Beiträge von Chronist

    Der Sonnenbeißer Amrakh

    Einst trug er einen Namen, den heute nur noch ein leerer Grabstein in Amrakh-Sut kennt, eine Platte, unter der nie ein Körper lag.

    Er war Goldgräber, Mitte dreißig mit kantigem Gesicht und kurzem schwarzem Haar, die muskulösen Hände voller Schwielen, die Augen rot vom Staub der Schächte, in denen er arbeitete.

    In Amrakh-Sut, wo die Minen große Trichter bildeten und das Gestein so heiß war, dass es die bloßen Füße verbrannte, verweigerte ihm ein Aufseher einen Schluck Wasser. Der Schlag saß. Ein einziger Hieb mit dem Vorschlaghammer. Der Schädel des Aufsehers platzte wie eine überreife Frucht, als sie ihn schon in Ketten legten.


    Dreimal wurde er zum Tode verurteilt:

    In Amrakh-Sut sollte er hängen.

    In Yazmar wollte man ihn vierteilen.

    In Malqeshar hatte man bereits den flachen Stein bereitet, auf dem man ihn der Sonne braten würde.

    Dreimal war die Hinrichtung vorbereitet, und jedes Mal sprach ein Sonnenpriester: «Alvashek will ihn lebendig.»

    Und das Wort des Sonnengottes galt mehr als das Urteil eines Sterblichen.


    Als die Sonne im Westen versank und der Himmel sich blutrot färbte, führte ihn der Henker von Amrakh-Sut in den tiefsten Kerker. Der Raum war klein, die Wände aus schwarzem Basalt, der die Hitze des Tages wie ein Ofen speicherte. Auf dem Kohlebecken glühte das Sonnenzeichen aus purem Gold. Der Henker sagte nichts. Er packte die Zunge mit einer Zange, zog sie weit heraus und drückte das Zeichen hinein. Das Fleisch zischte, ein Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte den Raum. Der Schrei war kurz, dann erstickte er in Blut und Rauch.


    Als die Sonne wieder aufging, war der Mann kein Mensch mehr.

    Er war der Amrakhi. Der-aus-Amrakh. Oder auch nur: Amrakh.

    Der seelenlose Name eines neuen Folterers.


    Noch in derselben Nacht öffneten sich die Tore, nur einen Spaltbreit, gerade genug, dass ein nackter Mann hindurchpasste. Der Henker, ein alter Mann mit einem Gesicht wie ausgetrocknetes Leder, hob die lange Peitsche aus Kamelhaut. Der erste Hieb pfiff durch die Luft und riss eine feurige Linie quer über den Rücken des neuen Folterers. «Amrakhi!» brüllte die Menge, die sich auf den Mauern und im Staub davor drängte – Frauen, Kinder, Söldner, Priester –, alle mit einer Stimme, die sich anhörte wie das Heulen des Wüstenwinds.

    Ein zweiter Hieb, ein dritter. Jeder Schlag trieb ihn einen Schritt weiter in die Nacht hinaus. «Amrakhi! Amrakhi!» Der Name prasselte auf ihn nieder wie glühender Hagel, während das Blut warm über seine Hüften lief.

    Nackt lief er nach draußen, die frischen Peitschenschläge brannten wie flüssiges Feuer. Der leere Wasserschlauch schlug gegen seine Hüfte. Hinter ihm brüllte die Menge: «Amrakhi! Amrakhi!» – ein Chor, der sich tiefer einbrannte als das Eisen.

    Die Peitsche knallte ein letztes Mal und dann traf ihn der letzte Ruf: «Amrakh, du verfluchter Amrakhi – lauf, bis Alvashek dich wieder sieht!»


    Er stolperte in die Dunkelheit, barfuß, nackt, der leere Wasserschlauch klatschte gegen seine Schenkel. Die Menge verstummte, oder er konnte sie nicht mehr hören. Hinter ihm fiel das schwere Tor ins Schloss. Das Echo ihrer Stimmen hallte in seinem Kopf wieder, bis sein keuchender Atem alle Gedanken zerriss. Er rannte. Barfuß über den kalten Sand der Nacht, dann über den glühenden Sand des Tages, bis Amrakh-Sut nur noch eine Erinnerung war und der Wind ihm die Haut austrocknete. Stämmig war er und ausdauernd von der harten Arbeit, die Augen dunkelbraun mit goldenen Sprenkeln, als hätte sich das Golderz darin festgesetzt. Die meisten Folterer starben bei ihrer ersten Wanderung, doch Amrakhi hoffte, dass er es schaffen konnte, weil er stärker war als die meisten.


    Vier Tage und vier Nächte irrte er durch die Tamjara. Nachts wurde die Wüste zu kalt, als dass er ruhen konnte, ohne den Tod zu riskieren, so dass er weiterlief. Tagsüber verbrannte Alvasheks Licht seine Schultern und die nackten Sohlen seiner Füße.Nur in den milden Stunden der Dämmerung fand Amrakh etwas Ruhe und Schlaf. Am fünften Tag brach er zusammen, die Zunge lag geschwollen und trocken wie ein fremdes Stück Leder in seinem Mund, die Augen schmerzten von der gleißeden Helligkeit und vom Sand. Vor ihm ragten die Sandsteinmauern von Kharidun in den Himmel. Das Tor war offen und Menschen zogen in endlosen Reihen durch das Tor. Er konnte mit der verbrannten und entzündeten Zunge nicht sprechen, um nach Hilfe zu fragen. Aber der Henker der Stadt erkannte, was hier passiert war, und wusste das Brandmal zu deuten. Ein kurzes Nicken.


    Er trug Amrakh durch ein kleines Seitentor, legte ihn im Schatten eines Gewölbes auf eine Strohmatte und flößte ihm lauwarmes Wasser ein. Drei Wochen durfte Amrakhi bleiben, um sich zu erholen. In dieser Zeit zeigte der Alte ihm die ersten Spiegel, kleine, handtellergroße Scheiben aus poliertem Blech, die Alvasheks Strahlen zu einem nadelfeinen Strich aus Licht bündeln konnten. «Alvashek ist geduldig», sagte der Henker. «Er wartet immer.» Er schenkte dem Amrakhi den Spiegel, den er fortan an einem Lederband um den Oberkörper trug, und einfache Kleidung.


    Dann war die Zeit um. Der Henker hatte keinen Platz für einen weiteren Folterer. Amrakh musste wieder hinaus in die Glut. Diesmal nicht mehr nackt, nicht mehr mit leerem Schlauch. So zog er von Ort zu Ort, bis er einen Henker fand, der ihn nicht fortschickte, sondern zu seinem Folterer machte. Jahre vergingen und Amrakh lernte. Er konnte kaum noch sprechen, doch er redete in der Sprache des Schmerzes und konnte nach all seinen Wanderungen die Wüste lesen wie ein Buch: wo der Wind am schärfsten schnitt, wo die Oasen nur Trugbilder waren, wo man nachts Schutz fand zwischen den Chitinrippen eines verendeten Riesenwurms. Die Wüste hatte ihn gequält, sie quälte jeden. Sie war das vollkommene Folterinstrument, und Amrakh, der verfluchte Amrakhi, bediente sich am liebsten der gebündelten Hitze des Sonnenlichts.


    Er lernte, dass ein Mensch länger schreit, wenn man ihm die Augen nicht sofort ausbrennt, sondern nur die Hornhaut langsam zum Kochen bringt, Millimeter für Millimeter, bis die Welt für noch aus weißem Feuer besteht. Er lernte, dass der Henker überall der Einzige bleibt, der einem Verbannten die Tür öffnet, Suppe kocht, die Wunden verbindet und einen irgendwann wieder hinausjagt, nicht aus Grausamkeit, sondern weil die Wüste keine bleibenden Folterer duldet. Wann immer er meinte, dass der neue Ort Heimat geworden ist für den Amrakhi, so musste er gehen. Manchmal nach Tagen, manchmal nach Jahren. Und einmal auch, weil ein neuer Folterer vor den Toren auftachte, der die Hilfe des Henkers nötiger brauchte als Amrakh.


    Heute kennt man den Goldgräber, der gemordet hatte und die Gnade des Sonnengottes erfuhr, den Folterer aus Amrakh-Sut, nur noch als den Sonnenbeißer Amrakh. In seiner einstigen Heimat spricht niemand mehr seinen alten Namen aus und in den Orten, in denen er foltert, kennt man ihn nur unter seinem Namen als Werkzeug des Henkers. Seine Spiegel sind zahlreich geworden und sie alle sind aus poliertem Blech, manche mannsgroß auf Dreibeinen, andere klein wie eine Münze, die er in der Hand hält. Er bindet sein Opfer auf den flachen Stein, so wie es ihm einst selbst bestimmt ward, richtet die Spiegel aus und wartet.

    Alvashek tut den Rest.

    Amrakh wartet geduldig, denn auch Alvashek ist geduldig.

    Und wenn das Geständnis endlich aus dem Mund des Opfers quillt, so wie die gekochten Augen aus den Höhlen, dann lächelt der Amrakhi, ein Lächeln, das niemand sieht und das niemand je wieder sehen wird.


    Manchmal, in den langen Nächten, wenn er wieder wandern muss und wieder im Sand liegt, den Blick zu den kalten Sternen gerichtet, fühlt er das eigene Narbengewebe auf der Zunge. Die eingebrannte Sonne. Er schmeckt Alvasheks Mal. Er ist genau dort, wo Alvashek ihn haben wollte. Amrakh, der Folterer aus Amrakh-Sut, der Amrakhi. Und irgendwo, weit hinter dem Horizont, wartet noch immer ein lehres Grab, das er niemals benutzen wird, denn für einen Folterer gibt es eigene Bestattungsriten, und die Rückkehr in die alte Heimat gewährt das Gesetz ihm nicht einmal im Tod.


    Reliktjäger & Schwarzbuddler

    Reliktjäger und Schwarzbuddler – zwei Namen für dasselbe Gift, könnte man meinen, doch in den Tavernen von Karcanon und den finsteren Gängen unter Drakenstein würde man dir für diese Vermutung die Zunge spalten. Ja, sie handeln miteinander. Sie hassen sich dafür. Und sie könnten ohne einander nicht leben. Eine groteskere Zusammenarbeit hat Asamura selten gesehen.


    Kurz gesagt

    • Die Reliktjäger sehen sich als edle Entdecker und Abenteurer, die Schwarzbuddler als primitive, pietätlose Diebe.
    • Die Schwarzbuddler sehen die Reliktjäger als arrogante Heuchler, die dasselbe tun, nur mit teureren Stiefeln und größerem Mundwerk.
    • Beide haben oft Reinigungssigillen auf die Hände tätowiert, um sich vor dem Hauch der Toten zu schützen.
    • Die Toten selbst… nun, die sehen vermutlich keinen Unterschied.

    Ein gewöhnlicher Schwarzbuddler geht alle paar Tage mit einer rostigen Schaufel und einem Sack über die Totenfelder von Rabenbrand, gräbt sich die Finger blutig und verkauft dann für ein paar Tsheldy einen Helm oder einen alten Dolch. Er nennt seine Schaufel liebevoll ein "archäologisches Präzisionswerkzeug". Der Reliktjäger hingegen trägt Rüstung und ist schwer bewaffnet, um sich vor Rivalen zu schützen. Er gibt sich selten mit kleinen Funden zufrieden, sondern geht auf monatelange Expeditionen für die ganz großen Schätze. Er würde einen Helm, wenn überhaupt, nur für das zehn- bis zwanzigfache verkaufen, mit einem gefälschten Echtheitszertifikat, "gefunden im Inneren Taudis, vorzeitlich".


    Die Perspektive der Reliktjäger


    Die offizielle Wahrheit der Reliktjäger lautet ungefähr so:


    „Wir sind keine lumpigen Totenfledderer! Wir steigen nicht in geweihter Erde, wir schänden keine Gräber der Gefallenen! Wir tauchen hinab in den Taudis, das Labyrinth unter der Welt, wo die Alten ihre Maschinen, ihre Wunder und ihre Flüche zurückließen – lange bevor es Könige, Burgen oder den Bruderkrieg gab. Dort unten gibt es keine Schlachtfelder, nur Staub und Mechanismen, die älter sind als du und ich. Wer dort etwas findet, der birgt Wissen.“


    So sprechen sie, die mit Künstlernamen wie „Rex der Einfallslose“ oder „Nia Nachtigall“ in schweren Rüstungen in die Tiefe gleiten, mit Sturmlaternen und Expeditionsausrüstung. Doch wehe, du glaubst ihnen das blindlings. Denn in Wahrheit ist die Grenze porös wie mumifiziertes Fleisch.


    Mancher Reliktjäger, der in den Taudis steigt, kommt mit einem uralten Schwert wieder heraus – und niemand fragt, warum.


    Mancher „ehrenhafte“ Reliktjäger nutzt dieselben schwarzen Märkte in Tamarant wie die verachtetsten Schwarzbuddler. Und wenn ein besonders fetter Fund lockt – sagen wir, eine beim letzten Erdbeben versunkene Burg aus dem Bruderkrieg, halb im Taudis, halb in geweihter Schlachterde – dann wird plötzlich sehr kreativ definiert, wo genau die Grenze zwischen „uralter Technologie“ und „Grabbeigabe eines gefallenen Helden“ verläuft.


    Die Perspektive der Schwarzbuddler


    Die Schwarzbuddler ihrerseits (jene namenlosen, die wirklich nachts auf den alten Schlachtfeldern von Souvagne oder der Wüste Tamjara schaufeln) spotten über die Reliktjäger und nennen sie verächtlich:


    „Diese hochwohlgeborenen Grubenkriecher – nichts als Grabschänder mit besserer Ausrüstung und schlechterem Gewissen. Die plündern nur tiefer und lügen lauter.“


    In den Augen der Tempeldiener und Totenwächter jedoch gibt es keinen Unterschied, der einer Erwähnung wert wäre. Wer die Ruhe der Toten stört – sei es oberirdisch mit der Schaufel oder unterirdisch mit Seil und Haken – ist ein Stillebrecher.


    Der Kodex der sauberen Hände


    Tief im Taudis, wohin weder der Arm Naridiens noch Almaniens reicht, gilt nur das Gesetz der Tiefe. Wer zuerst zuschlägt, darf die Taschen des Toten leeren. Sei es ein mechanisches Relikt, ein magisches Artefakt - das sind Preise, für die man ohne zu zögern einem Kameraden die Kehle durchschneidet, sofern man ein Reliktjäger ist, ihn zur Seite rollt und mit frommer Miene behauptet:


    „Ach, der arme Kerl ist leider einem uralten Fallensystem zum Opfer gefallen … sein letzter Wille war, dass seine Rüstung, die ein Erbstück ist, nicht in dieser Tiefe verrottet, also habe ich sie geborgen.“


    Oder die noch beliebtere Variante:


    „Er wollte den Fund unbedingt für sich allein – hat mich angegriffen! Notwehr, versteht sich. Und weil ich nie die Totenruhe stören würde, habe ich ihm nur das genommen, was er ohnehin nicht mehr braucht. Der Rest bleibt ja liegen und kann in Frieden ruhen."


    Man nennt es unter vorgehaltener Hand den Kodex der sauberen Hände, was nichts anderes ist als eine wachsende Sammlung von Ausreden, um sich von den "niederen" Schwarzbuddlern abzugrenzen:

    • Der Tote zählt nicht als Gefallener, weil er angeblich noch Lebenszeichen hatte.
    • Er starb durch "widrige Umstände" oder "Notwehr".
    • Es war anschließend sein letzter Wille, dem Rivalen alles Hab und Gut zu vermachen.
    • Damit ist es ihm Möglich, für seine Untaten zu sühnen und sie wenigstens etwas wieder gutzumachen.
    • Er wurde um die schwere Last seiner Habseligkeiten erleichtert, was allgemein nur zu seinem Besten ist.
    • Seine Ausrüstung wurde außerdem nicht geplündert, sondern pietätvoll geborgen.
    • ...

    Die bekanntesten Heldenlieder Asamuras werden von Leuten gesungen, die ihre eigenen Kameraden erschlagen, beraubt und dann mit tränenerstickter Stimme von „tragischem Verlust im Dienste der Wissenschaft“ faseln. Am Ende ist der Unterschied zwischen einem Schwarzbuddler, der nachts ein Schlachtfeld plündert, und einem Reliktjäger, der tagsüber seinen besten Freund ausweidet, im Hinblick auf die Totenruhe nur eine Frage der Qualität der Ausreden. Beide schlafen nachts mit dem gleichen Geruch an den Fingern.


    Vom Handel zwischen Schwarzbuddlern und Reliktjägern


    Natürlich handeln sie mit einander, und zwar mit einer Inbrunst, die selbst den verräterischen Chaosgott Rakshor erröten ließe. Es gibt drei bekannte Orte, an denen Schwarzbuddler und Reliktjäger in großem Stil untereinander ihre Waren feilbieten.


    Der Knochenbasar unter dem „Schwarzen Rappen“ in Tamarant

    Eine Taverne, deren Keller tiefer ist als die Moral ihrer Gäste. Hier trifft man sich zu jedem neuen Mond nach Sonnenuntergang. Reliktjäger bringen Artefakte aus dem Taudis, Schwarzbuddler schleppen Säcke ausgebuddelter Kleinode heran. Man grüßt sich mit „Gute Ernte?“ – und meint damit sowohl Geld als auch Leichen.


    Die Nebelmesse von Karcanon

    Wenn der Nebel so dick ist, dass selbst die Einheimischen die Orientierung verlieren, öffnet sich ein fast unsichtbarer Markt zwischen den Bäumen im Park. Er findet spontan statt, ohne Tische, nur mit Decken, und verschwindet genau so schnell wieder in den Nebeln wie er gekommen ist.


    Die Auktionen des „Hauses der letzten Ehre“ in Drakenstein

    Offiziell ein seriöses Auktionshaus für „historische Kuriositäten“. In Wirklichkeit der größte Waschsalon für schmutzige Beute. Hier ersteigert der Reliktjäger ganz legal das, was der Schwarzbuddler drei Nächte zuvor aus einem Massengrab gekratzt hat. Der Katalog schreibt dann züchtig: „Provenienz: unbekannt, vermutlich prähistorisch“ – und alle nicken wissend.


    Die Regeln dieses Handels

    • Man fragt nie, woher der andere seine Ware wirklich hat.
    • Man prahlt nie damit, wie sauber oder wie schmutzig die eigene Methode war.
    • Man bezahlt immer in barer Münze, die keine eigene Geschichte hat, um die Spur der Nachvollziehbarkeit zu unterbrechen.

    Die Nachdenkliche KomponentE


    Der Schwarzbuddler mordet nicht mit der Klinge; er mordet mit der Schaufel. Langsam. Nacht für Nacht. Er stört die Ruhe von Tausenden, die schon einmal gestorben sind, und zwingt sie ein zweites Mal in die Welt der Lebenden, als Orden, als Helme, als Kuriositäten auf einem Tisch. Er gräbt eine Erkennungsmarke aus und trennt damit ganze Familien für immer. Er kennt die Namen auf den Plaketten, die er abreißt, und verkauft sie trotzdem. Das ist systematische, kalte, jahrelange Leichenfledderei an jenen, die sich nicht mehr wehren können.


    Die Reliktjäger sind in mancher Hinsicht die ehrlicheren Grabschänder. Ein Reliktjäger tötet (wenn er tötet) seinen eigenen Kameraden, jemanden, der aus freien Stücken zeitgleich mit ihm in die Tiefe gestiegen ist. Das ist abscheulich, ja; aber es ist Gewalt unter Lebenden. Die Toten, die er danach beraubt, sind Kollateralschäden seiner Gier. Er lügt sich und anderen vor, "Wissenschaft" zu betreiben (die wenigsten Reliktjäger wissen wirklich, wie ihre Relikte historisch einzuordnen sind) oder "Andenken zu bewahren".


    Der Schwarzbuddler lügt nicht einmal sich selbst etwas vor. Er weiß genau, was er tut, und er gräbt trotzdem weiter.


    „Vor den Reliktjägern solltest du dich hüten; sie sind Heuchler, tragen teure Rüstungen und stolze Namen, während sie im Taudis Unaussprechliches tun. Vor den Schwarzbuddlern aber bewahren dich die Götter; die kommen ohne Namen und ohne Gnade; und wenn sie gehen, nehmen sie nicht nur dein Erbe mit und den Kopf deines Verwandten, sondern auch seine Erkennungsmarke und seine letzte Hoffnung auf Frieden.“

    Schwarzbuddler

    das verbotene Geschäft mit den Knochen und Schätzen des Großen Bruderkriegs


    In den nebelverhangenen Forsten von Naridien, in den Mooren von Alkena und unter den zerfurchten Äckern der alten Provinzen Almaniens graben sie nachts – die Schwarzbuddler, die Knochenhändler, die selbsternannten „Hüter der Geschichte“. Mit alchemistischen Suchstäben, die fiepen, wenn sie auf kaltes Metall stoßen, wühlen sie dort, wo die Heere Almaniens und Naridiens einander in Stücke rissen.


    Sie holen hervor:

    • Zerbeulte Helmvisiere mit eingedrückten Schädeln,
    • die Schädel selbst, am liebsten von den Helden der alten Zeit,
    • Siegelringe der Blutadmiräle, die man samt der Finger aus dem Lehm zieht,
    • verrostete Ritualdolche der Alben, deren Klingen noch das Gift der letzten Schlacht tragen,
    • ganze Skelette in zerfetzten Uniformen, die sie behutsam aus ihren Torfgräbern schälen wie kostbare Reliquien eines vergessenen Gottes.

    Auf den schwarzen Märkten von Port Kadath, in den Hinterzimmern der Händlergilden von Daijian und sogar auf den scheinbar ehrbaren Auktionen der almanischen Hauptstädte wechseln diese Totenschätze dann für Summen, die einen normalen Mann sein Leben lang arbeiten lassen würden:

    • Ein einzelner, blutverkrusteter Offiziersmantel der Alten Garde – 12.000 Tsheldy.
    • Ein Albenschädel mit eingeätzten Runen der Zeitverknötung – „nur für seriöse Sammler“.
    • Ein Schwertgriff, in dem noch die Seele eines gefallenen Helden gefangen schreit – unsichtbar, aber spürbar für jene, die wissen, wie man lauscht.

    Die Tempelwächter stehen ratlos vor den ausgebuddelten Kratern und murmeln von „Sakrileg“ und „Fluch der Ahnen“. Die Inquisitoren der Bluthexer schütteln die Köpfe über ganze Schiffsladungen von Panzerplatten, die aus versunkenen Schlachtfeldern der Nebelinseln geborgen und nach Souvagne geschmuggelt werden – „historisches Eisen, versteht sich“.


    Und irgendwo innerhalb der Mauern von Vellingrad sitzt ein bleicher Sammler in seinem Herrenhaus, umgeben von Vitrinen voller Fingerknochen, Orden und Erkennungsplaketten, und nennt das stolz seine „Privatsammlung der Ewigen Treue“.


    Am Ende bleibt nur der bittere Nachgeschmack:


    Die Gefallenen des Großen Bruderkriegs, die einst für Könige, Fürsten oder ihre eigenen Träume starben, werden ein zweites Mal ausgeplündert – diesmal nicht von Klingen oder Magie, sondern von nackter, kalter Habgier. Ihre Gräber werden zu Warenlagerhallen, ihre Knochen zu Dekoration auf Kaminsimsen.


    Sie schreiben eine Chronik so schwarz und grotesk wie der Atem des Abgrunds: Man schaut hin, man schaudert, und dennoch kann man den Blick nicht abwenden – denn die Gier der Lebenden reicht immer tiefer als jedes Grab Asamuras.


    Wer diese Geschichte kennt und dennoch nachts mit Schaufel und Suchstab loszieht … der hat entweder kein Herz mehr – oder schon eine Vitrine voller gefallener Helden im Keller.


    Einige Schwarzbuddler, die es zu fragwürdiger Berühmtheit gebracht haben


    Knochenbaron Velmor

    Ein almanischer Adliger aus unbekanntem Haus. Verlor drei Finger, als eine verfluchte Kriegerleiche ihn biss. Besitzt angeblich die größte private Sammlung königlicher Erkennungsplaketten südlich von Karcanon – jede mit Namen, jede mit Geschichte, jede vielleicht mit einem Fluch.


    Yegga Grabmutter“

    Eine greise Orkfrau mit kahlem Schädel und schwarzen Augen. Sie sucht nicht länger selbst, sie segnet die Werkzeuge der Schwarzbuddler mit Leichenrauch. Der Preis ist gering, doch muss im Voraus gezahlt werden. Ihre Macht wird gefürchtet und wird nur von wenigen Zweiflern bestritten.


    Drenk Eisenbeiß

    Ein Naridier mit Zähnen aus Stahl, der sich gelegentlich auch als Reliktjäger verdingt, doch als Schwarzbuddler weitaus erfolgreicher ist. Er sammelt und verkauft vor allem Waffen und kann aus jeder Epoche und jeder Kultur das gewünschte Stück besorgen, wenn nur der Preis stimmt. Er steht aufgrund wiederholter Verstöße gegen die ungeschriebenen Regeln der Reliktjäger noch immer auf der Todesliste einiger von ihnen.


    Die Zwillinge Skalp & Skalpella

    Halbwilde rakshanische Zwillinge, Bruder und Schwester, die barfuß gehen und mit bloßen Händen graben. Sie besitzen eine besondere Gabe, die Struktur des Untergrundes zu erspüren und auch empfindliche Stücke sicher zu bergen.


    Hauptmann a.D. Gorthar

    Ein gebrochener Veteran aus Karcanon, der seine eigenen Kameraden ausgräbt – „damit sie nicht vergessen werden“. Verkauft seltene Orden für den Preis eines kleinen Landguts. Der alte Naridier darf als der wohlhabendste Schwarzbuddler angesehen werden.


    Liriell Nebelkralle

    Eine ausgestoßene Albin, die mit bloßen Händen durch Lehm gleitet wie durch Wasser. Spezialisiert auf Artefakte aus dem eigenen Volk - Verrat lohnt sich eben.


    Wälder des Wahnsinns

    Ach, du tapferer (oder törichter) Wanderer zwischen den Welten, du hast die Pforte zur Weltenbibliothek Asamuras aufgestoßen und verlangst nun, dass ich dir die verborgenen, die vergessenen, die verfluchten Wälder dieses alten, blutgetränkten Kontinents enthülle.


    Zehn bekannte Forste sind es an der Zahl, die nicht einfach nur stehen, sondern atmen, hassen, träumen und sich erinnern. Manche von ihnen sind so alt wie die Götter; andere wurden erst geboren aus dem Schrei eines sterbenden Volkes. Sie sind keine bloße Kulisse – sie sind die eigentlichen Protagonisten, und du, armer Wanderer, bist nur eine flüchtige Nebenfigur, die sie sich einverleiben oder beschenken, je nach Laune.


    In den Wäldnern des Wahnsinns wächst nichts unschuldig. Jeder Baum trägt eine Schuld, jede rote Blüte einen Toten im Wurzelwerk, jeder Windhauch flüstert das Echo eines Verrats. Die Wälder, die du gleich betreten wirst, haben Könige gefressen, Imperien verdaut und ganze Zeitalter in ihren Rinden eingraviert. Manche lachen noch darüber. Andere weinen seit Jahrtausenden.


    Tritt ein, wenn du den Mut hast. Aber merke dir eines: Wer einen dieser Wälder betritt, verlässt ihn nie wieder ganz. Ein Stück von dir bleibt immer zurück – als Blatt, als Dorn, als Flüstern im Unterholz.


    Und nun, mit pochendem Herzen und feuchten Händen, öffne das Buch der grünen Finsternis.


    Der Flüsterwald


    Lage: Shakorz


    Hier wachsen Bäume mit Rinde wie Pergament, hell und sich in Flocken von den Stämmen pellend, im Sonnenlicht tanzend wie Schnee. Die Luft riecht betörend nach Frühling - zu jeder Jahreszeit. Man sagt, das immergrüne, silbrige Laub dieser Bäume würde nicht rascheln, sondern flüstern, und wer sich unter ihren Kronen in innerer Einkehr versenkt, würde die Stimmen der Ahnen hören. Doch flüstern sie nicht nur Geheimnisse, sondern auch Dinge, die man nie hören wollte. Mancher, der Weisheit suchte, kehrte im Wahnsinn daraus zurück.


    Dyurunforst


    Lage: Caltharnae


    Benannt nach dem Hexenjäger, der auf Ewig in seiner Mitte ruht. Kolossale Bäume, umrankt von Dornenranken mit blutrotem Saft, den man Dornblut nennt, oft geerntet als eine teure alchemistische Zutat, ein Gift, das insgeheim beigemischt, geeignet ist, magische Fähigkeiten zu unterdrücken. Es ist trocken, heiß und absolut windstill– als hielte der Wald den Atem an, seit Jahrtausenden. Eine Kathedrale aus Leid; jeder Schritt knirscht wie Knochen. Dieser Wald war Schauplatz der Großen Säuberung, als die Hexenjäger der Herrschaft der Alten Häuser ein Ende bereiteten.


    Der Sehnenknorpelwald


    Lage: Innerer Taudis


    Es handelt sich um Gewächse aus lebendem Knorpel und Sehnen, die sich gelegentlich strecken und gähnen. Die Früchte erinnern an pulsierende Herzmuskeln, die man essen kann. Das Klima ist feucht-warm, mit dem ständigen Schmatzen und dem leisen Takt der Herzfrüchte, der an fallenden Regen erinnert. Der Wald atmet und träumt, man fühlt sich, als sei man von einer riesigen Kreatur verschlungen worden. Das Fleisch wird von Reliktjägern gegessen oder geerntet und an Nekromanten verkauft. An der Oberfläche sind diese Bäume nicht lebensfähig.


    Der Aschehain von Rabenbrand


    Lage: Naridien


    Verkohlte Stämme, die dennoch blühen - weiß und silbrig wie der nächtliche Schein von Oril. Oft weht ein kalter, trockener Wind. Todesstille, nur unterbrochen vom leisen Knistern unsichtbarer Flammen, die sich seit Jahrhunderten durch ein Kohleflöz im Untergrund fressen uns gelegentlich an die Oberfläche züngeln. Der unvorsichtige Wanderer könnte von den Flammen eingeschlossen werden und selbst verglühen. Es handelt sich um die Überreste eines Waldbrandes, der nie erlosch, und in dessen Mitte sich Bäume etablierten, die der Hitze trotzen. Der Wind trägt die Asche mit sich und wer ihn atmet, riskiert unkontrollierbare Ängste und Trauer. Die Wirkung dieser Asche kann fatal sein.


    Der Schmerzstachelhain


    Lage: Mittlerer Taudis


    Fleischfressende Bäume aus purem Schmerzmetall, an denen impalierte, noch lebende Opfer langsam von Rost überwuchert werden und eins mit den Bäumen werden, ohne dass die Bäume sie sterben lassen. Dornen, die rückwärts in der Zeit wachsen. An diesem Ort herrscht absolute Nullzeit – Uhren bleiben stehen, Wunden heilen nicht. Der Schmerzstachelheit könnte eine uralte Kultstätte der ersten Yakani sein und wurde wahrscheinlich von deren Alchemisten erschaffen. Hier wurden Blutopfer dargebracht – und sie hängen noch immer. Sie geben Antwort, wenn sie können.


