Regenmond & Sturmseher

  • Regenmond

    Garlyn beobachtete, wie Robere sich auf seinem Feldbett wälzte. Der Sturm, der an der Bretterwand rüttelte, verwandelte den Schlaf seines Schützlings scheinbar in einen Alptraum. Robere warf den Kopf hin und her, stöhnte. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß.


    Im Schlaf wimmerte er seine alte Leier. Als ein Donnerschlag dröhnte, erwachte er mit einem Schrei. Als Robere sich keuchend aufsetzte, starrte er in die Dunkelheit des Mannschaftsquartiers, das allein von den Körpern seiner Kameraden beheizt wurde. Brennmaterial war zu wertvoll, um es für die Schlafenszeit zu vergeuden. Eine Weile saß Robere in eingewickelt in seine Wolldecke da und starrte seine Füße an. Als es erneut donnerte, kroch er samt der Decke unter das Bett. Das Ausbleiben seines Wimmerns verriet, dass er da unten nicht mehr einschlief.


    Garlyn beschloss zu handeln. Mürrisch wuchtete er sich aus dem Bett.


    Wenig später stand er mit Robere am Rand des Dubis, wo der zitternde Rekrut eine weitere Lektion durchleben musste. Ein Blitz spaltete den Himmel wie ein gleißender Riss.


    „Der Himmel bricht auseinander.“ Roberes schmale schwarze Augen waren geweitet.


    „Unsinn. Es ist nur ein Unwetter“, maulte Garlyn. „Ein bisschen heftiger als in Souvagne, aber trotzdem nur ein Wetterphänomen. Das ist doch nicht dein erster Regenmond.“


    „Alle Kameraden sind in den Baracken“, sagte Robere, ohne auf die Feststellung einzugehen. „Nur wir stehen draußen.“ Fragen stellte er schon längst nicht mehr, das hatte Garlyn ihm zeitig abgewähnt. Doch nun äußerte Robere stattdessen Feststellungen und hoffte, dass sein Ausbilder ihm daraufhin die Welt erklärte und sie wieder in Ordnung brachte.


    „Ich bin nicht dein Kindermädchen“, sagte Garlyn, „sondern dein Ausbilder. Lerne endlich, mit deinen Problemen allein klarzukommen, anstatt dich an irgendjemandes Rockzipfel zu klammern. Das andere macht nur Probleme.“


    „Das musste ich zu lange. Und ich habe deswegen nur Mist gebaut. Ich brauche ... Hilfe.“


    „Die bekommst du gerade. Aber du lernst nicht daraus. Deine Zeit hier in der Strafkompanie ist begrenzt, meine nicht. Eines Tages werde ich nicht mehr für dich da sein können.“ Er zuckte mit den nassen Schultern. „Da nützt kein Gejammer. Man muss die Dinge nehmen, wie sie kommen.“


    Vor ihren Stiefeln spülten die Wellen braunen Schaum an das Ufer. Die andere Seite des Flusses war nicht zu sehen. Die sovagnische Strafkompanie war während des Regenmonds von ihrem Heimatland abgeschnitten. Garlyns Blick verweilte in die Ferne und er schwieg. Als ehemaliger Sklave, der plötzlich mit seiner Freiheit konfrontiert gewesen war, wusste er, wie es war, sich nach Führung zu sehnen, nach jemandem, der in Güte über einen wachte. Er wusste auch, wie es sich anfühlte, wenn dieser Jemand plötzlich fehlte und man allein zurückblieb. Gegen den Tod gab es keine Macht und auch ihn konnte es jederzeit treffen. Er sah in Robere vieles von dem, was auch er einst gewesen war und wollte ihm die unangenehme Wendung ersparen.


