beinahe sehnsüchtig hinterher.
Emilia hingegen konnte gerade noch zusehen, wie Dimicus über dem Bett zusammenbrach. Erschrocken stürzte sie zu ihm hin und legte eine Hand auf seine Stirn. Sie glühte regelrecht.
Dieser arrogante, doofe Kerl!, dachte sie verärgert und besorgt zu gleich.
Warum musste er es auch besser wissen, als die alte Heilerin?
Mirabella war inzwischen zu ihr herangetreten, wobei aus ihrem Blick ein wenig Schadenfreude funkelte.
Dann jedoch half sie ihrer Freundin, den Mann bequem zurechtzurücken und gemeinsam schafften sie es sogar, ihm seine Lederrüstung und das Hemd auszuziehen. Der Verband war blutdurchtränkt, offensichtlich war die Wunde aufgebrochen.
Mirabella fluchte. Emilia überlegte, was hatte Gunhilde getan?
Während Mirabella vorsichtig den Verband entfernte, der unangenehm klebte, durchwühlte das Mädchen Dimicus Sachen, bis sie die Salbe fand, welche er von der alten Heilerin erhalten hatte. Dabei lag auch die kleine Holzfigur, welche Emilia bereits bei der ersten Durchstöberung seines Zimmers entdeckt hatte. Das Holz fühlte sich lebendig und warm an in ihrer Hand. Ohne den wirklichen Grund dafür zu kennen, steckte sie die Schnitzerei in ihre Hosentasche.
Schliesslich bedeutete sie Mirabella mit verqueren Gesten, dass sie Wasser benötigten, worauf die Hübschlerin aus der Tür verschwand.
Emilia zog ihm währenddessen die Schuhe aus und setzte sich dann auf die Bettkante. Sie studierte sein Gesicht. Die Augenlieder zuckten und er atmete schnell. Vermutlich hatte er eine Art Traum.
Vorsichtig schob sie ihm eine verirrte Haarsträhne aus dem schweissbedeckten Gesicht.
Sie stand auf und schaute in die Kommode, wo sie tatsächlich noch eine Wolldecke vorfand für die Winterzeit. Diese breitete sie über ihm aus, denn mit Fieber sollte man nicht frieren.
Als Mirabella wieder zurückkehrte mit einem Wassereimer, begann die eine ihm die Stirn mit einem kalten Lappen abzutupfen, während die andere vorsichtig die Wunde auswusch. Erst danach schmierte Emilia Gunhildes Heilsalbe darüber und legte wieder einen schützenden Verband darum.
Dimicus schlief tief und fest und schien von der Prozedur nichts mitbekommen zu haben.
„Nun, ich glaube, mehr können wir momentan nicht für den jungen Herrn da tun“, meinte Mirabella und wirkte leicht erschöpft.
Kurz darauf sassen die beiden Frauen an dem Tresen mitten in dem gemütlichen Schankraum, beide einen Krug Met vor sich stehen. Emilia hatte noch niemals einen solchen Alkohol getrunken, weswegen sie beim ersten Schluck die Nase rümpfte und Mirabella bei ihrem Anblick belustigt in den Krug hineinprustete.
„Noch ein paar Krüge mehr, dann wirst Du nur noch den Honig schmecken!“, prophezeite sie ihr mit einem Grinsen im Gesicht.
Tatsächlich empfand Emilia den Geschmack nach einigen Schlucken schon als viel angenehmer und nippte nun nicht mehr ganz so zaghaft an dem Getränk.
Ein mittelalter Mann beobachtete sie belustigt dabei, und lächelte sie freundlich an, als sich ihre Blicke kreuzten.
„Hey, die Männer beobachten uns, ist Dir das aufgefallen? Wir scheinen hier sowieso in der Minderzahl zu sein. Ist wohl vermehrt eine Männerdomäne“, machte Mirabella sie darauf aufmerksam.
Eine Stunde später wirkte die junge Frau bereits um einiges gelöster. Da kam ihrer Freundin eine Idee und sie stupste Emilia an: „Hey, wie wärs, wenn wir dir einen Job besorgen?“
Emilia nickte ihr begeistert zu, was wohl auch dem Alkohol geschuldet war, der sich bei der überhaupt nicht trinkfesten Lady schnell bemerkbar machte.
Was für tolle Ideen Mirabella doch immer hatte! Schliesslich wollte sie ja unabhängig werden, und der erste Schritt in diese Richtung bestand doch folglich darin, eigenes Geld zu verdienen!
Bald kam die Hübschlerin mit dem etwa 45-jährigen Mann hinter dem Tresen ins Gespräch.
„Na, meinste nicht, dass du noch zwei helfende Hände gebrauchen könntest? Und wies aussieht, ist die Kundschaft momentan etwas spärlich. Wetten, wenn dieses fesche, junge Mädel hinter dem Tresen mitarbeiten würde, würdest Du Deinen Umsatz um einiges steigern? Ausserdem wird sie dir nie widersprechen, sie ist nämlich taubstumm. Was kann ein Chef sich bessere wünschen?“
Emilia nickte wiederum enthusiastisch.