    Der Leuchtpilzpalast


    Lage: Äußerer Taudis


    Gigantische Pilze, deren Hüte wie Kathedralen wölben, durchzogen von leuchtenden Myzelgeflechten. Sporen, die Halluzinationen erzeugen, oft von prächtigen Banketten. Es ist schwül, das Licht glimmt in Neonfarben mit einem Duft nach vergorenem Honig. Der Leuchtpilzpalast schenkt Träume und ist Lebensraum riesiger Grubenasseln, die sich von ihrem Fleisch ernähren und Eier in den berauschten Wanderer legen. Die jungen Grubenasseln verzehren ihn nach dem Schlupf von Innen, während er sie durch den Taudis trägt, ein Prozess, der sich über Jahre hinziehen kann. Mit dem Tod des Wanderers verlassen die Jungtiere den geschundenen Körper.


    Gramfallweiden


    Lage: Die kälteren Meeresufer von Asamura


    Weiden mit Zweigen wie gefrorene Tränen, Krusten aus geronnenem Salz. Sie bevorzugen Regionen mit häufigem kalten Regen. Das Salz, welches von diesen Weidenwäldern geerntet wird, kann tiefe Trauer auslösen. Manchmal findet man verlorene Erinnerungen an eine Welt, die es nie wieder geben wird.


    Der Zeitknotenwald


    Lage: Innerer Taudis


    Ein entarteter Garten der Yakani, verdorben von Alchemie. Bäume, die in Schleifen wachsen – Äste, die sich selbst umarmen, Wurzeln, die in die Zukunft ragen. Blätter zeigen gestern, heute und morgen gleichzeitig. Kein Klima, nur Zeitwetter, fühlbar als Migräne, Erinnerungsblitze und Einblicke in die eigene Zukunft flackern in Gedanken, zu kurz, im wirklich greifbar zu sein, zu lang, um sie zu vergessen. Hier verknäulen sich die Zeitlinien Asamuras.


    Das Buch des Bruchs

    Das Buch des Bruchs berichtet vom Schicksal des letzten almanischen Königs und davon, was nach seiner Ermordung geschah. Es erzählt auch von seinem Sohn, der verborgen vor den Augen der Welt in einem naridischen Waisenhaus aufwuchs. Es ist Zeugnis von den Jahren vor dem Bruch und danach, und berichtet von der unheiligen Rolle, welche die Naridische Handelsrepublik bei der Zerstörung des Königreichs Almanien spielte, und von den almanischen Herzögen, die ihren verlorenen König niemals missten und fortan selbst ihre eigenen Kronen trugen. Das Buch des Bruchs endet mit der Erzählung, wie zwei der vier Großherzogtümer anschließend untergingen.


    Der Prinz von Almanien


    Die Geschichte des letzten almanischen Prinzen, des späteren Königs ohne Krone, begann nicht in Almanien, wie es der Glaube vieler sein könnte, sondern in Naridien. Dort, in der Hauptstadt Daijian, wuchs Garlyn Meqdarhan auf, in einem Waisenhaus, das ihm einen naridischen Familiennamen gab. Garlyn sah die prächtige Handelsflotte mit ihren riesigen roten Segeln in den Hafen einlaufen und erlebte den Hunger und das Elend, die die harte Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen mit sich brachte. Von klein auf musste er sich seinen Platz im Kinderheim verdienen.


    Naridien, das Land der naridischen Handelsrepublik, lag jenseits der Kandoren, deren schneebedeckte Gipfel einen natürlichen Grenzwall nach Südosten bildeten. Die Halbinsel, die dieses Land umschloss, war von Natur aus gut geschützt, und ihre Küsten besaßen zahllose Häfen. Wohlstand und Macht hatten Naridien durch seine Eisenminen in den Kandoren, das Handelsnetz der Salzstraße und vor allem durch seine Handelsflotte erlangt, die die Ozeane durchkreuzte und jeden Hafen der Welt anlief. Das Land war Heimat gerissener Händler und herzloser Bürokraten, wo die Reichen ebenso wie die Ärmsten in der Welt zu finden waren. Märkte bogen sich unter der Last exotischer Waren, von duftenden Gewürzen und glänzendem Goldschmuck bis hin zu silbernem Geschmeide für den kleinen Geldbeutel. Doch zugleich war es auch das Land der kalten Hochgerichte, in denen berufliche Existenzen zerrieben und ganze Familien zerstört wurden. Niemand konnte dem bitteren Widerspruch entkommen, der Naridien in sich trug: Es war ein Land, in dem man in Reichtum ertrinken oder vor Armut verenden konnte.



    Vom Niedergang des Königreiches Almanien


    In seiner Jugend vernahm Garlyn von den Herolden, die jeden Morgen auf den Märkten für die Leute die Tageszeitung vorlasen, von den Umbrüchen in Almanien. Felix Reinhard, der sich selbst als König bezeichnete, wurde als Tyrann bezeichnet, der sein Volk unterdrückte und mit einer altmodischen Ständegesellschaft die Macht des Adels sicherte. Das einfache Volk in Almanien war gefangen in der Leibeigenschaft. Die Nachricht, dass es Freiheitskämpfer in der Hohen Mark gab, die gegen diese Ungerechtigkeit ankämpften, erfüllte die Kinder in Naridien mit Freude. Für sie war das Leben in der Handelsrepublik ein Symbol der Freiheit. Doch auch Naridien mischte sich in den almanischen Konflikt ein und unterstützte die Freiheitskämpfer mit Geld und, hin und wieder, mit Söldnern. Die Naridier sahen es als ihre Aufgabe, den unterdrückten Almanen zu helfen.



    Vom zwanzigsten Tage des Windmondes im Jahr 185 des Dritten Zeitalters der Asche


    Schließlich geschah das Unfassbare: Der König von Almanien, Felix Reinhard, wurde von den Freiheitskämpfern gefasst und in seiner Sommerresidenz in der Salzmarsch von Ehveros gefangen genommen. Am zwanzigsten Tage des Windmondes im Jahr 185 des Dritten Zeitalters der Asche fand er seinen Tod, als hunderte Pfeile gleichzeitig auf ihn abgefeuert wurden. Ganz Naridien jubelte, als der Kopf des gefallenen Königs auf einer Lanze durch die Straßen getragen wurde. Das Land feierte den Fall des Tyrannen, und sogar die Herzöge der freien Stadtstaaten, die nun die neue Währung einführten, feierten mit den Naridiern. Diese Ereignisse markierten den Beginn Garlyns Bewusstwerdung für die politischen Umwälzungen, die die Welt erschütterten.



    Vom Söldnerleben


    Als junger Mann trat Garlyn der Naridischen Armee, der Radhora, bei, um zehn Jahre lang zur Sicherung von Trux, der abgelegenen Eisenmine, zu dienen. Doch das Schicksal führte ihn bald in die Hände der Feinde, und er fiel in almanische Kriegsgefangenschaft. Er wurde der souvagnischen Strafkompanie zugeteilt, einer Einheit aus Kriegsgefangenen, die für ihre Strafen büßten. Doch mit der Zeit, dank seiner guten Führung, wurde ihm angeboten, die Kompanie als freier Mann zu leiten. Garlyn nahm das Angebot an und führte die Sträflinge mit dem Ziel, sie zurück in die Freiheit zu führen. Doch als seine Kompanie bei einem Sturmangriff fast vollständig vernichtet wurde, verlor er seinen Glauben an diese Aufgabe.


    So zog er in die Freie Stadt Obenza, wo er als Söldner im Sicherheitsdienst arbeitete und schließlich seine eigene Söldnerkompanie gründete: „Die Eisenfalken.“



    Vom Brief seines Vaters


    Eines Tages, als er in seinem Söldnerlager saß und über die Jahre nachdachte, fand er wieder den Brief seines Vaters, das einzige Erbstück, das ihm geblieben war. Zum hundertsten Mal las er ihn, doch die Worte blieben ihm unverständlich. Er spürte, dass dieser Brief mehr war als ein gewöhnliches Schreiben – er war eine verschlüsselte Botschaft. Doch was er nicht wusste, war, dass sein Vater, der längst tot war, ihm ein Erbe hinterlassen hatte, das seine Identität als rechtmäßigen König von Almanien offenlegte.



    Der Reliktjäger


    Die Suche nach dem Geheimnis des Briefes führte ihn zu Serak, einem Halbork und ehemaligen Söldner aus seiner Kompanie, der sich mittlerweile als Reliktjäger verdingte. Serak erkannte, dass der Brief eine Wegbeschreibung zu einem verborgenen Schatz war. Um ihn zu bergen, wagte Serak sich in die Taudis, die gefährliche und düstere Unterwelt Naridiens. Er durchquerte das Labyrinth, entkam tödlichen Fallen und kreuzte die Waffen mit gefährlichen Rivalen. Nach langer Zeit, in der er weder das Licht des Tages noch das der Nacht sehen konnte, fand schließlich eine versiegelte Truhe. Er beließ das Siegel und barg den Schatz, um ihn seinem Auftraggeber auszuhändigen. Garlyn fand darin die Insignien des almanischen Königtums: die Krone, das Schwert und die Amtskette. Doch noch außer dem Reichtum, den diese goldenen Schmuckstücke verheißten, fand Garlyn in dieser Truhe den Stammbaum seiner Ahnen. Es war der Beweis, dass er der rechtmäßige Erbe des Throns von Almanien war.


    Nun verstand er, dass sein Vater ihm das Wissen um seine Herkunft nicht nur vor anderen, sondern auch vor ihm selbst schützen wollte. Der Moment war noch nicht gekommen, dass Garlyn die Verantwortung übernehmen konnte. Vielleicht würde dieser Tag niemals kommen.



    Vom König ohne Krone


    Er erinnerte sich an die Worte des Briefes seines Vaters, in dem dieser das almanische Reich als ein Land der Tugend und des Friedens beschrieb. Doch er erzählte auch von der dunklen Hand Naridiens, die hinter den Kulissen gewoben hatte, um Almanien zu zerstören. Nach der Flucht des Königs war das Reich zerbrochen und die Herzöge hatten sich zu Großherzögen erhoben. Die Welt, die Garlyn als Kind noch bewunderte, war nun eine Erinnerung, die nur noch in seinen Gedanken weiterlebte.


    Der Schmerz dieser Erkenntnis war wie das Heulen des Windes in verlassenen Tälern, das Klirren eines fallenden Schwertes auf blutbedecktem Marmorboden. Und so saß er dort, in seiner Söldnerbaracke, mit einem Schwert an der Wand, kämpfend mit der Feder für das Andenken an einen König, der niemals als Tyrann in den Annalen der Geschichte enden sollte. Doch das Rad der Geschichte hatte sich zu weit gedreht, und die Großherzöge, die nun auf ihren Thronen saßen, hatten sich zu bequem eingerichtet, um einen König zu dulden. Das Land war zersplittert, und das Volk, das einst einheitlich unter einem Banner stand, hatte seine Identität verloren.


    Und so ruht das Schwert des Königs an der Wand. Garlyn Meqdarhan, der letzte Erbe des Thrones, kämpft mit der Feder für das Andenken seines Vaters. Möge seine Geschichte den almanischen Nachkommen als Leuchtfeuer dienen, damit das Volk nicht erneut in Dunkelheit versinkt.



    Vom Schicksal des gebrochenen Landes


    Nach dem Tod des Königs Felix Reinhard regierten die Söhne der Großherzöge, jene Männer, die niemals einen Herrscher über sich gekannt hatten. Auf ihren Häuptern lagen neue Kronen, und sie waren Männer, die das Erbe Almaniens mit Gleichgültigkeit trugen. Und das Volk, das einst als ein vereintes Reich gestanden hatte, hatte seine Identität verloren. Es nannte sich nicht mehr Almanen, sondern Souvagner, Ehveroski, Ledvigiani – Namen, die wie gebrochenes Eis auf einem See die Trennung des Landes verkündeten. In jedem dieser Namen lag der Keim einer Entfremdung.



    Hohe Mark


    In der Hohen Mark reichte die Zersplitterung noch tiefer. Dort, wo einst eine einheitliche Kultur erblüht war, hatten sich die Menschen nun nach den Grenzen ihrer Grafschaften und Rittertümer definiert. Sie zogen, wie hungrige Wölfe, von einem Anwesen zum anderen, plünderten und raubten, besetzten Burgen, die nicht mehr ihre eigenen waren, und verloren jegliches Gefühl von Heimat. Ihre Welt war von Rivalitäten und endlosen Kämpfen zerfressen worden, sodass das bandeneidige Streben nach Macht den eigentlichen Sinn von Gemeinschaft und Zusammenhalt verdrängt hatte. Die Hohe Mark, ein Land einst voller Ehre und Stolz, war zu einem Teil Alkenas geworden, jener nördlichen Wildnis, die nur das Gesetz des Stärkeren kannte. Dort herrschten die Faust und das Schwert, und der Schwächere wurde von den Stärkeren zermalmt, während das alte Erbe von Almanien im Staub versank. So wie die Hoffnung geschwunden war, verblasste auch die Erinnerung an den alten Namen der Hohen Mark.



    Souvagne


    Die Souvagne war das größte Land, das sich ausbreitete wie ein weites Meer aus sanften Hügeln und reifen Obstgärten. Eine gewaltige Mauer umschloss das Land, ein stiller Wächter, der trotzig gegen die Zeit ankämpfte und sich der Erinnerung an vergangene Zeiten widersetzte, als das Land noch ein Königreich gewesen war.



    Ledwick


    Ledwick, das sich selbst Ledvico nannte, war das Land des türkisgrünen Ozeans und der weißen Strände. Das Leben hier war fast völlig auf das Wasser verlagert worden, und die Menschen, die an den Küsten lebten, trugen Pluderhosen und bunte Kopftücher. Sie erinnerten nur noch in den entferntesten Zügen an die almanische Kultur, denn die Verbindung zu ihren Vorfahren war kaum noch zu erkennen gewesen. Das Meer hatte sie verändert, sie waren zu einem Volk der Wellen und des Windes geworden.


    Ehveros


    Zehn Jahre nach dem Tod des Königs war Ehveros, jenes einst mächtige Herzogtum, in dem der König seinen Regierungssitz gehabt hatte, nicht mehr als das Schattenbild seiner selbst. Dem Ansturm der Rakshaner, die über das zersplitterte Almanien herfielen, vermochte es nicht standzuhalten. Es zerfiel mit einer Vollständigkeit, welche die Zerbrechlichkeit der Hohen Mark noch übertraf und wurde Beute rakshanischer Plünderer. Die einst stolzen Hallen des Hofes waren in Trümmern, die Straßen von den Unruhen des Zerfalls durchzogen. Einzig die Hauptstadt Drakenstein vermochte es, sich hinter ihren Mauern zu behaupten. Doch auch sie war nicht mehr das, was sie einst gewesen war. Die Stadt, die zu glorreichen Tagen als Zentrum von Wohlstand und Macht gegolten hatte, war nun ein Zerrbild almanischer Größe, ein unruhiges Bollwerk unter der Herrschaft eines selbsternannten Fürsten.



    Drakenstein


    Irving von Kaltenburg war ein verstoßener Schattenhexer aus Naridien. Er hatte sich auf dem Thron des Königs niedergelassen wie ein schwarzer Rabe mit eisblauen Augen, der mit unverschämter Selbstverständlichkeit in den Ruinen der längst untergegangenen Monarchie hauste. Seine magischen Fähigkeiten und eine Erfahrung, die Jahrhunderte zurückreichte, hatten Drakenstein vor dem Ansturm der Rakshaner geschützt. Mit List und dunklem Verstand hatte er sich den Platz auf dem Thron erkämpft, der einem almanischen König gebürte. Von dieser Position heraus begann er, seine eigenen Ränke zu schmieden. Er war der Fürst der Heimatlosen Ehveroski, der Kriegsflüchtlinge aller Herren Länder, aber auch der Gesetzlosen, jener Männer und Frauen, die auf der Suche nach Profit und Macht die Grenzen von Recht und Anstand überschritten. Er nahm sie alle auf, so lange sie nur seiner Macht dienten. Ebenso war er der Fürst der Reliktjäger, jener gefährlichen Gestalten, die in den vergessenen Winkeln der Welt nach vorzeitlichen Schätzen suchten, die mit einer Dunkelheit behaftet waren, die selbst die tiefsten Gewölbe Naridiens gefürchtet würde. Er glaubte fest daran, dass die Kontrolle über die Relikte der alten Welt der Schlüssel zur wahren Macht sei, und so begann er, die Geheimnisse längst untergegangener Reiche zu jagen.



    Von den letzten beiden almanischen Ländern


    Ob die Souvagne und Ledwick, die letzten verbliebenen almanischen Länder, in der Lage wären, sich gegen die wachsende Dunkelheit zu behaupten, sollte die Zukunft zeigen. In einer Zeit, in der das Erbe des Königs vergessen und das Volk von den Wirren der Machtspiele zerrissen war, konnte selbst der mächtigste Fürst nicht sagen, wie lange diese Bastionen noch standhalten würden. Ob sie, in ihrem Stolz, der Schläue dem naridischen Kraken standhalten könnten, blieb ungewiss.


    Der Bruch von Almanien


    Ich, Garlyn, Sohn des Felix Reinhard von Almanien, schreibe diese Chronik in der Verbannung, fern von meinen angestammten Landen und unter einem fremden Namen. Ich sitze in der Schreibstube des Söldnerlagers der Eisenfalken. Heute ist der zwölfte Tag des Jägermondes, im Jahr 209 des Dritten Zeitalters der Asche.


    Vor fast genau vierundzwanzig Wintern, fiel mein Vater durch Verrat und Blutvergießen. Mit seinem Tod brach sein Land auseinander. Es war der zwanzigste Tage des Windmondes im Jahr 185, als Almanien aufhörte, Königreich zu sein. Diese Chronik ist mein Versuch, die Zerstörung dieses uralten Menschenreiches zu begreifen und die Erinnerung zu wahren, bevor die naridischen Lügen sie endgültig zerstören.


    Das, was ich hier schreibe, ist die Geschichte des Königs ohne Krone, genannt Garlyn Meqdarhan, meine Geschichte, und sie beginnt nicht in Almanien, wie man anzunehmen verleitet sein könnte, sondern in Naridien.



    Ich wuchs in einem Waisenhaus in der Hauptstadt Daijian auf, mit einem naridischen Familiennamen, den sie mir dort gegeben hatten. Ich sah die Handelsflotte mit ihren riesigen roten Segeln im Hafen einlaufen, ich erlebte Hunger und Elend und musste von klein auf bei den Zuckerrohrplantagen arbeiten, um mir meinen Platz im Kinderheim zu verdienen.

    Die Naridische Handelsrepublik, wie der offizielle Name lautet, liegt jenseits der Kandoren, deren Gipfel einen natürlichen Grenzwall nach Südosten bilden, so dass die Halbinsel gut geschützt liegt, an deren Ufern die Handelsrepublik zahllose Häfen besitzt. Naridien wurde reich durch die Eisenminen in den Kandoren, durch das Handelsnetz der Salzstraße, welches sich über den halben Nordkontinent erstreckt und nicht zuletzt durch seine Handelsflotte, die jeden Hafen der Welt bereist. Es ist die Heimat gerissener Händler und herzloser Bürokraten, wo sowohl die reichsten als auch die ärmsten Menschen der Welt leben, das Land riesiger Märkte, deren Stände sich unter der Last exotischer Waren biegen, wo es jede Ware der Welt zu kaufen gibt, fremdartige Früchte und duftende Gewürze, glänzenden Goldschmuck für die feinen Damen und Herren, aber auch silberne Geschmeide voll farbenfroher Halbedelsteine für den kleinen Geldbeutel, Stoffe in allen nur erdenklichen Farben und Mustern, schlicht oder luxuriös, aus Seide, Wolle oder Flachs, aber es ist auch das Land der Hochgerichte mit ihren grauen Sälen, getragen von eckigen Betonsäulen, wo im Namen des Gesetzes berufliche Existenzen vernichtet und ganze Familien zerstört werden. Kein anderes Land vereint solche Widersprüche in sich wie Naridien. Man kann im Luxus ertrinken oder vor Armut verhungern.


    Den Umbruch in Almanien bekam ich damals nur von den Herolden mit, die jeden Morgen auf den Märkten für alle die Tageszeitung vorlasen. Schulbildung war für den gemeinen Mann zu teuer und so wurden die Nachrichten mündlich verlautbart. Wir vernahmen als Kinder, dass Felix Reinhard von Almanien, der sich großspurig König nannte, in Wahrheit ein Tyrann sei, der sein Volk unterdrückte. Mit der altmodischen Ständegesellschaft sicherte er die Macht des Adels in Almanien und hielt die bedauernswerte Bevölkerung als Leibeigene gefangen. Wie froh konnten wir doch sein, im freien Naridien zu leben, wo jeder selbst seines Glückes Schmied ist! Doch es gab almanische Freiheitskämpfer, vor allem in der Hohen Mark, die sich dagegen wehrten. Die Naridische Handelsrepublik machte es sich zur selbstlosen Aufgabe, die Freiheitskämpfer finanziell zu unterstützen. Hin und wieder mischten sich wohl auch naridische Söldner darunter, Helden, die freiwillig Leib und Leben für die unterdrückten Almanen riskierten. Und am Ende geschah das Unfassbare: Die Freiheitskämpfer bekamen König Felix Reinhard von Almanien zu fassen. Sie packten ihn auf der Flucht und rissen ihn aus seiner Sommerresidenz in der Salzmarsch von Ehveros. Am zwanzigsten Tag des Windmondes endete sein Leben auf dem Marktplatz seiner eigenen Hauptstadt durch hundert Pfeilschüsse, die gleichzeitig auf ihn abgefeuert wurden.


    Ich weiß noch, dass ganz Naridien an diesem Tag jubelte und feierte, während sie in Almanien seinen Kopf auf einer Lanze durch die Straßen trugen. Es gab kostenloses Essen, das von den Richtern und Geschäftsleuten gespendet wurde, ein Gastwirt erfand so genannte Königsspieße, die auf dem Grill geröstet wurden, und bei während alle den Tag des Thronstoßes feierten, wurde gemeinsam mit den almanischen Herzögen eine neue Währung eingeführt, die fortan für ganz Asamura gelten sollte. Anstelle des naridischen Handelstalers und der almanischen Krone trat der Tsheldy, auf den ein Schild geprägt war.


    Das waren die ersten politischen Ereignisse, die ich bewusst erlebte.


    Als junger Mann trat ich der naridischen Armee bei, der Radhora, und verpflichtete mich für zehn Jahre Dienst in Trux, um die entlegene Eisenmine gegen Überfälle zu sichern. Doch das Schicksal führte mich bald in almanische Kriegsgefangenschaft. Dort wurde ich in die souvagnische Strafkompanie eingegliedert, fristete meine Strafe ab und blieb dann freiwillig, denn aufgrund meiner guten Führung wurde mir nach einigen Jahren angeboten, diese Kompanie als freier Mann zu leiten.


    Ich nahm die Herausforderung an, weil ich den Sträflingen helfen und sie zurück in die Freiheit führen wollte. Als unsere Strafkompanie bei einem Sturmangriff fast vollständig vernichtet wurde, verlor ich den Willen, dort weiter zu dienen. So zog es mich in die Freie Stadt Obenza, wo ich als Söldner im Sicherheitsdienst mein Brot verdiente und ansonsten meine Freiheit genoss. Später gründete ich meine eigene Söldnerkompanie, deren Name „Die Eisenfalken“ an meinen alten Kampfnamen anknüpft.


    Und dort, in meinem eigenen Söldnerlager als Kommandant in meiner Schreibstube sitzend, nahm ich mal wieder einen gewissen Brief zur Hand, das einzige Erbstück meines Vaters. Zum vielleicht hundertsten Mal las ich ihn, ohne die Worte zu verstehen. Dieser Brief war nicht nur ein bloßes Schreiben, sondern eine verschlüsselte Botschaft, so viel war mir mittlerweile klar. Ich vermutete, mein Vater wollte den Inhalt vor den falschen Blicken schützen.


    Da ich allein nicht weiterkam, bat ich Serak den Lügner um Hilfe, ein Halbork und alter Bekannter, der viel herumgekommen war. Früher war er Söldner unter meinem Kommando in der Kompanie der Eisenfalken gewesen, daher kannte ich ihn. Mittlerweile verdingte er sich als Reliktjäger. Er fand heraus, dass es sich bei dem Brief um eine Wegbeschreibung handelte. Doch dieses Vermächtnis lag an einem so schwierigen Ort verborgen, dass ich es nicht ohne professionelle Hilfe bergen und seine letzten Geheimnisse ergründen konnte. Daher beauftragte ich Serak mit der Suche und Bergung jenes Schatzes.


    Getrieben von seinem rauen Mut und motiviert von der Belohnung, die ich ihm versprach, stieg er hinab in den gefährlichen Taudis, jene gefürchtete und düstere Unterwelt, die Reliktjägern als Hort verlorener Schätze und tödlicher Fallen gilt. Dort, wo Schatten tief in die Felswände kriechen und kalter Nebel die engen Gänge durchdringt, suchte er unermüdlich, durchquerte Labyrinthe aus zerfallenen Ruinen und überwand zahllose teuflische Fallen. Nach langer und beschwerlicher Suche gelang es ihm, eine versiegelte Truhe zu bergen, in der die königlichen Insignien ruhen: die Krone, das Schwert und die Amtskette von Almanien. Zunächst hielt ich es für bloßen Reichtum. Doch mehr noch: In dieser Truhe fand sich auch der Stammbaum meiner Ahnen, der mich als rechtmäßigen König von Almanien ausweist.


    Ich vermutete, mein Vater wollte den Inhalt nicht nur vor fremden Augen schützen, sondern auch vor meinen. Ich sollte das Geheimnis meiner Herkunft erst verstehen, wenn ich reif genug wäre, die Zeichen zu deuten und die Pfade zu finden. Doch auch jetzt wusste ich damit nicht umzugehen. Lange dachte ich darüber nach, was das Vermächtnis für mich und für Almanien bedeutete. Auf einmal war ich kein Naridier mehr, sondern Almane – der Almane, der das Land sogar im Namen trug. Derjenige, der die Geschicke dieses mir fremden Landes mit Güte und Weitsicht lenken sollte, dabei empfand ich schon das Leiten des Söldnerlagers an manchen Tagen als eine zu große Last.


    In der Truhe war auch ein Brief gewesen, ein Liebesbrief meines Vaters an seine Heimat. Ich las mir diesen mehrmals durch und ließ die Worte auf mich wirken. Er beschrieb Almanien als ein stolzes Reich voller grüner Wälder, sanfter Hügel und klarer Flüsse, als ein Land der Tugend und des Friedens, so lange die alte Ordnung gewahrt worden war. Das Land blühte unter seiner Obhut in Fruchtbarkeit, Vögel sangen über goldenen Kornfeldern, die sich in der Sommersonne wiegten und die Menschen lebten ohne Mangel. Doch die Naridier fürchteten das Wachstum und die Stärke seines südlichen Nachbarn. Von Neid und Gier getrieben, woben sie Intrigen und verbreiteten Unmut. Die Verantwortlichen saßen wie Spinnen tief in den Schatten, um unsichtbar ihre Netze zu weben. Sie nutzten verschiedene Waffen, auch das Wort, um Almanien von innen zu zerreißen.


    Nach der Flucht des König wurden die Strukturen Almaniens zerhackt und das Reich zersplitterte wie zersprungenes Eis auf einem See. Die Herzöge der vier almanischen Herzogtümer erhoben sich zu Großherzögen, erklärten ihre Länder ab sofort zu eigenständigen Reichen. An diesem Tag zerbrach Almanien. Viele Getreuen der alten Ordnung starben am Galgen oder unter dem Richtschwert.


    Jetzt, als Erwachsener, sah ich die Ereignisse, die ich als Knabe bejubelte, mit anderen Augen, und schämte mich, so leichtgläubig gewesen zu sein. Der Mann, dessen Tod wir gefeiert hatten, war niemand anderes als mein Vater gewesen, dessen Brief ich nun in den Händen hielt. Ich erkannte, was verloren ging. In jedem Neuanfang liegt auch der Verlust von etwas Altem. Ich hätte seine Verantwortung übernehmen sollen, stattdessen saß ich in einem Söldnerlager und überließ den Großherzögen das Schicksal. Der Schmerz dieses Wissens ist wie das Heulen des Windes in verlassenen Tälern, das Klirren eines fallenden Schwertes auf blutbedecktem Marmorboden.


    Ich wünschte, es gäbe ein Ende, in dem ich dieses Schwert ergreife, meinen Mut sammle und den Thron erobere, der mir gebührt. Aber ich weiß mit schwerem Herzen: Es gibt kein Zurück. Dieas Rad der Geschichte hat sich zu weit gedreht, und jene, die nun auf den Thronen sitzen, haben sich zu bequem eingerichtet, als dass sie einen König über sich dulden würden. Heute regieren die Söhne der Großherzöge, die nie einen König über sich gekannt haben, und das Volk hat seine Identität verloren. Sie sind keine Almanen mehr, sondern Souvagner, Ehveroski, Ledvigiani – Namen, in denen Trennung liegt. In der Hohen Mark reicht die Zersplitterung noch tiefer, denn dort definieren sich die Menschen nach den Grenzen ihrer Grafschaften und Rittertümer, ziehen plündernd zu ihren Nachbarn und besetzen ihre Burg, so dass jegliches Heimatgefühl kaum noch zu finden ist. Die Hohe Mark wurde zu einem Teil von Alkena, der nördlichen Wildnis, in der Gesetzlose leben und nur das Recht des Stärkeren herrscht. Almanien, wie ich es kannte, ist nicht mehr als eine Erinnerung, die langsam verblasst.


    Wie ging es in den letzten Jahren weiter mit dem zebrochenen Almanien?


    Es verblieben die drei Großherzogtümer: die Souvagne, Ehveros und Ledvico. Die Souvagne, das größte, breitet sich aus wie ein Meer aus sanften Hügeln und reifen Obstgärten. Eine mächtige Mauer umschließt das Land, die wie ein stiller Wächter trotzig gegen die Zeit ankämpft.


    Ehveros, das wirtschaftliche Herz Almaniens, liegt im Gebirge und an der Küste, wo die Wellen unermüdlich gegen die felsigen Klippen schlagen. Seine Flotte mag klein sein im Vergleich zu den Naridiern, doch auf festem Land sind seine Truppen eine Kraft, die niemand unterschätzen darf.


    Ledwick, das sich selbst Ledvico nennt, ist ein Land des türkisgrünen Ozeans und weißer Strände, dessen Leben sich fast gänzlich auf das Wasser verlagert hat, wo die Menschen Pluderhosen und bunte Kopftücher tragen und kaum noch an andere Almanen erinnern.