    „Du sagst nichts“, stellte Robere fest. „Bist du traurig, Kommandant?“


    Garlyn schüttelte den Kopf. „Ich habe nachgedacht.“


    Eine kalte Sturmbö riss sie fast von den Füßen, schleuderte ihnen Regen ins Gesicht. Garlyn konnte Robere gerade noch an den Kleidern festhalten, damit er nicht in den Schlamm stürzte. Es folgte ein Donnerschlag, den Garlyn in den Tiefen seiner Eingeweide spürte. Kurzzeitig fiepte es danach in seinem Ohr, ein Blitz und ein weiterer Donnerschlag folgten.


    „Ich mag das Wetter nicht“, schrie Robere gegen den Wind.


    „Danach fragt aber keiner!“


    „Ich glaube, wir sind gerade extrem verwundbar, Kommandant. Die Wachposten sehen nichts. Für die Kundschafter ist es zu gefährlich. Wir sind nach außen fast blind, wir verschanzen uns, aber haben keine Burg, die uns schützt. Die Rakshaner könnten hundert Meter weiter mit einer Heerschaar lauern und wir würden sie nicht sehen. Wir können im Notfall nicht einmal zurück nach Hause fliehen!“


    „Das können wir sowieso nicht, Robby.“ Garlyn legte ihm die Hand auf die Schulter und stemmte sich gegen den Wind, der seinen roten Zopf peitschen ließ. Das Heulen des Sturms bot ihnen Sicherheit vor unerwünschten Lauschern. „Keiner von uns beiden hat ein anderes zu Hause als dieses Feldlager. Du musst deine Schuld reinwaschen und für mich gibt es nirgendwo einen anderen Platz auf der Welt.“


    Obwohl Robere ihn bei der Berührung erschrocken ansah, beließ er die Hand dort. Er wusste, dass sein Schützling es mochte, weshalb Garlyn damit geizte, damit er nicht verweichlichte. „Und nun hör mir gut zu, was ich dir über die Rakshaner erzähle, vor denen du solche Angst hast. Der Brand hat vor zwei Wochen ihre Familien und Herden auseinandergetrieben, nun fliegen ihnen auch noch die Zelte davon. Wir sind allein hier draußen, während unsere Familien sicher in Souvagne sitzen. Die Familien der Rakshaner aber haben keine Häuser. Ihre Frauen, Kinder, Alten, Kranken und Krüppel sind dem Sturm genau so ausgeliefert wie ihre Krieger, weshalb die Plünderer bei den ersten Gewittern des Regenmondes zurück zu ihren Stämmen eilen, um dabei zu helfen, alles in Sicherheit zu bringen.“


    „Bist du sicher?“


    „Kenne deinen Feind. Das Leben der Rakshaner richtet sich nach den Stürmen. Ihr Gott heißt nicht von ungefähr Rakshor, Herr des Chaos. Ihr ganzes Leben besteht daraus! Sie haben weder Ordnung noch Sicherheit. Sie kennen nicht Schutz einer Steinmauer, an der sich der Wind bricht, oder die sanfte Zeit des Heilmondes, wenn die Familie sich in der Küche vor dem warmen Herdfeuer Geschichten erzählt, während draußen der Winter die Welt mit weichem Schnee bedeckt. Sie wissen nicht, wie wohlig sich die Hände um heiße Tonbecher mit Gewürztee schließen und wie das Haus duftet, wenn die Frauen süße Honigkuchen für das Lichtfest backen. Sie kennen ja nicht einmal Öfen, sondern nur offene Feuer, weil sie nirgends sesshaft sind.


    Etwas zu bauen, dauert Zeit. Wie sollen sie Architektur erlernen oder Vorratshaltung, wenn sie auf der ständigen Flucht vor Steppenbränden, Stürmen oder verfeindeten Stämmen ihr Leben lang umher reisen? Wenn sie ihre Familien von Plünderungen ernähren müssen, weil ihre Herden und Hyänen bei solchem Wetter auf Nimmerwiedersehen hinaus ins Grasmeer fliehen? Und wenn endlich der Regenmond vorüber ist und der Sturm wieder abflaut, finden sie nur den Bruchteil der Tiere wieder und diese haben oft gebrochene Glieder.