„Eine, die nichts hört? Dann versteht sie ja nicht, wenn die Kundschaft was verlangt“, brummte er.
Die junge Gestaltwandlerin lächelte ihn charmant an, und zeigte dann auf ihre zwei Augen und auf seine Lippen.
Schliesslich liess sich Tobaios dazu überreden, Emilia für zwei Probetage bei sich einzustellen. Gleich am nächsten Morgen sollte sie antraben und ihm beweisen, dass sie fähig war zu arbeiten.
Im Grunde erinnerte sie ihn an seine eigene Tochter, die nur wenig jünger war als Emilia und er wollte dem Mädel eine Chance geben. Die Jungs hier würden allemal Freude an ihr haben, so wie sie die Welt anstrahlte. Vielleicht würden die Umsätze tatsächlich steigen, denn schon jetzt waren eindeutig mehr Diebe und Vagabunden um den Tresen und die nahen Tische versammelt und schäkerten munter mit Mirabella.
„Und du brauchst keinen Job?“, fragte er sie schliesslich.
„Nun, momentan bin ich versorgt. Aber vielleicht überlege ich es mir ja noch. Mir gefällt die Gesellschaft hier ganz gut“, grinste sie ihn vielversprechend an und überlegte sich tatsächlich, hier ein Zimmer anzumieten, sollte der Preis stimmen.
Inzwischen merkte man Emilia an, dass der Alkohol seine Wirkung entfaltete. Wo er zuerst ihre Stimmung gehoben und sie locker werden liess, erschöpfte er sie nun umso mehr. Müde gähnte sie in die Runde und klatschte sich dann schnell peinlich berührt die Hand auf den Mund.
Tobaios lachte.
„Am frühen Abend schon müde? Na das kann ja heiter werden. Du weisst schon, dass erst jetzt dann die richtige Kundschaft und die gehoberen Herrschaften auftauchen? Nun, Morgen fängst Du mit einer Mittagsschicht an, wir geben nämlich auch Speisen heraus und du kannst helfen Tische abzuräumen. Und Übermorgen wirst du die Abendschicht übernehmen. Ich erwarte dich pünktlich, Mylady“, meinte er freundlich, doch auch im vollen Ernst.
Inzwischen hatte er auch so viel von Emilia mitbekommen, um zu ahnen, dass sie keine blosse Vagabundin war. Ihr Verhalten deutete darauf hin, dass sie sich besseres gewohnt war, doch alle, die hier Einlass erhielten, wurden gleichbehandelt.
„Ich werde das Mädel mal in ihr Zimmer geleiten, sie muss sich ausruhen. Danach bin ich gleich wieder hier und du kannst mir noch bissel was über diesen Ort hier berichten… und wie eine Frau wie ich dazu kommt, Einlass zu erhalten“, sie winkte ihm fröhlich zu. Auch Emilia winkte und hüpfte dann wieder beinahe hinter ihrer Freundin her.
„So Liebes, ich lass Dich hier jetzt allein. Du siehst Mal nach deinem Freund und ich werde mir noch ein Gläschen bei Tobaios genehmigen. Lauter nette und auch noch ansehnliche Kerle scheint es hier zu geben. Und spätestens in einigen Tagen besuche ich dich einmal oder wir schreiben uns Briefe“, sie umarmte Emilia, beobachtete wie diese zur Tür hineinhuschte und machte sich dann munter pfeifend wieder auf den Weg zur Gaststube.
Im Zimmer liess Emilia sich wie sie war neben dem Kopfende des Bettes auf den Boden gleiten und lehnte sich mit dem Rücken an das Gestell.
Heute war ja Mal wieder ein aufregender Tag. Obwohl diese Umgebung so anders war als das, was sie von zu Hause kannte und auch die Menschen viel ruppiger, gefiel es ihr.
Und sie hatte tatsächlich einen Job erhalten! Oder hatte sie das nur geträumt?
Nein, Tobaios erwartete sie Morgen um elf Uhr bei sich. Sie sollte einen Mittagsdienst leisten!
Zweifel machten sich in ihr breit. Bis jetzt hatte sie nie arbeiten müssen, würde sie das schaffen? Und was, wenn sie die Kundschaft nicht verstand? Oder wenn sie zu langsam war? Oder allzu ungeschickt?
Inzwischen fielen ihr die Augenlieder beinahe zu vor Müdigkeit. Die ganze Aufregung war einfach zu viel gewesen. Als sie merkte, dass ihr Kopf ihr auf die Brust fiel, legte sie sich kurzerhand auf den Boden und kringelte sich zusammen, wie sie es als Katze auch immer tat. Doch etwas piekste sie unbequem in die Seite, so dass sie einfach nicht einschlafen konnte. Schliesslich tastete sie nach ihrer Hosentasche und zog die kleine Holzfigur daraus hervor.
Sie konnte die Umrisse des Wolfes in ihrer Handfläche spüren, seine Rute und die spitzen Öhrchen und sie fühlte sich an den Wald zurückerinnert. Mit diesem Gedanken schlummerte sie schliesslich friedlich ein.