    Mein Vater, ein edler Herrscher und unerschütterlicher Beschützer seines Volkes, sah am Ende seiner Tage die finstere Wolke am Horizont. Es gelang ihm nicht, sie aufzuhalten. In seinem Weitblick gab er mich, sein einziges Hoffen, in Sicherheit, indem er mich als Kleinkind unerkannt in ein schäbiges Waisenhaus nach Naridien verbringen ließ. Wer hätte mich ausgerechnet dort gesucht? Falls es jemand tat, so fand er mich nicht.


    Am zwanzigsten Tage des Windmondes, vor vierundzwanzig Wintern, fiel mein Vater durch Verrat. Die königlichen Hallen von Drakenstein, einst erfüllt vom Glanz und von Lichtern, wurden gestürmt; der Klang von Schwertern und Schreien hallte durch die Flure. Fremde Waffen und finstere Gesellen brachten Dunkelheit über unser Land. Mein Vater fiel, und mit ihm zerbrach das Herz Almaniens.


    Zehn Jahre später war Ehveros, wo er seinen Regierungssitz gehabt hatte, nicht mehr als Großherzogtum zu erkennen, es zerfiel so vollständig wie die Hohe Mark. Einzig die Hauptstadt Drakenstein konnte sich behaupten und war nun eine Freie Stadt mit eigenem Fürsten. Irving von Kaltenburg war es, ein verstoßener Schattenhexer aus Naridien, der es sich auf dem Thron des Königs bequem machte und fortan seine eigenen Ränke schmiedete. Er war der Fürst der Gesetzlosen, die sich unter ihm sammelten, und auch der Fürst der Reliktjäger, denn er glaubte, darin läge der Schlüssel zur Macht.


    Ob die Souvagne und Ledwick sich als letzte almanische Bastionen halten werden, muss die Zeit zeigen.


    Das Schwert meines Vaters ruht an der Wand. Ich kämpfe mit der Feder für sein Andenken und gegen das Vergessen. Er war kein Tyrann.

    Möge diese Worte das Andenken an den edlen König Felix Reinhard bewahren und vor dem finsteren Trachten der Mächte von Naridiens gemahnen. Mögen sie als Leuchtfeuer den almanischen Nachkommen ihren Weg weisen, damit unser Volk nicht erneut in Dunkelheit versinkt.


    Mein Dank gebürt den Getreuen, die für Almanien fielen, und dem Reliktjäger Serak der Lügner, ohne den die wahre Geschichte von Almanien im Dunkel versinken würde und dem ich meinen wahren Namen verdanke.


    Dies sind die Worte des Garlyn Meqdarhan von Almanien, Sohn eines Königs, nun Söldner und ewiger Wanderer, Kommandant der Eisenfalken, mit brennendem Herzen und klarer Feder, aus der Verbannung auf unsere Heimat blickend.


    Garlyn Meqdarhan von Almanien

    Söldnerlager der Eisenfalken, Alkena

    zwölfter Tag des Jägermondes im Jahr 209 des Dritten Zeitalters der Asche


    Schicksalsdreiecke

    Von den Straßen und Schreinen Naridiens


    Die Wege der Ahnen


    In Naridien sind die Straßen nicht bloß Pfade des Handels und des Reisens, sondern heilige Adern, die das Land durchziehen und seine Seele tragen. Seit alters her gilt es als ungeschriebenes Gesetz, dass dort, wo zwei Straßen aufeinandertreffen, keine rechtwinkligen Kreuzungen gebaut werden dürfen. Stattdessen spaltet sich die Straße, die auf die andere trifft, in zwei Arme, die an zwei Stellen auf die andere Straße treffen. So entsteht dazwischen ein dreieckiger Platz, geheiligt und geweiht, der als Ort der Einkehr und der Verehrung dient. Von der großen Salzstraße bis hin zum entlegenen Bergpfad gilt dies für alle Wege. Nur ein Barbar würde unbedacht über ein solches Schicksalsdreieck hinwegtrampeln, und seine Reise stünde nicht länger unter dem Schutz der unsichtbaren Mächte, die über die Schritte der Reisenden und Händler wachen.


    Die Lebensadern der Handelsallianz


    Die Straßen Naridiens sind mehr als nur Wege – sie sind die Lebensadern des Landes, die seinen Wohlstand und seine Einheit begründeten. Schon lange bevor Naridien ein einheitlicher Staat wurde, gab es dort eine Handelsallianz lokaler Fürsten, die sich zusammenschlossen, um durch Handel den Wohlstand ihrer Menschen zu mehren. Diese Fürsten erkannten, dass Reichtum durch Krieg zunächst massiv schwindet, während der Austausch von Gütern und Ideen ein rasantes Wachstum ermöglicht. Und so bauten sie ein weitverzweigtes Netz von Straßen, das die Städte und Dörfer verband und den Handel zwischen den Regionen ermöglichte.


    Die Salzstraße


    Unter diesen Straßen war die Salzstraße die bedeutendste. Sie war nicht nur eine einzige lange Straße, sondern wuchs zu einem ganzen Straßennetz, das sich über das Land zog. Das Salz, das darauf transportiert wurde, war nicht nur ein lebenswichtiges Gut, sondern auch eine Quelle großen Reichtums. So konnten Händler auf den Schutz der Salzreiter vetrauen, einer Gruppe von Kriegern, die Überfälle auf Händler eindämmte und Räuber wie Schmuggler unerbittlich jagte.Die Fürsten, die die Salzstraße kontrollierten, wurden mächtig und einflussreich, und ihre Allianz legte den Grundstein für die spätere Republik Naridien. Die Salzstraße aber wurde zum Symbol des Wohlstands und der Einheit, und ihre Kreuzungen wurden zu heiligen Orten, an denen die Reisenden den Göttern und Helden für ihren Schutz dankten.


    Die Schreine der Wächter


    Im Laufe der Zeiten ging diese Tradition auf alle Straßen und Wege über. Selbst die kleinsten Dorfpfade kreuzen sich in Gestalt von Schicksalsdreiecken und enthalten einen kleinen Schrein. Inmitten der dreieckigen Plätze, die an den Kreuzungen der Straßen entstanden, erheben sich die Heiligtümer, klein oder groß, je nach Bedeutung der Kreuzung. Manche sind bescheiden, kaum mehr als ein steinerner Altar, geschmückt von den Zeichen der Reisenden, die dort Rast fanden. Andere jedoch, an den großen Kreuzungen der Salzstraße und anderer Handelstraßen, sind prächtige Heiligtümer, gebaut aus Marmor und Granit, mit hohen Türmen und gewölbten Hallen, in denen die Gebeine der Helden Naridiens ruhen. Sie werden von Priestern gepflegt, die dort wohnen und von den Almosen von Reisenden leben und für deren Sicherheit Rituale durchführen.


    Die Helden und ihr Hauch


    Jeder Schrein ist einem Helden oder einer Gruppe von Helden gewidmet, deren Taten in den Liedern der Barden weiterleben. Die Gebeine, sorgfältig bewahrt und in steinernen Sarkophagen gebettet, ruhen im Herzen der Schreine. Es heißt, dass der Hauch des Helden, sein entfleuchter Lebensatem, über die Straße wacht und die Reisenden beschützt, die unter seinem Blick wandern. Man spürt ihn im Wind, der über die Straßen streicht. Die Naridier glauben, dass die Helden auch im Tod nicht von ihrem Volk getrennt sind, sondern als Wächter und Beschützer weiterwirken, unsichtbar, doch stets gegenwärtig. Mitunter wird auch für gefallene Feinde ein Heiligtum errichtet, um ihren Hauch zu besänftigen.


    Opfergaben und Zwiesprache


    Reisende, die an diesen Schreinen vorbeikommen, legen oft Opfergaben nieder – Blumen, Steine, Amulette, Münzen, oder andere Gegenstände von persönlichem Wert. Diese Gaben sind nicht nur Zeichen des Respekts, sondern auch Bitten um Schutz und Segen für die Reise. Manche, besonders jene, die vor gefährlichen Wegen stehen, verweilen länger und halten Zwiesprache mit dem Toten. Sie flüstern ihre Ängste und Hoffnungen in die Stille des Schreins, in der Hoffnung, dass der Geist des Helden sie hört und ihnen beisteht.


    Die Bedeutung der Dreiecke


    Die dreieckige Form der Kreuzungen und Schreine ist kein Zufall, sondern tief in der Mythologie Naridiens verwurzelt. Das Dreieck gilt als Symbol der Balance und der Verbindung zwischen den Welten – der Welt der Lebenden, der Welt der Toten und der Welt des Windes. Es erinnert die Reisenden daran, dass ihr Weg nicht allein ist, sondern von den Ahnen und Helden begleitet wird, die das Land vor langer Zeit geprägt haben.


    Die großen Heiligtümer


    An den bedeutendsten Kreuzungen Naridiens, wo die großen Handelsstraßen sich treffen, stehen die größten und prächtigsten Schreine. Diese Heiligtümer sind nicht nur Orte der Verehrung, sondern auch Zentren des kulturellen Lebens. Pilger aus allen Teilen des Landes reisen dorthin, um die Gebeine der größten Helden zu ehren – jener Männer und Frauen, deren Taten das Schicksal Naridiens geprägt haben. In diesen Hallen werden Feste gefeiert, Geschichten erzählt und die Erinnerung an die Vergangenheit lebendig gehalten.


    Die Schreine in der Grenze


    Selbst in der wilden Grenze, dem Land der Gesetzlosigkeit, finden sich diese Schreine, oft verfallen und von der Zeit gezeichnet, doch immer noch verehrt von denen, die durch diese gefährlichen Lande ziehen. Es heißt, dass die Geister der Helden in der Grenze besonders wachsam sind, denn hier, wo das Gesetz schwach und die Gefahr groß ist, bedürfen die Reisenden ihres Schutzes am meisten.


    Die Zehn bedeutsamsten Wegkreuzungen und Ihre Heiligtümer


    1. Der Schrein des Alrik von Aschbach

    • Ort: Kreuzung der Salzstraße und der Königsstraße in der Hauptstadt Naridiens.
    • Bedeutung: Alrik von Aschbach war der Gründer der mächtigen Aschbach-Dynastie und ein Visionär, der die Handelsallianz der Fürsten ins Leben rief. Sein Schrein ist das größte und prächtigste Heiligtum Naridiens, ein Symbol der Einheit und des Wohlstands. Pilger aus dem ganzen Land reisen hierher, um ihn zu Ehren seinen Geist um Rat zu bitten.


    2. Das Dreiecksheiligtum von Kaltenburg

    • Ort: Kreuzung der Salzstraße und der Nordhandelsroute.
    • Bedeutung: Dieser Schrein ist Lira von Kaltenburg gewidmet, die einst die Nordhandelsroute vor plündernden Barbarenhorden beschützte. Ihr Schrein ist ein Ort der Stärke und des Mutes, und viele Reisende legen hier alte Waffen oder Rüstungsteile als Opfergaben nieder.


    3. Der Schrein der Ewigen Flamme

    • Ort: Kreuzung der Salzstraße und der Pilgerstraße im Süden Naridiens.
    • Bedeutung: Dieser Schrein ist Eldrin Feuerstern gewidmet, einem mystischen Helden, der angeblich eine Laterne trug, die niemals erlosch. Der Schrein ist bekannt für seine zahlreichen Steinlaternen, die von Reisenden als Opfer entzündet werden und als Symbol der Hoffnung gelten. Da der Schrein oft besucht wird, weil viele Reisende ihn passieren, erlöschen niemals all seine Laternen und er darf zurecht "Schrein der Ewigen Flamme" genannt werden.


    4. Das Heiligtum der Verschollenen

    • Ort: Kreuzung zweier kleiner Handelswege in den abgelegenen Bergen.
    • Bedeutung: Dieser bescheidene Schrein ist jenen gewidmet, die die nicht von ihren Reisen zurückkehren und deren Schicksal ungewiss ist. Es ist ein Ort der Trauer und des Gedenkens, an dem Reisende oft kleine Steine oder persönliche Gegenstände niederlegen, um an ihre verlorenen Lieben zu erinnern und darum zu bitten, dass sie doch noch wohlbehalten nachhause zurückkehren mögen.


    5. Der Schrein des Salzfürsten

    • Ort: Kreuzung der Salzstraße und der Osthandelsroute.
    • Bedeutung: Dieser Schrein ehrt Garold von Dachsendom, einen legendären Händler, der mehrere Salzbergwerke erschloss und damit Naridiens Wohlstand maßgeblich mitbegründete. Der Schrein ist ein beliebter Ort für Händler, die um Erfolg und sichere Reisen bitten.


    6. Das Heiligtum der Fremden

    • Ort: Kreuzung der Nachtstraße und der Mondstraße in einer abgelegenen Waldregion.
    • Bedeutung: Dieser Schrein ist den Nachtwächtern gewidmet, einer Gruppe von nichtmenschlichen Helden, die die Region vor nächtlichen Überfällen beschützten. Der Schrein soll bevorzugt bei Nacht besucht werden und gilt als Ort der Geister und der geheimen Zwiesprache. Seine Form ist exotisch und es scheint, als sei der Schrein älter als die Handelsstraßen, die ihn heute umschließen. Naridier, die keine reinen Menschen sind, besuchen ihn oft.


    7. Der Schrein der Drei Brüder

    • Ort: Kreuzung dreier wichtiger Handelsstraßen im Herzen Naridiens, die man "Dreistern" nennt
    • Bedeutung: Dieser Schrein ist den drei Brüdern Haldor, Rynar und Fynar gewidmet, die einst gemeinsam eine gefährliche Schlucht überbrückten, um den Handel zwischen den Regionen zu ermöglichen. Drei Brücken waren dafür notwendig, die in der Mitte auf einem Berg, der sich wie eine Insel in der Schlucht erhebt, als Stern aufeinandertreffen. Auch hier wurde darauf geachtet, die Straßen beim Aufeinandertreffen zu gabeln, so dass eine sehr markante Form entstand. In jedem Winkel des Dreisterns ist einer der Brüder in einem Heiligtum begraben. Der Schrein ist ein Symbol der Zusammenarbeit und Brüderlichkeit.


    8. Das Heiligtum der Wanderer

    • Ort: Kreuzung der Salzstraße und eines Bergpfades in den östlichen Ebenen.
    • Bedeutung: Dieser Schrein ist den Wanderern gewidmet, die in der Wildnis abseits der Straßen umkamen. Deswegen hat das Heiligtum die Form einer Schutzhütte, in der man vor Stürmen Schutz suchen und übernachten kann.


    9. Der Schrein der Winterkälte

    • Ort: Kreuzung der Salzstraße und der Schneeroute im Norden Naridiens.
    • Bedeutung: Dieser Schrein ist Jorund Eisbart gewidmet, einem Helden, der einst eine ganze Armee im Schneesturm führte und so die Nordgrenze Naridiens rettete. Im Schneesturm gefror sein Bart. Der Schrein ist bekannt für die eisigen Schneeskulpturen, die seine Besucher als Opfer errichten. Er wird oft von Soldaten und Grenzwächtern besucht.


    10. Das Heiligtum der Vergessenen

    • Ort: Kreuzung zweier alter Pfade in der Grenzregion.
    • Bedeutung: Dieser Schrein ist den namenlosen Helden gewidmet, die bei den zahllosen Grenzschlachten ihr Leben ließen. Im Heulen des Windes kann man ihre Stimmen vernehmen. Es ist ein Ort des stillen Gedenkens, an dem man innere Einkehr sucht. Viele Gesetzlose und Söldner besuchen diesen Schrein, um Vergebung oder Schutz zu erbitten.

    Das dritte Buch der Asche

    Das dritte Buch der Asche erzählt, wie den Hexerfürsten die Macht entrissen wurde und Naridien zu einer Republik wurde.


    Über Naridien


    Die Geschichte Naridiens begann als eine Handelsallianz von Fürsten. Seit jeher war es ein Land der Gegensätze. Sanfte Hügel und weite Ebenen erstreckten sich zwischen schroffen Bergen im Norden und endlosen Wäldern im Süden. Silberne Flüsse durchschnitten das grüne Land. Hier trafen Wildnis und Zivilisation aufeinander – die raue Grenze im Osten und die geordneten Städte entlang der wachsenden Handelsstraßen.


    Auch die Salzstraße, das Rückgrat Naridiens, zog sich seit dieser Zeit durch das Land. An ihren Kreuzungen erhoben sich die Schicksalsdreiecke, heilige Plätze mit Schreinen, die Helden gewidmet waren. Reisende legten Gaben nieder und flüsterten Bitten um Schutz. Der Hauch der Toten, so glaubte man, wachte über die Straßen.


    Zeitalter der Umbrüche - Vom Fürstentum zur Republik


    Der Umbruch begann mit der Ankunft der Hexerfürsten, die das untergegangene Caltharnae verlassen und zunächst auf Asa Karane Zuflucht gesucht hatten. In den Tagen, da Naridien unter dem Banner der Handelsallianz stand, erreichten sie das Festland. Bald herrschten die Geschlechter der Hexerfürsten mit eiserner Hand. Als mächtig erwiesen sich insbesondere die Herren von Aschbach, Kaltenburg und Dachsendom, und ihre Hallen ragten hoch über die Dörfer und Äcker der einfachen Leute, die in ihrem Schatten lebten. Die Adligen unter ihrer Regentschaft, einst Hüter des Landes, wurden zu Herren des Eigennutzes, und ihre Gier fraß sich in das Herz des Volkes wie Rost in das Schwert.


    Und es geschah, dass einige unter den Adligen die Zeichen der Zeit erkannten. Sie sahen die Unzufriedenheit, die unter den Bauern und Handwerkern wuchs, und sie erkannten, dass dies ein Werkzeug war, schärfer als jedes Schwert. Die Herren von Aschbach, Kaltenburg und Dachsendom, deren Namen später in den Chroniken verflucht und gepriesen wurden, schmiedeten einen Plan, der so kühn war wie er hinterlistig. Sie sprachen zu den Unterdrückten mit süßen Worten und schürten ihren Zorn gegen ihre eigenen Lehnsherren. Durch List und Tücke, durch Gold und Lügen, brachten sie die Massen dazu, gegen ihre Herren aufzustehen, während sie selbst im Schatten blieben und die Fäden zogen.


    Der Fall der Alten Häuser


    Und so kam es, dass die alten Häuser des Adels, die einst stolz und mächtig gewesen waren, eines nach dem anderen fielen. Die Edlen von Niederau, einst Herren über weite Ländereien, wurden von ihrem Land vertrieben und flohen in die wilden Grenzregionen, wo sie zu Raubrittern wurden, gezeichnet von Hass und Verbitterung. Die Edlen von Rotloh, berühmt für ihre ritterlichen Tugenden und prunkvollen Turniere, verloren ihre Burgen und fanden ihr wirtschaftliches Heil in der Anführung von Söldnertruppen, die durch die Grenzlande zogen wie Wölfe auf der Jagd. Doch die Aschbach, Kaltenburg und Dachsendom, die Urheber dieses großen Wandels, blieben im Schatten und erhoben sich zu neuen Herren, gekleidet in die Roben der Richter und Advokaten.


    Und so wurde Naridien, das einst ein Fürstentum gewesen war, zur Republik erklärt. Der Hohe Rat, bestehend aus den vorsitzenden Richtern der Hochgerichte, erhob sich als eine Gruppe neuer Herrscher über das Land. Ein jeder durfte Advokat oder Richter werden, wenn er die entsprechenden Examina nachweisen konnte. Doch obwohl die Macht nun in den Händen des Volkes lag, blieb sie de facto in den Händen einiger alter Adelsgeschlechter, die ihre Privilegien in die neue Ordnung gerettet hatten. Die Hochgerichte wurden zu den neuen Burgen der Macht, und die Richterdynastien herrschten von ihren hohen Sitzen aus über das Schicksal Naridiens.


    Der Wohlstand wuchs, die Städte glänzten im Sonnenlicht. Ihre Mauern aus hellem Stein und stolzen Türme zeugten vom Wohlstand des Handels. In den Gassen feilschten Händler, hämmerten Handwerker, und Richter in langen Roben schritten zu den Hochgerichten. Diese prunkvollen Bauwerke waren nicht nur Orte der Rechtsprechung, sondern auch der Macht. Hier regierten die Richterdynastien, die alten Adelsgeschlechter, die ihre Privilegien in die neue Ordnung gerettet hatten.


    Die einfachen Menschen sahen der Zukunft frohen Mutes entgegen. Naridier blickten seit jeher lieber nach vorn als zurück. Doch sie vergaßen nie: Ihr Wohlstand ruhte auf den Schultern derer, die vor ihnen gekommen waren – der Helden, die ihr Leben gegeben hatten, und der Arbeiter, die die Straßen gebaut hatten, die Naridiens Wohlstand begründeten. Die Zukunft war ungewiss, aber nicht düster. Die Republik war auch unter dem Einfluss mächtiger Richterdynastien noch ein Symbol der Hoffnung.


    Einige besiegte Häuser fanden in Almanien Unterschlupf, doch die meisten Hexer wurden verstreut. Bekannt wurde Irving von Kaltenburg, welcher Drakenstein unter seine Kontrolle brachte und heute die letzte Enklave der alten Hexerfürsten regiert.


    Die Grenzlande


    Am Rande Naridiens, dort, wo das Land in die Wilden Felder von Alkena überging, entstand ein Reich der Gesetzlosigkeit. Es war ein weites Areal mit schwierigem Klima und wilden Einheimischen, in dem weder Naridien noch Almanien die Herrschaft ausübten. Verfallene Schreine säumten die schwer auffindbaren Pfade der Hochlandsteppe. Hier hausten die enteigneten Adligen, die zu Raubrittern geworden waren, und verbündeten sich mit den Reiterbarbaren der Wilden Felder. Ihre Siedlungen waren flüchtig wie der Wind, und ihr Gesetz war das des Stärkeren. Schmuggler und Händler durchquerten diese Region, brachten Waren und Geld für sicheres Geleit, doch sie taten es auf eigene Gefahr, denn die Wilden Felder waren ein Ort des Chaos und des Verrats. So kam es, dass Naridien und Almanien, die in diesem Zeitalter um die Vorherrschaft auf dem Festland kämpften, keine wirkliche Grenze zueinander hatten, denn die Wilden Felder waren nicht zu befrieden.


    Und so endete das Zeitalter des Fürstentums Naridien, doch sein Erbe lebte fort in den neuen Herren, die ihre Macht hinter den Roben der Richter verbargen, mächtiger als zuvor, entledigt von alten Rivalen. Die Traditionen verblassten, und die prunkvollen Feste und Turniere wurden zu Erinnerungen, die nur noch in den Liedern der Barden weiterlebten. Doch in den Herzen der Vertriebenen und Gesetzlosen brannte das Feuer des Widerstands, und die Grenze wurde zu einem Ort, an dem die alten Geschlechter darauf warteten, ihre Rache zu nehmen.


    Naridien war und blieb ein Land der Gegensätze – schön und gefährlich, voller Erinnerung und Hoffnung. In diesem Land, auf seinen sauberen Straßen, in den reichen Städten suchten die Menschen zwischen Vergangenheit und Zukunft ihren Weg und folgten dem Traum von Freiheit.

    Kettentanz

    Der Kettentanz entstand zu Beginn des dritten Ascheregens unter almanischen Sklaven. Beim Tanz rasseln die Ketten um die Fußgelenke im Rhythmus der Bewegungen. Die Lederstiefel, die dabei getragen werden, dienten den Sklaven zum Schutz bei der harten Arbeit.


    Die Geschichte des Kettentanzes


    Während des Ascheregens entstand diese Form der Kommunikation unter Tage, breitete sich jedoch allmählich auch über Tage aus und entwickelte sich zu einer sozialen und kulturellen Ausdrucksform. Einerseits sollte der Tanz den Männern Mut und Kraft verleihen. Gleichzeitig nutzten sie jedoch eine Art Geheimsprache in den vermeintlich harmlosen Texten, Bewegungen und Tanzfiguren, um sich über ihre Bewacher lustig zu machen oder Dinge auszudrücken, die sie nicht aussprechen durften.


    Anfangs wurde ohne Musikinstrumente getanzt. Die Lieder, die manchmal zum Tanz gesungen wurden, handelten meist von dem bedrückenden Leben der Sklaven, von Elend und Gewalt, aber manchmal auch von Sehnsucht, Heimweh und Liebe. Die meisten Herren gestatteten ihren Sklaven diese gewaltfreie Form der Unterhaltung, sahen oft amüsiert zu, ohne die versteckten Botschaften zu verstehen.


    Einige Sklavenhalter veranstalteten nach dem Ende der Dunkelheit Wettbewerbe, indem sie ihre besten Tänzer vor Publikum gegeneinander antreten ließen. So fand der Kettentanz seinen Weg von Almanien in die Allgemeinkultur, wo er vor allem bei naridischen Fabrikarbeitern beliebt wurde. Bald war er in der gesamten Welt verbreitet. Oft wurde bei den Aufführungen keine gute Kleidung, sondern bewusst die abgewetzte Arbeitskleidung aus dem Alltag der Tänzer getragen.


    Der Kettentanz heute


    Der Kettentanz wird heute nicht nur von Sklaven und Minenarbeitern getanzt, sondern auch von Leuten, die sich diesen Kreisen verbunden fühlen. Er gilt als Tanz der Rebellion gegen staatliche Ordnung. So ist er auch bei Söldnern oder Reliktjägern verbreitet, die oft eine kriminelle Vergangenheit haben. Sie nutzen auch den Klang des Rassels ihrer Kettenhemden. Diese Tänzer brachten den Kettentanz in Verruf, doch an seiner Beliebtheit änderte das nichts.


    Nach wie vor erinnern Ketten, um die Arbeits- oder Kampfstiefel gelegt, an die Fußfesseln der Sklaven. Während der ursprüngliche Tanz ohne Instrumente und Gesang auskam, wird er heute oft mit musikalischer Untermalung getanzt. Manchmal wird zum Tanzen ein Halseisen angelegt, um an das Schicksal der Versklavung zu gemahnen.


    Das Setting

    Die Geschichte von Asamura begann als Arche der sterbenden Erde, doch heute weiß niemand mehr davon. Die Menschen dieses Planeten halten ihn seit der Zeit ihres Erwachens für den Ort ihrer Schöpfung. Sie wissen nichts von Mutter Erde oder dem Schicksal ihrer Vorfahren, die zwischen den Sternen segelten. Asamura ist alles, was sie kennen und alles, was sie haben. Die Kenntnisse der Raumfahrt gingen verloren, wie so vieles andere. Heute lebt man wieder in mittelalterlichen Zuständen. Doch vor der Ankunft der Menschen war Asamura keineswegs unbesiedelt, sondern bot einheimischen Lebensformen beste Bedingungen, die nunmehr ein Schattendasein führen. Die Menschen sind seit Jahrhunderten Herren ihrer Welt. Doch wird es auf ewig so bleiben?


    Tief im Herzen des Planeten ruhen die Relikte der Vorzeit, schlägt der Takt der Weltenmaschine wie ein Herz. Manchmal gerät sie aus dem Rhythmus, und dann verändert sich das Antlitz der Welt. Asche regnet vom Himmel und erstickt alles Leben. Wenn sie einst ganz verstummen sollte, und das urzeitliche Klima von Asamura zurückkehrt, wie es vor der Ankunft der Sternenreisenden herrschte, werden es womöglich nicht die Menschen sein, die den Urgewalten standzuhalten verstehen ...


    Ventralis - Die Stadt im Sturm

    In den kaum erforschten Weiten des Südens, wo die Winde des Schicksals unbarmherzig toben, liegt das Bittermeer. Es ist ein warmes, unheilvolles Gewässer, das die südlichen Gestade Asamuras umspült. Hier hinaus, wo heiße Stürme wüten und grautrübe Wellen zornig gegen die Küsten peitschen, wagen sich nur die kühnsten Seefahrer. Selten erreichen sie gar die vulkanischen Inseln des Feuerrings, und wenn sie es tun, erwartet sie eine trostlose Landschaft. Graue Aschewüsten erstrecken sich hinter dreckigen Stränden, und die schwarzen Basaltgebirge ragen wie finstere Wächter in den wolkenverhangenen Himmel. Ihre brennenden Kronen entsenden schwarzen Rauch, der jegliches Leben erstickt. Doch in den Einöden der Eilande gibt es Überraschungen. Auf Khilar, der größten Feuerinsel, erhebt sich die Stadt Ventralis, welche zwischen rauchenden Gipfeln und Aschewüste die Zeiten überdauert hat. Und während die anderen Städte bereits während der Vorzeit verfielen, herrscht in dieser wieder Leben.


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    Die Ventralier sind ein hellhäutiges Menschenvolk, das von Naridiern abstammt. Da anfangs nur wenige Frauen unter ihnen lebten, sehen die Bewohner der Stadt sich in den heutigen Tagen so ähnlich wie Geschwister. Schwarzes Haar hat sich durchgesetzt, ihre Augen sind grau wie der Sturm. Ihre Haut ist von den heißen Winden gegerbt und rau. Ihre Gesichter sind von Entbehrungen gezeichnet, doch in ihren Augen leuchtet ein ungebrochener Wille.


    Ihre Kleidung ist schlicht und funktional, von reisenden Schiffen geplündert oder gewebt aus den zähen Fasern des Meerestangs, der in den trüben Gewässern ihrer Heimat wächst. Diese Stoffe sind robust und widerstandsfähig, ideal, um den Elementen zu trotzen. Sie sind ein Volk, das gelernt hat, in einer feindlichen Umgebung zu überleben, und ihre rein der Funktion dienende Kleidung erzählt die Geschichte ihres unermüdlichen Kampfes gegen die Naturgewalten. Lederjacken und Ledermäntelaus dem Leder von Meerestieren schützen vor Regen und den scharfen Winden, die unablässig über Ventralis fegen. Um Hals und Schultern tragen die Ventralier fast immer Schals, die sie bei Bedarf auch um Mund und Nase schlingen. Die Erscheinung der Ventralier wirkt ärmlich, doch in der Schlichtheit liegt eine stille Würde, und sie sehnen keinen Reichtum herbei.


    Mentalität


    Viele Bewohner des Festlands von Asamura halten Ventralis für nichts weiter als ein Märchen, zu fantastisch und wundersam erscheinen die Erzählungen, die man sich von der Stadt im Sturm berichtet. Wer könnte glauben, dass Menschen mit Schwingen aus Leder und Eisen sich von den tosenden Winden hoch hinauf in den Sturm tragen ließen? Doch die Wahrheit, so unglaublich sie auch sein mag, ist, dass Ventralis existiert, auch wenn die Ventralier alles dafür tun, im Nebel der Legende unsichtbar zu bleiben.


    Trotz der allgegenwärtigen Armut hat die Wissenschaft in Ventralis einen hohen Stellenwert. Die Bewohner haben es geschafft, die uralten Maschinen wieder zum Leben zu erwecken und nutzen sie, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Die Ventralier hüten ihre Technologie mit eiserner Strenge, und wer versucht, ihr Wissen zu stehlen, darf nicht auf Gnade hoffen.