    Im Grunde ist ein Rakshaner sein Leben lang auf der Flucht vor den hundert Flüchen der Steppe. Man müsste sie bedauern, wenn sie uns nicht das Leben zum Abgrund machen würden. Und hier hast du die Antwort auf deine unausgesprochene Frage: Nein, Robby. Kein Rakshaner reitet bei Regenmond hinaus, um Almanen zu überfallen. Sie sind mit Überleben beschäftigt.“ Er klopfte seinem Schützling kräftig die nasse Schulter. „Gehen wir ins Warme.“

  • Sturmseher

    In Rakshanistan verwendete man einen anderen Kalender als in den almanischen Ländern. Schuld daran trug vor allem die Witterung, die sich beträchtlich vom gemäßigten Herzland unterschied. So kannten die Rakshaner keine Begriffe für Frühling und Herbst, denn diese Jahreszeiten existierten nicht in der Steppe. Die Übergänge zwischen Sommer und Winter glichen einem Wimpernschlag, einer leisen Ahnung, die keinen Mond andauerten. Schwere Gewitterwolken rollten zu dieser Zeit über die Steppe und weil es bis dahin oft noch nicht geregnet hatte, setzten die Blitze das verdorrte Gras in Brand. Der Sturm riss an den Zelten. Danach schüttete es aus Kannen und die Flammen wurden ertränkt, die Asche vermischte sich mit dem anschwellenden Schlamm. Der Dubis trat über die Ufer und verwandelte die Ebene in einen braunen See. Die ausgetrockneten Wasserlöcher füllten sich bis zum Rand. Das Wasser musste für den Rest der Jahreszeit reichen, denn was im Sommer oder Winter an Niederschlag fiel, war kaum der Rede wert.


    Während der Regenmonde waren die Rakshaner schwer beschäftigt. Sie mussten den Feuern ausweichen und den Springfluten, mussten ihre Zelte, Familien, Rudel und Herden in Sicherheit bringen. Von besonderer Bedeutung waren bei der Rettung die Sturmseher. Sie kannten die Gesetze des Windes, lasen den Tanz der Wolken und den Flug der Geier. Aus ausgebreiteten Innereien vernahmen sie Rakshors Willen und in Trance hörten sie den Chaosgott selbst mit ihnen sprechen. Da die Sturmseher für das Überleben eines Stammes eine wichtige Rolle spielten, genossen sie eine Sonderstellung und waren bei Plünderungen die rechte Hand des Ferriks oder sogar des Tarriks. Ihr Wort hatte beträchtlichen Einfluss auf militärische Entscheidungen. Oft hatten die Sturmseher eine Macht inne, die dem des Anführers nur wenig nachstand und zu dieser einen Ausgleich bildete. Ein Ferrik oder Tarrik konnte sich nicht über seinen Sturmseher hinwegsetzen, ohne dass die Truppe in Aufruhr geriet. Umgekehrt war der Sturmseher nicht dazu befugt, irgendwem Befehle zu erteilen, er konnte lediglich den Zeigefinger erheben und bedeutungsschwer gen Himmel weisen. Im äußersten Fall verhinderte er damit jedoch einen Plünderzug und der Ferrik oder Tarrik musste sich mit den entstehenden Problemen herumschlagen.


    Unterm Strich betrachteten die militärischen Anführer die Sturmseher oft als notwendiges Übel, während diese ihre Anführer meist als sturmblinde Narren betrachteten. Doch war dies ein Spiel mit dem Feuer, denn allzu lästige Sturmseher neigten zu dem Schicksal, tragischen Unfällen zum Opfer zu fallen.