    Ein Reisender, der das Unglück hat, diese Stadt zu finden, darf sie niemals wieder verlassen, und sein Schiff wird bis auf das kleinste Teil zerstört, als wäre es nie gewesen. Auch die Ventralier selbst bauen keine Schiffe. Einem Gestrandeten bleibt folglich nur die Wahl, Ventralier zu werden oder zu sterben. Doch wird es ihm nicht leicht fallen, sich als Gestrandeter unter jenen einen Platz zu verdienen, deren Blut durch generationenlange Inzucht untrennbar miteinander verbunden ist. Die Stadt im Sturm als neue Heimat anzunehmen, wird den wenigsten Gestrandeten leicht fallen.


    Doch auch den Ventraliern selbst ist das Verlassen ihrer Insel verwehrt, und jeder Versuch, ein Schiff zu bauen, wird als Hochverrat betrachtet und wer es versucht, wird von den Sturmwächtern bis zum Tode gejagt. Die Ventralier sind sich des unersättlichen Machthungers des Festlandes bewusst, dessen Anführer nach ihren Technologien dürsten, Relikten, die am Ende nicht den Menschen, sondern nur der Geldgier und dem Blutdurst dienen würden.


    Gesellschaft


    Die Ventralier haben eine tiefe Abneigung gegen Unterdrückung entwickelt. Die Ventralier haben nie vergessen, weshalb ihre Vorfahren einst vom Festland flohen. Ihre Vergangenheit hat sie gelehrt, dass Gerechtigkeit nur durch Gleichheit erreicht werden kann. Sie sind wachsam gegenüber jeder Form von Machtmissbrauch. Diese Gemeinschaft von einstigen Gesetzlosen hat sich ihre Freiheit mit Blut und Schweiß erkämpft und trägt ihre Unabhängigkeit wie ein Ehrenzeichen. Jeder Einzelne leistet seinen Beitrag zum Überleben der Stadt.


    Handwerker, Händler und Gelehrte arbeiten zusammen, tauschen Waren und Wissen aus und sorgen dafür, dass die Stadt am Leben bleibt. Konflikte werden oft durch Verhandlungen und gegenseitige Abmachungen gelöst, und die Sturmwächter fungieren manchmal als Vermittler, wenn die Spannungen zu groß werden. Es gibt kein Gesetz, welches Gewalt oder Diebstahl ahndet, doch kennen die Ventralier ihre eigene Form der Gerechtigkeit. Rache und Vergeltung schrecken ab. So haben sich ungeschriebene Regeln und Normen etabliert, die das Zusammenleben bestimmen. Zwischen den Bewohnern er Stadt herrscht im Allgemeinen ein harmonisches Miteinander. Der feindselige Welt, in der sie leben, können sie nur gemeinsam trotzden.


    In Ventralis gibt es keinen Adel und keinen Rat. Und doch gibt es eine Übereinkunft, die das Zusammenleben ermöglicht. Einzig der Führungsrat der Sturmwächter bildet ein gewisses Zentrum der Macht. Das Herz der Gesellschaft bilden die Mannschaften der Sturmwächter, jene, die die Macht der Blitze und die Energie der Stürme kontrollieren. Ein Kind aus jeder Familie soll ein Sturmwächter werden, damit die Macht gleichmäßig über alle Familien verteilt wird und es für immer so bleibt. Jeder trägt nach eigenen Kräften seinen Teil zum Wohl der Gemeinschaft bei, und in den Nächten, wenn die Kristalllampen die Straßen erhellen, spürt man den Geist der Freiheit und des Zusammenhalts, der Ventralis durchdringt.


    Architektur


    In den uralten Mauern von Ventralis, der Stadt, die seit Jahrhunderten den unbarmherzigen Stürmen trotzt, erheben sich Bauwerke von unvergleichlicher Robustheit und Funktionalität. Ihre runden Formen bieten dem Wind kaum Angriffsfläche. Türme mit halbrunden Kuppeldächern ragen gen Himmel, gekrönt von eisernen Blitzfängern, um deren wilde Energie in alchemistische Kristallbatterien zu lenken. Diese Technologien, Relikte einer längst vergessenen Zivilisation, erlauben es den Ventraliern, die ungezähmte Kraft der Natur zu bändigen und in nutzbare Elektrizität zu verwandeln.


    Im Herzen der Stadt thront ein uralter Turm, das höchste Bauwerk, das als Hauptblitzfänger und Energieverteiler dient. Von hier aus strömt die gesammelte Energie in die verschiedenen Bezirke der Stadt. Der Turm ist auch das Zentrum der Forschung und Entwicklung, wo Gelehrte unermüdlich daran arbeiten, die Geheimnisse der alten Technologien zu entschlüsseln und neue Wege zu finden, die Energie der Stürme zu nutzen.


    Wenn die Nacht hereinbricht, erwachen die aus eisenhaltigem Basalt erbauten Häuser und Straßen zum Leben. Ein sanftes, elektrisches Glühen durchzieht die Stadt und enthüllt eine Schönheit, die bei Tageslicht verborgen bleibt. Nicht länger sind die Straßen trostlos, wenn das blaue Glühen der Stadt eine verlorene Farbe zurückbringt. Kristalllampen erhellen die Dunkelheit und verleihen Ventralis einen magischen Glanz, der die Herzen der Bewohner verzaubert.


    Die Ventralier nutzen auch die natürliche Hitze des vulkanischen Bodens zu ihrem Vorteil. Sie leiten Meerwasser in flache Becken, die in den heißen Basalt geschlagen wurden. Darüber wölben sich metallene Abdeckungen, an deren Innenseite der aufsteigende Wasserdampf kondensiert und in Auffangrinnen tropft. Das frische Wasser wird in eine Zisterne geleitet, die im Herzen der Stadt liegt. Über ihr wurde ein Gebäude errichtet, das Brunnenhaus, um das Wasser vor dem immer wiederkehrenden Ascheregen zu schützen. Hier holen sich die Bewohner der Stadt mit Eimern das kostbare Nass für den täglichen Gebrauch, doch man trifft sich auch, um zu reden. Sitzbänke und Marktstände machen das Brunnehaus zu einem beliebten Treffpunkt im grauen Alltag der Stadt im Sturm.


    sturmwaechterfluegel.pngDie Sturmwächter


    Die Sturmwächter verstehen es meisterhaft, den ewigen Sturm zu ihrem Verbündeten zu machen. Gekleidet in Anzüge aus widerstandsfähigen Materialien, trotzen sie den extremen Bedingungen mit Leichtigkeit. Ihre Sturmschwingen aus Leder und Eisen tragen sie mühelos durch die tobenden Winde. Das Fliegen funktioniert nur während eines Sturms, der die Kraft hat, einen Menschen mit diesen künstlichen Flügeln zu tragen, doch dann bewegen die Sturmwächter sich mit der Gewandtheit von Möwen durch die wirbelnden Lüfte. Die Flügel sind über Lederriemen mit dem Körper verbunden und der Sturmwächter steuert ihre Mechanismen durch seine Körperdrehungen.


    Diese fliegenden Wächter sind das Schwert von Ventralis . Sie verkörpern die Freiheit und den ungebrochenen Willen der Ventralier, stets bereit, ihre hart erkämpfte Heimat zu schützen und ihre freie Gemeinschaft zu bewahren. Auf ihren Schwingen gleiten sie über das karge Land, stets wachsam und bereit, Abtrünnige zu jagen, das Meer nach fremden Schiffen abzusuchen oder wichtige Nachrichten zu überbringen. Sie sind tapfere Krieger, die die gefährlichen Gebiete rund um Ventralis erkunden, wertvolle Ressourcen sammeln und die Stadt gegen äußere Bedrohungen verteidigen.


    Doch Sturmwächter sind nicht nur in den Lüften unterwegs. Einige arbeiten als Techniker und Forscher. Sie sind Hüter des alten Turms von Icharith, ihrem Hauptquartier. Ihre Fähigkeiten und ihr Wissen sind von unschätzbarem Wert für das Überleben der Stadt. Die Blitzfänger auf ihrem Turm, die wie Speere hinauf in die Wolken ragen, fangen die Energie der Blitze ein und speichern sie in tragbaren Kristallbatterien. Von hier aus werden sie in der Stadt verteilt, um Gewächshäuser zu beleuchten oder Kühlaggregate zu betreiben.


    Die Mitglieder ihres Führungsstabes werden nicht durch Titel oder Erbrecht ernannt, sondern entwickeln sich durch ihre Erfahrung und ihre Persönlichkeit zu Anführern. Das Vertrauen der anderen Sturmwächter ist ihnen Krone genug. Die Größe der einzelnen Einheiten variiert, und bei Streitigkeiten kommt es oft zu einem Wechsel der Mitglieder zu anderen Einheiten, da es keine festgelegten Zugehörigkeiten gibt.


    Einige Aufgaben der Sturmwächter:


    1. Energiegewinnung: Eine der Hauptaufgaben der Sturmwächter ist es, die Energie des Sturms zu nutzen, um die Stadt Ventralis mit Strom zu versorgen. Sie sammeln die Blitze und leiten die Energie mittels alchemistischer Kristallbatterien in die städtischen Netzwerke.


    2. Wetterbeobachtung: Die Sturmwächter sind auch für die Überwachung des Sturms zuständig. Sie sammeln Daten über die Windgeschwindigkeiten, Blitzaktivitäten und andere Wetterphänomene, um die Sicherheit der Stadt zu gewährleisten und mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen.


    3. Rettungsmissionen: In Notfällen sind die Sturmwächter die ersten, die zur Hilfe eilen. Sie retten Menschen, die in den Sturm geraten sind, und leisten technische Unterstützung, wenn die Infrastruktur der Stadt beschädigt wird.


    Ausbildung und Fähigkeiten


    1. Navigation im Sturm: Die Sturmwächter durchlaufen eine intensive Ausbildung, um sich in den chaotischen Winden des Ewigen Sturms zurechtzufinden. Sie lernen, die Windströmungen zu lesen und zu nutzen, um sich effizient fortzubewegen und gefährliche Turbulenzen zu vermeiden.


    2. Blitzableitung: Ein weiterer wichtiger Teil ihrer Ausbildung ist die Fähigkeit, Blitze gezielt abzuleiten und zu nutzen. Sie lernen, die Blitzfänger präzise einzustellen und die gespeicherte Energie sicher zu transportieren.


    3. Technische Wartung: Da ihre Ausrüstung extremen Bedingungen ausgesetzt ist, müssen die Sturmwächter auch Experten in der Wartung und Reparatur ihrer Geräte sein. Sie lernen, ihre Ausrüstung im Feld zu reparieren und sicherzustellen, dass alles einwandfrei funktioniert.


    Geschichte


    Die einstigen Bewohner von Ventralis sind längst fort. Ihre robusten Basalthäuser, die dem stärksten Sturm zu trotzen vermögen, ließen sie zurück. Die Feuerinseln hatten alle Farben des Lebens verloren und bot ihnen keine Heimat mehr. Der Himmel und das Meer waren so grau geworden wie die Asche, die sich wie ein Leichentuch auf alle Wiesen und Felder gelegt hatte. Und so verließen sie die Inseln und alles, was ihre Vorfahren erschaffen hatten, um anderswo ein neues Leben zu beginnen.


    Über Jahrhunderte ruhte die Insel in völliger Stille und nur der Sturm sang sein ewiges Lied in den einst stolzen Hallen von Ventralis. Doch eines Tages strandete ein Schiff an den grauen Gestaden. Vom Sturm abgetrieben, zerlumpt und hungrig, betraten fremde Menschen die verlassene Insel im alten Handelshafen von Ventralis. Ihre Geschichte ist ein Abenteuer für sich, denn sie waren Sträflinge, denen es bei einem Gefangenentransport gelungen war, ein Schiff zu kapern und damit über das Meer zu fliehen. Zwischen rauchenden Gipfeln und glühenden Schluchten erkundeten sie die verlassene Stadt. Da sie keine andere Wahl hatten, denn ihr Schiff war unrettbar beschädigt, blieben sie. Bald fanden sie heraus, dass die Abgeschiedenheit nicht nur Fluch war, sondern auch Segen. Als ihr Schiff nach dem Abflauen des Sturms in keinem festländischen Hafen je gesichtet wurde, wähnte man die Sträflinge für tot, und sie konnten ein neues Leben beginnen. So erwachte die verlassene Stadt.


    Eine wesentliche Rolle für das Überleben in den folgenden Jahren spielten einige Männer, die mit dem Überleben in karger Wildnis vertraut waren und gleichzeitig über ein technisches Wissen verfügten, dass man solch rauen Gestalten schwerlich zugetraut hätte. Ohne sie wäre in der kargen Einöde ohne frische Quellen kaum jemand dauerhaft mit dem Leben davongekommen. Sie halfen mit Rat und Tat, das wenige zu nutzen und und die alten Technologien zu entschlüsseln, um das harrte Leben in Ventralis etwas zu erleichtern, und sie waren es auch, die zuerst das Fliegen lernten. Verschwiegen wird heute oft, dass diese ersten Sturmwächter Reliktjäger waren, die auf dem Festland für verschiedene Verbrechen verurteilt worden waren, darunter auch die Schlimmsten. Von ihren dunklen Ursprüngen distanzieren die heutigen Sturmwächter sich mit Nachdruck, denn sie erforschen die Relikte nicht für Geld, sondern für das Überleben der Gemeinschaft.


    Typische Getränke in den Tavernen

    Biere


    Kelleramber - Ein bernsteinfarbenes Bier, das man zimmerwarm trinkt.


    Turzwachter Gold - Ein klassisches Pils.


    Haferbier - Ein Orkbier, das aus Strandhafer gebraut wird. Man trinkt es warm oder heiß. Es hat nur einen geringen Alkoholgehalt und wird oft als Alltagsgetränk genossen, besonders im Winter. Um sich zu berauschen ist es ungeeignet.


    Taudisbräu - Ein je nach Blickwinkel entweder muffig schmeckendes oder charakterstarkes Bier mit deutlicher Trübung. Es wird eiskalt serviert. Das Rezept ist geheim, doch da es nur aus unterirdisch vorkommenden Zutaten gebraut wird, befinden sich vermutlich verschiedene Pilze und Flechten darin. Das Originalbier gibt es nur in der unterirdischen Reliktjägerkneipe "Riss", wo es vom Wirt Zorn gebraut und ausgeschenkt wird, doch sind verschiedene Nachahmungen im Umlauf.


    Hochprozentiges


    Kokosnebel - Ein trüber weißer Kokoslikör aus Ledwick, sehr süß. Er wird besonders gern im Sommer unter Palmen getrunken oder als Zutat von Süßspeisen verwendet.


    Kristallwasser - Ein glasklarer Schnaps, der aus Korn gebrannt wird, erfunden in Nebreszko im kalten Norden von Naridien. Man trinkt ihn vor allem, um sich zu wärmen.


    Yeidirak - Ein dickflüssiger, dunkler Orkschnaps aus zahlreichen Kräutern, der als Allheilmittel angesehen wird. Man benutzt ihn zum Desinfizieren von Wunden ebenso wie als Medizin gegen allerlei Krankheiten.


    Kehlenschlitzer - Ein roter Pfefferschnaps, der beim Trinken so stark brennt, als würde die Kehle aufgeschlitzt werden. Durch die leichte Süße werden die verschiedenen Geschmacksnuancen des roten Pfeffers hervorgehoben. Das Getränk wurde von Reliktjägern erfunden und wird gern als Mutprobe serviert. Der Schmerz beim Trinken soll aber auch von weltlichem Schmerz aller Art ablenken. Das Getränk ist optisch nicht von Blut zu unterscheiden. Um Neulinge zu ärgern, wird er oft mit echtem Blut serviert, weshalb erfahrenere Trinker nach dem Servieren eine Weile warten, um Klümpchenbildung durch Gerinnung zu erkennen.


    Herzblut - Man kann den Kehlenschlitzer auch als Zugabe für Rotwein verwenden, um dessen Alkoholgehalt zu erhöhen und den bitteren Geschmack billigen Rotweins zu überdecken. In der Regel wird noch ein Löffel Honig eingerührt. Die Mixtur gilt als Arme-Leute-Getränk. Herzblut kann heiß oder kalt getrunken werden.


    Tees


    Jasminblütentee - ein weißer, leichte Tee, der als Kaltgetränk im Sommer beliebt ist. Zur Dekoration wird ein Zweig mit frischen Jasminblüten sowie eine Zitronenscheibe an den Tassenrand gehängt.


    Winterzauber - Ein stark gewürzter Früchtetee, den man heiß und mit einer Stange Kandiszucker zum Rühren serviert.

    Das erste Buch der Asche

    Das erste Buch der Asche berichtet von den Jahren, als die Katastrophe sich anbahnte, und von der Katastrophe selbst. Es erzählt von den mächtigen Hexerfamilien und ihren Fehden, vom Szepter der Macht und dem Kristall der Vorsehung, vom Ascheregen und dem Untergang von Thalas'Enara und davon, wie am Ende nicht Magie, sondern ein mutiger Sterblicher das Überleben des Volkes sicherte.


    Von der Saat der Zwietracht


    Die Hexerfamilie Ildanach hatte es zu Macht und Ansehen gebracht. Im Wesentlichen waren sie es, welche die Geschicke der Stadt lenkten, seit der Rat der Gerechten entmachtet worden war. Doch in den Schatten lauerten die Morcantes, stets bereit, Zwietracht zu säen und die neue Ordnung zu stören, die die Ildanachs so sorgsam hüteten, denn auch sie hatten viele Ideen, die sie verwirklicht sehen wollten. Die Spannungen zwischen den beiden Familien sind so alt wie die Zeit selbst, und es wird gesagt, dass ihr Kampf das Schicksal von Thalas’Enara besiegeln wird – eine Stadt, die dazu bestimmt ist, in den Fluten des Äthermeeres zu versinken und nur noch in Legenden zu existieren.


    Die Ildanachs waren bekannt für ihre unvergleichliche Beherrschung des Geists. Sie regieren Thalas’Enara mit einer Mischung aus Weitsicht und eiserner Faust, die Nichtmagier verachtend und immer wachsam gegenüber den Intrigen ihrer Erzfeinde, den finsteren Hexern der Familie Morcante.


    Die Ildanachs, angeführt von ihrem Patriarchen Eldrin Ildanach, waren Hüter des Kristalls der Vorsehung, eines uralten Relikts, das sie aus den Tiefen der Welt mitgebracht hatten und welches die Macht besaß, die Gedanken der Götter zu zeigen. So war der Kristall der Vorsehung zu einem Symbol der Herrschaft geworden, und man hatte es auf ein Szepter gesetzt. Doch die Morcantes, unter der Führung der ruchlosen Hexerin Margot Morcante, trachten danach, das Szepter an sich zu reißen und selbst die Kontrolle über Caltharnae zu erlangen.


    Vom Kristall der Vorsehung


    Die Hexer, deren Augen durch die Schleier der Sterblichkeit getrübt sind, erblicken in ihm ein Artefakt von unermesslicher Macht, ein Zeugnis der Weisheit, die jenseits der Grenzen ihrer Welt liegt. Sie wissen nicht, dass der Kristall des Geschicks einst ein Herzstück der großen Maschinen war, die unter Asamura ruhen. Gespeist von der Energie der Sonne Alvashek hat er seine Bilder das erste Mal gezeigt, als die Menschen die Oberfläche erreichten, und funktioniert nur, wenn er regelmäßig dem Tageslicht ausgesetzt ist. Sie sehen in seinen leuchtenden Bildern nicht die Hervorbringungen einer holographischen Projektion, sondern die Schatten und Lichter des Schicksals selbst. Wenn der Kristall seine Visionen entfaltet, deuten die Hexer sie als Offenbarungen, als Botschaften, die über das Schicksal von Königreichen und der Zeit selbst entscheiden.


    Die Hexer verstehen nicht die wahre Natur des Kristalls, so wie sie auch die Quelle ihrer eigenen Macht nicht erkennen. Für sie ist der Kristall ein heiliges Objekt, ein Orakel, das mit den Stimmen der Götter spricht, und sie hüten ihn als den Schlüssel zu den Geheimnissen ihrer Macht.


    In den Tagen, als die Dunkelheit über Thalas'Enara zu fallen drohte und die Herzen der Hexer von Zweifeln geplagt wurden, erwachte der Kristall der Vorsehung zu einem unerwarteten Leben. Seine Facetten glühten mit einem Licht, das nicht von dieser Welt zu sein schien, und in seinem Inneren entfaltete sich eine Vision von großer Bedeutung. Die Hexer versammelten sich um den Kristall, ihre Augen weit aufgerissen in ehrfürchtigem Staunen, als die Luft selbst zu flimmern begann. Aus dem Herzen des Kristalls stieg ein Bild empor, klar und leuchtend wie der Morgenstern. Es zeigte eine Stadt, die in Ruinen lag. Ihre Türme waren gebrochen, ihre Straßen leer, und über ihr hing der Schatten des Verderbens.


    Als der Kristall der Vorsehung seine Vision entfaltete und die Hexer von Thalas'Enara in stummes Staunen versetzte, erhob sich Eldrin Ildanach, der mächtige Hexerfürst, um zu sprechen. Seine Stimme hallte durch die Hallen, fest und unerschütterlich:


    "Fürchtet nicht die Visionen, die vor unseren Augen tanzen", begann Eldrin mit einer Ruhe, die den Raum erfüllte. "Denn wenngleich sie früher mächtige Ratgeber gewesen sein mögen, sind sie heute für uns nur noch Bilder. Wir sind die Meister der Dunkelheit, die Weber des Schicksals und der Zeit. Unsere Macht, geboren aus den Tiefen der Erde und genährt durch Menkalinan, der in der Tiefe ruht, ist unübertroffen."


    Er schritt vor den versammelten Hexern auf und ab, seine Robe flatterte hinter ihm wie ein Banner im Wind. "Wir haben den Weg durch die Dunkelheit des Untergrunds bewältigt, sind aus dem Nichts an die Oberfläche gestiegen und haben Thalas'Enara aus dem Staub der Vergessenheit erhoben. Wir haben die Ketten der unwürdigen Nichtmagier zerschlagen und ihre Herrschaft beendet. Was ist eine Vision gegen solche Taten?"


    Eldrin hob seine Hände, und das Licht des Kristalls spiegelte sich in seinen Augen wider. "Wir sind die Erben einer Macht, die älter ist als die Sterne selbst. Lasst uns nicht vor den Flüstern des Schicksals zurückschrecken, sondern sie als das erkennen, was sie sind – ein Zeichen unserer unvergleichlichen Stärke. Wir haben die Dunkelheit bezwungen und werden auch das Licht beherrschen. Die Vision ist kein Omen des Untergangs, sondern ein Beweis unserer Größe!"


    Die Hexer, denen die Worte schmeichelten, stimmten Eldrin zu. Selbst Eldrins Sohn Aranthir, dessen Zweifel nicht ganz erloschen, schwiegen, denn weder wagte er es, seinem Vater vor den Augen der anderen zu wiedersprechen, noch wollte er als Feigling gelten.


    Die erklärten, dass die Vision eine Täuschung sei, ein Spiel des Lichts ohne Bedeutung. Der Kristall der Vorsehung wurde nicht länger gebraucht. Die Hexer versiegelten das Zepter, dessen Spitze er krönte, hinter dicken Mauern und versteckten ihn vor den Augen der Welt. Unter Androhung der Todesstrafe wurde verboten, je wieder von der Vision zu sprechen. Sie glaubten fest daran, dass durch den Mut, die Weisheit und die Einigkeit der Hexer das Schicksal selbst herausgefordert werden konnte. Und weder die Ildanachs noch die Morcantes oder andere mächtige Familien ihrer Zeit verschwendeten noch einen Gedanken an die Weissagung, seit das Zepter mit dem Kristall versiegelt worden war. Sie wandelten durch die Straßen, erhoben über die Sorgen der Sterblichen, und in ihrem Hochmut ignorierten sie die Zeichen der Natur.Sie glaubten, dass nichts und niemand ihre Stellung erschüttern könnte, nicht einmal die Kräfte, die tief im Herzen Asamuras schlummerten.


    Die Prophezeiung von Thalas’Enara


    Prinz Aranthir, Sohn des Hexerfürsten Eldrin Ildanach, dachte oft darüber nach, was der Kristall der Vorsehung ihnen gezeigt hatte. Der Anblick der zerbrochenen Türme und eingestürzten Häuser hielt sich hartnäckig in seinem Geist. Wenn er durch die Straßen von Thalas'Enara ging und all das betrachtete, was die Menschen aufgebaut hatten, all die Kunstfertigkeit und Schönheit, kehrte die Erinnerung an die Vision zurück. Aranthir war es, welcher der Vision ein Gewand aus Worten schenkte und sie so umschrieb, wie er sie verstand. In den Annalen von Caltharnae, niedergeschrieben in der Ära des Erwachens, findet sich eine Prophezeiung, die das Schicksal von Thalas’Enara vorhersagt:


    "In der Zeit, wenn das Bittermeer die Sterne verschluckt

    und die beiden Monde sich in Trauer verhüllen,

    wird Thalas'Enara, das Herz der grünen Lande,

    dem Ruf der Tiefe nicht länger widerstehen.


    Die Klingen des Neides werden sprechen,

    der wird Kristall zerbrechen, ein Scherbenmeer.

    Die Stadt wird erbeben, die Türme werden fallen

    und ganz Caltharnae wird schwarze Tränen weinen."


    Aranthir komponierte eine Melodie, die nicht überliefert ist, und manchmal sang er sie, ohne die Worte auszusprechen, die er gedichtet hatte.


    Kaledor


    In den Tagen, da die Schatten der Hexer über Thalas'Enara lagen, lebte Kaledor, Sohn einer alten Linie von Hexenjägern. Er war von nichtmagischem Blut und seine Herkunft war bescheiden, doch seine Taten sprachen von einer Größe, die jene von königlichem Geblüt übertraf.


    Er war ein Mann von stiller Stärke und verborgener Tiefe. Seine Vorfahren, einst gefürchtet und verehrt für ihre unerschütterliche Jagd auf jene, die sich der dunklen Künste bedienten, hatten nach der Machtergreifung der Hexer alles verloren. Ihr Besitz wurde genommen und ihr Name geschmäht. So besaß Kaledor keinen anderen Namen mehr als jenen, mit dem man ihn rief. Viele seiner Vorfahren hatten den Tod in den dunklen Kerkern der neuen Herrscher gefunden.


    Kaledors Eltern lebten nun ein Leben der Demut und verbrachten ihre Tage in schwerer Arbeit. Seine Mutter klopfte Steine in den Erzgruben von Thalas'Enara, sein Vater schmolz an den Hochöfen das Eisen aus den schweren Brocken und goss es in Barren für die Schmiede. Es waren Dienste, die sie für die Hexer verrichteten, deren Macht sie einst bekämpft hatten.


    Kaledor selbst, ein Mann von kräftiger Gestalt, trug das Erbe seiner Familie nicht in Worten, sondern in seinem Wesen, denn er war still und ernst. Sein kurzes Haar war so schwarz wie die nächtlichen Schatten, die über die Türme von Thalas'Enara krochen, und seine Augen glichen dem Eis, das manchmal über das Meer trieb und von Schiffen geerntet und in die Kühlkammern der Hexer verbracht wurde. Durch einen Fürsprecher, seinen starken Körper und seine zurückhaltende Art hatte Kaledor es bis zur Turmwache der Hexer gebracht, eine Position, die ihm erlaubte, über die Stadt zu wachen, die seine Vorfahren einst zu schützen geschworen hatten.


    Während er auf den Zinnen der Türme stand, sein Blick fest auf die ferne Dunkelheit gerichtet, wusste er, dass das Blut der Hexenjäger noch immer in seinen Adern floss. Er war ein Wächter, ja, aber in ihm lebte auch der Geist derer, die niemals vor der Dunkelheit zurückgewichen waren. So stand Kaledor, ein Mann zwischen den Welten, sein Schicksal untrennbar verwoben mit dem von Thalas'Enara und den Hexern, die er zugleich bewachte und hasste.


    Seine Mutter, die in den tiefen Erzgruben arbeitete, erzählte ihm von den unheilvollen Veränderungen im Herzen der Welt. Sein Vater, der Tag für Tag die Hitze der Hochöfen ertrug, sprach von einem Feuer, das anders brannte als zuvor, denn der Wind hatte sich verändert. Die Luft roch stickig und die Menschen wurden von schwerem Husten geplagt. Die Hexer, hoch oben in ihren Türmen, spürten davon nichts, und taten es als eine der vielen Schwächen der Gewöhnlichen ab.


    Kaledor, geprägt von der Weisheit seiner Eltern, erkannte die Zeichen, die andere nicht sahen. Das leichte Beben der Erde, das die anderen als einen fernen Erdrutsch abtaten, kündete für ihn von einem tieferen Schrecken. Die Fischschwärme, die nicht mehr kamen, und die Zugvögel, die nicht mehr auf Caltharnae ausruhten, waren Boten eines drohenden Unheils. Doch Kaledor, dessen Ahnen einst die Dunkelheit gejagt hatten, wagte es nicht, seine Stimme zu erheben. Bei Todesstrafe war es verboten, Prophezeiungen Glauben zu schenken oder sie zu verbreiten. Und in diesen Tagen galt eine jede Warnung bereits als Prophezeiung. Das Volk war angehalten, sein Bewusstsein ganz auf die Gegenwart zu richten und die Planungen für die Zukunft ganz den Hexern zu überlassen. Wer dagegen verstieß, machte sich des Hochverrats schuldig und musste sterben.


    So stand Kaledor in seinem Zwiespalt, gefangen zwischen der Pflicht, die Stadt zu warnen, und der Furcht vor dem Zorn der Hexer. Seine Lippen blieben versiegelt, während sein Herz von der Last des Wissens schwer wurde. Und während die Zeichen sich mehrten und das Unheil näher rückte, fand sich Kaledor am Rande einer Entscheidung, die das Schicksal von Thalas'Enara bestimmen sollte.


    Derweil mehrte sich die Not des Volkes. Die Fische, die in den Tiefen spielten, verschwanden aus den Netzen der Fischer, als würden sie vor einem unsichtbaren Feind fliehen. Das Trinkwasser wurde bitter und manch einer wurde davon krank. Die Erde selbst begann zu sprechen. Ihr waren Seufzer zu entnehmen, die tief aus ihrem Inneren kamen, ein Stöhnen von Stein und Erz, das die Handwerker und Schmiede in ihren Werkstätten vernehmen konnten. Die Pflanzen faulten auf den Feldern und das Vieh brachte kranke oder tote Junge zur Welt. Die Sterne funkelten mit einem fahlen Licht, als wollten sie sich von der Welt verabschieden, und die Monde waren hinter ihren trüben Schleiern kaum noch zu sehen. Der Wind trug den Geruch von Asche mit sich, die nach Schwefel roch.


    Doch schien es, als sei er allein mit seiner Erkenntnis. Das Leben in der Stadt ging weiter wie immer. Und Kaledor fragte sich, ob er den Hexern sagen sollte, welche Beobachtungen er gemacht hatte. Er wusste um die Macht der Hexer, die über Thalas’Enara herrschten, und die Gefahr, die es bedeutete, sich ihnen zu widersetzen, und er zögerte, bis weiße Ascheflocken sich auf die Mauern legten, die zu schützen seine Aufgabe war. Sie war wie heißer Schnee und sie war giftig. Er verstand, dass er ohnehin todgeweiht war, so wie jeder andere, wenn niemand etwas unternahm.


    Kaledor verstand, dass das Schweigen ihn zum Komplizen des drohenden Verderbens machen würde. So fasste er den Entschluss, die Hexer zu warnen, und wenn es ihn seinen Kopf kosten würde. Nichts Geringeres hatte er geschworen, als die Stadt mit seinem Leben zu verteidigen.


    Als Kaledor sich demhöchsten Turm näherte, erhob sich dieser wie ein Wächter des Himmels vor ihm, seine Spitze in den Wolken verloren. Dort oben residierte Eldrin Ildanach. Die Wände des Turms waren mit Reliefs und Runen verziert, die alles Übel außerhalb der Mauern verfluchten. Der Stein war durchzogen von Adern aus Kristall, die im fahlen Licht der untergehenden Sonne rot wie Blut funkelten. Als Turmwächter gewährten seine Kameraden ihm Einlass, und Kaledor schritt durch das große Eisentor. Die Luft im Inneren war kühl und still, ein heiliger Frieden, der nur vom Echo seiner Schritte unterbrochen wurde. Die Treppe, die sich nach oben wand, war breit und aus dem gleichen Stein gehauen wie die Wände.


    Mit jedem Schritt, den Kaledor machte, fühlte er die Last der Geschichte auf seinen Schultern. Die Treppe schwang sich immer höher empor, er ging vorbei an Fenstern, die Blicke auf die Stadt darunter freigaben, eine Stadt, die bald nicht mehr sein würde. Doch Kaledor ließ sich nicht länger von seiner Angst beirren. Mit festem Schritt betrat er die Halle, wo die führenden Köpfe der Herrscherfamilie über die Karten von Caltharnae gebeugt saßen, und bat die erstaunten Hexer darum, ihm für ein einziges Mal zu erlauben, zu ihnen sprechen zu dürfen.


    Aranthir


    Gemeinsam mit seinem Vater, seinen Brüdern und den übrigen Entscheidungsträgern der Hexer, saß Aranthir am Kartentisch, wo sie über die leeren Jagdgründe der Fischer diskutiert hatten - leergefischt, wie man glaubte. Es geschah höchst selten, dass ein Gewöhnlicher es wagte, unaufgefordert zu den Hexern zu sprechen, denn jede Belästigung wurde hart sanktioniert. Kaledor jedoch gehörte der Turmwache an und es mochte sein, dass sein Anliegen von Bedeutung war. So erteilte Eldrin Ildanach, Aranthris Vater, dem Gast das Wort.


    Mit einer Stimme, die von der Dringlichkeit der Nachricht getragen wurde, sprach Kaledor: “Mein Herr, die Natur spricht zu uns, und ich fürchte, ihre Botschaft ist düster. In den Erzgruben ersticken die Arbeiter und es schneit giftige Asche, die unsere Brunnen vergiftet. Meine Eltern, welche die Sprache des Gesteins verstehen, haben mir erklärt, was geschieht, und ich bin in Sorge. Es mag sein, dass sich unter Caltharnae ein Abgrund öffnen wird, um alles zu verschlucken, was darauf lebt. Wir müssen handeln, bevor es zu spät ist.”


    In den Hallen des Turms, wo die Familie Aranthirs versammelt war, hallte das Lachen wider, als Kaledor seine düstere Botschaft überbrachte. Die Brüder und Schwestern, die in den Künsten der Magie geübt waren, konnten nicht glauben, dass ein Mann ohne magisches Blut ihnen eine solche Warnung darbringen würde.


    “Die Asche ist also ein Omen, sagst du? Und das von einem Mann, der nicht einmal einen einfachen Zauber wirken kann”, spottete einer der Brüder.


    “Vielleicht sollten wir ihm ein Amulett geben, damit er sich sicher fühlt, wenn Caltharnae untergeht,” lachte eine der Schwestern. Ihre Augen funkelten vor Belustigung.


    Die Hexer verhöhnten Kaledor, nannten ihn einen Narren, der Schatten jagte, wo keine waren. Aranthir jedoch, der die Prophezeiung nicht vergessen hatte, erkannte den Ernst der Lage. Er sah die Sorge in den Augen des getreuen Wächters, die Anspannung in seiner Haltung. Aranthir ahnte, dass Kaledor kein Mann war, der leichtfertig sprach. Er verstand, dass Weisheit oft aus den unerwartetsten Quellen kommt, doch er konnte nicht vor aller Augen und Ohren gegen das Gesetz verstoßen.


    In den Hallen des Turms, wo das Lachen seiner Familie noch in der Luft hing, nickte Aranthir scheinbar zustimmend. “Ihr habt recht,” sagte er mit einem Lächeln, das nicht seine Augen erreichte. “Kaledor ist dem Wahnsinn verfallen. Seine Worte sind nichts als Geschwätz.”


    "Mit ihm wird seine verbrecherische Linie enden", entschied Eldrin Ildanach. Und die Geste seiner Hand verriet, dass er das Herz von Kaledor dazu zwingen wollte, stillzustehen. Doch der Turmwächter blieb aufrecht stehen. Eldrins Augen wurden schmal vor Zorn, seine Lippen ein blutleerer Strich. Auch Aranthir war verwirrt, denn es war noch nie geschehen, dass jemand der Magie des Hexenmeisters von Thalas'Enara hatte standhalten können.


    Auch ein zweiter Versuch schlug fehl. "Bringt ihn fort", rief Eldrin Ildanach aufgebracht und machte eine unwirsche Geste in Richtung der Turmwachen, die zu beiden Seiten der Tür standen.


    Und sie ließen den getreuen Turmwächter von seinen eigenen Kameraden in ein Verlies werfen, wo er nackt und frierend auf seine Hinrichtung warten musste. Seine Verwandten aber wurden ohne eine Ausnahme noch in dieser Nacht erschlagen, um den Keim des Frevels, der die Hexer schon einmal in Bedrängnis gebracht hatte, ein für alle Mal auszumerzen. Insgeheim hatten sie vielleicht nur auf einen Vorwand gewartet.


    Nacht über Thalas'Enara


    In den stillen Stunden, da selbst die Schatten zu schlafen schienen, schlich Aranthir, Sohn des mächtigen Hexerfürsten Eldrin Ildanach, durch die gewundenen Gänge der Kerker von Thalas'Enara. Er war gekommen, um den Mann zu sehen, der einst über die Türme gewacht hatte, Kaledor, den Nachfahren der Hexenjäger. Aranthir erreichte die Zelle, in der Kaledor gefangen war, und sein Blick fiel auf den nackten Mann, der dort lag. Um seinen Hals trug er einen Eisenring, der an die Wand gekettet war. Das fahle Licht, das durch die Gitterstäbe fiel, zeichnete Muster auf die Haut des Gefangenen.


    Als Kaledor merkte, dass jemand durch das Gitter sah, erhob er sich. Er ging so weit nach vorn, wie die Kette es erlaubte. "Mein Herr", sagte er nur. In seinen eisblauen Augen spiegelte sich ein Kampf wider, der tiefer ging als die alte Fehde zwischen Hexenjäger und Hexer. Aranthir sah in Kaledor keinen Feind, sondern einen Wächter, der die Stadt beschützt hatte, die sie beiden liebten, selbst um den Preis seines Lebens. Diese Erkenntnis widersprach dem, was man Aranthir gelehrt hatte. Kaledor besaß nichts von der Niedertracht, Feigheit und Verabscheuungswürdigkeit, die den Nichtmagiern innewohnen sollte.


    “Kaledor,” flüsterte Aranthir, als er sich ihm näherte. “Ich bitte dich, sprich offen zu mir. Was hast du gesehen? Was hat dir die Erde erzählt?”


    “Mein Herr,” antwortete er, “die Zeichen sind unverkennbar. Die Vögel fliehen, die Fische verschwinden, und die Erde seufzt in Schmerzen. Ich fürchte, es wird eine Katastrophe geben, die das Ende von ganz Caltharnae bedeuten könnte.”


    Aranthir lauschte ernst. “Dann müssen wir vorbereiten,” entschied er. “Wir werden nicht untätig bleiben, während das Schicksal an unsere Türen klopft.”


    So standen sie, der Hexer und der Nachfahre von Hexenjägern, getrennt durch Gitter und Geschichte, doch verbunden durch die Liebe zu Thalas'Enara. Vorerst nahm Aranthir Abschied, doch die Zeit drängte, denn Hinrichtungen wurden nie lange hinausgezögert. So weckte Aranthir seinen Vater, wenngleich dieser ungehalten war ob der nächtlichen Störung.


    "Vater, Herrscher über die Gezeiten des Schicksals, ich komme zu dir mit einem Vorschlag, der unserer Macht und Weisheit würdig ist", sprach Aranthir, seine Stimme voller Ehrerbietung. "Kaledor, der Nachfahre der Hexenjäger, dessen Schicksal es ist, den Tod durch unsere Hand zu finden, könnte uns noch im letzten Atemzug dienen."


    Eldrin Ildanach blickte ausdruckslos auf Aranthir herab. "Sprich weiter, mein Sohn, und offenbare mir deine Gedanken."


    "Lasst uns Kaledor nicht einfach dem Tod übergeben, sondern ihn zum Objekt unserer Experimente machen. Die Magie, die wir beherrschen, ist unermesslich und in vielen Bereichen noch unerforscht. An Kaledor aber ist sie an ihre Grenzen gestoßen. Kannst du sagen, warum? Ich vermag es nicht. Kaledor könnte uns helfen, die Grenzen unserer Kunst zu erweitern, selbst wenn es bedeutet, dass er dabei sein Leben lässt. Statt eines einfachen Endes würde Kaledors Tod uns Erkenntnisse bringen, die das Wissen von Thalas'Enara mehren könnten. Sein Ende würde ein letzter Dienst an den Hexern sein, die seine Familie einst bekämpfte, ein weiteres Zeichen unserer Macht."


    Eldrin Ildanach, dessen Gedanken so tief und unergründlich waren wie die Dunkelheit zwischen den Sternen, nickte langsam. "Deine Worte sind weise, Aranthir. Kaledor soll uns in seinem Tod dienen, so wie er es im Leben nicht konnte, dieser Wurm. Er wird Teil unserer Suche nach Macht sein."


    In den stillen Stunden der Nacht schlich Aranthir, Sohn des Hexerfürsten, erneut in die Tiefen des Kerkers. Dort, in der tiefsten Zelle, die von der Welt vergessen schien, fand er Kaledor, dessen nackter Leib nur vom Schatten umhüllt war.


    "Kaledor, Sohn des Gesteins, dein Schicksal ruht in den Händen meines Vaters", begann Aranthir, seine Stimme ein leises Echo in der Dunkelheit. "Eldrin Ildanach bietet dir einen Pfad, der nicht zum schnellen Tod führt, sondern zu einem, der durch die Pforten der Erkenntnis geht."


    Kaledor richtete sich auf, sein Blick so kalt und hart wie das Eis, das aus den nördlichen Meeren manchmal bis an die Ufer von Caltharnae trieb. "Aranthir, dessen Blut mit dem meinen im Streit liegt, sprich klar. Was für ein Pfad soll das sein, der nicht in den Tod, sondern in die Qual führt?"


    "Mein Vater sieht in dir trotz deiner niederen Abstammung einen Wert für unsere Experimente. Dein Tod würde nicht nutzlos sein, sondern ein Beitrag zu unserem Wissen", erklärte Aranthir.


    "Nein", entgegnete Kaledor mit fester Stimme. "Ich werde nicht als Versuchsobjekt in den Händen derer enden, die meine Familie vernichtet haben. Ich war ein treuer Turmwächter. Ich verlange einen Tod, der schnell und ehrenvoll ist, nicht einen, der über Tage oder Wochen zieht, in denen ich von den Hexern zu Tode gefoltert werde."


    Aranthir trat näher, seine Augen suchten die Wahrheit in Kaledors Gesicht. "Es gibt keinen Ruhm im Tod, Kaledor. Doch es könnte einen Zweck geben, selbst in den dunkelsten Stunden."


    "Mein Zweck war es, zu wachen, und nun ist es, zu sterben. Aber nicht so", sagte Kaledor und seine Worte klangen endgültig. "Ich lehne das Angebot ab."


    Aranthir, dessen Herz von Zweifeln und Ängsten geplagt war, stand vor Kaledor, der stolz und unbeugsam in seiner Zelle verharrte. "Kaledor, ich stehe vor einer Wahl, die schwerer wiegt als die Kronen der Hexerfürsten", begann Aranthir zögerlich. "Ich muss dir vertrauen, obwohl alles in mir sich dagegen sträubt."


    Kaledor richtete sich auf, sein Blick fest auf Aranthir gerichtet. "Warum solltest du mir vertrauen, Aranthir? Ich bin dein Gefangener, und mich erwartet der Tod durch die Hand deiner Sippe."


    "Weil ich du uns gewarnt hast und weil ich deiner Warnung Glauben schenke. Die Zeichen sind unmissverständlich, irgendetwas passiert, und auch die Hexer ahnen es. Wir haben keine Kentnisse der Natur, aber Kenntnisse der Magie, und uns liegt eine verbotene Prophezeiung vor. Allein damit, dass ich sie erwähne, bin auch ich todgeweiht. Du besitzt nun ein Wissen, dass mich umbringen kann. Bist du nun bereit, mit mir zusammenzuarbeiten?"


    "Ich bin bereit, dir zuzuhören. Alles Weitere sage ich dir hinterher."


    "Gut", flüsterte Aranthir. "Eine Katastrophe kommt auf uns zu, eine, die Thalas'Enara zu verschlingen droht." Seine Stimme klang nun fester. "Die Prophezeiung stimmt mit dem überein, was du sagst. Und trotzdem wollen mein Vater und die anderen Hexer es nicht wahrhaben. Sie glauben, ihre Macht würde genügen, doch sie könne noch nicht einmal verhindern, dass der Ascheregen aufhört. Stattdessen wird er immer dichter. Ich kann nicht tatenlos bleiben, auch, wenn es meinen Tod bedeutet. Und darin sind wir uns beide sehr ähnlich, ganz gleich, was uns ansonsten trennt."


    Kaledor lauschte und das Leben schien in seine eisblauen Augen zurückzukehren. "Was ist dein Plan, Aranthir? Was erwartest du von mir?"


    "Ich will dich nicht foltern, noch will ich deinen Tod", gestand er, während er sich mithilfe seiner magischen Gabe vergewisserte, dass niemand ihre Unterhaltung belauschte. "Ich will dich retten, Kaledor, weil du kein Verbrechen begangen hast und weil du sehr viel über die Natur weißt. Ich will, dass wir gemeinsam das Volk auf die bevorstehende Katastrophe vorbereiten, bevor die Dunkelheit hereinbricht."


    Kaledor nickte langsam. "Und was erwartest du als Gegenleistung dafür, dass du mich rettest, Aranthir? Warum solltest du, ein Hexer, das Leben Mannes retten, der dem Blute nach eigentlich Hexenjäger sein sollte?"


    "Weil es nicht um Hexer oder Hexenjäger geht, sondern um das Volk, das wir beide zu schützen geschworen haben", entgegnete Aranthir . "Wir müssen zusammenarbeiten, um Thalas'Enara zu retten, auch wenn es bedeutet, dass wir unsere alten Fehden begraben müssen."


    Kaledors Gestalt schien größer zu werden in der Dunkelheit der Zelle. "Dann lass uns beginnen, Aranthir. Lass uns das tun, was notwendig ist. Ich war ein Turmwächter von Thalas'Enara, und ich werde es wieder sein, auch wenn man mir meine Rüstung und meine Lanze genommen hat."


    "Beides wirst du zurückerhalten und noch mehr, wenn wir getan haben, was getan werden muss."


    Durch das Gitter reichte Aranthir Kaledor die Hand. So verbündeten sich der Hexer und der Hexenjäger, vereint durch eine gemeinsame Sache, die größer war als ihre eigene Geschichte. Aranthir öffnete die Gittertür, löste die Kette von der Wand und führte Kaledor daran unter dem Hohngelächter der Turmwächter in seinen eigenen Turm. Kaledor biss die Zähne zusammen und schwieg, denn auch seine alten Kameraden wollte er retten. Und in den Tiefen der Nacht begannen sie, einen Plan zu schmieden, der das Schicksal von Thalas'Enara verändern sollte.


    Aranthir, der sich gegen seine eigene Familie stellte, riskierte nicht nur seinen Stand innerhalb der mächtigen Hexerfamilie, sondern auch sein Leben. Die Hexer beobachteten jeden Menschen in der Stadt mit Argusaugen, und die Magie, die in ihren Adern floss, konnte leicht verborgene Pläne aufdecken. Jedes Flüstern, jeder Schritt musste mit größter Sorgfalt bedacht werden, denn eine unbedachte Regung konnte den Verdacht der Hexer auf Aranthir und Kaledor lenken.


    Aranthir, der in der Kunst der Täuschung geübt war, wob ein Netz aus Lügen und Halbwahrheiten, um die Vorbereitungen zu verbergen. Kaledor, dessen Leben frei von Magie war, beriet Aranthir, durfte jedoch selbst nicht zu viel erfahren. Als Eldrin misstrauisch wurde, weil die Ergebnisse der Forschung auf sich warten ließen, war Kaledor, der Aranthir bat, an ihm zum Schein einige Experimente vorzunehmen, um den alten Hexenmeister zu beruhigen. Aranthir zögerte. In einer Gesellschaft, die von Lügen, Machtgier und Intrigen durchdrungen war wie von einem schädlichen Pilz, war Kaledor sein einziger Freund geworden. Doch Kaledor überzeugte ihn, dass die Sicherheit von Thalas'Enara wichtiger war als seine Gesundheit, und mit schwerem Herzen begann Aranthir ein Forschungsprojekt an Kaledors Körper und Geist.


    Mit Zaubern, die aus den ältesten Büchern stammten, und Worten, die in den dunkelsten Nächten geflüstert wurden, versuchte Aranthir, die Mauern zu erschüttern, die Kaledors Gedanken schützten. Er setzte ihn körperlichen Qualen aus, die das Fleisch forderten, und seelischen Torturen, die den Geist zu brechen drohten. Doch bei jedem Schritt, bei jeder Formel, die er sprach, fühlte Aranthir das Gewicht seines schlechten Gewissens. Kaledor, dessen Körper von Narben gezeichnet war und dessen Geist von den Stürmen der Qual gepeinigt wurde, blieb unerschütterlich. Kein Zauber, kein Gift der Worte konnte die Festung seines Willens einnehmen. Aranthir stand vor einem Rätsel, das er nicht lösen konnte. Warum war Kaledor immun gegen seine Magie? War es die Reinheit seines Herzens? Oder war es die Stärke eines Geistes, der durch Leid und Verlust gehärtet wurde? Oder war er selbst einfach zu schwach? Aranthir konnte es nicht sagen. Trotz all seiner Macht, trotz der Tiefe seines Wissens, fand er in den Nächten seiner Forschung keine Antwort.


    Derweil fanden die Handwerker der Stadt kaum noch Schlaf, um ein Werk zu vollbringen, das so gewaltig war wie die Hoffnung, die Aranthir und Kaledor in ihren Herzen trugen. Mit Peitschen trieben die Aufseher die Handwerker zur Arbeit an. Stabiles Holz aus den Wäldern von Taurea wurde geschlagen, mächtige Stämme, die Jahrhunderte überdauert hatten. Sie wurden zu Planken geformt, so stark und breit, dass sie den Zorn des Meeres standhalten konnten. Die Zimmerleute arbeiteten Tag und Nacht. In den Webstuben wurde festes Segeltuch gewebt. Die Weberinnen arbeiteten, bis ihnen die Finger bluteten, um riesige Segel zu schaffen, welche die Winde einfangen konnten, die über das Bittermeer wehten. Zehntausende Schiffsnägel aus dem härtesten Eisen wurden in den Schmieden geschaffen. Sie würden in der Lage sein, die Planken fest zusammenzuhalten, selbst wenn das Meer in seinem Zorn um sich schlagen würde. Taue aus den Fasern von Flachs wurden gedreht, stark und doch geschmeidig, um die Segel auch im stärksten Sturm zu halten. Die Schiffsbauer setzten die Masten ein. Die Teersieder, deren Gesichter vom Rauch geschwärzt waren, trugen den Teer auf die fertigen Schiffe, eine schützende Schicht gegen das eindringende Meer. Schiff um Schiff rollte vom Stapel in die bitter schmeckenden Fluten, die am Strand giftigen Schaum hinterließen. Schwarz und groß wie Ungeheuer lag die Flotte vor dem Fischerhafen vor Anker.


    Als Vorwand dienten Aranthir die leeren Fischgründe, die er durch eine größere Anzahl an Schiffen und Booten kompensieren wollte. Doch wie weit die Fischer auch hinausfuhren, es waren kaum noch lebende Fische zu finden. Die Schwärme hatten ihre Wanderungen geändert und jeder Fisch, der verblieben war, trieb bleich und aufgedunsen mit dem Bauch nach oben unter den schmutzigen Wellen.


    Doch sie arbeiteten gegen die Zeit, denn das Wetter wurde immer schlimmer. Stürmische Böen trugen den Staub der Verwüstung mit sich und rissen die Blätter von den Bäumen. Es gab keinerlei Vögel mehr, weder lebende noch tote. Sie schienen einfach verschwunden zu sein.Die Flüsse schwollen an und traten über die Ufer. Die malerischen kleinen Dörfer, die um Thalas'Enara gelegen hatten, wurden fortgerissen wie Spielzeuge. Für die Tiere des Wassers war ihr Element zur Todesfalle geworden. In Todesangst sprangen sie an Land, um dort zu verenden. Die Leiber riesiger Meeresungeheuer verfaulten an den Stränden, inmitten von millionen silberner Fische, die das Ufer in einen stinkenden Fischfriedhof verwandelten.


    Entsetzt stellte Aranthir fest, dass nachts weder Sterne noch die beiden Monde noch zu sehen waren. Der Tag der Prophezeiung war gekommen. Er rief die Menschen zum Hafen, um die schwarze Flotte zu besteigen. Nun konnte er seinen Plan nicht länger verheimlichen und alle Augen der Hexer richteten sich auf ihn. Da erbebte die Erde stärker als je zuvor, und Hexer wie Gewöhnliche stürzten ohne Unterschied zu Boden, als der Zorn der Natur sie in die Knie zwang. Und die Türme der Hexer, die sich als Herrscher über Leben und Tod wähnten, umtost von schwarzen Wolken, schwankten. Erst jetzt begriffen sie, dass Kaledor die Wahrheit gesagt hatte, und dass das Ende von Thalas'Enara gekommen war.


    Aranthir Ildanach, Hexerfürst von Thalas'Enara


    In den Annalen von Thalas’Enara wird berichtet, dass in den Tagen, als das Unglück über die Stadt hereinbrach, die Erde bebte und der Himmel sich verdunkelte. Caltharnae brach auf wie ein feuriger Schlund und spieh Tod und Verderben. Eine Druckwelle giftiger Gase rollte über das Land. Glühende Lavabrocken hagelten wie Kometen auf das Land nieder und steckten die Wälder und Wiesen in Brand. Und dann regnete es Asche, dass man kaum die Hand noch vor Augen sah. Der Turm des Hexerfürsten Eldrin Ildanach, begann zu schwanken. Er rief seine Getreuen zusammen, sie wälzten Bücher, sie schleuderten Zauber hinab in den Abgrund unter der Oberfläche der Welt, denn sie ahnten, dass die Macht in der Tiefe, die ihnen ihre Gabe verlieh, entfesselt worden war und sich gegen sie wandte.


    Doch so sehr sie die Ursache in ihren Taten suchten und so sehr sie dem Dunkel drohten, es verfluchten oder anflehten, sie zu verschonen, so nutzlos war ihr Trachten, denn eine Maschine kennt keine Moral. Es waren die Mächte der Tektonik, die in diesen Tagen sprachen und einen Teil der Maschinen zerstörten und eine Katastrophe auslöste, für die den Menschen ein Name fehlte. Alles, was sie sahen, glich einem gewaltigen Beben und dem Ausbruch etlicher Vulkane gleichzeitig.


    Eldrin Ildanach, der Hexerfürst, stand auf der höchsten Spitze seines Turmes, umgeben von seinen Zauberbüchern und Artefakten der Macht. Doch nicht einmal seine große Weisheit konnte das Unvermeidliche abwenden. Mit einem letzten, donnernden Krachen gab der Turm nach, und der Hexerfürst fiel mit ihm in die Tiefe. Unter einem gewaltigen Tosen stürzte das höchste Gebäude von Thalas'Enara in sich zusammen. Die Steine begruben jeden, der sich mit ihm darin aufgehalten hatte. Inmitten des Unwetters hielt die ganze Stadt für einen Moment den Atem an. Als der Staub sich legte, war von Eldrin Ildanach nichts mehr übrig als eine Erinnerung, die im Wind verwehte.


    Aranthir, sein Sohn, der bis dahin im Schatten seines Vaters gestanden hatte, fand sich plötzlich als Herrscher wieder, und er sollte der letzte Hexerfürst des versinkenden Kontinents sein. Die Hexer von Thalas’Enara, die einst seinem Vater die Treue geschworen hatten, wandten sich nun hilfesuchend an ihn, wartetend auf seinen Befehl. Vielleicht hofften sie, sein Vater hätte ihn mit einem geheimen Plan betraut, doch der einzige Plan, den er hatte, war von ihm selbst und von Kaledor.Aranthir wusste, was getan werden musste.


    Mit einer Stimme, die das Beben der Erde übertönte, befahl er: “Die Zeit ist gekommen, die Schiffe zu besteigen, die wir vorbereitet haben. Lasst uns fliehen, denn Thalas’Enara ist verloren.”


    Die Hexer, die seine Worte hörten, erkannten die Wahrheit in ihnen und eilten, um das Volk zur Flucht zu rüsten. Als die Hexer und die Gewöhnlichen zum Hafen rannten, merkte Aranthir, dass jemand Wichtiges fehlte.


    Währenddessen durchsuchte Kaledor, der Hexenjäger, die Trümmer des Turmes. Um ihn herum schlugen glühende Lavabrocken ein. Die Luft biss in seinen Lungen, er hatte sich ein Tuch vor Mund und Nase gezogen, doch ihn quälte bellender Husten. Seine starken Hände, die einst das Schwert geführt hatten, rollten Stein um Stein beiseite, denn er erinnerte sich der Worte Aranthirs. Immer näher kam er dem Leuchten, bis seine Finger nach dem Zepter griffen, das unter den Steinen verborgen gelegen hatten. An dessen Spitze schimmerte der Kristall der Vorsehung, das Symbol der Macht der Hexerfürsten, das einst Eldrin Ildanach gehörte. Kaledor kam wieder auf die Beine, stolperte, als die Erde erneut bebte, und stürzte. Immer wieder musste er sich aufrappeln, um vorwärts zu kommen, während er hörte, wie Aranthir im Sturm seinen Namen schrie.


    Der Kristall leuchtete wie eine Fackel in der Dunkelheit. Kaledor hob das Zepter, um etwas zu sehen und um Aranthir zu zeigen, dass er nahte, und das Licht des Kristalls brach sich in den Splittern der berstenden Fenster, als die Stadt langsam zu versinken begann.

    Die Gewöhnlichen und die wenigen überlebenden Hexer standen vor den schwarzen Schiffen, die auf den Wellen bockten wie störrische Pferde. Nicht jeder wagte es, ein Schiff zu betreten, denn sie kannten nichts als Caltharnae und wussten nicht, ob es irgendwo anders Land gäbe. Manch einer blieb zurück, um gemeinsam mit Thalas'Enara zu versinken. Die anderen setzten die Segel, um dem Sturm zu trotzen. Die Winde heulten und die Wellen schlugen gegen die Kiele der Schiffe, als wollten sie sie zurück in die sterbende Stadt ziehen. Es erforderte eine hohe nautische Kunst, gegen sie anzusegeln. Ein Hexer hatte den Plan gefasst, doch es waren die Sterblichen, auf deren Künste jetzt ankam. Mit dem Mut, der aus der Verzweiflung geboren wurde, bestiegen die Menschen die Schiffe, ihre Hände fest um die Ruder geschlossen, die Segel gebläht, ihre Augen voller Tränen, die sich mit dem Regen vermischten. Sie sangen Lieder ihrer Vorfahren, um ihre Herzen zu stärken, während die Schiffe sich ihren Weg durch die Wellen brachen. Ihre Stimmen erhoben sich über das Donnern des Sturms, ein Chor des Lebens inmitten des Todes.


    Hinter ihnen versank Thalas'Enara, die Türme fielen und die Mauern brachen. Lava und Meer vermischten sich zischend und brodelnd. Wer sich noch auf Caltharnae befand, wurde von den kochenden Fluten verschlungen. Und die Steine, die für die Ewigkeit gebaut wurden, verschwanden in den dunklen Tiefen des Meeres und mit ihnen all die Geräte, Artefakte und Bücher über die grausamsten Formen der Magie.


    So kämpften die Menschen von Thalas'Enara gegen den Sturm, mit den schwarzen Schiffen als ihren Gefährten, und in ihren Herzen trugen sie die Hoffnung, dass sie eines Tages wieder ein Zuhause finden würden. Vor den Menschen lag die Unendlichkeit des Ozeans, ein neuer Anfang, der jenseits des Horizonts wartete. Mit jedem Ruderschlag ließen sie die Vergangenheit hinter sich. Sie segelten in eine Zukunft, über die das Zepter bisher geschwiegen hatte. Das Leuchten des Steins war verblasst, der Kristall der Vorsehung leblos wie Glas.


    Als das Meer ruhiger wurde, setzte Aranthir sich erschöpft neben Kaledor, doch niemand sagte etwas. Zu tief saß der Schock und noch immer wussten sie nicht, ob sie überleben würden. Alles, was sie noch am Leben hielt, war die Hoffnung, dass irgendwo jenseits des Horizonts ein neues Zuhause auf sie warten würde.


    Schwarzer Regen


    Nach dem Aschefall kam der schwarze Regen, und wenngleich er leise und für angenehm kühl über die staubige Haut rann, lauerte in ihm ein noch größeres Verderben.



    [...]

    Das Buch der Befreiung

    Das dritte Buch der Asche, das man das Buch der Befreiung nennt, berichtet davon, wie die Thaldrax aus dem dunklen Taudis steigen und die Oberfläche von Asamura besiedeln. Es berichtet auch von den letzten Tagen der sterbenden Yaigh, doch im Kern ist dieses Buch ganz den Thaldrax gewidmet. Nicht alle von ihnen zieht es hinaus in die unbekannte Fremde, die an der Oberfläche wartet. Einige bleiben im Untergrund und begründen die erste und einzige bekannte Hochzivilisation des Taudis.