    Nun war es im Fall von Khawa so, dass er Sturmseher und Anführer in einem war und sich mit derlei Problemen nicht mehr herumzuschlagen brauchte. Und darum nannte man ihn Khawa Steppensturm. Er las die Winde und entwickelte dazu passend seine Pläne, ohne dass ihm jemand ins Handwerk pfuschte. Da war kein anderer Ferrik, der ihm vorwarf, die Winde zum eigenen Vorteil umgedeutet zu haben, und auch kein anderer Windseher, der ihm vorschreiben wollte, wann der beste Zeitpunkt eines Plünderzuges war. Khawa selbst war in seinen Entscheidungen frei wie der Wind. Und weil er sowohl das Kriegshandwerk als auch die Kunst des Wetterlesens solide beherrschte, sich obendrein großer Beliebtheit bei seinen Männern erfreute und sie ihm durch Sturm und Feuer folgten, wurde er die schlimmste Geißel Souvagnes seit dem Ende der Chaoskriege.


    In seiner Truppe gab es eine neue Mode, die von Sherkal angestiftet worden war. Der hübsche Jüngling galt vielen als Vorbild für gutes Aussehen. Und so eiferten ihm einige dabei nach, sich erbeutete Wäscheklammern als Schmuck in die nackten Brustwarzen zu zwicken. Als Khawa raschen Schrittes vorbeiging, lächelte er ihm verführerisch zu. Doch der tat, als würde er es nicht sehen.


    „Voshid, ruf Skiran und Eskir zur Besprechung in mein Zelt.“


    Wenig später fanden sich die drei Krieger bei Khawa in dessen winzigem Zelt ein. Der Sturm riss an den Lederplanen, doch die extrem flache Bauweise sorgte dafür, dass es gegenwärtig noch hielt und einen gewissen Schutz vor der Witterung bot. Während die Männer sich berieten, lag Sherkal uneingeladen in Khawas Einzelbett und versuchte, die Holzklammern möglichst stabil an seinen Brustwarzen zu platzieren. Ihm war nicht entgangen, dass Khawa kurz hingeschaut hatte, und nun war er hochmotiviert.


    „Meine erste Vorhersage hat sich durch die Innereienschau bestätigt. Der Sturm wird diesen Regenmond konstant aus Nordwesten wehen. Der Steppenbrand wird also in etwa zwei Wochen ans Ufer des Azursees gedrängt worden sein und dann erlöschen. Er wandert genau zwischen uns und den Stämmen hindurch. Das gibt uns die Gelegenheit, uns weiterhin auf den Feldzug zu konzentrieren.“


    „Soll das heißen, wir kehren diesen Regenmond nicht zu unseren Familien zurück?“ Voshids stimme klang besorgt. Er hatte eine Frau und zahlreiche Kinder.


    Khawa nickte. „So ist es. Wir werden unsere Plünderungen fortsetzen und mit so reicher Beute heimkehren wie nie zuvor. Unsere Angehörigen werden dieses Mal allein mit dem Steppenbrand fertig werden müssen und das schaffen sie auch. Alles, was sie zu tun brauchen, ist, nicht in den Weg des Feuers zu geraten. Ein wenig mehr Sicherheitsabstand nach Norden hin kann sicher nicht schaden, darüber hinaus gibt es für sie nichts zu tun. Skiran wird zu ihnen reiten und ihnen Bescheid geben, damit sie nicht vergebens auf uns warten.“


    Voshid widersprach nicht, doch sein Blick verriet höchste Besorgnis. Noch nie hatten die Krieger den Regenmond ohne ihre Familien verbracht. Noch nie hatten sie ihre Eltern, Frauen und Kinder während des Steppenbrandes sich selbst überlassen.


    „Ist es das Risiko denn Wert?“, fragte nun auch Eskir. „Ohne die Hilfe der Krieger und die Kraft der Hyänen können sie die Zelte und Habseligkeiten nicht fortschaffen. Wenn sie das Feuer am Horizont sehen, ist es zu spät. Bedenke: Der Wind könnte doch noch seine Richtung wechseln. “


    Khawa schwieg einen Moment, ehe er langsam antwortete. „Nein, Eskir. Das könnte der Wind nicht.“ Khawa hob den Zeigefinger und wies bedeutungsschwer gen Himmel.