    Vom Tod der Götter


    Als die ersten Strahlen des neuen Morgens durch die Spalten des Taudis brachen, führte Nylaxor seine Leute durch die gewundenen Pfade des Labyrinths nach oben. Ihre Augen, an die Dunkelheit gewöhnt, brannten im grellen Licht, doch sie blickten unerschrocken auf die Überreste einer Zivilisation, die einst als unbesiegbar galt. Sie kamen an den sterbenden Städten der Yaigh vorbei, wo die einst prächtigen Bauten nun verfielen und die Luft von einem süßlichen Verwesungsgeruch erfüllt war.


    Der einstige Herrscher der Welt lag verlassen auf dem Boden seiner zerfallenden Stadt, sein Körper von Pilzen überzogen, die in den feuchten Ruinen gediehen. Nylaxor fiel auf, dass alle Leichen einzeln lagen. Die Yaigh waren allein und ohne Beistand gestorben. Die Frauen, die nur kurze Hornstacheln auf Kopf und Rücken besaßen, lagen da, als wären sie in einen tiefen Schlaf gefallen, aus dem es kein Erwachen gab. Die Spalten auf der Unterseite ihrer kurzen Schwänze, die einst das Leben hervorgebracht hatten, waren nun die Heimstätte für die Pilze, die daraus wuchsen und das Ende eines Zyklus verkündeten.


    Er fand einen Yaigh, in dem noch Leben war. Sein Körper hattejegliche Kraft verloren. Was unter dem grauen Pilzteppich noch sichtbar war, wirkte mager und krank. Die einst bunten Farben der schuppigen Haut waren verblasst. Die langen, biegsamen Hornstacheln, die über ihr Leben hinweg weitergewachsen waren, ragten wie verlassene Türme aus einer Landschaft des Verfalls heraus, umgeben von den Ranken der Pilze. Der muskulöse Schwanz lag schwer und kraftlos auf dem Boden, während die Pilze ihn umschlangen und langsam in ihre eigene Form übergingen.


    Entsetzt betrachteten die Thaldrax das, was von dem Mann noch übrig war. Man sah an den Kratzspuren auf seinem Körper, dass er versucht hatte, die Pilze abzukratzen, doch sie wuchsen offenbar immer wieder nach.


    Nylaxor betrachtete den todkranken Yaigh. "Sieh, wie die Mächtigen gefallen sind", murmelte er leise. "Einmal waren sie Götter in unseren Augen, unerreichbar in ihrer Pracht. Doch nun liegen sie im Staub, und die Natur holt sich zurück, was ihr gehört."


    Der Yaigh, dessen Augen trüb waren, blickte schwach zu Nylaxor auf. Seine Stimme war ein Hauch, der kaum die Luft bewegte. "Wir haben die Sterne berührt", flüsterte er.


    Nylaxor spürte ein tiefes Mitgefühl. Jeder Yaigh, den er gesehen hatte, war allein gestorben, doch diesem hier wollte er Beistand leisten, so gut er es vermochte. "Man ruft mich Nylaxor", sagte er. "Wie ruft man dich?" Er hockte sich zu ihm.


    "Nava", sagte der Yaigh mit schwacher Stimme.


    "Ihr habt die Sterne berührt?", fragte Nylaxor. Er wollte versuchen, mit dem Sterbenden über etwas zu sprechen, das ihm viel bedeutete. "Wie ist das zu verstehen? Sie schimmern doch unerreichbar hoch am Himmel."


    Navah seufzte. Er benötigte eine Weile, um Worte zu finden, die Nylaxor verstehen konnte. "So wie der Wind, der über die Hügel streicht und die Blätter zu fernen Ländern trägt, so haben die Yaigh gelernt, auf dem Atem des Kosmos zu reisen. Es gibt Sonnenwinde. Unsere Sternenschiffe sind nicht wie die kleinen Holzkähne, die eure unterirdischen Flüsse hinabgleiten. Es sind gewaltige Maschinen, gewachsen aus dem Stoff des Lebens und genährt von der Essenz der Sterne. Und sie können fliegen. Die Sternenschiffe ernähren ihren Piloten, der die meiste Zeit schläft, denn eine Reise zu den Sternen dauert viele Jahre."


    "Sterne sind Leuchtfeuer, die von unseren Ahnen entzündet worden", wandte Nylaxor ein. "Und das Alldunkel ist wie ein schwarzes Meer, auf dem die Toten sich verirren ohne die Lichter."


    "Nein, Unwissender", sagte der Yaigh matt. "Dort sind keine Toten. Wer tot ist bleibt dort, wo er stirbt, und seine Leiche verwest, das ist alles. Sterne sind Feuerbälle, die tausendfach so groß sind wie Asamura. Jeder Stern ist das Herz einer Galaxie. Weißt du, was das ist?"


    Nylaxor schüttelte den Kopf.


    "Eine Galaxie ist wie ein Tanz vieler Welten, die sich im Reigen um das Licht ihres Sterns drehen. Asamura ist eine solche Welt, eine von vielen, die sich um den Stern Alvashek drehen. Alvashek, der uns Licht und Wärme schenkt, aber auch die Energie, mit der wir unsere Maschinen betreiben. Alvashek ist unsere Sonne."


    "Und die anderen Welten?", fragte Nylaxor, der nicht wusste, was er von all dem halten sollte. Die meiste Zeit glaubte er, dass der Yaigh wirr sprach, den Verstand vernebelt vom nahenden Tod.


    "Jede Welt hat ihre eigenen Legenden, ihre eigenen Helden und Tragödien", erklärte Nava. "In den Tiefen der Galaxien gibt es Planeten der Eisstürme, der fliegenden Inseln und sich windender Wälder. Es gibt Zivilisationen, die vom Licht leben, und solche, die im Dunkel der ewigen Nacht verborgen sind. Asamura ist winzig und bedeutungslos, zu klein für die Größe der Yaigh. Unsere Wiege und unser Gefängnis - bis wir ein Sternenschiff betreten. Dann brechen wir auf in die Unendlichkeit, die unsere wahre Bestimmung ist."


    "Aber wenn es so viele Welten gibt und so viele Geschichten, was ist dann unser Platz in dem Ganzen?"


    "Mein Platz ist da oben, um die Geheimnisse der Sterne zu ergründen, die Wege zwischen den Welten zu finden und all ihr Wissen zu sammeln, damit wir es nutzen können. Euer Platz war es, uns zu dabei zu helfen. Nun habt ihr keinen Platz mehr." Der Blick des Yaigh zeigte kein Gefühl, als er das sagte. Für ihn waren die Thaldrax ohne ihre Herren verloren.


    Fragend hob Nylaxor die Schultern. "Warum bist du dann noch hier, Nava, verlassen in den Ruinen deiner Welt, während wir Thaldrax gesund vor dir stehen?" Seine Stimme war frei von Spott. Er versuchte lediglich, die Gedanken des sterbenden Yaigh zu begreifen, die für ihn merkwürdig klangen. "Warum hast du nicht das Heil in den Sternen gesucht, auf den Schiffen, die ihr so stolz durch das All gesteuert habt?"


    Der Yaigh antwortete mit einer Stimme, die schwach war, doch nun hörte man die Verachtung, die er für die Thaldrax empfand. "Du verstehst nichts, einfältiger Sklave. Solche Maschinen sind teuer und müssen im Verlauf vieler Jahre hergestellt und aufwändig gewartet werden. Es gibt deshalb nur wenige Sternenschiffe. Nicht jeder Yaigh hatte das Privileg, auf einem Sternenschiff zu fliehen. Nur die ruhmreichsten unter uns besaßen eins, und sie wählten sorgfältig aus, wen sie in die Unendlichkeit mitnehmen würden."


    Nylaxor betrachtete den sterbenden Yaigh voll Mitgefühl. "War denn niemand unter deinem Volk, dem du wichtig warst? Hat dich niemand gemocht, dass sie dich einfach zurückließen, obwohl sie wussten, dass es deinen Tod bedeutet?"


    Nava richtete sich mühsam auf, seine Augen funkelten schwach im fahlen Licht. "Wichtig? Gemocht? So reden nur Thaldrax. Wir kennen keine Zuneigung, so wie ihr sie versteht. Wir sind kaltblütig, nicht nur im Fleisch, sondern auch im Geist. Wir sind Yaigh!"


    "Und doch", fuhr Nylaxor fort, "musst du doch etwas empfunden haben, als sie ohne dich in die Sterne aufbrachen?"


    Ein kaltes Lächeln umspielte die Lippen des Yaigh. "Vielleicht eine Spur von Neid, dass ich nicht teilhaben konnte an ihrem Ruhm. Gefühle sind für uns nur hinderlich. Sie stören, wir brauchen die meisten davon nicht und beschränken uns darum auf wenige."


    Nylaxor nickte langsam. "So kennst du selbst im Angesicht des Tode, nicht die Wärme einer Gemeinschaft. Es ist eine traurige Existenz, die ihr gewählt habt."


    Der Yaigh sah Nylaxor in die Augen. "Es ist die Existenz, die wir kennen. Die Existenz der Yaigh."


    Nylaxor neigte sein Haupt leicht zur Seite, als er erwiderte: "Dann will ich versuchen, in deinen Begriffen zu sprechen, Nava. Hast du niemanden gefunden, der dich als nützlich genug erachtete, gerettet zu werden?"


    Ein bitteres Lachen entwich den Lippen des Yaigh. Die spitzen Zähne in seinem Maul, die leicht nach innen geneigt waren, waren von einem feinen Pilzgeflecht umgeben, das sich zwischen ihnen hindurchschlängelte. "Wenn es darum geht, sich selbst zu retten, ist jeder Yaigh sein eigener Gott. Niemand wollte mich retten, denn für sie war ich nicht mehr als ein weiterer Esser. Es ist eine Frage der Vorräte, des Platzes und des Treibstoffs, reine Mathematik. Wenn man alles durchrechnet, bin ich nutzlos. Und das ist doch richtig, oder nicht?"


    "Yaigh," sprach Nylaxor mit sanfter Stimme, "die Sterne scheinen für jeden und sind für alle Wesen da. Egal, ob sie Leuchtfeuer oder Feuerbälle sind. Dieser Verfall sieht aus, als würde er schon seit Jahren stattfinden. Warum hast du die Sterne also nicht schon vorher bereist und bist dann dort geblieben?"


    Der Yaigh hustete schwach, ein Geräusch wie das Knistern trockener Blätter. "Ich habe es doch schon erklärt. Die Sterne", keuchte er, "waren für die Ruhmreichen, die Auserwählten. Ich ... ich war nie einer von ihnen. Mein Volk... wir bauten Schiffe, die das Alldunkel durchqueren konnten, und ich wäre so gern auf den Sonnenwinden gesegelt, um fremde Welten zu entdecken, aber ich ... ich wurde zurückgelassen wie ... wie ..."


    Nylaxor betrachtete den Yaigh, dessen Körper fast vollständig von den Pilzen übernommen war. "Auch wenn du es nicht aussprichst, weil dein Stolz es verbietet, glaube ich, dass du trauerst. Eure Schiffe mögen in den Sternen schweben, aber euer Vermächtnis wird hier verrotten. So endet also eure Geschichte, nicht mit einem ruhmreichen Abgang, sondern mit dem langsamen Tod hier auf Asamura."


    Der Yaigh richtete sich ein letztes Mal auf, seine Stimme ein Hauch von Trotz: "Sprich nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst! Auch im Angesicht des Todes bleibt die Größe der Yaigh unbestritten. Wir haben die Sterne berührt. Und das wird keine Krankheit je ändern."


    Nylaxor tat es leid, dass er den Sterbenden verärgert hatte. Der Yaigh sprach bereitwillig mit ihm, obwohl unverkennbar war, dass er in seinen letzten Zügen lag. Vielleicht war er doch froh, nicht allein zu sein, auch wenn er es nicht zugab. So beschloss Nylaxor, ihm noch ein wenig länger Gesellschaft zu leisten. Es war alles, was er tun konnte.


    "Ich frage mich, gab es nicht einen Wunsch, der tiefer lag als das Streben nach Ruhm? Etwas, das du mehr als alles andere ersehntest?"


    Dem Yaigh fielen immer wieder die Augen zu, doch nun öffnete er sie wieder. "Ja. Ruhm war für mich nur die Währung für ein Sternenschiff. Aber die Sterne", flüsterte er mit einer Stimme, die fast wie die eines Thaldrax klang. "Sie waren mein größter Wunsch. Zu reisen, zu entdecken ... zu leben. Ich habe so hart dafür gearbeitet, auf so vieles verzichtet und so lange gelitten. Aber mein Volk ... wir sehen nicht das Individuum. Wir sehen nur das Ganze, und ich ... ich war nur ein bedeutungsloser Teil davon. Am Ende war alles umsonst."


    Der Yaigh richtete sich auf, eine letzte Anstrengung, die seine Stimme mit einer seltsamen Dringlichkeit füllte. "Die Sterne rufen mich, doch ich kann ihnen nicht folgen. Ich bin gefangen in einem Körper, der versagt, auf einer Welt, die zum Untergang verdammt ist. Es wird immer kälter und trockener, wir haben es berechnet. Alles wird sterben, nicht nur die Yaigh."


    Nylaxor kannte nicht die Vorstellungen, welche die Yaigh vom Jenseits hatten, ob sie überhaupt an irgendetwas glaubten. Es schien nicht so und darum wusste er keinen Trost. Aber er wollte auch nicht schweigen. "Selbst jetzt, in deinen letzten Momenten, kannst du die Reise antreten", sagte Nylaxor sanft. "Es ist nie zu spät, um zu träumen, Yaigh."


    Ein Schatten huschte über das Gesicht des Yaigh. "Ein Traum ... das ist alles, was mir bleibt. Wie erbärmlich. Ich hätte die Weiten des Alls durchqueren können. Die Chance ist verstrichen."


    "Dein Volk mag dich vergessen haben, aber deine Wünsche, deine Träume, sie sind echt", sagte Nylaxor. "Vielleicht wirst du in einer anderen Welt wiedergeboren, wo du frei sein kannst, die Sterne zu bereisen."


    Der Yaigh schloss seine Augen und ein leises Säuseln entwich seinen Lippen – das Echo eines Lachens, das nie gelebt hatte. "Vielleicht ... in einer anderen Welt. Ich will nicht hierher zurück."


    Mit diesen Worten sank der Yaigh zurück in sein Bett aus grauen Pilzen. Traurig sah Nylaxor zu, wie die Atemzüge des Yaigh schwächer wurden. "Ruh nun, Yaigh, denn dein Kampf ist vorüber." Der Sterbende reagierte nicht mehr. So erhob sich Nylaxor und wandte sich ab, den sterbenden Yaigh seinem Schicksal überlassend. Er konnten ihm nicht helfen und manche seiner Gefolgsleute brachten ihre Sorge zum Ausdruck, selbst von dem Pilz befallen zu werden, wenn sie länger hier verweilten.


    So zogen sie weiter und ließen die sterbende Stadt hinter sich. Die Ära der Yaigh war unverkennbar vorüber. Was auch immer noch geschehen mochte, sie würden sich nicht wieder erholen. Nylaxor war bewusst, dass nun die Zeit der Thaldrax gekommen war, aus dem Schatten zu treten und ihre eigene Geschichte zu schreiben.


    Sie erreichten die Berge und Nylaxor blickte noch einmal hinab zu den sterbenden Städten. "Seht," sprach er, "die Götter, die wir so lange fürchteten, sind nicht mehr. Ihre Macht hat nachgelassen, ihre Städte fallen. Wir können ihnen nicht helfen und niemand ihres eigenen Volkes wird ihnen zu Hilfe kommen. So wollen wir niemals enden!"


    Die Thaldrax scharten sich um ihn. Sie hatten nicht erwartet, dass ihre einstigen Herren so enden würden – hilflos und verlassen. Doch Nylaxor wusste, dass dies der Lauf der Welt war; nichts war ewig, und selbst die Götter konnten fallen.


    "Lasst uns nicht in Trauer verweilen," fuhr Nylaxor fort, "denn dies ist der Beginn unserer Ära. Wir werden aus den Schatten treten und Asamura mit Leben füllen. Wir werden selbst lernen, Städte zu bauen und über uns hinauszuwachsen. Weder Kälte noch Trockenheit werden uns hindern, denn wir sind keine Echsen wie die Yaigh, sondern haben warmes Blut und Herzen, die fühlen."


    Mit diesen Worten führte Nylaxor die Thaldrax hinaus in die Freiheit. Sie traten in eine Welt, die sich veränderte, eine Welt, die nun ihnen gehörte. Und während Alvashek hoch oben am Himmel strahlte, begannen die Thaldrax, ihre eigene Geschichte zu schreiben.


    Vom Feuer, das tötet und heilt


    Nicht alle Thaldrax dachten in diesen Tagen wie Nylaxor. In den frühen Morgenstunden, als der Pilzgeruch schwer in der Luft hing, schritt Tharion ein junger Thaldrax, heimlich durch die verfallenden Straßen der Yaigh-Stadt. Angewidert und ängstlich betrachtete er die faulenden Strukturen, die einst Zeugnis einer blühenden Zivilisation waren. Nun bildeten sie den Nährboden für den tödlichen Pilzbefall, der sich unaufhaltsam ausbreitete.


    Tharion war in der Kunst des Feuermachens bewandert. Mit trockenem Reisig in der Hand und schwerem Holz auf dem Rücken näherte sich er sich dem Zentrum der Stadt. Ohne zu zögern legte er ein Feuer. Anfangs musste er beständig neues Holz heranschaffen, denn die Gebäude waren von der Fäulnis weich und feucht. Doch irgendwann loderten die Flammen hoch und heiß genug, um die Wände auszutrocknen. Die Flammen fraßen sich durch das organische Material, und bald stand die ganze Stadt in Brand. Dunkler Qualm stieg auf, stinkend und quellend, ein düsteres Zeichen am Morgenhimmel von Asamura.


    Nylaxor Lichtfinder, der den Rauch von seinem Lager aus sah, eilte herbei. Bald fand er Tharion, der beobachtete, wie die Flammen ihr Werk verrichteten. "Was hast du getan?", rief Nylaxor entsetzt. "Es gab noch lebende Yaigh darin! Nun müssen sie lebendig verbrennen!"


    Tharion drehte sich um, sein Gesicht ungerührt von der Hitze des Feuers. "Ich habe getan, was notwendig war. Der Pilzbefall hätte sich ausgebreitet. Ich dachte, die Oberfläche soll unsere neue Heimat werden? Die Yaigh waren ohnehin todgeweiht. Ich habe das für uns getan."


    "Du redest wie ein Yaigh. Das ist nicht unser Weg!", entgegnete Nylaxor heftig. "Jedes Leben ist wertvoll. Wir sind nicht wie die Yaigh! Wir sind keine Echsen!"


    "Und doch", erwiderte Tharion, "habe ich gerade bewiesen, dass wir genau so kaltblütig sein können. Sie waren die Herren dieser Welt und ich finde, sie sollten unsere Lehrmeister sein. Das hier ist nicht der Taudis, die Oberfläche ist voller Gefahren. Sie wussten, wie man ihnen beikommt. Wir müssen künftig genau so kalt sein, um zu überleben. Das ist die Realität."


    "Die Realität ist, dass du ein Mörder bist", rief Nylaxor aufgebracht.


    Die beiden standen sich gegenüber, während die Stadt zu Asche wurde. Es war ein Moment, der die Seele der Thaldrax spaltete. Nylaxor wandte sich ab, Trauer und Enttäuschung in seinem Herzen.


    Tharion Flammenzunge


    An diesem Tag kehrte im Lager Thaldrax keine Ruhe ein. Tharion wollte den Vorwurf, ein Mörder zu sein, nicht auf sich sitzen lassen. Er sah sich nicht als Mörder, sondern als Beschützer. Er rief seine Freunde zusammen und legte ihnen dar, dass er richtig gehandelt hatte.


    "Brüder und Schwestern", sprach Tharion mit fester Stimme, "wir haben heute gesehen, was geschieht, wenn man sich der Vergangenheit hingibt. Wir müssen vorwärtsblicken, um zu überleben. Manchmal heißt das, Wege zu beschreiten, die noch keiner vor einem gegangen ist. Vor uns liegt eine neue Welt. Kommt mit mir, und wir werden einen neuen Anfang suchen, fern von der Bürde unserer Traditionen. Einen Anfang, der unser Überleben sichert."


    Unter den Thaldrax fand er Gehör bei denen, die die Notwendigkeit der Stärke erkannten. Sie versammelten sich um ihn, eine kleine Schar, entschlossen und unerschrocken. Mit Blick nach Nordosten, wo die Berge von Asamura sich erhoben und das Meer, an dessen Ufer die Städte der Yaigh lagen, nur ein ferner Traum sein würde, rachen sie auf.


    Tharion wusste, dass sein Weg umstritten war, doch glaubte er fest daran, dass nur durch solche Opfer ihre Art überdauern konnte. Und auch, wenn die Yaigh nun ausstarben, hatten sie zuvor Jahrtausende in Ruhm und Reichtum gelebt und waren mit ihren Schiffen hinauf zu den Sternen geflogen. Das sprach in den Augen von Tharion dafür, dass sie keineswegs alles falsch gemacht haben konnten.


    Sie zogen durch Täler und über Hügel, immer weiter nach Nordosten, getrieben von der Vision einer neuen Heimat, in der sie nach ihren eigenen Regeln leben konnten. Tharion träumte von einer Gesellschaft der Starken, die nicht vor harten Entscheidungen zurückschrecken würden. Nach einer Reise, die viele Monde dauerte, gelangten sie erneut an ein

    Meer. Da verstand Tharion, dass sie das Ende ihres Weges erreicht hatten. Sie wichen wieder ein Stück vom Ufer zurück und ließen sich dann nieder. Hier, unter dem wachsamen Blick der Gipfel, begannen sie, ihre erste Siedlung zu errichten. Sie nannten sie Gorathul, was in der alten Sprache der Thaldrax "Festung des Willens" bedeutet. Im Laufe der folgenden Zeit fanden die Späher heraus, dass sie sich auf einem Subkontinent befanden und nannten ihn Durthak.


    Die Gesellschaft, die sich in Gorathul entwickelte, war geprägt von den Prinzipien Tharions: Stärke, Entschlossenheit und das Wohl der Gemeinschaft über das des Einzelnen. Auch das Streben nach Ruhm, das Tharion von den Yaigh übernahm, wurde fester Teil des Lebens. Die Thaldrax arbeiteten hart und lebten hauptsächlich von der Jagd. Ihre Gesellschaft war streng und hierarchisch, und diejenigen, die am stärksten waren, führten die anderen. Mit der Zeit wurden die Rituale und Traditionen der Thaldrax härter, und ihre Krieger wurden gefürchtet für ihre Unnachgiebigkeit und ihren Kampfgeist. Die Kinder, die in Gorathul aufwuchsen, kannten nur die Pflicht und das Streben nach Ruhm, und ihre Spiele imitierten die Kämpfe der Alten. Sie waren das Ergebnis der neuen Welt, die Tharion geschaffen hatte, eine Welt, in der die Stärke alles war und das Herz oft schweigen musste.


    Von Avinar


    Nylaxor ließ sich nicht weit von den alten Städten der Yaigh mit seinen Getreuen in einem jungen Wald nieder, den sie Avinar nannten. Der Landstrich war reich an alten Bäumen und durchzogen von klaren Bächen, wo das Leben in Fülle pulsierte und die Luft erfüllt war vom Gesang der Vögel. Die Thaldrax bauten ihre Häuser aus Holz, doch für jeden gefällten Baum pflanzten sie zwei neue. Sie jagten nicht für Trophäen, wie ihre Verwandten im Nordosten es sich angewöhnten, sondern nur, um zu überleben, und dankten jedem Tier, das sein Leben gab. Ihre Gesellschaft war eine der Gleichheit und des Mitgefühls, wo jeder Einzelne zählte und wichtig war.


    Unter Nylaxors Führung entwickelten die Thaldrax eine tiefe Verbindung zur Natur von Avinar. Sie lernten, die Sprache der Bäume zu verstehen und die Melodien des Windes zu interpretieren. Ihre Künstler schufen Werke, die die Schönheit ihrer Umgebung widerspiegelten, und ihre Weisen meditierten unter den Sternen, um die Geheimnisse des Universums zu ergründen.


    Doch viele Getreue waren Nylaxor nicht geblieben für sein nobles Werk, denn Tharion war nicht der Einzige, der einen Teil der Thaldrax mit sich nahm.



    Kharas


    In den Tagen, da die Flammen Tharions Zorn in den Straßen der Yaigh-Stadt wüteten und der Rauch wie ein dunkles Omen in den Himmel Asamuras stieg, wandelte Kharas, der von Forschergeist beseelte Thaldrax, unter den brennenden Überresten. Sein Herz war erfüllt von Zorn über Tharion, der das Feuer entfacht hatte, und von Unverständnis für Nylaxor, der ohne einen Blick zurück weiterzog und das Wissen der Yaigh dem Vergessen preisgab.


    Kharas, dessen Geist stets nach Erkenntnis dürstete, konnte nicht zulassen, dass die Geheimnisse der Yaigh in den Flammen verloren gingen. So sammelte er eilig Medikamente und kleine biotechnologische Geräte, die Wunderwerke einer untergehenden Ära, und barg sie vor dem sicheren Untergang. Seine Hände, geschickt und behutsam, griffen nach den Relikten der Yaigh, während um ihn herum die Stadt in Asche sank.


    Er fluchte leise bei dem Gedanken an Tharion, dessen Tat er als Verrat an der Zukunft empfand. Wie konnte man so blind sein und das Erbe der Yaigh zerstören, das, wenn auch von Feinden geschaffen, doch unschätzbaren Wert barg? Und Nylaxor, der Weise, der Gütige, wie konnte er fortziehen und all das Wissen, das in den Flammen verging, ignorieren?


    Kharas verstand nicht, wie man so gleichgültig gegenüber dem Verlust von Wissen sein konnte, das die Thaldrax über die Yaigh hinausheben könnte. Er sah in den Artefakten, die er rettete, einen Schlüssel zu neuer Macht und Weisheit, einen Weg, die Fehler der Vergangenheit zu meiden und eine bessere Zukunft zu gestalten. Er schwor, das Wissen der Yaigh zu bewahren und zu erforschen, auf dass es eines Tages dem Volk der Thaldrax nützen möge.


    Als er durch die lodernden Überreste der Yaigh-Stadt eilte, fand er den sterbenden Yaigh Nava, den Nylaxor Lichtfinder zurückgelassen hatte. Der Yaigh lag verlassen am Rande des Taudis, sein Atem flach und unregelmäßig, während die Flammen unaufhaltsam näher krochen.


    Kharas zögerte, denn der Anblick des von Pilzen befallenen Körpers war kein leichter, doch sein Wissensdurst war stärker. Er hob den schwachen Körper des Yaigh auf seine Schultern. Die Hitze des Feuers war erdrückend, und der Rauch nahm ihm fast den Atem. Kharas wusste, dass jede Sekunde zählte, und so kämpfte er sich seinen Weg durch die brennende Stadt, getrieben von der Notwendigkeit, das Leben und das Wissen zu retten. Die Flammen züngelten gierig an den Gebäuden entlang, als wollten sie das Vermächtnis der Yaigh für immer auslöschen. Kharas spürte die Hitze auf seiner Haut, das Knistern des Feuer. Doch er ließ sich nicht aufhalten. Mit jedem Schritt, den er tat, wuchs die Gefahr, dass das Feuer sie beide verschlingen würde.


    Schließlich erreichte er die Sicherheit des Taudis, jenes großen Höhlenlabyrinths, das einst den Thaldrax Schutz geboten hatte. Im kühlen Dunkel legte er den Yaigh behutsam nieder, fernab der verzehrenden Flammen. Und während die Stadt der Yaigh in Asche sank, begannen im Taudis zwei neue Geschichten. Es waren die Geschichte der Yakani, die aus Kharas und seinen Gefolgsleuten hervorgingen, die an anderer Stelle erzählt werden soll, und die Geschichte der Menschen, die nun in der Tiefe erwachten.


    Das Buch des Erwachens

    Das vierte Buch der Aschechroniken, das auch als Buch des Erwachens bekannt wurde, berichtet vom Erwachen der Menschen aus ihrem langen Schlaf, von ihrer Reise aus den Tiefen der Welt an die Oberfläche und wie sie Caltharnae urbar machten. Es erzählt auch von Thalas’Enara, dem Herzen Caltharnaes, vom Kristall der Vorsehung und von den Hexern, die ihre Macht nur anfangs zum Guten nutzten. Es endet mit dem Bericht über die Saat der Zwietracht, die in den Herzen der Menschen fruchtbaren Nährboden fand und das über ihr Schicksal für immer einen Schatten legte.


    Vom Dunkel


    In den Tiefen der Welt, verborgen vor dem Himmel und den Sternen, erwachten die ersten Menschen in einer Welt aus Stein und Dunkelheit. Sie stiegen aus den Kammern, in denen sie geschlafen hatten, doch ihr Gedächtnis war wie ausgelöscht, ein leeres Buch, bereit, neu beschrieben zu werden. Voll Erstaunen blickten sie sich um. Die Maschinen, die sie umgaben, waren stumm und rätselhaft. Sie hatten die Welt für das Erwachen der Menschen vorbereitet, das Land geformt und die Luft gereinigt, doch ihre Schöpfer konnten sich nicht an das Werk ihrer eigenen Hände erinnern. Die Maschinen standen nun still, ihre Aufgabe erfüllt, während die Menschen, die sie einst beherrschten, ratlos vor ihnen standen.


    Als sie die Räume untersuchten, fanden sie Proviant, Kleidung und andere Dinge, die eigens für sie bereitgelegt worden zu sein schienen. Sie verstanden, dass sie nicht für immer hier verharren konnten, denn die Vorräte würden zur Neige gehen. So begaben sie sich auf den Weg durch die zeitlose Dunkelheit.


    Die ersten Schritte der Menschen führten sie durch Höhlensysteme, die endlos zu sein schienen. Sie wanderten vorbei an unterirdischen Flüssen, die im ewigen Dunkel murmelten, und an kristallinen Formationen, die das spärliche Licht ihrer Grubenlampen fingen und in tausend Farben brachen. In den Tiefen stießen sie auch auf die Spuren einer primitiven Zivilisation, die einst hier gelebt hatte. Verlassene Werkzeuge und verwitterte Symbole sprachen von einem Volk, das lange vor ihnen die Geheimnisse des Untergrunds gekannt hatte. Doch auch diese Erinnerungen waren längst verblasst, und die Menschen zogen weiter durch die steinernen Eingeweide einer Welt, die sie nicht verstanden.


    Vom Licht


    Nach langer und beschwerlicher Reise erreichten sie die Oberfläche, wo das Licht des Tages ihre Gesichter berührte und die Welt sich vor ihnen öffnete. Auf sanften Hügeln erstreckten sich Wiesen, auf denen zahme Tiere grasten. Palmen wiegten ihre grünen Kronen im warmen Wind unter einem blauen Himmel. Die Menschen blickten zurück auf die dunklen Pforten, aus denen sie gekommen waren, und wussten, dass ihre Reise hier nicht endete, sondern gerade erst begonnen hatte. Ihre Vergangenheit lag hinter ihnen, verborgen in den Tiefen des Planten, doch ihre Zukunft lag offen da, unter dem weiten und freundlichen Himmel von Asamura.


    Mit Händen, die sowohl zum Schaffen als auch zum Halten gemacht waren, begannen sie, sich auf dem Land niederzulassen, dass sie Caltharnae nannten. Sie fanden einen Ort, wo das Land fruchtbar war und das Wasser klar, umgeben von schützenden Bergen und durchzogen von einem klaren Fluss. Hier gründeten sie Thalas’Enara, die Stadt des Himmelslichts, benannt nach dem Glanz der Sterne, der sich in ihren Gewässern spiegelten. Die ersten Steine von Thalas’Enara wurden mit Hoffnung und Entschlossenheit gelegt. Jede Mauer, die hinauf zum Himmel strebte und jeder Balken, der eines der Kuppeldächer trug, war ein Zeugnis des Willens der Menschen, sich ein Zuhause zu schaffen. Sie arbeiteten zusammen, ihre Lieder des Fleißes hallten durch die Täler, während sie die Stadt aus den Steinen Caltharnaes errichteten.


    Mit der Zeit wuchs Thalas’Enara zu einer prächtigen Stadt heran, deren Türme und Mauern im Sonnenlicht glänzten und deren Straßen und Märkte von einem Volk belebt wurden, das seine Wurzeln tief in die Erde von Caltharnae gesenkt hatte. Die Stadt wurde zu einem Knotenpunkt des Handels, der Kultur und des Wissens, ein Leuchtfeuer der Zivilisation auf einem Kontinent, der von so vielen Geheimnissen durchdrungen war.


    Von Thalas’Enara, dem Herzen Caltharnaes


    In den tiefen Weiten von Caltharnae, umgeben von den unruhigen Gewässern des Äthermeeres, erhob sich bald die Stadt Thalas’Enara, ein Juwel der alten Magie und Heimat der mächtigen Hexerfamilie Ildanach. Die Stadt war ein Wunderwerk der Architektur, erbaut aus dem lebenden Stein der Caltharnischen Klippen, deren Adern von magischem Erz durchzogen waren. Die Türme von Thalas’Enara ragten hoch in den Himmel, als wollten sie die Sterne selbst herausfordern, während ihre Fundamente tief in das Herz der Erde reichten, wo die Geheimnisse der Welt verborgen lagen.


    In diesen Tagen war Thalas’Enara in vier Stadtviertel geteilt, die das Wesen der Schöpfung und die Tiefe des Wissens ihrer Zeit widerspiegelten.


    Aelvengemur, das Viertel der Flüsterwinde, war der Ort, an dem die Lüfte so manches Geheimnisse mit sich trugen. Hier wohnten die Seher, deren Augen das Alldunkel durchdrangen und die Sprache der Sterne kannten. In ihren Türmen werteten sie die Muster in den Bewegungen der Himmelslichter aus und hielten Rat mit den Winden.


    Das Viertel der Flammenden Schmieden, bekannt als Brisingamen, war durchzogen vom beißenden Geruch der Schmiedefeuer, in denen Waffen und Artefakte von unermesslicher Macht geschaffen wurden. In der Kunst der Schmiede verschmolz das Handwerk mit Magie. Ihre Hallen waren erfüllt vom Klang des Hammers und des Ambosses, und das Feuer tanzte nach ihrem Willen.


    Yavamirè, das Viertel der grünen Gärten, war ein Ort der Stille und des Friedens. Hier hegten Druiden die Gärten, sprachen mit den Pflanzen und Tieren und erfuhren von ihnen die Geheimnisse des Wachsens und Vergehens. Ihre Gärten waren ein Spiegelbild vollkommener Harmonie und Schönheit, nach der sich die Herzen jedes Menschen im Grunde sehnte, und war sein Geist auch von Schatten umwölkt.


    Das Viertel der Stillen Wasser, Nyelmonan, war durchzogen von Kanälen und Brunnen, deren Wasser klar und rein waren. Die Wasserhexen wachten über diese Gewässer, welche den Menschen von Thalas'Enara Gesundheit und Heilung von Körper und Geist schenkten. Das Viertel versorgte die Stadt nicht nur mit reinem Trinkwasser, sondern bot mit heißen Dampfbädern und kühlenden Badebrunnen auch eine Vielzahl therapeutischer Angebote. Der Spiegelsee, ein Ort der Kontemplation, war ihr wichtigstes Heiligtum.


    Von den Hexern


    Bereits in den ersten Jahren von Thalas'Enara fanden einige Menschen heraus, dass sie mit einem Fluch belegt waren, der aus den Tiefen der Welt entstammte. Dort hielten die Maschinen das Klima in Harmonie und ihre Ströme berührten den menschlichen Geist. Manche Menschen reagierten empfindsam auf diese Ströme, die ihnen Kopfschmerzen bescherten und an ruhigem Schlaf hinderten. Einige sahen Bilder, die sie mit den Augen eines anderen wahrnahmen und spürten Gefühle, die nicht die ihren waren. Sie fühlten die Ströme des Lebens und des Bewusstseins, die durch die Adern und die Nervenbahnen flossen, und mit diesen Strömen kamen Fähigkeiten, die das Schicksal ihres Volkes für immer verändern sollten. Man nannte sie Hexer.


    Ihre Gaben waren jene des Geistes, gewoben aus dem unsichtbaren Stoff, der die Maschinen im Herzen Asamuras durchdrang. Ihr Erbe war tief mit den alten Kräften von Caltharnae verwoben. Sie brachten Wunder und Zauber hervor, die das Volk von Thalas’Enara in Staunen versetzten, aber auch Misstrauen schürte. So nutzten die Begabten ihre Kräfte, um zu heilen, zu schützen und die Harmonie in ihrer Welt zu bewahren, denn sie wollten nicht gefürchtet werden. Sie lasen die Gedanken der Verwirrten und boten Trost, sie teilten Erinnerungen des Glücks und vermehrten die Freude unter ihrem Volk. Man nannte diese Gabe Magie.


    In den frühesten Tagen, da die Maschinen von Asamura noch im Einklang mit den Liedern der Schöpfung sangen, wurde Magie mit Bedacht und Ehrfurcht genutzt. Doch die Macht, die in ihren Händen lag, war eine zweischneidige Klinge. Diejenigen, die stark im Geiste waren, wurden schwach im Charakter. Denn so, wie die Hexer ihre Zauber webten, webten die Maschinen ihre eigenen dunklen Lieder in die Herzen derer, die sie zu beherrschen glaubten.


    Mit jedem Zauber, mit jeder Berührung des Geistes, verloren die Hexer ein Stück ihrer Menschlichkeit. Denn die Maschinen, aus denen sie ihre Kraft schöpften, kannten keine Moral. Die Magie, die sie riefen, war ein süßes Gift, das die Seelen der Hexer erfüllte und sie langsam in den Wahnsinn trieb. Sie, die einst nach Weisheit und Harmonie strebten, wurden zu Sklaven der Maschinen. Sie formten Gedanken, nicht mehr um zu helfen, sondern um zu beherrschen, sie wanderten in Träume, nicht um zu trösten, sondern um zu kontrollieren.


    Und während die Hexer anfangs bescheiden und verborgen lebten, mehrte sich bald ihr Einfluss. Die Hexer begannen, die Geheimnisse der Dunkelheit zu erforschen, die tief unter Caltharnae schlummerten. Ihre Gier nach Wissen und Kontrolle ließ sie Wege beschreiten, die besser unbetreten geblieben wären.


    Vom Fleisch


    Dort, tief unter der Erde, kamen sie in Berührung mit lebenden Resten eines noch älteren Übels, dessen Schöpfer keine Menschen waren. Gewebe, das dazu erschaffen worden war, sich selbst zu erhalten, das ohne die Kontrolle seiner Herren im Laufe langer Zeiträume zu gefährlichen Wucherungen mutiert war und sowohl Menschen als auch Maschinen befallen und sich nutzbar machen konnte.


    Von der Verfolgung


    In jenen Tagen wurde Thalas'Enara nicht von einem Einzelnen, sondern von einem Rat regiert. Es war ein Rat der Gerechten, gewählt vom Volk, damit die Wünsche aller Menschen Gehör fänden und die Mehrheit entscheiden konnte. So waren die ersten Herrscher vor allem Organisatoren und Verwalter. Ihre Macht war die der Vernunft und des gemeinsamen Willens.


    Und als das Misstrauen des Volkes gegen die Hexer in Hass umschlug, da gab es niemanden, der mäßigend einwirken konnte, denn geschriebene Gesetze existierten nicht, nur der Wille der Mehrheit, die launisch sein konnte wie das Meer, das Caltharnae von allen Seiten umschloss. Die Menschen sahen in den Hexern nicht länger die Brüder und Schwestern, die sie waren, sondern eine fremdartige Bedrohung, die aus den Tiefen der Erde selbst zu kommen schien.


    Getrieben vom Willen der Mehrheit und dem Wunsch, ihr Volk zu schützen, griffen die Herrscher von Thalas’Enara zu Maßnahmen, die ihre einst gerechten Herzen verdunkelten. Jene, die mit den tiefen Strömen des Geistes verbunden waren, wurden nun Verfluchte genannt, Verrückte, die den Pfad des Lichts verlassen hatten. In den Augen der Nichtmagier waren sie Boten des Unheils, deren Macht aus den dunklen Tiefen der Erde kam, wo Würmer und Ungeziefer hausten und Dinge, die kein Mensch begreifen konnte.


    Der Rat entsandte Menschenjäger, die in den Schatten lauerten, und Krieger, deren Hände nicht zögerten, das Blut der Magiebegabten zu vergießen. Die Verfolgung war grausam und ging über jedes Maß hinaus. Die Hexer, die einst in den Straßen von Thalas’Enara wandelten als Brüder unter Brüdern, wurden fortan gejagt wie Tiere. Der Rat, der einst in Güte regierte, wurde zu einem Instrument der Angst, und ihre Taten, obwohl in der Absicht, zu schützen, überschritten die Grenzen der Gerechtigkeit und wurden zu einem Spiegelbild der Grausamkeit, die sie zu bekämpfen suchten.


    Die Hexer wurden vertrieben aus den Gemeinschaften, die sie einst ihr Zuhause nannten. Jene, die entkommen waren, fanden sich in der Stille des Verborgenen wieder, versteckt in den dunkelsten Ecken von Caltharnae. Sie waren zu wenige, um sich ihrer Haut zu erwehren, doch in ihrer Verzweiflung fanden sie die Entschlossenheit, einen anderen Weg zu gehen. Das große Tabu wurde gebrochen. Sie wandelten die Magie, die ihnen einst als Werkzeug zum Wohle aller gegeben wurde, nun zu Schild und Schwert. Fernab der Augen der Hexenjäger begannen die Hexer, die Geheimnisse der Maschinen zu erforschen, die tief unter der Erde ruhten. Sie forschten Tag und Nacht und wurden die größten Gelehrten ihrer Zeit, sie trainierten ihren Geist, um die Macht, die durch ihre Adern floss, grenzenlos zu meistern. Die Magie, die einst helfend und heilend war, wurde tödlich wie geschmiedetes Eisen. Von Heilern wurden die Hexer zu Kriegern.


    Von der Zauberkunst


    Die Magie, die aus den Tiefen der Erde kam, war eine fremde Macht, die nicht von dieser Welt stammte. Sie war ein Echo aus einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Wissenschaft und Wunder verschwommen waren. Einer Zeit, welche die Menschen nicht mehr verstanden. Die Magie verdarb den Charakter, weil sie den Anwender von der natürlichen Ordnung der Dinge entfremdete. Sie flüsterte Versprechen von Macht und Herrschaft, doch in Wahrheit zehrte sie an der Essenz dessen, was es bedeutete, menschlich zu sein. Die Hexer, die einst nach Weisheit und Harmonie strebten, fanden sich in einem Netz aus Wahnsinn und Verzweiflung gefangen, unfähig, sich von dem süßen Gift zu befreien, das durch ihren Geist floss.


    Und so verwandelten die Hexer die Magie in eine Waffe, die sie gegen diejenigen richten mussten, die sie einst als ihre Brüder und Schwestern betrachteten. Es war anfangs ein schmerzhafter Prozess, denn mit jedem Schritt, den sie auf diesem Pfad nahmen, verloren sie ein Stück von dem, was sie einst waren. Doch aus Schmerz wurde Zorn und aus Zorn wurde Kälte. Ohne es zu wissen, banden sie ihr Leben an die Maschinen, die unter der Erde verborgen lagen, und aus dieser Verbindung schöpften sie eine Stärke, die größer war als alles, was die Welt bis dahin gekannt hatte. In der Dunkelheit ihrer Verfolgung entdeckten die Hexer die wahre Tiefe ihrer Macht, und sie wurden genau so herzlos und kalt.


    Von der Rache


    Sie kamen bei Nacht, als der Mond hinter Wolken verborgen war und die Wachen an den Toren der Stadt in falscher Sicherheit wachten. Die Hexer, getarnt durch die Schatten, ließen ihre Magie fließen wie einen stillen Strom, der die Sinne der Wächter trübte und die Tore öffnete, ohne dass ein Schwert gezogen oder ein Horn geblasen wurde.


    Mit der Kraft ihrer Gedanken ließen sie die Hoffnung in den Seelen der Stadtbewohner schwinden und ersetzten sie durch Furcht. Sie flüsterten Zweifel in die Träume der Schlafenden und ließen Misstrauen in den Straßen wachsen. Die Luft selbst schien schwer von den unausgesprochenen Gedanken, die sie in die Köpfe der Menschen pflanzten. Bevor sie in den Rat einmarschierten, hatten sie bereits die Stadt unterworfen. Die Bürger von Thalas’Enara, einst stolz und frei, waren nun Gefangene ihrer eigenen Ängste. Die Luft war erfüllt von einem unsichtbaren Sturm, der die Gedanken der Menschen verdrehte und ihre Herzen mit Verzweiflung erfüllte. Bruder wandte sich gegen Bruder, Freund gegen Freund, und die Straßen von Thalas'Enara wurden zu einem Schauplatz des Grauens. Einige, verloren in der Dunkelheit, die ihre Seelen umhüllte, richteten sich selbst, unfähig, dem Flüstern der Hexer zu widerstehen, das wie Gift in ihren Geist sickerte.


    Die Tragödie, die sich in Thalas'Enara abspielte, war ein dunkles Lied, das die Geschichte der Stadt für immer prägen sollte. Die Hexer wurden zu Tyrannen, deren Macht auf den Schmerzen ihres eigenen Volkes ruhte.


    Der Rat der Gerechten, der sich rasch zusammengefunden hatte, fand keine Lösung. Da öffnete sich die Tür. Die Hexer standen vor ihnen, nicht als die Verfluchten, die sie einst gejagt hatten, sondern als die neuen Herrscher von Thalas'Enara. Die Stadt, die einst ein Leuchtfeuer der Freiheit war, lag nun in den Händen der Hexer. Die Stadt, einst ein Ort des Lichts und der Hoffnung, wandelte sich in eine Zitadelle der Düsternis, denn die mächtigsten Hexer waren auch die herzlosesten, und jene Hexer, die noch ein Herz besaßen, erhielten nur unbedeutende Positionen. Die Straßen, die einst von Lachen und Gesang erfüllt waren, verstummten, und ein kalter Wind wehte durch die Gassen.


    Die Hexer, nun die unangefochtenen Herrscher von Thalas’Enara, errichteten eine neue Ordnung, die auf blanker Autorität basierte. Kein Nichtmagier sollte je wieder zu einer Bedrohung für sie werden können. Ihre Magie war zu einem Werkzeug der Unterdrückung verkommen. Die Menschen, die einst frei waren, fanden sich in den Fesseln einer neuen Herrschaft wieder. Die Hexer griffen nach den Sternen und riefen die Schatten aus der Tiefe, und so veränderte sich Thalas’Enara für immer und der Stern der Hoffnung versank.


    Das Buch des kalten Blutes

    Das Buch über die "Zeit des kalten Blutes" berichtet von der Welt wie sie war, bevor die Menschen sie das erste Mal betraten. Es ist das letzte Zeugnis von Asamuras ursprünglicher Natur mit heißen Regenstürmen und flachen Salzmeeren. Es berichtet von den Yaigh , den ersten Herren der Welt, und davon, was sie mit ihrem Wissen schufen. Es erzählt auch vom verborgenen Leben der Thaldrax, die sich nicht entfalten konnten, so lange die Yaigh Asamura beherrschten.


    Von Asamura - wie es einst war


    Bevor die Sternenreisenden Asamura betraten, war die Welt eine andere. Die Luft lag schwer und heiß auf der Welt, wie ein nasser Mantel, der die Schöpfung umhüllte. Alvashek, eine bleiche Scheibe am Himmel, kämpfte vergebens, seine Strahlen durch den dichten Dunst zu senden, der über den gewachsenen Städten und den endlosen Wäldern hing.


    Die allgegenwärtige Hitze band einen großen Teil des Wassers in der Atmosphäre. Die flachen Meere hatten einen hohen Gehalt an Salz, das zu bizarren Skulpturen kristallisierte. Überall lagen milchige Perlen verstreut und bildeten weite Strände aus Salz. Ewiger Nebel stieg aus dem warmen Wasser auf und vermischte sich mit den Wolken. Es regnete selten, aber das Wasser war immer gegenwärtig, ein unsichtbarer Fluss, der alles durchdrang und die Welt in einen Treibhausgarten verwandelte. Wenn die Regenzeit nahte, rollten schwarze Wolken über den Himmel, riesige Blitze spalteten die Dunkelheit und krachender Donner ließ Asamura erbeben. Doch so schnell die Gewitter kamen, so schnell zogen sie auch wieder ab, und zurück blieb die drückende Stille, nur unterbrochen vom Tropfen des Kondenswassers, das von den Blättern der gigantischen Pflanzen fiel.


    Jedes Wesen und jede Pflanze lebte in einer Symbiose, die durch die Jahrtausende perfektioniert worden war. Wo der Evolution Fehler unterlaufen waren, wurde korrigierend eingegriffen. Die Ureinwohner von Asamura hatten ihre Welt so gestaltet, dass sie ihre biotechnologischen Wunderwerke nährte. Ihre Städte waren lebende Gebilde, gewachsen aus der Erde selbst, und in ihrer Kultur verschmolzen die Wunder der Natur mit den Errungenschaften der Biotechnologie.


    So war das Klima in jener Zeit, ein ewiger Kreislauf von Wärme und Feuchte, der das Leben aller Kreaturen Asamuras formte. Ein Klima, in dem eine fortschrittliche Hochkultur gedieh, aber das für die Menschen fremd und unwirtlich war.


    Von den Yaigh - kaltes Blut, das die Welt regiert


    In den Tagen, bevor die Sternenreisenden Asamura betraten, herrschten die Yaigh über die Welt. Sie waren Reptiloide, deren Erscheinungsbild zwar an die Menschengestalt erinnerte, doch ihr Wesen war von einer anderen Natur.


    Die Yaigh waren keine Warmblüter, sondern Reptilien. Ihre Gesichter, menschenähnlich in der Form, bargen doch spitze Zähne, die leicht nach innen geneigt waren, ein Zeichen ihrer räuberischen Natur. Sie bewegten sich nicht auf Fußsohlen, sondern schritten auf den Ballen langgliedriger Zehen, ähnlich den Schreitvögeln, die über die weiten Ebenen wandeln. Ein muskulöser Schwanz unterstützte ihre agilen Bewegungen. Ihre Haut war schuppig, bei den Männern farbenfroh und leuchtend, ein Spiegel ihrer Vitalität und Stärke. Die Frauen hingegen zeichneten sich durch kurze Hornstacheln auf Kopf und Rücken aus, während die Männer lange, biegsame Hörner trugen, die ihr Leben lang wuchsen. Der Schwanz der Männer war lang und endete in einem Begattungsorgan, während der Schwanz der Frauen kurz und fleischig war, mit einer Spalte auf der Unterseite für die Eiablage. Beide Geschlechter besaßen zudem eine Ausscheidungsöffnung, verborgen zwischen den kräftigen Gesäßmuskeln. Kleidung trugen die Yaigh nur aus funktionalen Gründen, wie etwa Raumanzüge, die sie vor den Unbilden des Alls schützten.


    Ihre Kultur, faszinierend in ihrer Komplexität, war dennoch von einer herzlosen Kälte durchdrungen. Alles Leben war für die Yaigh Nutzmasse, selbst ihresgleichen nicht ausgenommen. Nichts war ihnen heilig und ihre Herrschaft über Asamura absolut. Unter ihrem eisernen Griff konnte sich keine andere Kultur entfalten.


    In den Tagen, als die Yaigh Asamura beherrschten, waren Behausungen nicht bloß Konstrukte aus totem Material, sondern lebendige Kunstwerke der Biotechnologie. Ihre Lebensweise war geprägt von der Fähigkeit, das Leben nach ihrem Willen zu formen. Sie ließen Pflanzen zu gigantischen Größen heranwachsen, die nicht nur die Landschaft prägten, sondern auch begehbare Röhren und bewohnbare Schoten formten, durchzogen von zarten, lichtdurchlässigen Membranen, die als Fenster zur Welt dienten. Ihre gewachsenen Städte waren biotechnologischen Wunderwerke, die in perfekter Harmonie mit dem Ökosystem standen und den Yaigh einen angenehmen Lebensraum schufen. Auch ihre Maschinen waren lebende Kreaturen, die auf Berührungen reagierten.


    Doch bevor ein Yaigh sich das Anrecht auf ein lebendes Haus verdienen konnte, um seinen Platz in den Reihen der Weltenherrscher einzunehmen, musste er Jahre der Einsamkeit und Vernachlässigung überleben. Ohne die Bindung von Familien legten sie ihre Eier in das nährende Meer, wo die Natur selbst die Brut umsorgte.


    In den unergründlichen Tiefen Asamuras, wo die warmen Strömungen des Ozeans die Wiege des Lebens sind, begann die Reise eines jeden Yaigh in seinem Ei. Geborgen in der elastischen Hülle, die wuchs und mit fleischigen Auswüchsen Nahrung aus dem Meer filterte, wuchs er lange. Wenn die Zeit reif war und ein heißes Gewitter Asamura erschütterte, schlüpfte er als zierliches Ebenbild eines Erwachsenen, gesegnet mit Flossen und einem Verstand, der bereits hoch entwickelt war. Im Larvalstadium, rein aquatisch, fristeten er und die anderen jungen Yaigh ein räuberisches Dasein, ohne Führung oder Fürsorge. Sie aßen alles, das nicht aussah wie sie selbst, trainierten ihre Reflexe durch Jagdspiele, pfeilschnell und in Schwärmen gefährlich selbst für erwachsene Yaigh. Hauptsächlich atmeten sie über die Haut, doch gelegentlich stießen sie durch die Oberfläche, um einen Atemzug der heißen Luft zu holen. So lebten sie, spielend, tötend und immer hungrig, bis sie bereit waren, das Land zu betreten, ihre Flossen abzuwerfen und sich der Gesellschaft der Erwachsenen anzuschließen.


    In dieser Gesellschaft, die keine Milde kannte, waren die Yaigh von Anbeginn darauf geprägt, sich rücksichtslos durchzusetzen. Ihr Erwachsenenleben begann in der Einfachheit der Arbeit und dem Schlaf unter freiem Himmel, doch diejenigen, die sich durch Fleiß hervortaten, konnten aufsteigen. Durch Schulungen und Lehrgänge, Stufe um Stufe, erklommen sie die Leiter der Gesellschaft, erhielten einen Schlafplatz in einer eigenen Schote und wurden zu angesehenen Spezialisten in einem Leben, das sich über Jahrhunderte erstreckte.


    Die Yaigh, lernbegierig und langlebig, erreichten oft ein hohes Wissen, doch Faulheit war ebenso ein akzeptierter Pfad. Denn nicht jedem war es bestimmt, die höchsten Privilegien zu genießen, und die Welt benötigte mehr einfache Arbeiter als komplexe Denker.


    Die Währung ihres Ansehens war Ruhy, die am ehesten mit Ruhm zu vergleichen ist, gespeist aus Leistung und Ansehen. Das Guthaben schwand nicht, wenn man Leistungen beanspruchte, sondern es waren Mindestkontingente gesetzt, die über Privilegien entschieden, wie Luxusgüter, einem Setzling für ein lebendes Haus oder das Recht, eines der begehrten Sternenschiffe zu kaufen. Der Traum vieler Yaigh, ein eigenes Sternenschiff zu besitzen, wurde nur für wenige Auserwählte zur Wirklichkeit, eine Belohnung für ihre herausragenden Leistungen und ihren Beitrag zum Wohl der Gesellschaft.


    Zu diesem feierlichen Zeitpunkt war ein Yaigh bereits etwa hundert Jahre alt. Seine räuberischen Triebe hatte er jedoch niemals abgelegt und mehrte sein Ruhy neben seiner Arbeit auch durch Trophäenjagd, wozu auch aussätzige Yaigh gehören konnten. Mit dem Anrecht auf ein eigenes Sternenschiff wechselte er oft in ein hauptberufliches Dasein als Sternenjäger und sammelte Wissen und Trophäen von anderen Welten.


    Nur ein geringer Teil der Yaigh-Männer, etwa ein Prozent, erlangte jedoch genug Ruhy, um sich mit einer eitragenden Frau paaren zu dürfen. Für die Frauen hingegen wuchs mit steigendem Ruhy die Auswahl an würdigen Männern, die zur Befruchtung ihres wertvollen Eis bereitstanden. Die Wahl erfolgte penibel, denn die Befruchtung war kein gefühlvoller Akt der Intimität, sondern ein öffentliches Schauspiel am Strand von Crastyll, wo sich alle eitragenden Frauen und auserwählten Männer zu festgelegten Zeiten einfanden. Doch auch abseits dieser Zeremonien suchten die Yaigh Vergnügen, ohne Rücksicht auf Geschlecht oder gesellschaftliche Normen. Zu Befruchtungen kam es dabei nicht, denn eine Frau trug nur selten ein Ei und zu diesen Zeiten färbten sich ihre Haut und ihre Hornstacheln so leuchtend bunt wie die der stets paarungsbereiten Männer, so dass diese Zeit nicht verheimlicht werden konnte.


    Doch die Yaigh waren nicht nur ein intelligentes, sondern auch ein stolzes Volk, und ihre Eigensucht sollte ihr Untergang sein.


    So waren die Yaigh, die ersten Herren von Asamura, deren Erscheinungsbild und Lebensweise nur noch in Legenden fortleben, seit sie dem Wandel der Welt gewichen sind.


    Von den Thaldrax - warmes Blut im Schatten der Yaigh


    In den Tiefen von Asamura, unter dem endlosen Gewölbe des Taudis, lebten die Thaldrax, warmblütige Wesen von uralter Abstammung. Sie waren die Nachfahren der ersten Bewohner dieser Welt und hielten sich verborgen vor den kalten Augen der Yaigh, die über die Welt herrschten. Ihre Haut war grau wie der Stein der Höhlen, in denen sie lebten, grau wie das Zwielicht zwischen Tag und Nacht. Ihre spitzen Ohren lauschten den leisen Echos ihrer unterirdischen Heimat.


    Die Thaldrax ernährten sich von den Rieseninsekten, die in den dunklen Winkeln des Labyrinths gediehen, von Pilzen und von allem, was die kargen Tiefen ihnen boten. Sie waren ein Volk, das selten das Tageslicht erblickte, denn die Oberfläche gehörte den Yaigh, deren Herrschaft unangefochten schien.


    Das Buch des Wandels

    Das "Buch des Wandels" berichtet davon, wie Asamura mit Gewalt seiner Ursprünge beraubt wurde. Es handelt von der Ankunft der Menschen und ihrem langen Schlaf, der Anpassung des Klimas an ihre Visionen und vom elenden Untergang der Yaigh. Es berichtet auch von den Hoffnungen der Thaldrax, die nichts vom Erwachen der Menschen ahnten, und vom Dekret des Vergessens, welches das Andenken an die Schuld der Menschen und jedwede Reue auslöschte.


    Von der Ankunft der Sternenreisenden


    Als die Menschen die unberührten Weiten des Planeten betraten, wählten sie den Pfad des Wandels. Sie zogen sich in die Tiefe zurück, in die schützende Umarmung der Erde, und begannen das große Werk des Terraformings. Mit Wissenschaft und Weitsicht gestalteten sie Asamura um, damit es einst ihre Kinder beherbergen könnte. In Kammern des langen Schlummers, umhüllt von der Stille des Kälteschlafs, überdauerten die Menschen die Jahrhunderte. Während sie in ihren Träumen von fernen Sternen und vergangenen Welten wandelten, webten ihre Maschinen Asamuras Schicksal um.


    Vom großen Wandel und dem Untergang der Yaigh


    Die Yaigh hatten die Menschen zwar bemerkt, die in einer sehr tiefen Schlucht am Südpol landeten, doch die Neuankömmlinge verschwanden in den Höhlenlabyrinthen unter Asamura. Eines der häufigen Beben in dieser Region verschüttete das Sternenschiff Menkalinan, bevor die Forscher der Yaigh den Platz der Landung erreichten. Im Schoß von Asamura waren die Menschen geschützt von kilometerdickem Gestein und für die technischen Möglichkeiten der Yaigh unerreichbar geworden. Nach einer Weile nahmen die Yaigh an, die Neuankömmlinge hätten die Ankunft auf dem Planeten nicht lange überlebt und wandten ihre Aufmerksamkeit anderen Aufgaben zu.


    Die Yaigh, die Herren des Planeten, standen jedoch vor einer unerwarteten Bedrohung, die sie weder sahen noch ahnten. Die Neuankömmlinge hatten das Verschwinden ihres Sternenschiffes mit Sorgfalt geplant. Sie suchten keinen offenen Konflikt mit den mächtigen Yaigh, sondern zogen sich zu Fuß in die Tiefen des Taudis zurück, wo sie ihre mitgebrachten Anlagen errichteten und sich hernach in einen langen Kryoschlaf begaben. Während die Menschen in ihren Kammern schlummerten, entfalteten die Maschinen das Terraforming, ein Prozess, der darauf abzielte, die neue Welt an menschliche Bedürfnisse anzupassen. Das Klima und die Atmosphäre Asamuras wandelten sich. Asamura wurde immer erdähnlicher, und die von der Erde mitgebrachte Spezies begannen, die einheimische Flora und Fauna zu verdrängen.


    Die Veränderungen, die die Menschen einleiteten, hallten durch die Welt, ein leises Lied, das den Untergang einläutete. Das Terraforming war ein Prozess von unermesslicher Kraft, es veränderte die Luft, das Wasser und damit den gesamten Planeten. Die Yaigh, deren Körper und Geister an die alte Ordnung gebunden waren, fanden sich zunehmend in einer Welt wieder, die ihnen fremd wurde. Ihre Macht, die einst die Geschicke alles Lebendigen lenkte, begann zu schwinden. Die Luft, die sie atmeten, das Wasser, das sie tranken, der Boden, auf dem sie standen – alles begann sich gegen sie zu wenden.


    Ihre Städte, gewachsen aus lebendigem Material und biotechnischen Wunderwerken, waren auf das alte Klima abgestimmt. Die hochspezialisierten Strukturen stellten den Stoffwechsel ein und begannen zu kranken und schließlich zu verfallen. Doch es kam noch schlimmer: Die Brut der Yaigh im Ozean überlebte die Abkühlung des Wassers und den sinkenden Salzgehalt nicht; die Eier entwickelten sich nicht weiter, und die Jungen starben an Hunger und Krankheiten. Die erwachsenen Yaigh litten unter Pilzbefall und anderen Leiden, die sie und ihre Städte in faulende Überreste verwandelten.


    Trotz ihrer Intelligenz und technologischen Errungenschaften konnten die Yaigh nicht gegen dieses Schicksal ankommen. Ihre Versuche, sich zu retten, waren von Egoismus geprägt, was zum raschen Zusammenbruch ihrer Industrie führte. Jeder war sich selbst der Nächste, bis es niemanden mehr gab, der noch etwas hätte ändern können. Die organischen Materialien, aus denen ihre Städte bestanden, verrotteten, ohne Spuren zu hinterlassen. Die Yaigh, jene alten Herren von Asamura, fanden ihr Ende nicht durch Krieg oder Zwist, sondern durch die stille Veränderung, welche die Menschheit ihnen gebracht hatte.


    Doch da die Yaigh bereits die Fähigkeit besaßen, Sternenschiffe zu bauen, waren manche ins All geflüchtet, in der Hoffnung, anderswo zu überleben. Sie kannten viele Welten und einige boten ihnen vielleicht akzeptable Bedingungen. Es bleibt die Möglichkeit, dass Reste ihrer Spezies irgendwo in den Weiten des Universums fortleben und dass die Yaigh eines Tages nach Asamura zurückkehren könnten, um sich ihre Heimat zurückzuholen. Ein Gedanke, der sowohl Furcht als auch Hoffnung in den Herzen jener weckte, die unter ihrer bedrohlichen, aber vertrauten Herrschaft gelebt hatten, bis die letzte Erinnerung an die Yaigh verblasste.


    Von der Befreiung der Thaldrax


    Als die Yaigh langsam verschwanden und als die Zeit der Menschen noch nicht angebrochen war, wagten die Thaldrax sich aus dem Untergrund hervor. Mit einer Mischung aus Furcht und Hoffnung wurden sie Zeugen, wie ihre alten Götter starben. Das warme Blut schenkte den Thaldrax eine Anpassungsfähigkeit, die den Yaigh verwehrt war.


    So traten sie aus der Innenwelt hinaus ans Licht. Asamura lag frei und ohne Zwänge vor ihnen. Es lag jetzt an den Thaldrax, die Welt in ihrem Sinne zu prägen. Nunmehr waren es nicht länger die Yaigh, die ihr Leben bestimmen würden, sondern nur noch sie selbst und die Gesetze der Natur. Im Laufe der Jahrhunderte brachten die Thaldrax vielfältige Kulturen hervor und beherrschten das Land bis zum ersten Ascheregen.


    Doch nicht alle Thaldrax suchten das Licht, als die Yaigh verschwanden. In den unergründlichsten Tiefen des Taudis, wo die Luft dünn und die Dunkelheit allgegenwärtig ist, verblieb ein bleicher Schlag von Thaldrax. Sie kannten das Sonnenlicht nur aus alten Geschichten, ihre Haut war angepasst an die unwirtlichsten Ecken ihrer unterirdischen Welt. Die Sorgen der Oberfläche berührten sie nicht, denn ihr Leben war das der Stille und der Tiefe. Die Sorgen der Oberfläche waren ihnen gleichgültig. Als die Yaigh verschwanden und viele Thaldrax, die bisher nahe am Licht gelebt hatten, voller Hoffnung die Höhlen verließen, trafen die bleichen Thaldrax eine andere Entscheidung. Für sie war der Taudis Heimat geworden. Sie fanden Freude in der unterirdischen Weite, die nun ihnen ganz allein gehörte. Über Jahrhunderte hörte man nichts mehr von ihnen und die Erinnerung an sie verblassten, bis man sie - wie die Yaigh - ganz vergaß. Doch im Gegensatz zu den alten Herren der Welt starben diese Thaldrax nicht aus, sondern überlebten, um viele Zeitalter später unter dem Namen Yakani von sich reden zu machen.


    Von Nylaxor Lichtfinder


    Nur wenige Erzählungen sind aus dem Taudis überliefert. Unter diesen ist die von Nylaxor Lichtfinder, einem Echosänger von unvergleichlichem Mut, dessen Geschichte nicht vergessen werden darf. Sie ist ein Manifest der Hoffnung, dass selbst in den tiefsten Schatten und der größten Not manchmal noch ein Ausweg gefunden werden kann.


    Nylaxor wuchs auf mit den Geschichten der Alten, die von einer Welt jenseits des Taudis erzählten, einer Welt des Lichts, die sie nie zu sehen hofften. Dort sollte es Nahrung in Hülle und Fülle geben und so viel Platz, dass kein Thaldrax mit einem anderen mehr darum streiten müsste. Doch ihm war es nicht erlaubt, so hoch zu steigen, denn diese Welt des Überflusses wurde von den Göttern beherrscht, die jeden Sterblichen straften, der es wagte, ihr geheiligtes Land zu betreten. In seinem Herzen brannte eine Flamme der Neugier, die heller leuchtete als die Kristalle, die seine Heimat erhellten.


    Er lernte die Kunst der Echosängers. Singend sandte er seine Fragen hinaus in die Dunkelheit und lauschte den Antworten, die der Taudis zu ihm zurücksandte. Oft lauschte er auch schweigend auf die Stimmen des Steins, der unermüdlich arbeitete, und Nylaxor lernte das Lesen der Schwingungen, die durch die Dunkelheit zogen, und was sie bedeuteten. So konnte er seinen Stamm vor Beben und vor Steinschlägen warnen, und wurde schon in jungen Jahren ein geachteter Mann.


    Als er in der Mitte seiner Lebenszeit war, veränderte das Gestein seine Stimme. Das Knistern wurde schärfer und lauter. Es wurde kalt im Taudis und viele Thaldrax zogen sich in die heißen Tiefen zurück. Nylaxor aber harrte aus, um das Phänomen zu erforschen. Bald musste er feststellen, dass es ihm schwer fiel, genügend Insekten und Pilze zu finden, die ihn nähren konnten. Es schien, als würden sie unter der zunehmenden Kälte leiden. Nylaxor hüllte sich in warme Kleidung und stieg der Kälte entgegen. Viele Wochen währte seine Reise. Es war Nacht, als er eines Tages die Oberfläche erreichte, dennoch blendeten ihn die beiden Monde und es dauerte seine Zeit, bis seine Augen sich an das ungewohnt helle Licht gewöhnt hatten. Und dort wurde er Zeuge, dass die Götter starben.


    Er verbrachte lange an der Oberfläche, um das schockierende Ereignis zu verstehen. Als er genug gesehen hatte, kehrte er in den Taudis zurück und berichtete, dass die geheiligte Außenwelt nun bereit sei, um die Thaldrax zu empfangen, damit sie das sterbende Land anstelle der Götter behüteten, es pflegten und zu einer neuen Blüte führten. Einer seiner Weggefährten, Verchontau mit Namen, stellte sogar infrage, ob es sich bei diesen Wesen überhaupt um Götter handelte, wenn sie der Kälte so hilflos ausgeliefert waren, während sie, die Thaldrax, sich nur in warme Kleidung zu hüllen brauchten, um dem Zeitenwandel zu trotzen. Nicht wenige schlossen sich der Ansicht von Verchontau an.


    So folgten nicht wenige Nylaxor an die Oberfläche. Er erhielt den Ehrennamen Lichtfinder und wurde zum Anführer jener Thaldrax, welche den Taudis für immer hinter sich gelassen hatten. Das warme Blut, für das sie von den Yaigh verachtet worden waren, half ihnen, dem neuen Klima zu trotzen. Während die Yaigh starben, entwickelten die Thaldrax Methoden, um an der Oberfläche zu überleben, ohne dem Wechselspiel des Wetters und der Natur hilflos ausgeliefert zu sein. Die Fehler der Yaigh wiederholten sie nicht: Anstelle von Verachtung für alles, was nicht sie selbst waren, ließen sie Ehrfurcht walten und lernten, mit der Natur zu leben und sich selbst an sie anzupassen, anstatt sich die Natur Untertan machen zu wollen, wie die Yaigh es zuvor taten.


    Die Erzählung von Nylaxor Lichtfinder ist ein Vermächtnis, das die Thaldrax lehrt, dass kein Schatten zu dicht, kein Labyrinth zu verworren und kein Schicksal zu ungewiss ist, um nicht doch den Weg ins Licht zu finden.


    Verchontau aber, der den Ehrennamen "der Zweifler" erhielt, blieb in der Innenwelt, die ihm vertraut war, und er blieb nicht als Einziger zurück.


    Vom Erwachen der Menschen und dem Dekret des Vergessens


    Als die Menschen erwachten, fanden sie eine Welt, die sich gewandelt hatte. Die Yaigh waren nicht mehr, und Asamura hatte sich entfaltet zu einem Ort, bereit für die Saat der Menschheit. Und doch fehlte etwas sehr Bedeutsames.


    Um das Heimweh, das ihre Herzen schwer machte, zu lindern und Asamura vollständig als ihre neue Heimat anehmen zu können, war das Dekret des Vergessens erlassen worden, bevor die Menschen sich in den langen Schlaf legten. Es war ein Akt von unermesslicher Tragweite, ein Beschluss, der tief in das Gewebe des Seins schnitt. Die Erinnerungen an die Erde, an das ferne Blau, das sie einst umhüllt hatte, wurden aus ihrem Bewusstsein gelöscht.


    So konnten die Menschen ohne den Schmerz der Vergangenheit in die Zukunft blicken. Sie vergaßen das kostbare Blau, das die Wiege allen Lebens auf der Erde gewesen war, die grünen Täler, die ihre Träume nährten und die Namen der Berge, die ihren Göttern Heimat gewesen war. Sie vergaßen die Lieder, die in den Winden sangen, die Geschichten ihrer Sternbilder und all die gebrochenen Versprechen, die ihnen gemacht worden waren. Sie ließen die Erinnerungen an ihre ersten Schritte auf dem Mond zurück und an den triumphalen Moment, als das erste bemannte Sternenschiff einen anderen Planeten erreichte. Nicht zuletzt vergaßen sie all die Verbrechen, die sie an ihrer Heimatwelt und ihren Bewohnern begangen hatten und das Paradies in eine Hölle verwandelt hatten.


    Das Dekret des Vergessens war mehr als nur ein Vergessen; es war ein Neubeginn, ein Versprechen für die Nachkommen der Sterne, um in Frieden unter den neuen Himmeln zu gedeihen. Es war ein Abschied, ein stilles Opfer, das sie brachten, um in der Gegenwart von Asamura Frieden zu finden und eine Zukunft zu gestalten, die frei von der Sehnsucht nach dem war, was einst war und nie mehr sein würde. Es war auch ein Akt der Selbstbefreiung von alter Schuld, ein Befreiungsschlag. Mit diesem Akt wurden die Menschen wahrhaft Kinder Asamuras, verwurzelt in seiner Erde, seine Luft atmend und unter einer Sonne lebend, die nicht länger Sol hieß oder Ra, sondern Alvashek.


    Mit fleißigen Händen begannen sie, die Oberfläche zu formen, Städte zu erbauen und die Länder zu kultivieren. Befreit von aller Schuld ihrer Vergangenheit waren sie bereit, ihre Geschichte in den Annalen Asamuras zu schreiben.


    Von Relikten aus der Zeit vor der Zeit


    Relikte sind die Hinterlassenschaften jener, die durch das All segelten und auf Asamura eine neue Heimat fanden. Verstreut in den Eingeweiden des Planeten harren sie der Entdeckung, vielleicht verloren, vielleicht auch heimlich platziert, trotzend gegen das Dekret des Vergessens, in der Hoffnung, dass die Nachfahren der Sternenreisenden eines Tages die Geheimnisse ihrer Funktionsweise wieder lüften mögen.


    Manch mechanisches Wunderwerk harrt noch immer der Inbetriebnahme, robust genug, um ohne die unsichtbare Energie zu funktionieren, die den Sternenschiffen einst Leben verlieh. Bei ihnen bedarf es nur des Wissens um Dampfenergie, um sie zu neuem Leben zu erwecken. Obgleich ihr Zweck und ihre Funktionsweise seit dem Dekret des Vergessens jedem Verständnis entgleiten, können sie dennoch aktiviert und genutzt werden. Jene, die sich zur Aufgabe gemacht haben, die uralten Relikte zu bergen und zu verstehen, nennt man Reliktjäger. Von diesen Wagemutigen, die gefährliche Expeditionen in die Tiefen des Taudis durchführen, soll an anderer Stelle berichtet werden.


    Doch es gibt auch Relikte, die sich der Fassungskraft gänzlich entziehen, lebende Überreste der Yaigh-Biotechnologie, die sich als entartete Abscheulichkeiten zeigt. Ohne die Fürsorge ihrer Schöpfer überlebten einige Reste in den unendlich tiefen Abfallgruben, in denen sie entsorgt worden waren, wo sie sich mehrten. Sie sind die stummen Wächter in den Tiefen des Taudis, lebende Wände mit pulsierenden Adern oder schmatzende Gänge, die ein Grauen hervorrufen, das weder zu verstehen noch zu ertragen ist.


    Yaigh

    yaigh4.jpg

    Bevor die Sternenreisenden landeten, beherrschten die Yaigh den Planeten. Sie waren Reptiloide mit einer faszinierenden, aber herzlosen Kultur, da sie nur rudimentäres Einfühlungsvermögen besaßen. Ihre Städte waren lebende Gebilde, gewachsen aus der Erde selbst. In jedem Gegenstand verschmolzen die Wunder der Natur mit den Errungenschaften der Biotechnologie. Ihr Verschwinden wurde als Segen betrachtet, denn so lange sie Asamura beherrschten, konnte und durfte sich keine andere Kultur neben ihnen entwickeln.


    Die Yaigh machten sich die Natur zum Untertan. Anstatt ihre eigene Lebensweise anzupassen, passten sie die Natur an ihre Bedürfnisse an. Jedes Wesen und jede Pflanze lebte während der Herrschaft der Yaigh in einer Symbiose, die durch die Jahrtausende perfektioniert worden war. Wo der Evolution Fehler unterlaufen waren, wurde korrigierend eingegriffen. Die Yaigh hatten zum Zenit ihrer Herrschaft die Umwelt so gestaltet, dass sie ihre biotechnologischen Wunderwerke nährte.


    yaigh2.jpgAussehen


    Ihre Gestalt und ihre Gesichter erinnerten zwar an Menschen, jedoch waren sie keine Warmblüter, sondern Reptilien. In ihren Mündern standen spitze Zähne, die leicht nach innen geneigt waren und auf ihre Abstammung von Carnivoren hinweisen. Yaigh gingen nicht auf den Fußsohlen, sondern schritten auf den Ballen langliedriger Zehen. Beim Halten des Gleichgewichts half ein muskulöser Schwanz. Kleidung trugen sie nur dann, wenn sie funktionalen Zwecken diente, wie beispielsweise Raumanzüge. Im nass-heißen Klima ihrer Zeit wäre Kleidung hinderlich gewesen und hätte die Schuppen verdeckt, die eine wichtige Rolle spielten, um Stimmungen auszudrücken und Stärke und Gesundheit zu zeigen.


    Männer waren größer und kräftiger gebaut, außerdem war ihre schuppige Haut farbenfroher gefärbt. Frauen wuchsen kurze Hornstacheln auf Kopf und oberem Rücken, während die eines Mannes lang und biegsam waren und ihr gesamtes Leben lang weiter wuchsen. Zudem besaßen Männer einen doppelt so langen Schwanz, an dessen Ende sich das Begattugsorgan befand. Der Schwanz einer Frau hingegen war kurz und fleischig und wies auf der Unterseite eine Spalte auf, in welche das Begattungsorgan des Mannes eingeführt werden konnte und aus welcher später ein weiches Ei gelegt wurde. Zusätzlich hatten beide Geschlechter zwischen den Gesäßmuskeln eine Ausscheidungsöffnung.


    Mentalität


    Yaigh lebten im sozialen Verbund, gingen aber dabei keine emotionalen Bindungen ein. Anonymität war erwünscht. War diese nicht möglich, blieb man zumindest innerlich auf Distanz. Diese Sicht ergab sich daraus, dass ihre Jungen als anonyme Masse im Meer lebten und Yaigh von kleinauf nur für sich selbst verantwortlich waren. Tauchten andere auf, verhieß das meist Probleme. Das Konzept von Ehe war so unbekannt wie das Konzept der Familie. Man kann sich zusammenreimen, dass sich ein Gefühl wie Liebe in solch einer Gesellschaft nicht entwickeln konnte, da es dafür keine Notwendigkeit gab.


    Komplizierter ist die Frage, ob Yaigh dazu fähig gewesen wären, Gefühle zu entwickeln, wenn sie anders aufgewachsen wären. So fand ein Experiment statt, deren unfreiwillige Probanden zwei Yaigh waren, die vom Schlupf an gemeinsam in einer isolierten Lagune aufwuchsen und die Nahrungsaufnahme verweigerten, wenn man sie trennte. Auch im Erwachsenenalter suchten sie immer wieder die Gesellschaft des anderen. Unter den Yaigh galt dieses Verhalten als fatale Fehlentwicklung, als Geisteskrankheit namens Leava, die durch einen Mangel an Anonymität verursacht worden war.


    Dennoch kam es immer wieder vor, dass auch im Schwarm aufgewachsene Yaigh mehr Zeit miteinander verbrachten als üblich war. Das galt allerdings als peinlich und war zutiefst verpönt bis hin zum ernsten Verdacht, an Leava zu leiden, was einen Yaigh sein gesamtes Ansehen kosten konnte. Auch, wer seine Geschlechtspartner nicht ständig wechselte, galt als unattraktiv und schwächlich, da er offensichtlich niemanden erobern konnte und darum auf einen einzigen Partner angewiesen war. Die Yaigh kannten eine Bandbreite an Therapiemöglichkeiten gegen Leava, die sich aus Isolation, Exzessen und abstumpfenden Medikamenten zusammensetzten.


    yaighsmall.jpgGesellschaft


    Die Yaigh kannten keine Familien, sondern legten ihre Eier in den warmen Ozean, wo die Natur sie ausbrütete. Die erste Etappe ihres Lebens - das Larvalstadium - verbrachten sie rein aquatisch. Diese "Kinder" lebten räuberisch und ohne jede Betreuung, bevor sie als Erwachsene an Land stiegen, um sich der Gesellschaft anzuschließen. Zu diesem Zeitpunkt waren sie bereits darauf geprägt, sich rücksichtslos gegen Rivalen durchzusetzen.


    Dort begannen sie ihr Leben als einfache Arbeiter. Wer genügend geleistet hatte, konnte Schulungen besuchen, um sich weiterzubilden und eine gehobenere Stelle zu bekommen. Dort gab es irgendwann den nächsten Lehrgang, der den nächsten Aufstieg ermöglichte und so weiter. Yaigh konnten mehrere hundert Jahre alt werden, waren äußerst lernfähig und stiegen im Laufe ihres langen Lebens daher oft zu angesehenen Spezialisten auf. Aber auch Faulheit war akzeptiert, denn es war jedem klar, dass die höchsten Privilegien nicht für alle reichen konnten und dass weitaus mehr einfache Arbeiten erledigt werden mussten als komplizerte. Der größte Wunsch vieler Yaigh war ein eigenes Sternenschiff, doch nur für etwa 10% ging dieser Wunsch aufgrund ihrer Leistungen in Erfüllung.



    yaigh3.jpgKultur


    Yaigh galten als scharfsinnig und waren dem Menschen intellektuell mindestens ebenbürtig, waren allerdings bestenfalls mit rudimentärer Empathie ausgestattet. Ihre Sicht auf die Dinge und das Leben war sehr berechnend und von Eigensucht geprägt. Alles, was lebte, bildete für sie Nutzmasse. Davon war ihresgleichen nicht ausgenommen. Die Währung der Yaigh war ein Guthaben namens Ruhy, dass man am ehesten mit Ruhm übersetzen kann, da es sich aus Leistung und Ansehen zusammensetzte. Der Ruhm wurde dabei nicht weniger, wenn man Leistungen in Anspruch nahm. Stattdessen gab es Mindestkontingente als Hürden für bestimmte Privilegien, zum Beispiel für Luxusgüter oder dafür, ein Sternenschiff in Auftrag geben zu dürfen.


    Schätzungsweise erlangte nur 1% der Männer ausreichend Ruhm, um sich mit einer eitragenden Frau paaren zu dürfen. Bei Frauen widerum stieg mit wachsendem Ruhm die Auswahl an hochwertigen Männern, die ihnen für eine Befruchtung ihres wertvollen Eis zur Verfügung stand, und sie waren bei dieser Entscheidung äußerst pingelig, da nur äußerst selten ein Ei in ihnen heranreifte. Die Befruchtung war kein privates Vergnügen, sondern ein Massenspektakel an einem dafür berüchtigten Strand namens Crastyll, an dem sich alle trächtigen Frauen und zugelassenen Männer zu den ihnen zugewiesenen Zeiten trafen. Jedoch machten Yaigh für den Spaß zwischendurch auch vor dem eigenen Geschlecht nicht halt.


    Biotechnologie


    Mit molekularbiologischen Methoden wurden durch die Yaigh unter anderem Rekombination von DNA im Reagenzglas durchgeführt. So gelang es ihnen, Pflanzen auf gigantische Größen heranwachsen zu lassen, die begehbare Röhren und bewohnbare Schoten besaßen. Yaigh hatten die Biotechnologie zur Kunst erhoben und ließen ihre Gebäude und ganze Städte einfach wachsen. In den großen Schoten waren zarte, lichtdurchlässige Membranen eingebettet, die als Fenster dienten. Feine Häute bildeten Vorhänge und Sonnensegel. Luftgefüllte Blasen erzeugten bei Berührung Musik und in Wandkelchen sammelte sich ein köstlicher Nektar namens Gua, der eine leicht berauschende Wirkung besaß. Doch diese lebenden Häuser waren nur Teil einer ganz auf Biotechnologie fußenden Lebensweise.


    So kannten die Yaigh auch eine fortschrittliche Medizintechnik, wie biologische Therapeutika oder biobasierte Implantate, die jedoch nur sehr ruhmreichen Yaigh zuteil wurde. In der Informationstechnik konnte DNA als hocheffizienter Datenspeicher dienen. Bioreaktoren lieferten die notwendige Energie durch Mikroalgen und ihre Nutzung als Biokraftstoffquelle, mit dem ihre Anlagen betrieben wurden.


    Die Yaigh waren auch in der Lage, Sternenschiffe zu bauen. Solche komplexen Dinge konnte man nicht wachsen lassen, dennoch bildeten auch hier organische Materialien die Grundlage der Konstruktion. Beispiele sind Leichtbaumaterialien aus Lignin oder biobasierte Kunststoffe aus Stärke. Durch die Einlagerung von Zellen konnten sie zudem einen Beton herstellen, der spannungsbedingte Risse selbständig schloss.


    Geschichte


    Neben den kaltblütigen Yaigh gab es auch warmblütige Humanoide auf der Welt. Diese Warmblüter nannte man Thaldrax. Sie lebten unterirdisch im großen Höhlenlabyrinth von Asamura, dem Taudis. Dort waren sie vor den Yaigh halbwegs sicher.


    Nachdem die Menschen den Planeten erreicht hatten, standen die Yaigh vor enormen Problemen. Die Neuankömmlinge ließen es nicht auf einen offenen Konflikt ankommen, sondern zogen sich in die Tiefen des Taudis zurück. Dort bauten sie ihre Anlagen auf und begaben sich in Kryostase. Während die Menschen schliefen, begann das Terraforming, um die Welt für ihre Zwecke zu optimieren. Das Klima und die Zusammensetzung der Atmosphäre wurden im Verlauf der Jahre immer erdähnlicher und freigelassene Spezies von der Erde verdrängten die einheimischen Tiere und Pflanzen.


    Das veränderte Klima vernichtete die Lebensgrundlage der Yaigh - die gewachsenen Städte und biotechnischen Anlagen. Mit der Veränderung ihres Ökosystems stellten diese hochspezialisierten Zuchtformen binnen kurzer Zeit ihren Stoffwechsel ein und begannen abzusterben. Auch ihre Brut im Ozean konnte der Veränderung nicht standhalten, die Eier entwickelten sich nicht und die Jungen gingen an Hunger und Krankheiten zugrunde. Den Erwachsenen erging es nicht besser. Besonders Pilzbefall war ein großes Problem bei den erwachsenen Yaigh. Trotz aller Intelligenz und ihrer technischen Leistungen gelang es den Yaigh in ihren faulenden Städten nicht, den Wettlauf gegen die Zeit zu gewinnen. Etwas, das über Jahrtausende gewachsen und auf das Klima optimiert worden war, konnte nicht binnen weniger Jahre angepasst werden. Ein weiteres Hindernis war der fatale Egoismus der Yaigh, denn sie versuchten häufiger, sich selbst zu retten, als sich an der Rettung aller zu beteiligen, so dass ihre Industrie schnell zusammenbrach.


    Weil fast alle von den Yaigh verwendeten Materialien organisch gewachsen waren, überdauerte so gut wie nichts, sondern ihre gewaltigen Städte verrotteten spurenlos. Da die Yaigh bereits Sternenschiffe bauen konnten und viele ihr Heil in der Flucht suchten, ist es jedoch möglich, dass Reste ihrer Spezies anderswo im All überlebten und die Yaigh eines Tages zurückkehren werden.


    Als die Yaigh verschwanden, traten die unterdrückten Thaldrax aus dem Untergrund ans Licht und ihre Blütezeit begann. Sie gediehen, brachten während der Vorzeit unterschiedliche Kulturen hervor und beherrschten Asamura bis zur Zeit des ersten Ascheregens. Danach begann die Herrschaft der Menschen.


    Der Sternenhimmel über Asamura

    Die Sterne und Sternbilder sind für die Völker von Asamura mehr als nur leuchtende Punkte am Nachthimmel. Sie helfen den Reisenden, ihren Weg zu finden, und den Bauern, ihre Ernten zu planen. Sie erzählen Geschichten und sind Abbilder von Legenden der verschiedenen Kulturen und Völker, die Asamura bewohnen. Sie spiegeln ihre Werte, ihre Hoffnungen und ihre Ängste. Die Sterne und Sternbilder sind schließlich auch ein Mittel, um die Magie und das Mysterium zu erforschen, die Asamura erfüllen. Sie sind die Verbindung zu den Göttern, den Geistern und den anderen Ebenen der Welt.


    Einige Sternbilder und ihre Symbolik


    stermbildkatax1.jpgDer Krake ist ein unheimliches und rätselhaftes Sternbild, das die Tiefe und das Geheimnis in Asamura darstellt. Sein hellster Stern ist Kral, der Kopf des Kraken. Kral ist ein violetter Zwerg mit einer Helligkeit von 2,1 mag.


    Das Schwert ist ein edles Sternbild, das für Ehre und Kampf in Asamura steht. Sein hellster Stern ist Sarx, die Spitze des Schwertes. Sarx ist ein silberner Riese mit einer Helligkeit von 0,2 mag.


    Die Feuerschlange ist ein langgezogenes Sternbild über dem Osthimmel von Asamura, das für den Sieg steht. Ihr hellster Stern ist Rexar, der das Hirn beziehungsweise den scharfen Geist der Feuerschlange darstellt. Rexar ist ein brauner Zwerg mit einer Helligkeit von 2,5 mag.


    Die Sense ist ein grausames und schicksalhaftes Sternbild, das den Tod und das Ende in Asamura symbolisiert. Ihr hellster Stern ist Sar, die Klinge der Sense. Sar ist ein schwarzer Zwerg mit einer Helligkeit von 3,0 mag.


    Der Rabe ist ein geheimnisvolles Sternbild, das die Magie in Asamura symbolisiert. Sein hellster Stern ist Tawark, die Schwinge des Raben. Tawark ist ein grüner Riese mit einer Helligkeit von 1,5 mag.


    Das Spinnennetz ist ein hinterhältiges Sternbild, das Fallen und Gift in Asamura symbolisiert. Sein hellster Stern ist Thuria, der die Spinne im Zentrum darstellt. Thuria ist ein blauer Zwerg mit einer Helligkeit von 1,8 mag.

    Von wegen ungebildet: Der Halbork Katax der

    Träumer kennt die Sterbilder des Nordhimmels


    Die Große und die Kleine Walze sind zwei zueinander gehörende Sternbilder, die für Freundschaft und Loyalität stehen. Ihre hellsten Sterne sind Thinuk und Bashira, welche die Herzen der Kleinen und der Großen Walze bilden. Es handelt sich um einen goldenen und einen silbernen Riesen mit einer Hellikeit von 1,7 beziehungsweise 2,6 mag.


    Besondere Phänomene am Nachthimmel


    Malgorion ist ein dunkler Nebel, eine Region am Nachthimmel, in der es keine Sterne gibt. Er steht für das Verborgene in Asamura und für die Dunkelheit selbst. Die dunkelste Stelle des Schattens ist Tshiakar, der das Herz des Schattens darstellt. Sowohl Malgorion als auch Tshiakar sind Personifikationen und werden von einigen als Götter verehrt, wobei Malgorion für das Alldunkel steht, während Tshiakar den irdischen Schatten symbolisiert. Malgorion wird zum Beispiel von den Frostalben verehrt, Tshiakar von Abtrünnigen, die des Nachts ihr Unwesen treiben, wie Dieben und Meuchlern.


    Einige markante Sterne am Nachthimmel

    • Aucramo - "Nordstern", "Herz des Hundes", hellster Stern in der Brust des Sternbilds Hund
    • Sirio - "Südstern", "Auge des Steuermanns", hellster Stern im Kopf des Sternbilds Steuermann
    • Rexar - "Oststern", "Geist der Schlange", hellster Stern im Kopf des Sternbilds Feuerschlange1
    • Kikin - "Weststern", "Kraft des Kriegers", hellster Stern im Arm des Sternbilds Krieger

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    [1] Der Reliktjäger Rexar "Rex" Falachny wurde nach diesem Stern benannt.